Günter Grass - Im Krebsgang - Fakten und Fiktionen Diplomarbeit 2010
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Masaryk-Universität Brünn Philosophische Fakultät Institut für Germanistik, Nordistik und Nederlandistik Diplomarbeit Günter Grass – Im Krebsgang Fakten und Fiktionen Betreuer: Autor: PhDr. Roman Kopřiva, Ph.D Bc. Lubomír Hrdlík 2010
Hiermit erkläre ich, an der vorliegenden Diplomarbeit eigenständig und unter vollständiger Angabe aller Quellen gearbeitet zu haben. ………………………………… Bc. Lubomír Hrdlík
Ich bedanke mich bei PhDr. Roman Kopřiva, Ph.D. für die wertvollen Ratschläge und die Zeit, die er mir bei der Ausarbeitung meiner Diplomarbeit gewidmet hat.
Inhalt Inhalt........................................................................................................................................... 4 1. Einleitung ............................................................................................................................... 5 2. Lebenslauf/Biographie ........................................................................................................... 7 2.1 Grass in der Waffen-SS.................................................................................................. 12 2.1.1 Günter Grass: Ich war Mitglied der Waffen-SS ..................................................... 12 2.2 SS und Moral.................................................................................................................. 15 3. Fakten ................................................................................................................................... 16 3.1 Wilhelm Gustloff............................................................................................................ 16 3.2 David Frankfurter ........................................................................................................... 17 3.2.1 Das Attentat............................................................................................................. 17 3.3 Alexander Marinesko ..................................................................................................... 18 3.4 Wilhelm Gustloff (Schiff) .............................................................................................. 19 3.4.1 Legion Condor an Bord........................................................................................... 20 3.4.2 Kriegszeit ................................................................................................................ 22 3.4.3 Operation Hannibal ................................................................................................. 23 3.4.4 Katastrophe.............................................................................................................. 24 4. Im Krebsgang: Interpretation ............................................................................................... 27 4.1 Internet ........................................................................................................................... 27 4.2 Tabu................................................................................................................................ 30 4.3 Haupthelden ................................................................................................................... 32 4.3.1 Tulla Pokriefke ........................................................................................................ 33 4.3.2 Paul Pokriefke ......................................................................................................... 36 4.3.3 Konny Pokriefke ..................................................................................................... 38 4.3.4 Der Erzähler und sein Krebsen................................................................................ 39 4.3.5 Die Gemeinsamkeiten ............................................................................................. 41 5. Filme..................................................................................................................................... 43 6. Im Krebsgang hierzulande.................................................................................................... 46 7. Zusammenfassung ................................................................................................................ 48 8. Literaturverzeichnis.............................................................................................................. 50 9. Anlagen ................................................................................................................................ 56 4
1. Einleitung Günter Grass brach mit seiner Novelle Im Krebsgang ein groβes deutsches Tabu. Sechzig Jahre nach den damaligen Ereignissen war Gustloff noch immer ein Thema, über das man besser schweigen sollte. „Mochte doch keiner was davon hören, hier im Westen nicht und im Osten schon gar nicht. Die Gustloff und ihre verfluchte Geschichte waren jahrzehntenlang tabu, gesamtdeutsch sozusagen.“1 Diese Arbeit ist nur ein weiterer Versuch dieses Tabu zu brechen. Heute spricht man gern vom „Gedächtnis der Orte“ und denkt an Auschwitz oder Dresden. Im Fall der Wilhelm Gustloff ist keine richtige Stelle mehr vorhanden. Das Schiff selbst liegt auf dem Grund der Ostsee. Auf der Meeresoberfläche würde man höchstens den Punkt bezeichnen können, an dem das Schiff sank. Das heiβt, ein Gedächtnis des Ortes kann es nicht mehr geben, sondern nur ein Gedächtnis an den Ort. Er selber existiert ja nicht mehr. Was bleibt, ist die Stelle. Es wird sich in der vorliegenden Arbeit zeigen, dass solchen Stellen eine groβe Kraft der Erinnerung innewohnt, auch wenn in ihnen (hier Bericht auf dem Meer) kein lokal und konkret hervortretendes Zeichen mehr vorhanden ist. Es gibt also nicht einmal Ruinen oder Reste, nur Taucher können zur gesunkenen Wilhelm Gustloff hinuntersteigen. Es gibt auch keine Gräber. Auf das Gedächtnis dieses „Ortes“ oder „Nicht-Ortes“ ist also wenig Verlass. Es scheint zu versagen. Wie sich die Oberfläche eines Teichs sofort wieder schlieβt, wenn ein Stein ins Wasser fällt, so schloss sich auch das Meer wieder, nachdem das Schiff untergetaucht war. Und eine umfassende Erinnerung war nicht mehr zu erkennen. Man soll also bemerken, dass ein Ort (eine Meeresstelle) Erinnerungen nur dann festhält, wenn es Menschen gibt, die Sorgen dafür tragen. Günter Grass ist der Beweis für diese These. Er lieβ den Punkt auf der Ostsee als traumatischen Ort entstehen. Hier wird versucht zu zeigen, wie der Schriftsteller das nationale historische Gedächtnis im Blick auf die damalige Flüchtlingskatastrophe zu aktivieren versuchte und dabei ein literarisches Werk schuf, das sein Ziel erreichte. Im Einführungskapitel meiner Arbeit richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Leben und Biographie von Günter Grass. Grass, wie viele andere Autoren, schreibt teilweise Fiktion und teilweise schöpft er aus seinen Erinnerungen. Um einige seine Bücher besser zu verstehen, 1 Grass, Günter. Im Krebsgang. Deutscher Taschenbuch Verlag 2009. S.48. 5
sollte der Leser auch seinen Lebenslauf kennen. In den zwei Unterkapiteln wird über die Mitgliedschaft von Grass in der Waffen-SS gesprochen. Dies war und ist noch immer ein in Deutschland diskutiertes Thema. Man versuchte festzustellen, was Grass dazu bewog, was ihn also zu diesem „Fehler“ geführt hat und wie ihn die Öffentlichkeit sieht, wie er eventuell von anderen Schriftstellern beurteilt wird. Das nächste Kapitel, welches „Fakten“ bezeichnet ist, erklärt die wichtigsten Tatsachen aus der Novelle Im Krebsgang. Wenn man das Buch durchliest, könnte der Leser den Eindruck gewinnen, dass alles, was Grass schrieb der Wahrheit entspricht. Der betreffende Abschnitt dient dazu, dieses Problem zu minimieren. Mit besserer Kenntnis der Fakten kann sich der Leser einzelne Unstimmigkeiten klären. Das vierte Kapitel ist der Interpretation des Krebsgangs gewidmet. Am Anfang wird über das Internet gesprochen. Das Netz als neues Medium hat Grass für seine Novelle oft benutzt. In der Kommunikation zwischen den zwei Haupthelden ist das Internet sogar ein Grundstein ihres Verhältnisses. Grass hat mit seinem Werk ein groβes deutsches Thema aufgegriffen, und davon erzählt das nächste Unterkapitel. Daran knüpfen weitere Unterabschnitte an, die dem Leser die Haupthelden der Handlung vorstellen. Das fünfte Kapitel heiβt Filme. Hier werden verschiedene Produktionen erwähnt, die etwas Gemeinsames mit der Novelle haben. Meistens sind es Streifen über die Versenkung der Wilhelm Gustloff. Im vorletzten Kapitel gilt die Aufmerksamkeit der Tschechischen Republik. Das Buch wurde drei Jahre nach seinem Erscheinen übersetzt. Es hat freilich kein so groβes Aufsehen wie in den deutschsprachigen Ländern erregt. Deshalb befasst sich dieser Abschnitt nur mit zwei Beiträgen, die aber sehr hoch einzuschätzen sind. Bei der Abfassung dieses Kapitels war mir Jiří Stromšík, der Übersetzer der Novelle ins Tschechische, behilflich, wofür ich ihm sehr dankbar bin. 6
2. Lebenslauf/Biographie Um genauer zu verstehen, warum Grass so schreibt, wie er schreibt, empfiehlt es sich, ihn näher kennen zu lernen. Er schreibt viel über seine Kindheit und über seine Mutter. Einige Passagen seiner Bücher könnten dabei klarer sein, falls man sie als Quelle für seinen Lebenslauf ansehen möchte. Günter Grass wurde am 16. Oktober 1927 in Danzig (heute Gdansk in Polen) geboren. Sein Vater war Pole und seine Mutter war kaschubischer Herkunft, bekanntlich ein westslawisches Volk aus Pommern. Mit seiner Schwester Waltraut bewohnte er zusammen ein kleines Zimmer. Seine Eltern waren nicht reich, sie besaβen nur einen kleinen Kolonialladen aus. Der kleine Günter wuchs also in einfachen Verhältnissen auf. Trotzdem hat er in Danzig ein Gymnasium absolviert. Er war, wie viele andere in jener Zeit, Mitglied des Jungvolkes und später sogar der Hitlerjugend. „Grass hatte über Jahrzehnte behauptet, er habe sich mit 15 freiwillig zur Wehrmacht gemeldet, um der familiären Enge zu entkommen. Durch die Veröffentlichung seiner Autobiographie „Beim Häuten der Zwiebel“ bekannte er jedoch, daß er zur 10. SS-Panzer-Division „Frundsberg“ der Waffen-SS einberufen worden war.“2 Mehr zu dieser Problematik im nächsten Kapitel. Vom 8. Mai 1945 bis zum 24. April war Grass in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung wollte er zuerst das Abitur nachholen, aber schlieβlich endete er als Koppeljunge und das für ein Jahr lang. In den Jahren 1947 bis 1948 absolvierte Grass eine Lehre als Steinmetz und Steinbildhauer. „Die Unbedenklichkeit des Neunzehnjährigen machte es mir im Winter 1946/47, diesem Winter ohnegleichen, in dem die Frierenden hungerten und die Hungernden im Bett froren, möglich, alles auf eine einzige Wunschkarte zu setzen: Bildhauer wollte ich werden; doch die Kunstakademie Düsseldorf hatte wegen Kohlenmangels geschlossen. Also ließ ich mich vorerst in zwei Grabsteinbetrieben als Steinmetz und Steinbildhauer ausbilden. Mit Arbeiten in Sandstein, Marmor und Muschelkalk, die verschollen sind, und mit Porträtzeichnungen alter Männer, die ich im Caritas-Heim Düsscldorf-Rath, meinem Schlafplatz in einem Zehnbettzimmer, gezeichnet hatte, schaffte ich zum Wintersemester 1948/49 die Aufnahme in die Akademie.“3 2 Königsloew, Albert von. Der Freiwillige: Günter Grass [online]. 31-8-2008 [zitiert 17-01-2010]. URL: http://www.blauenarzisse.de/v3/index.php/gesichtet/524-der-freiwillige-guenter-grass 3 Øhrgaard, Per. Ein deutscher Schriftsteller wird besichtigt. München. Deutscher Taschenbuch Verlag 2007. S.16. 7
Dann studierte er bis 1952 Bildhauerei und Graphik bei Sepp Mages und Otto Pankok in der Düsseldorfer Kunstakademie. 1953 siedelte Grass nach Berlin über, wo er ein Jahr später die Balletstudentin Anna Schwarz heiratete. In diesem Jahr verstarb seine neunundfünfzigjährige Mutter. Sein erster groβer Erfolg kam im Jahr 1955. Der Stuttgarter Rundfunk hatte einen Lyrikwettbewerb ausgerufen und Grass endete als Dritter. Seit 1957 war er Mitglied der Gruppe 47, die Hans Werner Richter gegründet hatte. Der Schriftsteller erinnerte sich: „Ich war damals 25 Jahre alt und war Bildhauer von Beruf. ... Die Vorgeschichte war, dass in Stuttgart vom Radio ein Wettbewerb ausgeschrieben worden war, ein Lyrik-Wettbewerb. Und ich bekam den 3. Preis. Jemand aus der Jury, der zur Gruppe 47 gehörte, muss mich empfohlen haben. Und so fuhr ich mit dem Bus dann nach Heckeshorn, das war am Wannsee, wo das Ganze stattfinden sollte und kam da am Nachmittag an. Die machten gerade Kaffeepause. Ich kannte keinen Menschen und setzte mich an einen freien Tisch. Dann kam eine Serviererin und sagte: „Sind Sie auch Dichter?“. Ich hab ganz selbstbewusst „Ja“ gesagt. Und dann brachte sie mir auch Streuselkuchen und Kaffee. Nach einer gewissen Zeit kam dann dieser Mann mit den buschigen Augenbrauen und herrschte mich an: „Wer sind Sie?“. Er achtete immer darauf, dass da keine Fremden reinkamen, die er nicht geladen hatte. Ich konnte ein Telegramm vorweisen, da sagte er: „Aha, so, Sie sind das. - Ja, ein Lyriker fehlt uns noch für den Nachmittag“. Dann hat er gesagt, „erst liest jetzt der und dann der.“ Die kannte ich nicht „... und dann liest die Bachmann.“ – die Bachmann. Die kannte ich vom Namen her und kannte auch ihre Gedichte. Und dann ging er weg und drehte sich aber noch mal um und sagte: „Aber laut und deutlich lesen!“. Eine Weisung. An die habe ich mich bis heute gehalten.“4 Schon 1958 trug er dort einige Passagen aus seinem zukünftigen Bestseller Die Blechtrommel vor. Dafür bekam er einen Literaturpreis, der mit 3000 DM dotiert war. Das Manuskript für den Roman war in Paris entstanden. Im Frühjahr 1959 war endlich Die Blechtrommel abgeschlossen. Schon im Herbst kam sie auf den Markt und sofort wurde klar, dass Grass etwas Spezielles und Denkwürdiges geschrieben hatte. Und das war die Meinung nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Mit dem Jahr 1960 ist sein Gedichtband Glasdreieck verbunden und im selben Jahr erhielt er den Berliner Kritikpreis. „Übrigens: Der Lyriker Grass wird nach wie vor unterschätzt.“5 Die nachfolgenden Jahre waren für Günter Grass äuβerst hektisch. 1961 erblickte das Licht der Welt seine erfolgreiche Novelle Katz und Maus. Im Unterschied zu anderen deutschen Autoren der Zeit war er politisch engagiert. 1961 hat er Willy Brandt getroffen und gesprochen und seit dieser Zeit ist er eng mit der SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) verbunden. Grass hat mit Brandt sogar Wahlkampftourneen absolviert. Trotz 4 Ammert, Andreas. Günter Grass über Gruppe 47: "Ein verrückter Haufen"[online].23-09-2007. [zitiert 25-01- 2010]. URL: http://www.3sat.de/dynamic/sitegen/bin/sitegen.php?tab=2&source=/ard/sendung/113422/index.html 5 Reich-Ranicki, Marcel. Unser Grass. München. Deutsche Verlag-Anstalt 2003. S.144. 8
seines politischen Einsatzes ist Grass freilich erst 1982 ein Mitglied der Partei geworden. Aber er blieb es nicht für lange Zeit. Schon 1992 trat er aus Protest gegen deren Asylpolitik wieder aus. Sein nächster Roman Hundejahre folgte zwei Jahre nach Katz und Maus (1963). Damit war die so genannte Danziger Trilogie abgeschlossen. Im selben Jahr wurde Grass in die Berliner Akademie der Künste aufgenommen und von 1983-1986 war er Präsident dieser Institution. 1965 bekam er eine sehr hoch eingeschätzte Auszeichnung – den Georg Büchner Preis – für sein Werk, Lyrik und Prosa. Mit Grass’ politischem Engagement hängen auch einige seiner Werke zusammen, wie Die Plebejern proben den Aufstand (1966), Davor (1969) oder zum Beispiel Örtlich Betäubt, das eigentlich ein Antikriegsroman ist. Allerdings betrifft er nicht den Zweiten Weltkrieg, sondern den Vietnamkrieg. Dieser Roman wurde sehr positiv vor allem in den Vereinigten Staaten aufgenommen. Das Jahr 1968 bedeutete einen Umbruch, eine Wende im Leben von vielen Menschen und eben auch von Grass. Seine Vorliebe für das Kommentieren politischer Situationen zeigte sich weiterhin. Grass war in Kontakt mit Pavel Kohout (tschechischer und österreichischer Dichter, Dramatiker und Übersetzer), und aus diesem Briefwechsel ist dann das Buch Briefe über die Grenze entstanden. Es ging meistens um ein in der Zeit der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik ganz kontroverses Thema, den Prager Frühling.6 In der folgenden Periode war er wieder mit der SPD verbunden. Er reiste mit Willy Brandt kreuz und quer nicht nur durch Deutschland. Er war zum Beispiel auch in Warschau, wo er Zeuge der Unterzeichnung des Deutsch-Polnischen Vertrages wurde. Grass war eine sehr bewanderte Person, weilte in Frankreich, Spanien, in der UdSSR, in den Vereinigten Staaten, in der Tschechoslowakei, in Rumänien, Ungarn, Jugoslawien. Aber auch Japan, Indonesien, Thailand, Hongkong, Indien und Kenia hat er besucht. Alle seine politischen Erfahrungen hat Grass in seiner Prosa Aus dem Tagebuch einer Schnecke (1972) verarbeitet. Die „Schnecke“ ist eine politische Erzählung mit Erinnerungen an den Wahlkampf 1969. 1973 erschien das Buch Mariazuehren, worin seine künstlerische Arbeiten und Fotos von ihm zu sehen sind. Im selben Jahr (23. April 1973) tritt Grass aus der katholischen Kirche aus. Damals fand eine sehr starke Diskussion statt und das wegen dem §218, was die Diskussion über Schwangerschaftsbruch betraf. Grass verteidigte die Notwendigkeit einer Kirchenreform, aber die Kirche war dagegen. 6 Mehr zu diesem Thema in: Emmert, František, Rok 1968 v Československu, Vyšehrad 2007. 9
Die Haltung der Bischöfe im Streit um die Reform des Abtreibungsparagrafen 218 erinnerte ihn an die Dogmatiker der anderen Weltreligion, die der Kommunisten, die sich auch im Besitz der 7 allein selig machenden Wahrheit glaube und ähnlich umgehe mit ihren Gläubigen. Vier Jahre danach (1977) hat Grass seinen nächsten Roman Der Butt publiziert. Dieses Werk wurde im Ausland, besser als in Deutschland aufgenommen. Es folgen die Romane Mit Sophie in die Pilze gegangen (1975), Denkzettel (1978), Treffen in Telgte (1979), Aufsätze zur Literatur (1980), Kopfgeburten oder sterben die Deutschen aus (1980). 1979 wurde sein erster Roman und bisher größter Erfolg Die Blechtrommel von Volker Schlöndorff verfilmt. Für die Hauptrolle war David Bennet vorgesehen. Sowohl Grass als auch Schlöndorff wollten, dass die Hauptrolle kein Darsteller eines Liliputaners übernehmen soll, sondern ein normaler Junge. Bennet hat deshalb also die ganze Oscarrolle ganz allein gespielt und das inklusiv einiger erotischer Szenen, was wieder eine Debatte nicht nur in Deutschland hervorgerufen hat. Die Blechtrommel erhielt 1980 sogar den Oscar als bester fremdsprachiger Film.8 1986 erschien Grass’ nächster Roman Die Rättin, der dann 11 Jahre später von Martin Buchhorn verfilmt wurde. Es soll ein Geschenk zu seinem 70. Geburtstag sein. Aber der Schriftsteller distanzierte sich von diesem Film. Von August 1986 bis Januar 1987 unternahm er eine Reise nach Indien. Er wohnte dort in einem Armenhaus in Kalkutta. Als er zurück nach Deutschland kam, publizierte er sein Tagesbuch über die Indienreise mit dem Titel Zunge zeigen. Er kritisierte darin die westliche Gesellschaft wegen der Mitschuld am Elend der indischen Bevölkerung. 1990 war Wendejahr für die Deutschen. Beide „Deutschlands“ vereinigten sich und die Menschen waren begeistert. Nicht so Günter Grass. Noch im selben Jahr hat er Ein Schnäppchen namens DDR publiziert, wo er klar und deutlich erklärt, dass er gegen die Vereinigung sei. „In Reden und Aufsätzen habe ich mich seit Mitte der sechziger Jahre gegen die Wiedervereinigung und für eine Konföderation ausgesprochen. Hier gebe ich abermals Antwort auf die Deutsche Frage. Nicht in zehn, in fünf Punkten will ich mich kurzfassen:“… „Drittens: Eine Konföderation der beiden deutschen Staaten steht dem europäischen Einigungsprozeß näher als ein übergewichtiger Einheitsstaat, zumal das geeinte Europa ein konföderiertes sein wird und deshalb die herkömmliche Nationalstaatlichkeit überwinden muß.“9 7 Jürgs, Michael. Bürger Grass. München. Goldmann Verlag 2004. S. 288. 8 Academy of Motion Picture Arts and Sciences, [online], 2009. [zitiert 23-1-2010]. URL: http://www.oscars.org/ 9 Grass, Günter, Ein Schnäppchen namens DDR, Letzte Reden vorm Glockengeläut. München. Deutscher Taschenbuch Verlag 1990. S.10,11. 10
Ein Jahr später kam Unkenrufe heraus – eine Prosa über die Versöhnung zwischen Ost und West. 1995 publizierte er Ein weites Feld, einen Roman über einen erfolglosen Schriftsteller, der ein Spitzel der Stasi ist, vor und auch nach der Wende. Nach Erscheinen des Buches hat der Roman in der Öffentlichkeit eine sehr starke Diskussion hervorgerufen, was dazu führte, dass schon nach acht Wochen die fünfte Auflage herauskam. Aber nicht nur positive Reaktionen hat dieses Buch hervorgerufen. Dazu Reich-Ranicki: „Das Unglück Ihres Romans besteht wohl darin, daß Sie sich zwar unentwegt auf Fontane berufen, daß Sie ihn zitieren und imitieren und mitunter auch plündern, daß es Ihnen aber nicht gelingen will, das, worauf es hier ankommt und was gerade er wie kaum ein anderer deutscher Schriftsteller gekonnt hat, von ihm zu lernen - nämlich: Gedankliches ins Sinnliche zu übertragen, Geistiges also sichtbar und anschaulich zu machen.“10 1999 schrieb Grass sein Mein Jahrhundert, einen Punkt hinter dem vergangenen Jahrhundert. Für jedes Jahr, ab 1900, steht eine kurze Geschichte zur Verfügung. 2002 veröffentlichte Grass schlieβlich Im Krebsgang. „Grass wird mit diesem Buch die politische Diskussion in Deutschland bestimmen, als habe vor ihm keiner über den gnadenlosen Luftkrieg der Alliierten und die Vertreibung der Deutschen nach dem Krieg und die Millionen Opfer als Folge der Verbrechen Hitlers geschrieben. Kein Lenz, kein Schmidt, kein Surminski, keine Ossowski, kein Kempowski, kein Mulisch, kein Vonnegut, kein Bobrowski, kein Sebald. Dass ausgerechnet er, der linke Patriot, der Auschwitz immer mitdachte, davon erzählt, macht den Unterschied aus.“11 Ein Jahr später kamen Letzte Tänze heraus, und es wäre nicht Grass gewesen, wenn auch dieses Werk zu Diskussionen Anlass bot. Es ist Kollektion von erotischen Gedichten und von Zeichnungen des Schriftstellers. Sechs Jahre später folgten Beim Häuten der Zwiebel und 2008 Die Box. Genau 40 Jahre nach Erscheinen seines größten Romans Die Blechtrommel wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Günter Grass ist vielleicht der gröβte lebende deutschsprachige Autor der Gegenwart. Auch seine Kritiker bekennen dies. „Hm. Liebe ich Grass? Kritiker dürfen und müssen oft übertreiben, um überhaupt verstanden zu werden. Doch muβ alles seine Grenzen haben: Ob ich Grass liebe, dessen bin ich mir gar nicht so sicher. Aber ich schätze und bewundere ihn. Ein Schuft, wer das für Ironie hält.“12 10 Reich-Ranicki, Marcel. Unser Grass. München. Deutsche Verlag-Anstalt 2003. S. 161-162. 11 Jürgs, Michael. Bürger Grass. München. Wilhelm Goldmann Verlag 2004. S. 428. 12 Reich-Ranicki, Marcel. Unser Grass. München. Deutsche Verlag-Anstalt 2003. S.179. 11
2.1 Grass in der Waffen-SS „Mit siebzehn will man die Jungfrau befreien und retten. In diesem Fall hieß die Jungfrau Deutschland. Das Problem war nur, daß die Jungfrau der Drache war.“ – Durs Grünbein, 2006 Am 11. August 2006 kam die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit einer groβen Schlagzeile heraus. 2.1.1 Günter Grass: Ich war Mitglied der Waffen-SS 13 Dieses Bekenntnis hat eine groβe Erregung nicht nur bei deutschen Literaturwissenschaftlern, sondern auch in der Öffentlichkeit hervorgerufen. Grass vertrat seit Jahren die Position eines deutschen Moralrichters und bedeutete das Gewissen der Nation. Im Moment sind schon vier Jahre seit dieser „Katastrophe“ 14 vergangen und es tauchen immer wieder neue Hinweise auf. Manchmal sprechen sie sogar für Günter Grass. Marcel Reich-Ranicki, sein ewiger Kritiker, wollte sich freilich nicht zu diesem Thema ausdrücken, was eigentlich eine gute Nachricht für den Autor ist. Aber die groβe Mehrheit steht gegen Grass. Schon im Jahre 2006 (also im Jahre seines Bekenntnisses) hat sich herausgestellt, dass Grass Moral nur den anderen predigte, sich selber aber nicht nach seinen Ratschlägen richtete. „…Das belegen zwei Briefe aus den Jahren 1969 und 1970 an den damaligen Wirtschaftsminister Karl Schiller (1911-1994). Darin forderte der Schrifsteller seinen Freund Schiller auf, sich zu seiner nationalsozialistischen Vergangenheit zu bekennen.“…“Die Dokumente belegten, dass Grass den Minister, der SA-Mitglied gewesen sei, wiederholt aufgefordert habe, diese Verstrickung öffentlich einzugestehen.“ … „Grass betonte in den Briefen an Schiller dem Zeitungsbericht zufolge, ihm sei „diese Materie nicht unvertraut“. „Es wäre für Sie eine Erleichterung und gleichfalls für die Öffentlichkeit so etwas wie die Wohltat eines reinigenden Gewitters“, hieß es in einem Brief an Karl Schiller weiter.“15 Grass hatte mit seinen Worten, sozusagen einen Monsterprozess gestartet. Lange Zeit war dieses Thema in der deutschsprachigen Presse Thema Nummer 1. Im Internet kann man 13 Frankfurter Allgemeine Zeitung [online] 11-08-2006. [zitiert 25-01-2010]. URL: http://www.faz.net/s/Rub501F42F1AA064C4CB17DF1C38AC00196 /Doc~E4E61DA913E954EAEA41518E564AD5375~ATpl~Ecommon~Scontent.html 14 Diese deutsche Katastrophe ist einfach kaum zu begreifen. Corsten, Volker. Welt online. Uwe Timm: "Es hätte Anlässe gegeben" [online]. 2006 .[zitiert 26.01.2010] URL: http://www.welt.de/print-wams/article86890/Uwe_Timm_Es_haette_Anlaesse_gegeben.html 15 Focus online. Günter Grass Meister der Verdrängung [online].29-09-2006. [zitiert 26-01-2010]. URL: http://www.focus.de/kultur/buecher/guenter-grass_aid_116499.html 12
tausende Artikel über seine Zugehörigkeit zur Waffen SS lesen. Und das nicht nur in deutscher Sprache. Wenn man in Google „Grass SS“ schreibt, findet diese Suchmaschine mehr als 8 800 000 Treffer! (27.1.2010) Viele davon sind deutsch und englisch geschrieben. Aber es bereitet keinerlei Schwierigkeiten, solche zu finden, die in der französischen, tschechischen, slowakischen, russischen und sogar japanischen Sprache geschrieben sind. Wie viele andere Skandale begann auch dieser mit einem Interview, und zwar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Im Unterschied zu anderen Gesprächen, bei denen der Gefragte etwas unbewusst verrät, war alles, was er damals gesagt hat, geplant. Grass wollte einfach, dass das Leserpublikum über diese seine Mitteilung diskutiert. Dazu ein Ausschnitt aus dem Interview, das soviel Aufsehen erregt hat, aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Sie haben wiederholt berichtet, daß erst Baldur von Schirachs Schuldbekenntnis in Nürnberg Sie davon überzeugen konnte, daß die Deutschen den Völkermord begangen haben. Aber jetzt sprechen Sie zum ersten Mal und völlig überraschend darüber, daß Sie Mitglied der Waffen-SS waren. Warum erst jetzt? Das hat mich bedrückt. Mein Schweigen über all die Jahre zählt zu den Gründen, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Das mußte raus, endlich. ...“ … „Haben Sie damals mit Ihren Kameraden darüber gesprochen, was es bedeutet, in der Waffen-SS zu sein? War das ein Thema unter den jungen Männern, die sich da zusammengewürfelt fanden? In der Einheit war es so, wie ich es im Buch beschrieben habe: Schliff. Es gab nichts anderes. Da hieß es nur: Wie komme ich drum herum? Ich habe mir selbst die Gelbsucht beigebracht, das reichte aber nur für ein paar Wochen. Danach begann wieder die Hundsschleiferei und eine unzureichende Ausbildung mit veraltetem Gerät. - Jedenfalls mußte es geschrieben werden. Sie hätten es nicht schreiben müssen. Niemand konnte Sie dazu zwingen. Es war mein eigener Zwang, der mich dazu gebracht hat.“16 An diesem Tag fing für Günter Grass das niemals mehr stillstehende Karussell von Interviews und Beichten an. Die Frage der letzten Jahre in seinem Zusammenhang ist: Warum erst jetzt? Es kann ein Zufall sein, die Antwort kann aber auch in den allerersten Sätzen seines Buchs Im Krebsgang liegen: 16 Frankfurter Allgemeine Zeitung. Günter Grass im Interview „Warum ich nach sechzig Jahren mein Schweigen breche“ [online]. 11-08-2006. [zitiert 27-01-2010]. URL: http://www.faz.net/s/Rub1DA1FB848C1E44858CB87A0FE6AD1B68/Doc~ED1E99E51572441E696FB0443C A308A56~ATpl~Ecommon~Scontent.html 13
„ »Warum erst jetzt?« sagte jemand, der nicht ich bin. Weil Mutter mir immer wieder ... Weil ich wie damals, als der Schrei überm Wasser lag, schreien wollte, aber nicht konnte ... Weil die Wahrheit kaum mehr als drei Zeilen ... Weil jetzt erst ...“17 Nicht nur die Historiker und die deutsche Intelligenz, aber auch die breite Öffentlichkeit wollten wissen, warum Grass mindestens zwei groβe Gelegenheiten nicht genutzt hat, um über seine Vergangenheit zu reden. Die erste war im Jahr 1967, als er Israel besuchte und wo er eine lange Rede gehalten hat, respektive die im Jahr 1985, als der amerikanische Präsident Ronald Reagan den Militärfriedhof Bitburg besuchte, wo junge SS Soldaten begraben liegen, wie eben Grass damals einer war. Merkwürdig könnte auch für jemanden sein, dass Grass sein Bekenntnis am Vorabend des Erscheinens seines Buchs Beim Häuten der Zwiebel machte. Manche nennen es nur eine wässrige Propaganda, ein gründlich geplantes Marketing. Aber dieses würde nur im Falle sinkender Beliebtheit des Autors stimmen. Und das kann bei Grass kaum in Frage kommen. Sein vorheriger Roman (vor Beim Häuten der Zwiebel, worin seine Stellungsnahme enthalten ist) Im Krebsgang brauchte keine derartige Unterstützung und trotzdem wurde er für mehrere Wochen die Nummer 1 in der Hitparade der deutschen Bücher. Und das gilt fast bei jedem Buch von Grass. 17 Grass, Günter. Im Krebsgang. Deutscher Taschenbuch Verlag 2009. S.7 14
„Es hat keinen Sinn, gegen den Moralapostel die Moral ins Feld zu führen“18 - Arno Widmann, 2006 2.2 SS und Moral Bis zum Erscheinen des Interviews mit Grass war man der Auffassung, dass er als Flakhelfer und dann als gewöhnlicher Wehrmachtsoldat im Zweiten Weltkrieg kämpfte. Was inzwischen ebenfalls klar ist: Grass meldete sich schon mit fünfzehn Jahren freiwillig zur U-Boot-Truppe, aber dort haben sie keine neuen Bewerber mehr genommen. Das meinte bislang die ganze Welt. Aber die Wahrheit war irgendwo anders. „Er hat erzählt, dass er zur Waffen-SS rekrutiert wurde. Er hatte sich damals zuvor freiwillig zur U-Boot-Truppe gemeldet, dort haben sie ihn nicht genommen. Aber weil es schon seine freiwillige Meldung gab, haben sie diese Meldung genommen, um ihn zur Waffen-SS zu rekrutieren - das war damals offensichtlich Usus. Das hat er erzählt.“19 Grass wurde mit 17 einberufen und kam vom Arbeitsdienst zur 10. Panzerdivision "Frundsberg", die zur Waffen-SS gehörte. Er teilte mit, er habe nicht einmal geschossen. Das ist auch, Kritiker zufolge, eine ganz mutige Erklärung. Teodor Marjanovič zum Beispiel schieb im MF Dnes20, dass Frundsberg21 eine elitäre militärische Formation war. Die Geschichte dieser Panzerdivision ist mit harten Kämpfen sowohl an der West- als auch an der Ostfront verbunden. Kurz vor Kriegsende wurde Grass dann verletzt und am 8.Mai fiel er in Feindeshand – in amerikanische Gefangenschaft. Grass hat viel über „seine Generation“ im Zusammenhang mit dem Zweitem Weltkrieg gesprochen. Reinhard Mohr schrieb dazu im Spiegel online. „Die Generation Grass ist eine vergiftete Generation, eine Generation, die in der Schizophrenie lebt. Einerseits hat sie politisch und intellektuell mit der Nazi-Herrschaft radikal abgerechnet, andererseits ist sie nicht imstande, die eigenen und selbst eingestandenen, oft diffusen und 18 Widmann, Arno. Unser Wegweiser [online]. 15-08-2006. [zitiert 29-01-2010]. URL: http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2006/0815/seite3/0001/index.html 19 Spiegel Online. Es ist ein Armutszeugnis, wie Grass behandelt wird [online]. 15-08-2006. [zitiert 17-03-2010]. URL: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,431855,00.html 20 Marjanovič, Teodor. Grassova divize prošla řadou bitev [online].15-8-2006. [zitiert 29-01-2010]. URL: http://zpravy.idnes.cz/grassova-divize-prosla-radou-bitev-duu- /zahranicni.asp?c=A060814_215115_zahranicni_ad 21 Für Tschechen kann interessant sein, dass noch vor Grass’ Einberufung der Kommandeur, Generalleutnant der Waffen-SS Karl von Fischer-Treuenfeld, Befehle dieser Panzerdivision erteilt hat. Unter der Leitung dieses Mannes standen die Truppen, die im Juni 1942 die tschechoslowakischen Fallschirmspringer Gabčík und Kubiš, die vorher das Attentat auf den Reichsprotektor Reinhard Heydrich in Prag verübt hatten. 15
zwiespältigen Scham- und Schuldgefühle ähnlich klar und unmissverständlich zu artikulieren. Lieber fühlt man sich als Opfer einer ungerechten Öffentlichkeit.“22 Wie hier zu sehen ist, waren die Medien Grass gegenüber unbarmherzig. Und keiner sollte sich darüber wundern. Fast immer gab seine Vergangenheit den Ausschlag. Er war doch das Gewissen des deutschen Volkes, der Wächter der deutschen Moral. Aber im 2006 zerbrach dieses Bild. Der Spiegel schrieb am 21.8.2006: „Der Blechtrommler. Spätes Bekenntnis eines Moral-Apostels“23, und dazu hatte er eine Titelseite gedruckt, die heutzutage schon als Klassiker gilt.24 Dazu Michael Braun: „Wiederum spielt das Titelbild mit dem markanten physiognomischen Profil des Autors, der, mit Walrossschnauzbart und Lesebrille, Anarchie und Intellektualität zu vereinen scheint; statt des Namens wird die personifizierte Marke genannt, die ihn berühmt gemach hat, und dieser Ruhm des fast achtzigjährigen Nobelpreisträgers wird nun auf seine höchst anrüchige Vergangenheit als siebzehnjähriger SS-Soldat übertragen. Im Matrosenanzug trommelt „Der Blechtrommler“ auf einen Helm mit den SS-Runen.“25 3. Fakten Das Buch Im Krebsgang ist auf den historischen Begebenheiten aus dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut. Günter Grass hat Fiktion sehr geschickt mit realen historischen Ereignissen vermischt. Um zu wissen, was dabei die Wahrheit und was nur Imagination des Schriftstellers war, hat man sich mit den faktographischen Angaben näher zu befassen. 3.1 Wilhelm Gustloff Der Träger des Namens Wilhelm Gustloff wurde am 30.Januar 1895 in Schwerin geboren. Als er seine Lehre als Bankkaufmann beendet hatte, schickte ihn seine Bank in die Schweiz, damit er dort seine Krankheit heilen konnte. Gustloff hatte einen angegriffenen Kehlkopf. Nach der Kur arbeitete er in einem Observatorium. Dann trat er in die Partei. Gustloff ist schnell in der Hierarchie aufgestiegen und wurde zum Landesgruppenleiter ernannt. Am 4. Februar 1936 hat ihn freilich der jüdische Student David Frankfurter erschossen. 22 Mohr, Reinhard. Übelnehmen im Ohrensessel [online].18-08-2006. [zitiert 29-01-2010]. URL: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,432325,00.html 23 Spiegel Online. Der Blechtrommler [online].21-08-2006. [zitiert 01-02-2010]. URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-48495885.html 24 Anlage Nr.1 25 Braun, Michael (Hrsg.). Die Medien, die Erinnerung, das Tabu: „Im Krebsgang“ und „Beim Häuten der Zwiebel“ von Günter Grass. In: Tabu und Tabubruch in Literatur und Film. Würzburg (Königshausen&Neumann) 2007, S. 118-119. 16
Von der nationalsozialistischen Propaganda wurde Gustloff sofort zum Blutzeugen der Bewegung erklärt. Sein Begräbnis war eine groβe Begebenheit. Anwesend waren alle wichtigen und herausragenden Vertreter des Naziregimes – an der Spitze mit Adolf Hitler, Joseph Goebbels, Hermann Göring, Heinrich Himmler, Martin Bormann und Joachim von Ribbentrop. Der Sarg mit Gustloffs Leiche fuhr in einem speziellen Zug von Davos heim ins Reich. Adolf Hitler hat sogar eine Rede gehalten, die aber wegen der sich nähernden Olympischen Winterspiele nicht sehr aggressiv sein konnte. Zu seiner Zeit war gerade ein KdF-Schiff im Bau, das „Adolf Hitler“ genannt werden sollte. Dieser sagte aber auf der Beerdigung der Hedwig Gustloff, dass die Welt niemals ihren Mann vergessen wird, also beschloss er das Schiff „Wilhelm Gustloff“ zu nennen. Interessant ist auch die Tatsache, dass Hedwig Gustloff bis zum 8. November 1923 Hitlers Sekretärin war. 3.2 David Frankfurter David Frankfurter wurde am 9. Juli 1909 in Daruvar (damals Österreich-Ungarn, heute Kroatien) geboren. Sein Vater war Oberrabbi, also der religiöse Weg war ihm noch vor der Geburt vorgezeichnet. David war ein körperlich schwaches Kind. Er litt an Knochentumor und musste deshalb öfter operiert werden. Zum Studium der Medizin ging er nach Wien wo er die erste Judenangriffe und Pogrome erlebte. Deswegen floh er 1933 in die Schweiz, lieβ sich in Bern nieder und wollte wieder an seine Studien anknüpfen, aber Frankfurter war kein guter Student. Er brach das Studium ab. 3.2.1 Das Attentat Am 4. Februar 1936 hat David Frankfurter in Davos die Türklingel mit der Aufschrift Wilhelm Gustloff gedrückt. Die Tür öffnete Hedwig Gustloff. Frankfurter bat sie um ein Gespräch mit dem Landesgruppenleiter. Gustloff hatte gerade telefoniert, also führte sie Frankfurter in das Arbeitszimmer und sagte zu ihm, er solle Platz nehmen. Sobald Gustloff ins Zimmer kam, begann Frankfurter zu schießen. Er hat insgesamt vier Schüsse aus dem Revolver abgegeben. Alle vier Kugeln haben ihren Ziel gefunden, im Brustkorb, Kopf und Hals. Der Attentäter verlieβ dann normal das Gebäude und niemand hat ihm aufgehalten. Wenige Stunden später stellte er sich freiwillig der Polizei. Frankfurter wurde am 14. Dezember 1936 zu achtzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Dieser Prozess hat in Chur stattgefunden. Er saβ im Arrest aber „nur“ neun Jahre ab. Nach 17
Kriegsende wurde er am 1. Juni 1945 freigelassen und aus der Schweiz ausgewiesen. Er verstarb in Israel. Dieses Attentat war der erste bedeutende, gegen die Nazis gerichtete Angriff auβerhalb von Deutschland. 3.3 Alexander Marinesko Alexander wurde am 2. Januar 1913 in Odessa geboren. Seine Mutter stammte aus der Ukraine und sein Vater war ein rumänischer Seemann. Der kleine Marinesko wuchs in einem harten Milieu auf. Seine Familie war arm und wohnte in einem Hafenviertel, wo das Leben vom Recht der Stärkeren bestimmt war. Dort konnte aus ihm nichts anderes als ein Dieb und Radaumacher werden. Seine Karriere begann aber bei der Handelsflotte. Von dort war es nur ein kleiner Schritt zur die Schwarzmeerflotte der Marine. Marinesko war zielbewusst und wollte nicht ein Leben lang Maat bleiben, deshalb besuchte er einen Navigationslehrgang. Dann wurde er zur U-Boot-Ausbildung abkommandiert. Im Laufe der Zeit arbeitete er sich auf den Posten des Kapitäns dritter Klasse hinauf und bekam das moderne U-Boot S-13. Marinesko hatte freilich groβe Probleme mit dem Alkohol. Zu Lande war er fast immer betrunken, aber hinter dem Steuerrad war der Alkohol tabu für ihn. Im Dezember 1944 sollte Marinesko eine U-Boot Fahrt unternehmen, aber er blieb unentschuldigt dem Dienste fern. Wenn er also rechtzeitig zu diesem Unternehmen angetreten wäre, hätte künftige Unglück gar nicht passieren müssen. Aber Marinesko meldete sich erst am 3. Januar 1945 zurück und sagte zur Entschuldigung, er wisse nicht mehr, wo er die Woche zuvor gewesen sei. Marinesko wurde mit dem Kriegsgericht gedroht. Als Ausweg wurde ihm geboten: Er sollte einen glänzenden Erfolg vorweisen. Und die unbewaffnete Wilhelm Gustloff gab ihm die Chance. Nach dem Krieg wurde Marinesko aus der Marine entlassen. Er starb als armer Mann im Jahr 1963 in Leningrad. Im Jahr 1990 wurde Marinesko für seine Heldentat (sein Verbrechen) eine Statue als Denkmal in St. Petersburg errichtet und ihn selber erklärte man zum Helden der Sowjetunion. 18
3.4 Wilhelm Gustloff (Schiff) 26 Im Januar 1936 hat die Deutsche Arbeitsfront ein neues Schiff für die immer populäreren Reisen nach Norwegen und ins Mittelmeer gebraucht. Für diese Reisen war die untergeordnete Organisation Kraft durch Freude27 verantwortlich. Die Anforderungen beim Schiffsbau waren für diese Zeit ungewöhnt: breite Decks, groβe helle Säle und vor allem gleiche Kabinen für alle. Sowohl Personal als auch Gäste haben in gleichen Zimmern gelebt, entweder für zwei oder für drei. Das war damals nicht üblich. Das Schiff sollte den Eindruck erwecken, dass an Bord alle eben gleich sind. Einzige Ausnahmen waren das Zimmer für Robert Ley (Leiter der Deutschen Arbeitsfront) und Adolf Hitler (der es aber niemals benutzte). Alle Kabinen verfügten über flieβendes warmes und kaltes Wasser, was damals ein hoher Komfort war. Die Gustloff war ein bemerkenswertes Schiff. In der Zeit des Baus war es das gröβte und mit seinen 25 Millionen Reichsmark für die Baukosten auch das teuerste Schiff der Welt. Mit einer Länge von 208,5 Meter, einer Breite von über 25 Meter und einer Höhe von mehr als 17 Meter war sie ein Meisterwerk des deutschen Schiffbaus. Die Gustloff bot 1463 Passagieren Platz, die von 417 Besatzungsmitgliedern betreut wurden. Sie verfügte über zehn Decks sowie verschiedene Säle für Freizeitaktivitäten, ein Schwimmbad, eine Fleischerei, eine Bäckerei und eine Wäscherei. Am 15. März 1938 war endlich der Stapellauf des Schiffes. Es folgte keine offizielle Reise, lediglich eine zweitägige Test-Fahrt. Nur auserwählte Passagiere durften am 24. März 1938 an der so genannten Jungfernfahrt teilnehmen. Ironisch war, dass bei der Indienststellung des gröβten deutschen Schiffes die Mehrheit der Passagiere nicht deutsch war. Mehr als zwei 26 Die DAF sollte als neue einheitliche Organisation "durch Bildung einer wirklichen Volks- und Leistungsgemeinschaft, die dem Klassenkampfgedanken abgeschworen hat" die Interessen "aller schaffenden Deutschen" wahrnehmen. Diese Zwangsgemeinschaft von Arbeitnehmern und Arbeitgebern war mit 25 Millionen Mitgliedern im Jahr 1942 die größte Massenorganisation im Deutschen Reich. Ihr Reichsleiter Robert Ley versuchte mit einer Bürokratie von 44.000 hauptamtlichen und 1,3 Millionen ehrenamtlichen Mitarbeitern in nahezu alle Bereiche der nationalsozialistischen Wirtschafts- und Sozialpolitik einzudringen. Deutsches historisches Museum. Deutsche Arbeitsfront (DAF). [online]. [zitiert 04-02-2010]. URL: http://www.dhm.de/lemo/html/nazi/organisationen/daf/index.html 27 Die am 27. November 1933 gegründete NS-Gemeinschaft "Kraft durch Freude" (KdF) war die populärste Organisation im NS-Regime. Das Volkswagen-Projekt sowie Nah- und Fernreisen gehörten zu den wichtigsten Aktivitäten der Freizeitorganisation KdF, einer Unterorganisation der Deutschen Arbeitsfront (DAF). Mit dem umfassenden Wirken dieser Organisation sollte vorrangig die Arbeiterschaft in die "Volksgemeinschaft" integriert werden. Zugleich sollten so die im Zuge der Aufrüstung notwendigen Produktionssteigerungen ohne nennenswerte Lohnerhöhungen durchgesetzt werden. KdF-Veranstaltungen sollten der Entspannung und der Regeneration zur Erhöhung der Arbeitsleistung dienen, wozu auch die Verbesserung und Verschönerung der Arbeitsplätze mit Kantinen, Sportstätten oder Grünanlagen gehörte. Die Organisation KdF, die den Zugang zu bisher bürgerlichen Privilegien anbot, diente letztlich der Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft im Sinne der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Deutsches historisches Museum. Kraft durch Freude [online]. [zitiert 04-02-2010]. URL: http://www.dhm.de/lemo/html/nazi/innenpolitik/kdf/ 19
Drittel stellten die Österreicher. In Österreich sollte nämlich schon bald die Volksabstimmung durchgeführt werden, bei der sich die Österreicher entscheiden sollten, ob sie zum Deutschen Reich gehören wollten oder nicht. Letztlich war es bereits gleichgültig, weil Hitler über Österreichs Anschluss schon am 12. März 1938 entschieden hatte. Aber als Propaganda- Aktion war die Fahrt perfekt geplant. Zu Propagandazwecken befanden sich auf der Gustloff noch 165 Journalisten aus aller Welt, die nach der Fahrt schreiben sollten, wie perfekt die Reise war. Und sie mussten nicht lügen. Alles war bis ins Detail durchgearbeitet und die Journalistenbereichte waren mit nichts anderem als mit lauter Superlativen gefüllt. Diese Jungfernfahrt war also keine typische KdF-Reise. Einer solche wurde erst die zweite. Das Schiff war voll von Arbeitern aus dem Dritten Reich und fuhr bis in die Nähe von Dover. Damals herrschte schlechtes Wetter, viel schlimmer noch als bei der ersten Reise. Die Gustloff erhielt am 3.April 1938 einen SOS-Ruf des britischen Frachters Pegaway. Dieses Schiff ging 40 Kilometer von Terschelling (Niederlande) entfernt gerade unter. Am nächsten Tag rettete die Gustloff 19 britische Seemänner, was die deutsche Propaganda entsprechend darstellte. 7. April 1938 war für das Schiff das nächste wichtige Datum. Kapitän Lübbe erhielt den Auftrag, zu den englischen Ufern zu reisen, um dort ein schwimmendes Wahllokal zu bilden. Es ging um Österreichs Anschluss. Das Dritte Reich wollte eine Gelegenheit, sich dafür oder dagegen auszudrücken auch den Auslandsdeutschen verschaffen. Das war wieder eine Möglichkeit für die deutsche Propaganda. Gustloff ankerte 5 Kilometer vor der britischen Küste. Den ganzen Tag über fuhren kleine Schiffe und Boote zur Gustloff und haben fast 2000 Leute an Bord herbeigebracht. Nur vier Stimmen waren gegen den Anschluss. Das alles hat die englische Presse beobachtet, fotografiert und sie hat darüber auch berichtet. Mit der Rückkehr aus England hat für die Gustloff dann die Saison erst richtig begonnen. Heute würde man sagen, dass sie ein „low cost“ Schiff war. Die Preise waren im Vergleich zu anderen Staaten dreimal oder viermal niedriger, weil das Reich diese Reise dotierte. Im Sommer fuhr die Gustloff nach Norwegen, um vor allem die Fjorde zu besichtigen, und im Winter konnten die Passagiere, die Mitglieder der Deutschen Arbeitsfront, die Sehenswürdigkeiten von Portugal oder Italien zu bewundern. 3.4.1 Legion Condor an Bord Bisher hatte die Gustloff nur friedlichen Zwecken gedient. Im Mai 1939 erhielt jedoch Kapitän Heinrich Bertram (schon der dritte Kapitän in der kurzen Geschichte des Schiffs) 20
spezielle Befehle. Er sollte zum spanischen Hafen Vigo aufbrechen und dort die deutsche Legion Condor an Bord nehmen.28 Das war zum ersten und gleichzeitig zum letzten Mal, dass die Gustloff ausschlieβlich als Militärtransporter diente. Als sie wieder nach Hamburg kam, warteten dort Tausenden von Menschen und die Soldaten wurden als Helden und Befreier gefeiert. Auch Generalfeldmarschall Hermann Göring und Robert Ley waren anwesend. Vor dem Beginn des Krieges sollte Gustloff noch eine wichtige Reise absolvieren. Im Juni 1939 gingen deutsche Athleten an Bord und fuhren nach Stockholm, um dort am Lingiad teilzunehmen. Lingiad war eine Athletenschau zu Ehren von Petr Henrik Ling, des Begründers des schwedischen Sports. Obwohl dort Gustloff mehrere Wochen lag, ankerte sie wieder einige hundert Meter vom Hafen entfernt. Weil Schweden kein offizieller Verbündeter der „Achse“29 war. Nur noch vier vollständige Reisen hat Gustloff nach ihrer Rückkehr nach Hamburg absolviert. Bei der fünften Reise (19. August 1939) verlieβ sie zwar Hamburg, aber bis zu den norwegischen Fjorden kam das Schiff schon nicht mehr. Kapitän Bertram erhielt eine verschlüsselte Nachricht und nach der Entschlüsselung und Öffnung des betreffenden Umschlages gab er einen Befehl, augenblicklich zurück nach Hamburg zurückzukehren, ohne zu die Gäste wecken und zu informieren. Die Gustloff kam zurück am 25. August 1939. Eine Woche später griff Deutschland Polen an. 28 Anfang August 1936 trafen erste Einheiten der offiziell aus "deutschen Freiwilligen" gebildeten Legion Condor in Spanien ein. Sie sollten den putschenden General Francisco Franco im Kampf gegen die Spanische Republik militärisch unterstützen. Der Umfang der militärischen Hilfe wurde in den nächsten Monaten rasch ausgeweitet, Anfang November 1936 verfügte die Legion Condor unter dem Befehl von Generalmajor Hugo Sperrle (1885- 1953) über 100 Flugzeuge und 5.000 Mann. Neben den "Freiwilligen" aus Deutschland kämpften italienische Verbände. Durch Rotation der Kontingente kamen insgesamt rund 20.000 deutsche Wehrmachtssoldaten auf dem spanischen Kriegsschauplatz zum Kampfeinsatz. Ihr Eingreifen begründeten Adolf Hitler und Benito Mussolini mit ihrer Entschlossenheit zum "Kampf gegen den Bolschewismus". Zudem bot der Spanische Bürgerkrieg eine willkommene Gelegenheit zum Test neuer Waffensysteme, besonders der Luftwaffe. International heftig verurteilt wurde der Bombenangriff auf die Stadt Guernica am 26. April 1937. Pablo Picassos Gemälde "Guernica" rückte die Leiden der Zivilbevölkerung in das Bewußtsein der Weltöffentlichkeit. In Deutschland hingegen begründeten die NS-Propaganda und Zeitschriften wie das Luftwaffen-Magazin "Der Adler" gezielt den "Mythos Legion Condor. Deutsches historisches Museum. Die Legion Kondor [online]. [zitiert 08-02-2010]. URL: http://www.dhm.de/lemo/html/nazi/aussenpolitik/condor/index.html 29 Als Achsenmächte (engl. Axis Powers) bezeichnet man im Zusammenhang des Zweiten Weltkriegs das Deutsche Reich und seine wechselnden Bündnispartner, insbesondere Italien und Japan, und damit die Kriegsgegner der Alliierten. Daneben gab es die „Achse Berlin-Tokio“, so dass auch von einer „Achse Berlin- Rom-Tokio“ gesprochen wurde. Auf ihrem Höhepunkt der Macht beherrschten die Achsenmächte große Teile Europas, Asiens und des pazifischen Ozeans. Holocaust und zweiter Weltkrieg (1939-1945).Achsenmächte [online]. [zitiert 08-02-2010]. URL http://www.zweiter-wk.de/tags/achsenmaechte.html 21
3.4.2 Kriegszeit Der Zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939 und die Zeit der Seereisen war beendet. Gustloff galt damals offiziell als Hilfsschiff der Kriegsmarine. Fast das ganze Personal wurde entlassen. Im Dienst blieben Kapitän Bertram und einige ältere Mitglieder der Besatzung. Ende September 1939 wurde das Schiff offiziell als Lazarettschiff bezeichnet und mit anderen Schiffen der Kraft-durch-Freude-Flotte musste sie der Kriegsmarine dienen. Interessant ist, dass die ersten Verwundeten nicht Deutsche, sondern Polen waren. Der erster „Auftrag“ für das umgebaute Schiff war also die Betreuung von 650 verletzten polnischen Soldaten und von nur zehn Deutschen des Minensuchers M 85.30 Wie schon betont wurde, konnte die Gustloff vor dem Beginn des Krieges nicht im norwegischen Hafen ankern. Jetzt, als Norwegen zur Kriegszone erklärt worden war, lag sie in Oslo mehr als drei Wochen. Der 20. November 1940 war wieder ein Meilenstein in der kurzen Geschichte dieses Schiffes. Sie war nochmals umgebaut worden, jetzt zu einer schwimmenden Kaserne für die zweite U- Boot-Lehrdivision. Damit ist auch die zweite Übermalung verbunden. Beim ersten Mal wurde sie mit roten Kreuzen „dekoriert“, jetzt verschwanden diese Kreuze, das ganze Schiff wurde marinegrau gestrichen. Erstmals seit Beginn des Krieges war das Schiff offiziell nicht mehr geschützt und konnte versenkt werden. In ersten Jahren des Krieges war das Training der U- Boot-Besatzung aufwendig, aber effektiv. Admiral Dönitzs „Rudeltaktik“31 machte die Deutschen überlegen und die Alliierten wussten sich lange nicht dagegen zu wehren. Aber mit zunehmender Dauer des Krieges wurde die Belegschaft immer jünger und verbrachte dort immer weniger Zeit. Die Gustloff ankerte bereits vier Jahre in Gotenhafen und auβer eines Luftangriffes geschah nichts Bedeutendes, nur dass sicht die Front zu nähern begann. Die Deutschen begannen den Zweiten Weltkrieg zu verlieren und die Russen kamen immer näher an Danzig heran. Die Welle der Flüchtlinge, die vor der Roten Arme flohen, wurde jeden Tag gröβer. Und alle wollten den Hafen von Danzig erreichen in der Hoffnung, auf einem Schiff entkommen zu können. Die Masse der Flüchtlinge wurde im Laufe der Zeit so groβ, dass sie mehrere Nächte auf der Mole übernachten mussten, um einen Schiffsplatz zu bekommen. Und nun hatte im Oktober die Rote Arme unter Führung von General Galitsky die ostdeutsche Grenze bereits 30 Rohwer, Jürgen. Chronik des Seekrieges 1939-1945 [online]. [zitiert 10-02-2010]. URL: http://www.wlb-stuttgart.de/seekrieg/39-08.htm 31 Webmaster of Deutsche U-Boote 1935 – 1945.Die Geburt der grauen Wölfe [online]. [zitiert 10-02-2010. URL: http://www.u-boote-online.de/krieg/geburt.html 22
überschritten. Für die Sowjetarmee nahte nicht nur die Stunde des Sieges, sondern auch die Stunde der Rache. Unterstützt von Parolen des Schriftstellers Ilja Ehrenburg hat die Rote Armee geraubt, getötet und vergewaltigt. „Dort in Deutschland versteckt sich der Deutsche, der dein Kind gemordet, deine Frau, Braut und Schwester vergewaltigt, deine Mutter, deinen Vater erschossen, deinen Herd neidergebrannt hat!“32 „Wenn du einen Deutschen getötet hast, töte noch einen - es gibt für uns nichts Lustigeres, als deutsche Leichen. Zähle nicht die Tage. Zähle nicht die Kilometer. Zähle nur eins: die von dir getöteten Deutschen. Töte den Deutschen! - das bittet die alte Mutter. Töte den Deutschen! - das fleht das Kind. Töte den Deutschen! - das ruft die Heimaterde. Verfehle nicht das Ziel. Laß ihn nicht entgehen. Töte!“ Ilja Ehrenburg 33 Der Strom der Flüchtlinge wurde noch gröβer nach der Eroberung des ersten deutschen Dorfs, das in sowjetische Hände fiel. „Am 21./22. Oktober 1944 wurde Nemmersdorf als einer der ersten deutsche Orte von der Roten Armee eingenommen. Einen Tag später schlug die Wehrmacht die Rote Armee noch einmal zurück und fand Opfer eines Massakers, vor allem Frauen und Kinder, vor. "Nemmersdorf" wurde zum Fanal der Flucht und der Untaten der Roten Armee an der ostdeutschen Bevölkerung.“34 3.4.3 Operation Hannibal Die Operation Hannibal war wahrscheinlich die gröβte Flüchtlingsoperation, die es je gab. Für diese Operation war Karl Dönitz verantwortlich, obwohl sie Hitlers Missfallen erregte. Befehl des Admirals sollte alles, was schwimmen konnte, Flüchtlinge Richtung Westen zu transportieren. Mehr als zwei Millionen Menschen hat Dönitz auf dieser Weise gerettet. Am 28. Januar 1945 sollte die Gustloff zur Ausfahrt bereitet sein. Im Danziger Hafen drängten sich Hunderttausende von Flüchtlingen zusammen, die um jeden Preis an Bord gelangen wollten. Zu Beginn wurden nur die verwundeten Soldaten, das Schiffspersonal und einige Hunderte von den Nachrichtenhelferinnen der Marine aufgenommen. Dann selbstverständlich auch solche, die hochgestellte Bekannte hatten und auβerdem solche, die zahlungskräftig waren. Erst dann konnten sich die Flüchtlinge einschiffen. Alle hatten einen Ausweis, der sie zum Aufenthalt auf der Gustloff berechtigte. Die offizielle Liste besagt, dass 32 Fuhrer, Armin. Die Todesfahrt der Gustloff [online]. [zitiert 15-02-2010]. URL: http://www.wilhelm-gustloff.net/ 33 Ahrens, Wilfried. Verbrechen an Deutschen. Dokumente der Vertreibung. Bruckmühl. Ahrens-Verlag 1983. S. 16. 34 Hinz, Thorsten. Nemmersdorf: Neue Aspekte eines Verbrechens[online]. 14-11-2207. [zitiert 10-02-2010]. URL: http://www.jf-archiv.de/archiv/47aa15.htm 23
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