Gute Pflege Aufbruch - Entfalten und die Zukunft gestalten - Evangelische Heimstiftung

Die Seite wird erstellt Hortensia-Luzy Schenk
 
WEITER LESEN
Gute Pflege Aufbruch - Entfalten und die Zukunft gestalten - Evangelische Heimstiftung
Gute Pflege
1 | 2021

           Das Magazin der Evangelischen Heimstiftung

                        Aufbruch.
                            –
                              Entfalten und die
                              Zukunft gestalten
Gute Pflege Aufbruch - Entfalten und die Zukunft gestalten - Evangelische Heimstiftung
04                                                                      10                                  14

                                                                             Innovation
                                                                               4 | Voraus. Innovation aus Verantwortung
                                                                             10 | LebenPLUS. Ein Zukunftsprojekt entsteht

                                                                             Pflege im Fokus

                     Voraus.                                                 14 | Wertvoll. Was heißt hier eigentlich
                                                                                   systemrelevant?

                          –
                      Innovation
                                                                             19 | Antonie Kraut. Gemeinsam schaffen
                                                                                   wir mehr

                  aus Verantwortung                                          22 | Corona-Impfung
                                                                                   Gefragt. Lisa Federle

                                                                             24 | Traineeprogramm
                                                                                   EHS lernen. EHS leben

                                                                             27 | Kommentar – (E)InSicht
                                                                                   Der Dritte Weg ist zukunftsfähig
     Impressum                          – Lutz Härer: S. 27
     Verantwortlich:                    – NABU, Stiftung Natur-              28 | Bauen
     Bernhard Schneider                 schutzfonds BW, Glücks-
                                        Spirale: S. 31
     Redaktion: Ann-Christin Kulick
     Telefon 0711 63676-125             Produktion und Druck:                30 | Grüne Pflege
     redaktion@ev-heimstiftung.de       Offizin Scheufele,
     Nicht gekennzeichnete Artikel
                                        Druck und Medien GmbH                      Blühende Gärten
                                        + Co.KG
     sind von der Redaktion
     verfasst                           Nachdruck und elektronische
     Anschrift Redaktion
                                        Verwendung nur mit schrift-          32 | Personalien
                                        licher Genehmigung.
     Gute Pflege. Hackstraße 12,
     70190 Stuttgart
                                        „Gute Pflege. Das Magazin der              Neue Führungskräfte
                                        Evangelischen Heimstiftung“
     Gestaltung:                        erscheint dreimal jährlich.
     AmedickSommer GmbH,                Auflage: 23.000
     Stuttgart                                                               34 | Das sind wir
                                        Herausgeber:
     Fotos:                             Evangelische Heimstiftung                  Die Tagespflegen
     alle Fotos Evangelische Heim-      GmbH
     stiftung mit Ausnahme von:         www.ev-heimstiftung.de
     – Adobe Stock: Titel ipopba;       Der Bezugspreis ist durch den
     S. 2 (o.l.), 4 Alex Stemmer;       Beitrag abgegolten.
     S. 2 (o.r.), 14 zolga; S. 6 JPC-
     PROD und Vane Nunes;               Im Magazin werden, soweit
     S. 24/26 Anna; S. 30 Anatolii;     möglich, neutrale, alle
     S. 34 Lightfield Studios           Geschlechter einschließende,
                                        Begriffe verwendet – oberstes
     – ARP-Architekten: S. 10-13        Gebot bleibt jedoch die
     – Raimund Weible: S. 23            Verständlichkeit der Sprache.

     2   | Gute Pflege | 1_2021 |
Gute Pflege Aufbruch - Entfalten und die Zukunft gestalten - Evangelische Heimstiftung
19   Gute Pflege.
     Das Magazin der
     Evangelischen
     Heimstiftung.

     Liebe Leserinnen, liebe Leser,
     die erste Ausgabe der Guten Pflege in diesem Jahr veröffent-
     lichen wir in einer Zeit voller Zuversicht. Gut ein Jahr nach
     dem Beginn der Pandemie und der in der Geschichte der
     Evangelischen Heimstiftung erstmaligen Schließung unserer
     Einrichtungen für Besucherinnen und Besucher, erreichen
     wir in immer mehr unserer Einrichtungen eine Impfquote
     von 80 Prozent und mehr. Das bedeutet, dass wir allen
     Grund haben zuversichtlich zu sein, bald den Krisenmodus
     verlassen und hinein in die Normalität gehen zu können.

     In dieser Ausgabe blicken wir noch einmal zurück auf das,
     was die Mitarbeitenden der EHS in diesem bewegten Jahr
     geleistet haben. Wir beschäftigen uns mit dem viel disku-
     tierten Begriff „systemrelevant“ und damit, dass unsere
     Arbeit noch so viel mehr bedeutet.

     Wir blicken aber auch in die Zukunft: mit unserem Titel-
     thema zum Selbstverständnis und der Verantwortung vor-
     auszuschauen – mit innovativen Ideen und Strukturen, mit
     der Grünen Pflege und unserem Traineeprogramm. Und wir
     beschäftigen uns auch mit den Wurzeln dieses Unternehmens
     und damit, was uns Unternehmensgründerin Dr. Antonie
     Kraut in der heutigen Zeit zu sagen hätte. Viel Spaß mit der
     Ausgabe „Aufbruch. Entfalten und die Zukunft gestalten“.

     Ihre Gute-Pflege-Redaktion

                                                                     | Gute Pflege | 1_2021 |   3
Gute Pflege Aufbruch - Entfalten und die Zukunft gestalten - Evangelische Heimstiftung
Innovation

                                Voraus.
                                   –
                                   Innovation
                               aus Verantwortung

4   | Gute Pflege | 1_2021 |
Gute Pflege Aufbruch - Entfalten und die Zukunft gestalten - Evangelische Heimstiftung
„Die Evangelische Heimstiftung hat die Aufgabe,
  alten, kranken und behinderten Menschen ein
  Zuhause zu geben oder sie in anderer Form zu
  betreuen und sich in der Öffentlichkeit für deren
  Belange einzusetzen“.
 Erster Satz in der Präambel zum Leitbild der Evangelischen Heimstiftung.

                  Dieser Verantwortung stellt sich die EHS ganz        vorauszudenken und präventiv zu agieren.
                  bewusst und leitet daraus auch einen Hand-           Schlussendlich versteht man unter Innovation
                  lungsgrundsatz ab, der Innovation als Chance         auch, Trends auszuschöpfen und Potenziale zu
                  beschreibt: „Wir entwickeln auf der Grundlage        nutzen, die aus neuen Technologien entstehen, auf
                  unserer Erfahrungen und der aktuellen wissen-        Basis der Anforderungen aus der Praxis noch nicht
                  schaftlichen Erkenntnisse neue, moderne Kon-         bekannte Lösungen zu finden und zu etablieren.
                  zepte, Produkte und Prozesse. Durch deren            Dies geschieht zum Beispiel in Forschungsprojek-
                  Implementierung gestalten wir aktiv Verände-         ten und interdisziplinärer Zusammenarbeit.
                  rungsprozesse zum Nutzen unserer Kundinnen,
                  Kunden und Mitarbeitenden.“
                                                                                        Innovation
                                                                                    als Gesamtkonzept
                      Doch die EHS geht noch einen Schritt weiter.
                  „Wir sehen Innovation nicht nur als Chance,          Aber was bedeutet nun Innovation konkret für
                  sondern als Verpflichtung aus unserem Selbstver-     das Umfeld der Altenpflege? In der EHS findet
                  ständnis als diakonisches Unternehmen heraus         Innovation auf all den genannten Wegen statt
                  Dienstleister zu sein und auf allen Ebenen gute      und das in verschiedensten Themenbereichen des
                  Pflege sicherzustellen – auch, indem wir unseren     Unternehmens. „Innovation auf den Begriff
                  Mitarbeitenden ein Arbeitgeber nach ihren Vor-       Digitalisierung herunterzubrechen, finde ich zu
                  stellungen sind“, erklärt Hauptgeschäftsführer       kurz gegriffen, auch wenn diese natürlich eine
                  Bernhard Schneider. „Wer nicht innovativ ist,        große Rolle spielt. Wir verstehen Innovation in
                  bleibt stehen. Unser Anspruch ist aber, unsere       der EHS als Gesamtkonzept“, beschreibt Schnei-
                  Konzepte, Prozesse und Produkte so weiterzuent-      der die Strategie. „Unser Innovationszentrum
                  wickeln, dass sie den sich verändernden Bedürf-      beteiligt sich zum Beispiel an Forschungsvorha-
                  nissen unserer Kundinnen, Kunden und Mitar-          ben. Wir haben dabei den Vorteil, nicht nur das
                  beitenden entsprechen sowie beste Qualität           Fachwissen, sondern auch eine Reihe Einrichtun-
                  ermöglichen.“                                        gen als Praxispartner einbringen zu können und
                                                                       so auch praxisrelevante Ergebnisse zu erlangen.
                      Innovation kann dabei aus unterschiedlichen      Unsere Forschungsprojekte beschäftigen sich mit
                  Situationen heraus entstehen. Treten unvorherge-     der Verbesserung bestehender oder der Implemen-
                  sehene Ereignisse ein, wie etwa die Coronakrise,     tierung neuer Prozesse, Dienstleistungen und
                  die das Umfeld verändern, in dem sich ein Unter-     Produkte in der Altenpflege, um unseren Kundin-
                  nehmen bewegt, kann Innovation zum Beispiel          nen und Kunden die beste Pflege und Betreuung
                  darin bestehen, besonders schnell, vorausschau-      auf dem neuesten Stand der Forschung (und der
                  end und über das verpflichtende Maß hinaus auf       Technik) zu ermöglichen“, berichtet Dr. Susan
                  die gegebenen Umstände zu reagieren. Innovation      Smeaton, die das Innovationszentrum leitet. Im
                  bedeutet aber auch, prognostizierte (gesellschaft-   Referat Assistenzsysteme und Digitalisierung
                  liche) Entwicklungen frühzeitig zu erkennen,         spielen besonders technische Innovationen, wie         >>>

                                                                                                           | Gute Pflege | 1_2021 |   5
Gute Pflege Aufbruch - Entfalten und die Zukunft gestalten - Evangelische Heimstiftung
Innovation

                 > > > die Weitentwicklung der Digitalisierungsstrategie      ein solches IAM notwendig, um effektiv und mit
                       ALADIEN, eine große Rolle. Zu diesen Alltags-          minimaler Fehleranfälligkeit unsere Systeme ver-
                       unterstützenden Assistenzsystemen und Dienst-          walten und Zugriffsrechte auch flexibel verändern
                       leistungen zählen unter anderem Tablets, die mit       zu können“, erklärt Martin Schäfer, Geschäfts-
                       ihren Funktionen zu mehr Selbstständigkeit und         bereichsleiter für Innovation und IT. Ganz prak-
                       Teilhabe im Alter beitragen. „Wir sind hier stetig     tisch bedeutet das, dass mitarbeiterbezogene
                       in der Weiterentwicklung – aktuell prüfen wir          Daten in einem übergeordneten System gepflegt
                       zum Beispiel das Einsatzpotenzial einer digitalen      werden, das IAM auf diese Datenbank zugreift
                       Sprachassistenzuhr, die Nutzerinnen und Nutzer         und automatisiert zum Beispiel bei einer Funkti-
                       im Alltag unterstützen und Sicherheit geben soll“,     onsänderung auch die Berechtigungen des jewei-
                       erklärt Pia kleine Stüve, Leiterin des Referats.       ligen Mitarbeitenden für alle internen Systeme
                       Aber auch speziell während der Corona-Pandemie         anpasst. „Die Funktionalität benötigen wir zum
                       kommen die Tablets zum Beispiel zum Einsatz,           Beispiel für unser gerade entstehendes digitales
                       um den Bewohnerinnen und Bewohnern den                 Lernmanagementsystem. Mit Hilfe des IAM wird
                       Kontakt zu ihren Angehörigen zu ermöglichen,           es dann möglich sein, jedem Mitarbeitenden, ent-
                       wo Kontakte nur eingeschränkt möglich sind.            sprechend seiner Funktion, individuelle Weiter-
                       Auch die Entwicklung neuer und innovativer             bildungsangebote zu machen“, erläutert Hannah
                       Wohnformen, die die Zukunft des Lebens und             Walker, Geschäftsbereichsleiterin Personal.
                       Wohnens im Alter aufzeigen, hat sich die EHS zur
                       Aufgabe gemacht (siehe LebenPLUS-Residenz,                 Als größtes diakonisches Pflegeunternehmen
                       Seite 10).                                             in Baden-Württemberg kann die EHS auch Maß-
                                                                              stäbe in der Realisierung der besten Personal-
                                                                              schlüssel und Bezahlung für Pflegekräfte setzen
                                                                              und nimmt diese auch wahr – mit den Arbeitsver-
                                                                              tragsrichtlinien der Diakonie Deutschland und
Kontakt in Corona-Zeiten                                                      einem deutschlandweit einmaligen Leuchtturm-
dank ALADIEN
                                                                              projekt der Jungen Intensivpflege (siehe Seite 8).

                                                                                  Der Stellenwert der Innovation im Bereich
                                                                              Personalmanagement zeigt sich zudem auch in
                                                                              dem besonderen Fokus auf der Führungskräfte-
                                                                              entwicklung: In einem breit angelegten Beteili-
                                                                              gungsprozess erarbeitet die EHS aktuell ein
                                                                              Führungskonzept (siehe Ausgabe 3/2020), „denn
                                                                              jeder Mitarbeitende hat einen Anspruch auf
                                                                              gute Führung“, so die Überzeugung von Haupt-
                                                                              geschäftsführer Bernhard Schneider. Darüber
                                                                              hinaus werden angehende Einrichtungsleitungen
                                                                              in einem einjährigen Traineeprogramm auf ihre
                                                                              Aufgaben vorbereitet (siehe Seite 24).

                                                                                  Ein weiterer bedeutsamer Bereich der Inno-
                              Neben den Innovationen in der ganz prakti-      vation ist für die EHS die Kommunikation. Von
                          schen Lebenswelt der Kundinnen, Kunden und          einer Employer Branding Kampagne, in der die
                          Mitarbeitenden in der Pflege und Betreuung der      Marke EHS als Arbeitgeber herausgestellt und
                          EHS spielt auch die innovative Gestaltung von       gestärkt wird, über die professionelle Medienar-
                          Strukturen und Prozessen eine große Rolle.          beit und Krisenkommunikation, bis hin zur
                          „Aktuell arbeiten wir an der Einführung eines       politischen Diskussion branchenrelevanter The-
                          Identity Access Managements (IAM), das bedeu-       men wie etwa der Impfstrategie in Form von
                          tet an der zentralen Identitäts- und Zugriffsver-   Medienarbeit, sieht es die EHS als Selbstver-
                          waltung unserer internen Systeme. Gerade da         ständnis und Verpflichtung, als größtes diakoni-
                          unsere über 9.300 Mitarbeitenden an 156 Stand-      sches Pflegeunternehmen in Baden-Württemberg
                          orten in verschiedenen Funktionen arbeiten, ist     diesem Anspruch an Kommunukation gerecht zu

6   | Gute Pflege | 1_2021 |
Gute Pflege Aufbruch - Entfalten und die Zukunft gestalten - Evangelische Heimstiftung
werden. „Unsere Stimme wird gehört, das nimmt        EHS zu fördern, ist eine verlässliche „grüne“
 uns in die Verantwortung und diese nehmen wir        EHS-Struktur die Grundlage. Dafür hat die EHS
 gerne wahr“, erklärt Bernhard Schneider. Zum         ein eigenes Umweltmanagementsystem, das
 Beispiel in der Initiative Pro-Pflegereform. Die     Grüne Segel, implementiert und entwickelt es
 Initiative, als deren Sprecher Schneider fungiert,   immer weiter.
 setzt sich seit Jahren für eine grundlegende
 Reform der Pflegeversicherung ein und hat in     Das Grüne Segel ist ein EHS-Instrument für
 Zusammenarbeit mit Professor Heinz Rothgang   den betrieblichen Umweltschutz. Auf der Ebene
 von der Universität Bremen entsprechende Kon- der Einrichtungen und Dienste der EHS werden
 zepte vorgelegt sowie den aktiven Diskurs mit ökologische Maßnahmen umgesetzt und negative
 der Landes- und Bundespolitik aufgenommen.    Umweltauswirkungen wie Energieverbrauch,
                                               Abfälle oder CO2 -Emissionen reduziert. Bei der
    Das Selbstverständnis des innovativen Han- EHS hat sich das Grüne Segel zu einem Impuls-
 delns nimmt die EHS auch im Bereich Klima und geber für „grüne“ Innovationen und den nach-
 Umwelt wahr. Um „grüne“ Innovationen in der haltigen Wandel entwickelt.

„Innovation ist für uns kein einzelner
  Bereich, sondern gelebte Unternehmens-
  kultur in allen Projekten und Themen,
  die wir angehen.“
 Bernhard Schneider, Hauptgeschäftsführer

             Neue Wege gehen –
                                                          VITAAL soll die Lösung sein: Das For-
     Digitale Rehabilitation mit VITAAL
                                                      schungsprojekt des Innovationszentrums der
 Die Mobile Geriatrische Rehabilitation (MoGeRe)      EHS hat den Einsatz telemedizinischer Möglich-
 ist in der Rehabilitationsklinik Bad Sebastians-     keiten in der MoGeRe untersucht. „Es bestehen
 weiler bereits seit 2015 eine Alternative für Men-   zwei Optionen: Mittels eines Tablets kann der
 schen, denen aus verschiedenen Gründen ein           behandelnde Physiotherapeut oder die Therapeu-
 stationärer Aufenthalt nicht möglich wäre.           tin während eines Hausbesuchs eine Videovisite
 „Besonders für psychisch oder demenziell             mit dem Rehabilitationsarzt führen. Alle Betei-
 erkrankte Patientinnen und Patienten, aber auch      ligten können so kommunizieren, die Entwick-
 für Menschen, die in der Rehabilitation auf          lung verfolgen und mögliche Anpassungen in der
 Unterstützung von Angehörigen angewiesen sind,       Therapie vornehmen. Videoaufnahmen können
 ist ein stationärer Aufenthalt zu Rehabilitation     zudem im Nachgang auch in interdisziplinäre
 nicht die richtige Wahl“, erklärt Volker Gurski,     Fallbesprechungen einfließen“, erklärt Dr. Susan
 Geschäftsführer der Rehabilitationsklinik in Bad     Smeaton, Leiterin des Innovationszentrums der
 Sebastiansweiler, die als Praxispartner an dem       EHS. Über gut drei Jahre lief das Projekt, geför-
 Forschungsprojekt beteiligt ist. Aufgrund von zu     dert vom Ministerium für Soziales und Integra-
 weiten Anfahrtswegen ist dieses Angebot aber         tion in Zusammenarbeit mit der Rehabilitations-
 bislang nur für Menschen im näheren Umfeld           klinik in Bad Sebastianweiler, dem Zentrum für
 eine Option.                                         Telemedizin Bad Kissingen, der Eberhard-Karls-      >>>

                                                                                                    | Gute Pflege | 1_2021 |   7
Gute Pflege Aufbruch - Entfalten und die Zukunft gestalten - Evangelische Heimstiftung
Innovation

                 > > > Universität Tübingen sowie dem Entwicklungs-
                       zentrum Gut altwerden GmbH.

                               „Kontinuität und das Einbinden der Angehö-
                           rigen sind die Stärken von VITAAL. Es erleich-
                           tert die Zusammenarbeit in der Rehabilitation
                           über mehrere Disziplinen hinweg und vereinfacht
                           die Kommunikation unter den Beteiligten“,
                           beschreibt Smeaton das Projekt weiter. Nach der
                           ärztlichen Aufnahmeuntersuchung folgte über
                           sieben Wochen, bestehend aus etwa 40 Einheiten,
                           ein individueller therapeutischer Behandlungs-
                           plan. Das Projektteam entwickelte hierfür ein
                           patienten- und prozessorientiertes Konzept, das
                           telemedizinische Lösungen in die Behandlung
                           integriert. Die Umsetzung wurde im Rahmen der
                           Studie evaluiert und anschließend als Blaupause
                           für andere Regionen zur Verfügung gestellt.

                               „Wir wollten mit dem Projekt die Möglichkeit              Mobile Rehabilitation
                           einer kontinuierlichen mobilen Versorgung,                    im Projekt VITAAL
                           unabhängig von der räumlichen Entfernung,
                           schaffen, aber auch die Patientinnen und Patien-
                           ten in der Selbstversorgung fördern“, erklärt
                           Smeaton. „Das Besondere an VITAAL ist der
                           direkte Austausch zwischen Arzt und Physiothe-         Der Einsatz von Telemedizin ist an sich nicht
                           rapeut sowie Patientinnen, Patienten und Ange-     neu. Neu ist aber die direkte Kommunikation
                           hörigen.“ VITAAL stärkt außerdem die Nach-         zwischen allen Beteiligten und die Kombination
                           haltigkeit der MoGeRe, indem Lehrmaterial für      digitaler Werkzeuge nach individuellem Bedarf.
                           den Behandlungsverlauf zur Verfügung gestellt      Auch andere Regionen und Gesundheitsangebote
                           und nach Abschluss der Reha-Maßnahmen wei-         können davon profitieren. „Die Ergebnisse zei-
                           ter genutzt werden kann. Zur technischen Aus-      gen, dass eine hohe Akzeptanz bei den Anwen-
                           rüstung von VITAAL gehört neben einem Tablet       dungen vorliegt, verbunden mit einer Qualitäts-
                           eine Gopro-Kamera auf einem Stativ, die mit        steigerung im Bereich der direkten inter- und
                           Fernbedienung am Handgelenk gesteuert werden       transdisziplinären Kommunikation“, erläutert
                           kann. Der Physiotherapeut oder die Therapeutin     Smeaton die Ergebnisse der Forschung. Außer-
                           hat so beide Hände für die Patientinnen und        dem erlauben die Videokonsole und Videoauf-
                           Patienten frei. Ein Fokus des Projekts lag zudem   nahmen eine zeitnahe, zielgerichtete Steuerung
                           darauf, die Akzeptanz für digitale Angebote in     des Rehabilitationsprozesses. Eine technische
                           der Medizin zu erhöhen. Weitere Anwendungs-        Umsetzung ist auch im ländlichen Raum möglich.
                           bereiche sind denkbar, das System kann modular     „Auf den Ergebnissen von VITAAL wollen wir
                           mit den Bedarfen der Kundinnen und Kunden          auf jeden Fall gerne aufbauen und sind dazu
                           wachsen.                                           aktuell in der Abstimmung.“

                              Insgesamt haben 25 Patientinnen und Pati-
                                                                                          Junge Intensivpflege
                           enten im Alter von 60 bis 93 Jahren an der
                                                                                              neu gedacht
                           Feldphase teilgenommen. „Ihre durchschnittliche
                           Mobilität wurde vor Beginn des Programms mit       Im Oktober 2018 eröffnete die Junge Intensiv-
                           58,4 von 100 Punkten bewertet. Nach Abschluss      pflege der EHS in Besigheim nach einer grund-
                           konnte ein Durchschnittswert von 76,0 Punkten      legenden konzeptionellen und baulichen Neu-
                           und damit eine deutliche Verbesserung erzielt      ausrichtung. Nicht nur die Ausstattung mit
                           werden“, fasst Reha-Arzt Martin van Soest die      modernem Deckenlifter, Licht- und Wellnessbad
                           Ergebnisse zusammen.                               sowie modernen Therapieräumen hebt die Ein-

8   | Gute Pflege | 1_2021 |
richtung hervor, denn die Junge Intensivpflege        Wichtig dafür sind auch die 100 Prozent
hat einen eigenen Versorgungsvertrag für die      Fachkraftquote und die Weiterbildungen: 120
Pflege von Menschen mit apallischem Syndrom,      Stunden ist die sogenannte „kleine“, weitere 240
im Wachkoma und Menschen, die künstlich           Stunden die „große“ Weiterbildung, die alle
beatmet werden. Sie setzt seit über zwei Jahren   besuchen müssen. Das verändert vieles. Früher
ein bundesweit einmaliges Konzept um: 100         mussten die wenigen Fachkräfte oft allein ent-
Prozent Fachkraftquote, Personalschlüssel von     scheiden, heute tauschen sie sich aus, die Verant-
                                                  wortung wird geteilt, die Handlungssicherheit
1 : 0,74 (Durchschnitt stationäre Pflege: 1 : 2,3).
30 Menschen können dort in den zwei Wohn-         wird höher. Besonders positiv für die Mitarbei-
bereichen „Glücksmoment“ und „Augenblick“         tenden: ein verlässlicher Dienstplan. Durch den
leben.                                            hohen Personalschlüssel können Ausfälle gut
                                                  kompensiert werden. „Wir können uns gegensei-
    „Gute Pflege braucht viel Zeit. Die haben wir tig vertreten, ich musste in zwei Jahren nicht
Dank des hohen Personalschlüssels. Diese so einmal aus dem Frei einspringen, wo gibt es so
einzusetzen, dass sie bei den Bewohnerinnen und etwas?“, berichtet eine Kollegin.
Bewohnern ankommt, das funktioniert nur mit
Konzept“, berichtet eine Kollegin. Diese Ent-
schleunigung muss im Kopf ankommen und im
Alltag umgesetzt werden. Früher war es automa-
tisiert, erzählen die Mitarbeitenden, Montag
duschen, Dienstag mobilisieren, Mittwoch The-
rapie. Heute entscheiden sie nach Bedarf: Worauf
hat der Bewohner Lust, was tut ihm heute gut.
Und das zahlt sich aus: Die jüngste Bewohnerin
ist 21, sie mag es, wenn ihre Haare geflochten
sind, das wissen die Kollegen von der Mutter.
„Dafür haben wir jetzt Zeit und wir legen Wert
darauf, dass sie so sein kann wie früher, so gut
es eben geht.“

    Das bedeutet mehr Verantwortung, aber eben
auch mehr Selbstständigkeit. „Wir haben gelernt,
uns einzubringen, im Kleinen und im Großen.“
Auch die Namen der Wohnbereiche wurden im
Team entschieden: Glücksmoment und Augen-
blick. „Das Team hat sich positiv entwickelt“,
weiß Hausdirektorin Elke Eckert, „ich bin rich-
tig stolz auf meine Leute.“

   Mit voller Kraft für
   innovative Ideen

                                                                                                 | Gute Pflege | 1_2021 |   9
Innovation

                                    LebenPLUS.
                                         –
                                Ein Zukunftsprojekt entsteht

             Sie soll der Startschuss für eine neue
             Generation des Wohnens und Lebens im
             Alter sein: die LebenPLUS-Residenz in
             Bönnigheim. Derzeit entwickelt ein inter-
             disziplinäres Team das Projekt rund um
             die Themen Quartiersarbeit, Digitalisierung,
             Nachhaltigkeit und Architektur.

                                                                 nehmen? Von diesen Fragen lässt sich die Evan-
                                Die Vision
                                                                 gelische Heimstiftung leiten, wenn neue Produkte
             „Mit der LebenPLUS-Residenz in Bönnigheim           und Dienstleistungen entwickelt werden. „Wir
             wollen wir eine neue Tür zum Leben und Wohnen       wollen in Bönnigheim ein neues Kapitel der pfle-
             im Alter aufstoßen“, berichtet Peter Hettig,        gerischen Infrastruktur aufschlagen“, erklärt
             Geschäftsbereichsleiter Bau und Liegenschaften.     Hauptgeschäftsführer Bernhard Schneider, „und
             „Das KDA (Kuratorium Deutsche Altershilfe           zwar mit allem was dazu gehört: Wohnformen,
             Wilhelmine-Lübke-Stiftung e.V.) hat bereits fünf    technische Assistenzsysteme, Unterstützungsan-
             Generationen von Pflegeheimen definiert, zuletzt    gebote, Einbindung von Ehrenamt, Quartiersar-
             das Hausgemeinschaftskonzept und das Quar-          beit, Nachhaltigkeit und natürlich gute Pflege.“
             tiershauskonzept. Mit der jetzigen Weiterentwick-
             lung zum Pflegeheim 6.0 wollen wir bisherige
                                                                           Die Konzeptentwicklung
             Grenzen überschreiten und Neues wagen. Dabei
             orientieren wir uns an den bestehenden, aber auch   Zuständig für die Entwicklung des neuen Ange-
             zukünftigen Bedarfen unserer potenziellen Kun-      bots ist seit Sommer 2019 eine interdisziplinäre
             dinnen und Kunden.“ Wie wollen wir zukünftig        Projektgruppe. Sie besteht aus Expertinnen und
             im Alter leben? Wie möchten wir wohnen, wenn        Experten der Bereiche Pflege und Betreuung,
             wir Pflege- und Unterstützungsbedarf haben? Und     Architektur und Bau, Quartier und Ehrenamt
             was brauchen wir, um weiterhin selbstständig zu     sowie Kommunikation und Marketing und wird
             bleiben und am gesellschaftlichen Leben teilzu-     von einem externen Moderator begleitet. Außer-

10   | Gute Pflege | 1_2021 |
Das Siegermodell einer
   Mehrfachausschreibung

dem wurden erstmalig in einem Beteiligungsver-       derungen für die LebenPLUS-Residenz: Kom-
fahren auch Bürgerinnen und Bürger aus Bönnig-       munikation und Austausch, Räume und Leben,
heim in die Konzeptentwicklung eingebunden.          Engagement und Gestaltung, Quartiersorientie-
„Wir wollten ihre Ideen und Anregungen erfahren,     rung. Die Ergebnisse der Bürgerbeteiligung
und zwar sowohl als mögliche Kunden als auch         wurden in einem Bürgergutachten festgehalten
als Angehörige oder Ehrenamtliche“, erklärt Bet-     und in einer öffentlichen Gemeinderatssitzung
tina Ongerth, Leiterin der Quartiersentwicklung      vorgestellt. Von der Gemeinschaft in der Resi-
bei der EHS. 16 Bürgerinnen und Bürger hatten        denz und der digitalen Vernetzung vor Ort, über
so die Möglichkeit, sich aktiv in die Planung ein-   Konzepte zur Einbindung von Ehrenamtlichen
zubringen. Einer von ihnen war Bürgermeister         – auch über digitales Engagement – bis hin zum
Albrecht Dautel. „Die Herausforderung ist für        aktiven Quartiersmanagement entstanden dabei
uns jetzt vorauszudenken, was in zehn, 15 Jahren     zahlreiche Ideen. „Die LebenPLUS-Residenz soll
sein soll, wie wir das Wohnen im Alter für Bön-      Raum für Freude und Trauer bieten, Architektur
nigheim realisieren wollen. Ich freue mich, dass     und Sozialraum sein, ein Ort, an dem sich Men-
wir das gemeinsam mit der Evangelischen Heim-        schen begegnen“, fasst Hettig zusammen.
stiftung tun können.“
                                                                      Das Ergebnis
    Der Beteiligungsprozess entstand mit Hilfe
der Methode der „Planungszelle“. Diese wurde         Entstehen soll in Bönnigheim in zentraler Lage
ursprünglich in den 1970ern von Prof. Peter C.       südlich des Altstadtkerns die erste LebenPLUS-
Dienel an der Universität Wuppertal zur Verbes-      Residenz und damit Wohn- und Lebensraum für
serung von Planungsentscheidungen entwickelt         rund 60 Menschen. „Alle Appartements werden
und zuvor erst einmalig im Bereich der Altenhilfe    30 Quadratmeter groß sein und über eine eigene
eingesetzt. Bürgerinnen und Bürger nehmen            Küchenzeile verfügen. Damit sind sie in unter-
dabei die Rolle von Laiengutachtern ein. Sie         schiedlichen Wohnarrangements nutzbar“, erklärt
werden vorab von Experten informiert und set-        Hettig. Vorgesehen sind 36 Zimmer für Menschen
zen sich anschließend mit verschiedenen Frage-       mit Pflegebedarf nach den Grundsätzen der stati-
stellungen auseinander. „Die Bürgerinnen und         onären Pflege. Außerdem 24 Wohnungen für
Bürger wurden dabei nach Interesse ausgewählt,       Menschen mit Betreuungs- oder Pflegebedarf
jedoch ohne professionellen Bezug zur Pflege. Sie    orientiert am ambulanten Umfeld. Alle Zimmer
engagieren sich in verschiedenen Bereichen wie       werden geräumig und barrierefrei gebaut sowie
der Kirche, der Gemeinde, in Kultur und im           technisch modern und sicher ausgestattet. „Natür-
pflegerischen Umfeld. Moderiert wurde die Ver-       lich setzen wir auch mit ALADIEN unsere digi-
anstaltung von einem Systemischen Berater und        talen Unterstützungsgebote ein und entwickeln
Coach“, erklärt Bettina Ongerth. Zu vier The-        diese weiter. Die Residenz ist ein Modellhaus für
menblöcken erarbeiteten die Teilnehmerinnen          die Pflegeeinrichtung 6.0. Integriert werden zudem
und Teilnehmer ihre Vorstellungen und Anfor-         eine Tagespflege, ein Standort der Mobilen Dienste      >>>

                                                                                        | Gute Pflege | 1_2021 |   11
Innovation

 >>>         sowie Begegnungsräume, eine Arztpraxis und Ehrenamtliche sowie Mitarbeitende und Ko-
             Gewerbeflächen“, erläutert Hettig. Vier Ziele hat operationspartner sind in einem transparenten
             die Agendagruppe dabei erarbeitet:                Austausch.

             Ziel 1 – Wohnlichkeit und Quartiersorientierung     Ziel 3 – Nachhaltige Innovationen
             Die Bewohnerinnen und Bewohner sollen ein           Nachhaltige Innovationen in Architektur,
             gutes Leben, besonders bei Pflegebedürftigkeit,     Gebäudetechnik, Betriebstechnik und Möblie-
             in einem innovativen und wohnlichen Haus            rung des Pflegehaus 6.0 sind so gestaltet, dass
             führen. Verschiedene bedarfsgerechte Wohn- und      Leben, Wohnen, Arbeiten, Pflege und Begegnung
             Pflegeangebote sowie Quartiersangebote, wie         der Menschen in einer selbstbestimmten und
             beispielsweise Tagespflege, Arzt, Physiotherapie,   sicheren Umgebung bestmöglich unterstützt
             Friseur oder Einkaufsmöglichkeiten unterstützen     wird.
             sie dabei. Das „offene Haus“ ermöglicht Teil-
             habe, Teilgabe und Teilnahme für jeden.             Ziel 4 – Mitarbeitende in Haupt- und Ehrenamt
                                                                 Haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende arbei-
             Ziel 2 – Kommunikation und Austausch                ten in einer Wertschätzung vermittelnden Umge-
             Die schnelle und effiziente Kommunikation           bung und sind an der konzeptionellen Weiterent-
             zwischen allen Beteiligten im Pflegehaus 6.0 wird   wicklung beteiligt. Ein mitarbeiterorientiertes
             durch digitale Vernetzung unterstützt und           Personalkonzept mit innovativen und neuen
             gefördert. Kundinnen und Kunden, Angehörige,        Arbeitszeitmodellen, einer verlässlichen Dienst-

12   | Gute Pflege | 1_2021 |
plangestaltung per APP und freies WLAN bieten        spektive für Menschen mit sich veränderndem
einen attraktiven Arbeitsplatz. Ehrenamtliche sind   Pflegebedarf. Digitale Angebote heben die Resi-
eingebunden und werden professionell begleitet.      denz genauso hervor wie die intensive Anbindung
Eine Quartiers-Plattform stärkt die Vernetzung       an das Gemeindeleben. Dieses wird mittels des
und unterstützt die kommunale Entwicklung des        Quartiersmanagements, aber auch der Gewerbe-
Quartiers.                                           flächen im Erdgeschoss sowie der innenstadtna-
                                                     hen Lage deutlich. „Auch in der Architektur wird
    Die LebenPLUS-Residenz bietet damit Be-          diese Anbindung sichtbar: mit einer Klinker-
wohnerinnen und Bewohnern, aber auch Mitar-          Fassade orientiert sie sich an der Altstadt und
beitenden sowie Bürgerinnen und Bürgern ein          fügt sich zum Wohngebiet hin mit einer moder-
hoch innovatives Wohn- und Pflegekonzept, das        nen Fassade harmonisch in das Bild ein. Bauliche
Beteiligung und Selbstbestimmung in einem            Qualität und technische Innovation bringen
hohen Maße fördert. Aufgrund der baulichen           natürlich mehr Kosten mit sich als übliche
Gegebenheiten ist die Residenz nachhaltig            Pflegeheime oder Betreute Wohnungen. Ande-
zukunftsfähig und wandelbar. Die EHS stellt sich     rerseits dürfen auch die Mieten nicht zu hoch
mit der LebenPLUS-Residenz auf den Wegfall           werden. Deshalb hoffen wir auf Fördergelder,
der Sektoren ein und bietet dabei Wohnarrange-       eine Stiftung oder Spenden für diesen innovativen
ments für Menschen mit und ohne Pflegebedarf.        Ansatz. Den Baubeginn erwarten wir für 2022“,
Die vielfältigen Wohn- und Betreuungsangebote        berichtet Hettig.
ermöglichen zudem auch eine langfristige Per-

                                                                                        | Gute Pflege | 1_2021 |   13
Pflege im Fokus

                                  Wertvoll.
                                          –
                                Was heißt hier eigentlich
                                   systemrelevant?

14   | Gute Pflege | 1_2021 |
Was die Pflege ausmacht, gerade
während dieser Pandemie, aber auch
darüber hinaus, lässt sich nicht mit
einem Wort beschreiben. Denn gute
Pflege ist nicht nur systemrelevant.
Gute Pflege ist mehr wert.

Marie Färber ist Wohnbereichsleitung im Erdge-      Die beiden Seiten des Wohnbereichs sind streng
schoss des Haus am Seeweg in Heddesheim. Ende       getrennt, sowohl für Bewohnerinnen und Bewoh-
November 2020 hat sie eine Woche Urlaub. Im         ner als auch für Mitarbeitende.
Pflegeheim hat es einen Corona-Ausbruch gege-
ben, das weiß sie schon. Es ist Sonntagabend, ihr      Szenenwechsel ins Haus am Lindenplatz in
letzter Urlaubstag. Als ihr Telefon klingelt und    Neudenau. Von einem Corona-Ausbruch blieb
Regionaldirektor Thomas Becker am anderen           das Pflegeheim bis jetzt verschont, Sicherheit hat
Ende spricht, ahnt sie nichts Gutes. Seine Frage    dennoch die höchste Priorität, auch wenn die
bestätigt das Gefühl. „Frau Färber, könnten Sie     Gefahr gar nicht immer greifbar ist. „Bewohner­
ab morgen auf Wohnbereich 1 aushelfen? Das          innen und Bewohnern fällt es oft schwer, uns zu
Ausbruchsgeschehen hat sich verstärkt, auch         erkennen und auch zu verstehen. Viele hören ja
einige Mitarbeitende fallen aus, wir brauchen       schlecht und lesen normalerweise von den Lippen
Unterstützung.“ „Natürlich habe ich ja gesagt,      ab, jetzt versuchen wir uns mit extra lautem
natürlich hilft man aus“, erzählt Färber. Zumal     Sprechen – mehr ist ja nicht möglich, denn die
sie den Wohnbereich und viele Bewohnerinnen         Maske verdeckt den Mund“, berichtet Michaela
und Bewohner dort noch gut kennt. Ein Jahr          Zeise, Pflegefachkraft im Haus am Lindenplatz.
arbeitete sie dort als Pflegefachkraft, bevor sie
die Leitung des Wohnbereichs im Erdgeschoss             Auch die Kolleginnen und Kollegen der Mobi-
übernahm.                                           len Dienste kennen diese Probleme. „Besonders
                                                    für Menschen, die an Demenz erkrankt sind, ist
    Dienstbeginn am Montagmorgen. Es ist still,     es schwierig, uns zum einen überhaupt zu erken-
als Marie Färber den Wohnbereich 1 betritt,         nen, aber auch zu verstehen, denn einige regis-
unheimlich still. Der erste Moment ist ein          trieren tatsächlich erst mit dem Sehen der Lip-
Schock, so beschreibt sie es heute. Der Aufent-     penbewegung, dass sie angesprochen werden.“
haltsraum, der sonst wie ein Wohnzimmer den         Anita Klein arbeitet als Pflegefachkraft für die
lebhaften Mittelpunkt der Gemeinschaft dar-         Mobilen Dienste in Hochdorf. Für viele ihrer
stellt, ist menschenleer. Stapel verschiedenster    Kundinnen und Kunden ist sie während Corona
Materialien bestimmen das Bild. Schutzanzüge,       einer der wenigen, wenn nicht sogar der einzige
Masken, Visiere, Handschuhe, Desinfektions-         Kontakt. „Ich merke, dass die Menschen auch
mittel. Alles bereitgelegt für den nächsten Ein-    viel mehr das persönliche Gespräch suchen, und
satz. „Ich habe den Wohnbereich in diesem           die Zeit nehme ich mir auch, wo es möglich ist.“
Moment nicht wiedererkannt. Normalerweise
herrscht auf einem Gang niemals Stille.“ Ein           Für Michaela Zeise in Neudenau hat sich
demenziell erkrankter Bewohner läuft durch die      nicht nur der Umgang mit Bewohnerinnen und
Gänge, auf der Suche nach seinem Zimmer.            Bewohnern verändert. Dazu kommt für sie ein
Irgendwo klingelt es, jemand ruft – das übliche     wesentlich erhöhter Arbeitsaufwand durch die
Chaos des alltäglichen Lebens eben. „Ein schönes    Schnelltests, die bei jeder Besucherin und jedem
Chaos.“ Und jetzt Stille, verschlossene Türen.      Besucher vor Betreten der Einrichtung durchge-          >>>

                                                                                       | Gute Pflege | 1_2021 |   15
Pflege im Fokus

                > > > führt werden müssen. „Wenn ich zum Beispiel
                      Frühdienst habe und zum Testen eingeteilt bin,
                      bedeutet das, ich komme um 5:45 Uhr für meinen
                      eigenen Test und dann ab 6 Uhr teste ich die
                      Kolleginnen und Kollegen, um halb 7 beginnt
                      mein regulärer Dienst auf dem Wohnbereich. An
                      Tagen, an denen unser Büro nicht besetzt ist und
                      zum Beispiel Handwerker kommen, muss ich
                      auch außerhalb der regulären Besuchszeiten
                      meine pflegerischen Tätigkeiten unterbrechen
                      und die Tests vornehmen. Natürlich konnten wir
                      unsere Arbeitszeiten aufstocken, sodass das
                      Zeitbudget vorhanden ist, aber trotzdem geht vor
                      allem Ruhe im Umgang mit Bewohnerinnen und
                      Bewohnern verloren.“ Im Haus am Lindenplatz
                      selbst war bislang niemand mit Corona infiziert,
                      aber der Austausch mit Mitarbeitenden anderer
                      Einrichtungen, wie zum Beispiel dem Haus am                       Michaela Zeise aus Neudenau
                      Seewege, sensibilisiert für die Gefahr: „Diese                    in Corona-Schutzausrüstung
                      Berichte machen uns sehr betroffen. Und natür-
                      lich bin ich bei jedem Halskratzen in Alarmbe-
                      reitschaft. Dass ich meine Freunde nicht mehr
                      sehe, um mich und andere vor Ansteckung zu
                      schützen, ist klar, aber da auch mein Mann als         und Verantwortungsgefühl hat sich auch privat
                      Fahrer im Nahverkehr im Schichtbetrieb arbeitet,       einiges verändert: „Wir gehen weniger aus dem
                      haben wir auch privat mit kleinem Kind eine            Haus und überlegen zwei Mal, ob ein Einkauf
                      starke Doppelbelastung. Zum Glück unterstützt          jetzt wirklich notwendig ist. Wir nehmen uns
                      mich die EHS hier toll als Arbeitgeber, insbeson-      wirklich sehr zurück und da ärgert es mich
                      dere auch meine Chefin und das ganze Team.“            schon einmal, wenn ich Menschen sehe, die
                                                                             doch eher sorglos und unbeschwert mit der
                                                                             Situation umgehen.“

          Man passt in diesen                                                    Zurück nach Heddesheim in das Haus am
                                                                             Seeweg: „Zu Beginn haben wir Überforderung
          Zeiten noch mehr                                                   gefühlt, aber wir haben uns schnell eingefunden:
                                                                             mehrmals täglich Fieber messen, Vitalwertkon-
          aufeinander auf.                                                   trolle, Pflege“, erinnert sich Marie Färber. Und
                                                                             dabei immer die Uhr im Blick. Mehr als 15
                                                                             Minuten sollte man aufgrund der Infektionsge-
                             Man passt in diesen Zeiten noch mehr auf-       fahr auch in Schutzkleidung in keinem Zimmer
                          einander auf, das findet auch Anita Klein von      bleiben. „Dann schnell wieder raus, Wechsel der
                          den Mobilen Diensten. „Das läuft hier ganz toll,   Schutzkleidung und in das nächste Zimmer.“ Vor
                          man fragt sich gegenseitig, auch vermehrt jetzt    allem demenziell erkrankte Bewohnerinnen und
                          während Corona, wie es den anderen geht.“          Bewohner waren zum Teil verängstigt von der
                          Ob sie Sorge habe sich anzustecken? Ja, der        neuen Situation. „Sie haben uns schlicht nicht
                          Gedanke sei natürlich präsent. „Bevor wir einen    erkannt und die Situation nicht verstanden.
                          nachweislich Corona-postiven Kunden besu-          Dachten, sie wären selbst krank, hätten etwas
                          chen, werden wir aber informiert, um uns           falsch gemacht. Mit der Zeit haben sie sich an
                          entsprechend schützen zu können, und das           den Anblick gewöhnt.“ Es ist warm unter dem
                          klappt sehr gut – sowohl im Team als auch mit      Schutzanzug, den Handschuhen, der Maske und
                          unseren Vorgesetzten.“ Anita Kleins Partner        dem Visier, die Brille beschlägt. Kurz raus,
                          arbeitet ebenfalls in der Pflege. Aus Rücksicht    durchatmen, wieder rein und weiter. „Zum

16   | Gute Pflege | 1_2021 |
„Ich sitze mit Bewohnerin-
                 Glück mussten wir uns zu keinem Zeitpunkt                          nen oder Bewohnern, die
                 Sorgen um die Schutzausrüstung machen, alles
                 war immer ausreichend da. Jeden Tag kam außer-                     nicht schlafen können,
                 dem ein Arzt, das waren Hausärzte hier vor Ort.
                 Sie kamen auch nachts, wenn es notwendig war“,
                                                                                    im Wohnzimmer, es gibt
                 erzählt Färber weiter.                                             Plätzchen und Tee. Das
                     „Und es wurde notwendig. Ein täglicher                         sind ganz nahe Momente
                 Kampf spielte sich ab und wir waren mitten-
                 drin“, so empfand Färber die Situation. Ein
                                                                                    – auch auf Abstand.“
                 Kampf in der Hoffnung, dass es dem Bewohner
                 am nächsten Tage besser gehen würde, das                            ichaela Zeise,
                                                                                    M
                 Fieber sinkt, er wieder isst, trinkt und zu Kräf-                  Neudenau
                 ten kommt. Dann der Moment der ganz greif-
                 baren Hoffnung, wenn sich der Gesundheits-
                 zustand verbessert. Und ganz plötzlich die
                 niederschmetternde Nachricht, es ist wieder             gemacht, zusammengehalten und uns nur selten
                 schlechter geworden. Ein Kampf, an dem die              die Anspannung anmerken lassen, die Sorge um
                 Pflegekräfte machtlos teilnehmen. Alles geben           die Bewohnerinnen und Bewohner und die Angst
                 und nicht nur einmal doch verlieren.                    vor der eigenen Ansteckung.“

                     Frau Müller* ging es wirklich nicht gut. Marie          Helfen und in diesen besonderen Zeiten Wärme
                 Färber mochte sie besonders gern. „Mir war klar,        und Geborgenheit schenken, das will Michaela
                 dass sie sich auf den Weg machte zu gehen und in        Zeise aus Neudenau genauso. Wie jedes Jahr hat
                 dem Moment saß ich bei ihr, sie sah mich an und         sie 2020 die Nachtschicht an Weihnachten über-
                 drückte ganz fest meine Hand. Ich war in kom-           nommen. Es ist für sie eine schöne Tradition – auch
                 pletter Schutzausrüstung, natürlich auch mit            wenn sie heute eine eigene Familie mit kleinem Kind
                 Handschuhen. Meine Hand konnte ihr nicht die            hat. „Ich sitze mit Bewohnerinnen oder Bewoh-
                 Wärme geben, die ich ihr gerne gegeben hätte. Ich       nern, die nicht schlafen können, im Wohnzimmer,
                 strich ihr mit meiner Handschuh-Hand über die           es gibt Plätzchen und Tee. Das sind ganz nahe
                 Wange und sie drückte ihren Kopf gegen meine            Momente – auch auf Abstand – in denen ich für
                 Hand, wie Kinder das tun. Ich konnte für sie da         sie da sein kann.“ Wie in diesem Jahr für Frau
                 sein, aber es war nicht das Gleiche als hätte ich       Weber*, die an Demenz erkrankt ist und norma-
                 keine Handschuhe getragen, als hätte ich sie            lerweise kaum noch spricht. In dieser Nacht erklärt
                 umarmen können, um sie noch mehr spüren zu              sie Michaela Zeise, wie sie am nächsten Tag den
                 lassen, ich bin bei dir. Sie bedankte sich bei mir      Sauerbraten für das Weihnachtsessen der Familie
                 für den Einsatz, die Pflege. Einen Tag später ist sie   zubereiten wird. „Diese Momente, die durch
                 gestorben. Und wir waren müde, erschöpft und            Corona rar geworden sind, bedeuten mir viel.“
                 traurig. Das waren wir alle, aber wir haben weiter-
                                                                             Auch Anita Klein kommt eigentlich aus der
                                                                         stationären Pflege. Für die Mobilen Dienste der
                                                                         EHS arbeitet Sie erst seit Ende letzten Jahres. Nach
                                                                         einem Burnout, infolge der Corona-Situation bei
„Ich fühle mich wertgeschätzt                                           ihrem alten Arbeitgeber, wagte sie den Neustart:
                                                                         „Ich habe endlich wieder Freude. Ich bin trotz
  dabei, wie die Geschäftsführung                                        Corona an jedem einzelnen Tag gerne zur Arbeit
  sich für uns einsetzt.“                                                gegangen“, berichtet sie. „Ich fühle mich wertge-
                                                                         schätzt dabei, wie die Geschäftsführung sich für
                                                                         uns einsetzt, sei es bei der Corona-Prämie, der
 Anita Klein,                                                           Bereitstellung von Schutzmaterial und vielem              >>>
  Mobile Dienste, Hochdorf
                                                                         * Name wurde geändert

                                                                                                              | Gute Pflege | 1_2021 |   17
Pflege im Fokus

     Anita Klein von den
     Mobilen Diensten
     in Hochdorf

                > > > mehr.“ An der ambulanten Pflege gefällt ihr               Forderung nach mehr Aufmerksamkeit für Pfle-
                      besonders der intensive Kontakt mit den Men-              gekräfte ab. Ich wünsche mir, dass aus dieser
                      schen, die sie betreut. „Dadurch, dass man die            Zeit mehr bleibt. Dass wir uns auch in einem
                      Kundinnen und Kunden in ihrem ganz privaten               Jahr noch daran erinnern, was wirklich zählt.“
                      Umfeld kennenlernt, fühlt man sich fast wie ein
                      Familienmitglied. Man erfährt viel Akzeptanz                  Im Haus am Seeweg in Heddesheim haben die
                      und lernt zahllose Lebensgeschichten kennen.“             Impfungen stattgefunden. „Wir erlauben uns
                                                                                vorsichtig durchzuatmen“, beschreibt Färber die
                              Michaela Zeise, Marie Färber und Anita            aktuelle Situation. Auch sie selbst war im letzten
                          Klein machen diesen Beruf, um für Menschen            Jahr mit Corona infiziert und es gibt sie nach wie
                          dazusein. Was Corona zeitweise daraus gemacht         vor, diese Tage, an denen sie eine Pause einlegen
                          hat, steht für sie im Widerspruch zu diesem           muss, weil sie schlecht Luft bekommt. Aber es gibt
                          Anspruch. Die Quarantäne zwang alle allein in         auch die Tage, an denen sie wieder von Herzen
                          ihre Zimmer. Ihre ganze Kraft setzen sie dafür        lachen kann. „Wenn wir in das Zimmer einer
                          ein, um auf unterschiedlichsten Wegen doch die        demenziell erkrankten Bewohnerin kommen und
                          Nähe, Wärme und Gemeinschaft eines Zuhauses           sie uns freudig begrüßt mit den Worten: „Sie sind
                          zu erhalten – denn das ist es für die Bewohnerin-     aber schick angezogen!“ Dann schenkt sie uns
                          nen und Bewohner: ihr Zuhause.                        einen kurzen Moment der Leichtigkeit. Auch wenn
                                                                                die Vorstellung ihr da einen kleinen Streich gespielt
                              Langsam wird es heller am Horizont. Die           hat. Weil ich eigentlich gar kein Kleid trage, son-
                          Bewohnerinnen und Bewohner kommen wieder              dern einen bodenlangen Schutzkittel.“
                          zu Kräften und auch die seelischen Wunden
                          heilen. Es wird wieder mehr gelacht. Die Seele
                          des Hauses kehrt zurück. „Einige Zimmer blei-
                          ben leer, das ist für uns alle schwer. Wir sprechen             „Wir erlauben uns
                          darüber, nutzen auch seelsorgerische Angebote“,
                          sagt Färber. Und natürlich bleibt die Anspan-                     vorsichtig durch­
                          nung, bleiben die Tests und die Sorge vor einem
                          erneuten Ausbruch. Der Applaus ist längst ver-                    zuatmen.“
                          hallt, systemrelevant ist wieder mehr Wort als
                          Gefühl – so nimmt es Anita Klein wahr. „All-
                                                                                              Marie Färber,
                          tagsthemen rücken in den Vordergrund. Die
                                                                                              Heddesheim
                          Sorge um den nächsten Friseurbesuch löst die

18   | Gute Pflege | 1_2021 |
Antonie Kraut.
                 –
       Gemeinsam schaffen wir mehr

 Sie dachte quer, handelte quer. Antonie Kraut,      und den Aufbau diakonischer Einrichtungen.
 die Grande Dame der Stuttgarter Diakonie.           1945 gründet sie – mit Vertretern der Inneren
 Selbstbewusst und bürgernah, mit beiden Füßen       Mission, der Caritas und der Arbeiterwohlfahrt
 fest im Leben stehend. Sie hat erlebt, wie in der   – die Liga der Freien Wohlfahrtspflege. Sie ist
 Nacht auf den 25. Juli 1944 zigtausende Bomben      maßgeblich am Aufbau und der Entwicklung der
 die Innenstadt Stuttgarts in Schutt und Asche       modernen Sozialplanung beteiligt. Mit ihren
 gelegt haben. Wie Obdachlose und Verletzte          gutachterlichen Stellungnahmen hat sie die
 durch die Trümmer irrten. Wie Trümmer die Seele     Sozialgesetzgebung und die Entwicklungen im
 belasteten. Und sie hat mitgewirkt, dass aus den    Familien­recht beeinflusst. 1952 hat sie die Evan-
 Trümmern der Stadt neues Leben entstand.            gelische Heimstiftung gegründet.                        >>>

    Nach dem Zweiten Weltkrieg organisiert die
 promovierte Juristin Unterkünfte für Flüchtlinge

„Mutig sein, hinsehen,
  sich einmischen und
  helfen, wo geholfen
  werden muss.“
 Antonie Kraut,
 Unternehmensgründerin der EHS

                                                                                        | Gute Pflege | 1_2021 |   19
Pflege im Fokus

     >>>        Wie kann aus Trümmern etwas Neues entste-
             hen? Oder auf unsere heutige Situation übertra-              Wie kann aus der
             gen: Wie kann aus der Ausnahmesituation eine
             neue Offenheit füreinander entstehen? Wie kön-               Ausnahmesituation eine
             nen Menschen sich in der Müdigkeit nicht verste-
             cken, sondern füreinander einstehen? Ich entdecke            neue Offenheit für-
             den Keim dazu auf der Spurensuche bei Antonie
             Kraut. Einer ihrer Schlüsselsätze lautet: „Gemein-           einander entstehen?
             sam schaffen wir mehr!“ Starke Antriebe entste-
             hen für sie im Brennpunkt gemeinsamer Überzeu-
             gungen und Motive. Und dann zieht sich die
             unausgesprochene Grundannahme durch ihre             gebrochen ist und den Blick geöffnet hat für das,
             Vita: „In dir muss brennen, was du in anderen        was wirklich wichtig ist.
             entzünden willst.“ Das bewirkt, dass Trümmer
             auch zusammenschweißen können und zu Soli-               Viele haben erlebt, dass sozialer Verzicht nicht
             darität und umso stärkerem Lebenswillen führen.      unbedingt Verlust ist, sondern neue Möglichkeits-
             Trümmer haben nicht die Macht, den Neubeginn         räume eröffnet. Lehrerinnen und Lehrer lernten
             zu verhindern.                                       eine Menge über Internet-Teaching. Das Home-
                                                                  office wurde für Viele zu einer Selbstverständlich-
                 Antonie Kraut war Vordenkerin mit Visionen.      keit. Medizinischer Fortschritt half. Aber nicht
             Unsere Aufgabe ist heute: nicht die Asche zu         nur die Technik, sondern die Veränderung sozia-
             hüten, sondern die Flamme weiterzutragen. Die        ler Verhaltensformen war entscheidend. Dass
             Seele des Sozialen quicklebendig zu halten. Viel-    Menschen trotz radikaler Einschränkungen
             leicht würde Antonie Kraut uns Heutigen zwei
             Sätze weitergeben: „Gemeinsam schaffen wir
             mehr!“ Und die Voraussage: „Ihr werdet euch
             wundern, wenn die Corona-Krise vorbei ist.“
                                                                                     Gemeinsam handeln – auch heute
                 Corona ist die Katastrophe unserer Zeit und
             bedeutet einen Einschnitt. Ein einfaches Zurück                         Auch in der aktuellen Coronakrise hat die EHS
             zum Status „ante“ wird es nicht geben. Es gibt
                                                                                     die Grundsätze der Unternehmensgründerin zu
                                                                                     ihrem Maßstab gemacht: Gemeinsam schaffen
             historische Momente, in denen die Zukunft ihre
                                                                                     wir mehr. „Mutig sein, hinsehen, sich einmi-
             Richtung ändert. Krisen werfen Fragen auf: Wie
                                                                                     schen.“ Mit schnellem und professionellem
             wollen wir weiterleben? Wie können wir eine                             Handeln konnte in der ersten Welle zum Beispiel
             Mitsorge für andere entwickeln? In der Mensch-                          die Ausstattung mit Schutzmaterialien sicher-
             heitsgeschichte hat es Naturkatastrophen immer                          gestellt werden. „Wir haben in der AG Corona
             gegeben. Vor fast 250 Jahren machte ein Erdbeben                        unsere Kräfte, aber auch unsere Fachkompetenz
             Lissabon zu einem Trümmerfeld. Vor 100 Jahren                           gebündelt und uns so gemeinsam sicher durch
             wütete die Spanische Grippe und tötete weltweit                         die Krise bewegt“, blickt Geschäftsführerin Elke
             rund 50 Millionen Menschen.                                             Eckardt auf das letzte Jahr zurück.

                „Wir werden durch Corona unsere gesamte                              Es folgte eines der ersten umfassenden Öffnungs-
             Einstellung gegenüber dem Leben anpassen“,
                                                                                     und Testkonzepte von Pflegeunternehmen in
                                                                                     Deutschland sowie auch politische Forderungen
             prognostizierte im März 2020 Slavoj Žižek,
                                                                                     zur Anpassung der Coronaverordnung entspre-
             einer der populärsten Philosophen der Gegen-
                                                                                     chend dieser Konzepte. „Wir sind stolz darauf,
             wart. Rückblickend wundern wir uns heute: wie                           dass wir nun aufgrund unseres umfassenden
             nach einer ersten Schockstarre die Ausnahme                             Testkonzepts und der hohen Impfquote in den
             – auch in den Köpfen – zur neuen Normalität                             Einrichtungen weiter in die Zukunft denken und
             geworden ist. Wie die Corona-Zeit eine Unter-                           Öffnungsschritte hin zu einer neuen Normalität
             brechung und Verlangsamung, einen neuen Um-                             umsetzen können.“
             gang mit den Atemlosigkeiten unseres Lebens,
             erzwungen hat. Wie Selbstverständliches weg-

20   | Gute Pflege | 1_2021 |
Zusammenstehen in der Krise
Mitarbeitende des Karl-Wacker-Heims

                solidarisch und konstruktiv bleiben konnten, gab tens als entbehrlich erfahren werden kann. Das
                den Ausschlag. Im Fokus die Frage: Was ist der erzeugt Unruhe („Virologen gegen Wirrologen“),
                Mensch? Was sind wir füreinander?                aber auch Innovation in allen Bereichen. Sichtbar
                                                                 wird die Macht kollektiver Anstrengungen.
                                                                 Gemeinsam abgestimmtes Handeln setzt neue
                                  Gemeinsam
                                                                 Perspektiven frei.
                         neue Perspektiven schaffen

                Die Bereitschaft einander zu helfen gehört zu den         Genau hinschauen, Ideen entwickeln und
                Sternstunden dieser Krise. Eine der stärksten         umsetzen, Verantwortung übernehmen und die
                Visionen, die das Coronavirus hinterließ, sind        Schwachen stärken – das, so lerne ich von Antonie
                die musizierenden Italiener auf den Balkonen.         Kraut, gelingt am besten, wenn sich verschiedene
                Die zweite Vision waren Satellitenbilder, die         Menschen und Organisationen zusammentun.
                plötzlich die Industriegebiete Chinas und Italiens    Die Köpfe gemeinsam rauchen lassen, Ressourcen
                frei von Smog zeigten. Die großen Probleme von        zusammenbringen und so Lösungen realisieren,
                Klimakrise, Armutsbekämpfung, Bildungsge-             die eine(r) allein nicht hinbekommt. „Gemeinsam
                rechtigkeit und mehr bleiben uns durch die            schaffen wir mehr!“
                Pandemie erhalten – und werden zum Teil ver-
                schärft. Wir haben aber auch gelernt: Wenn wir        Dr. Thomas Mäule
                uns Krisen stellen, eröffnet sich ein Möglichkeits-
                raum. In gesellschaftlichen Systemen ist ein
                unglaublich schneller Wandel möglich, wenn die
                Menschheit zur Gemeinsamkeit – bis auf einzelne
                Ausnahmen – vereint ist.                                      Wir haben auch
                    Selten war der Konsens zwischen Gesellschaft              gelernt: Wenn wir
                und Politik so hoch wie heute. Die Krise hat –
                zumindest in den meisten Ländern – die Gesell-                uns Krisen stellen,
                schaft nicht nachhaltig gespalten. Sondern das
                Gesellschaftliche dichter und sichtbarer gemacht.             eröffnet sich ein
                Es fanden Verständigungsprozesse darüber statt,
                was „systemrelevant“ ist und was wir unbedingt                Möglichkeitsraum.
                brauchen. Und was in einer Zeit kollektiven Fas-

                                                                                                         | Gute Pflege | 1_2021 |   21
Corona-Impfung

                                      Lisa Federle.
                                            –
                                                        Gefragt
             Notärztin Lisa Federle engagierte sich 2020
             besonders für die Corona-Teststrategie, die als
             „Tübinger Modell“ bekannt wurde. Gute Pflege
             hat mit ihr über die Impfung gesprochen.

             Frau Federle, das Thema Impfen ist seit
             jeher mit einer gewissen Skepsis behaftet,
             die bei weit kritischeren Themen gar nicht
             präsent ist – Stichwort Zigaretten und
             Alkohol zum Beispiel. Wie erklären Sie
             sich das?

             Ich denke, das Problem ist in erster Linie, dass man
             beispielsweise beim Rauchen oder Trinken
             zunächst einen Genuss verspürt und die Folgen
             erst viel später deutlich werden. Beim Impfen bleibt
             der unmittelbare „Genuss“ aus – im Gegenteil:
             Man impft in einer Situation, in der der Patient
             gesund ist, die Impfung ist vorbeugend und nicht
             jeder verträgt sie natürlich gleich gut – es kann

             –
             zu, in aller Regel unkritischen, Impfreaktionen
             kommen.

                                                                          Kooperation mit Luise-Wetzel-Stift

                                                                            Lisa Federle
                                                                    Lisa Federle arbeitet hatte bereits
                                                                                          eng mit dem zu Beginn der Pandemie in
                                                                            enger Zusammenarbeit
                                                                    Luise-Wetzel-Stift  zusammen mit dem Luise-Wetzel-Stift
                                                                          in Tübingen, ganz nach dem Motto der EHS, geholfen,
        „Alle Impfstoffe                                                 wo geholfen werden musste und die regelmäßige
                                                                          Testung von Bewohnerinnen und Bewohnern in

          wurden unabhängig                                               Pflegeheimen in den Blick genommen. Gemeinsam
                                                                          mit Hausdirektorin Heike Merz berichtete sie von

          geprüft.“                                                       dieser Strategie auch in einem Beitrag des Senders
                                                                          BBC über das Coronamanagement im europäischen
                                                                          Vergeich.

22   | Gute Pflege | 1_2021 |
„Eine ganz wichtige Säule
  bei der Bekämpfung des
  Virus ist es, sich impfen
  zu lassen.“

        Was sind die häufigsten Argumente, die              Welche Chance bietet uns die Impfung?
        Ihrer Erfahrung nach aktuell gegen eine             Wie viel Hoffnung darf man begründeter
        Impfung vorgebracht werden, und wie                 Weise haben?
        bewerten Sie diese?
                                                          Eine ganz wichtige Säule bei der Bekämpfung des
        Einige Menschen haben scheinbar Angst davor,      Virus ist es, sich impfen zu lassen. Wir haben alle
        durch eine Impfung unfruchtbar zu werden. Das     eine gemeinsame Verantwortung. Uns selbst, aber
        ist meiner Einschätzung nach nichts weiter als    auch den Mitmenschen gegenüber. Ich betrachte
        ein Gerücht. Ich sehe hier weder bestätigte Fälle es aber mit Skepsis, alle Hoffnung ausschließlich
        noch Fakten, die diese Behauptung stützen wür-    auf die Impfung zu setzen. Auch wenn wir geimpft
        den. Vorsicht ist aktuell lediglich während einer sind, müssen wir weiter Vorsicht walten lassen.
        bestehenden Schwangerschaft geboten.              Wir müssen die Hygieneregeln strikt einhalten
                                                          und dürfen nicht aufhören zu testen, da wir noch

                                                            –
            Sicher sind einige Menschen auch skeptisch, nicht wissen, gegen welche Mutationen der Impf-
        da die Impfstoffe erst seit kurzem verfügbar sind stoff hilft und gegen welche nicht.
        und diese Art der mRNA-Impfung zuvor noch
        nicht verwendet wurde. Hinzu kommt, dass
        beispielsweise bei dem Impfstoff von Astra-
        Zeneca noch nicht geklärt ist, ob er gegen alle Welches Risiko schätzen Sie als höher ein?
        bisher bekannten Mutationen wirksam ist. Dem Eine Corona-Infektion mit einem schwe-
        kann ich allerdings entgegnen, dass alle Impf- ren Verlauf oder starke Nebenwirkungen
        stoffe unabhängig geprüft wurden und das bei einer Impfung?

        –
        Zulassungsverfahren für den Corona-Impfstoff
        genauso gilt wie für alle bekannten Impfungen. Ich denke, man kann davon ausgehen, dass das
                                                          Risiko bei einer Corona-Infektion deutlich höher
                                                          ist. Es gibt immer wieder Berichte, auch über
                                                          junge Patienten, die selbst nach zehn Monaten
        Gibt es Voraussetzungen, die Ihrer Ein-           noch mit Langzeitfolgen der Erkrankung zu
        schätzung nach gegen eine Impfung                 kämpfen haben. Sie berichten über Atemnot nach
        sprechen?                                         nur geringer Anstrengung oder über ihren bis
                                                          heute fehlenden Geschmacks- und Geruchssinn.
        Bei Menschen mit einem krankheitsbedingt sehr Und diese Langzeitfolgen können natürlich auch
        schwachen Immunsystem wird nicht geimpft, da trotz eines leichten Verlaufs auftreten.
        der Körper gar keinen Schutz aufbauen kann.
        Wenn in der Vergangenheit häufiger schwere
        allergische Schocks aufgetreten sind, ist man in
        diesem Fall natürlich auch vorsichtiger. Aber

        –
        allgemein kann man sagen, dass der Impfstoff gut
        vertragen wird.

                                                                                              | Gute Pflege | 1_2021 |   23
Sie können auch lesen