Gute Pflege Aufbruch - Entfalten und die Zukunft gestalten - Evangelische Heimstiftung
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Gute Pflege 1 | 2021 Das Magazin der Evangelischen Heimstiftung Aufbruch. – Entfalten und die Zukunft gestalten
04 10 14 Innovation 4 | Voraus. Innovation aus Verantwortung 10 | LebenPLUS. Ein Zukunftsprojekt entsteht Pflege im Fokus Voraus. 14 | Wertvoll. Was heißt hier eigentlich systemrelevant? – Innovation 19 | Antonie Kraut. Gemeinsam schaffen wir mehr aus Verantwortung 22 | Corona-Impfung Gefragt. Lisa Federle 24 | Traineeprogramm EHS lernen. EHS leben 27 | Kommentar – (E)InSicht Der Dritte Weg ist zukunftsfähig Impressum – Lutz Härer: S. 27 Verantwortlich: – NABU, Stiftung Natur- 28 | Bauen Bernhard Schneider schutzfonds BW, Glücks- Spirale: S. 31 Redaktion: Ann-Christin Kulick Telefon 0711 63676-125 Produktion und Druck: 30 | Grüne Pflege redaktion@ev-heimstiftung.de Offizin Scheufele, Nicht gekennzeichnete Artikel Druck und Medien GmbH Blühende Gärten + Co.KG sind von der Redaktion verfasst Nachdruck und elektronische Anschrift Redaktion Verwendung nur mit schrift- 32 | Personalien licher Genehmigung. Gute Pflege. Hackstraße 12, 70190 Stuttgart „Gute Pflege. Das Magazin der Neue Führungskräfte Evangelischen Heimstiftung“ Gestaltung: erscheint dreimal jährlich. AmedickSommer GmbH, Auflage: 23.000 Stuttgart 34 | Das sind wir Herausgeber: Fotos: Evangelische Heimstiftung Die Tagespflegen alle Fotos Evangelische Heim- GmbH stiftung mit Ausnahme von: www.ev-heimstiftung.de – Adobe Stock: Titel ipopba; Der Bezugspreis ist durch den S. 2 (o.l.), 4 Alex Stemmer; Beitrag abgegolten. S. 2 (o.r.), 14 zolga; S. 6 JPC- PROD und Vane Nunes; Im Magazin werden, soweit S. 24/26 Anna; S. 30 Anatolii; möglich, neutrale, alle S. 34 Lightfield Studios Geschlechter einschließende, Begriffe verwendet – oberstes – ARP-Architekten: S. 10-13 Gebot bleibt jedoch die – Raimund Weible: S. 23 Verständlichkeit der Sprache. 2 | Gute Pflege | 1_2021 |
19 Gute Pflege. Das Magazin der Evangelischen Heimstiftung. Liebe Leserinnen, liebe Leser, die erste Ausgabe der Guten Pflege in diesem Jahr veröffent- lichen wir in einer Zeit voller Zuversicht. Gut ein Jahr nach dem Beginn der Pandemie und der in der Geschichte der Evangelischen Heimstiftung erstmaligen Schließung unserer Einrichtungen für Besucherinnen und Besucher, erreichen wir in immer mehr unserer Einrichtungen eine Impfquote von 80 Prozent und mehr. Das bedeutet, dass wir allen Grund haben zuversichtlich zu sein, bald den Krisenmodus verlassen und hinein in die Normalität gehen zu können. In dieser Ausgabe blicken wir noch einmal zurück auf das, was die Mitarbeitenden der EHS in diesem bewegten Jahr geleistet haben. Wir beschäftigen uns mit dem viel disku- tierten Begriff „systemrelevant“ und damit, dass unsere Arbeit noch so viel mehr bedeutet. Wir blicken aber auch in die Zukunft: mit unserem Titel- thema zum Selbstverständnis und der Verantwortung vor- auszuschauen – mit innovativen Ideen und Strukturen, mit der Grünen Pflege und unserem Traineeprogramm. Und wir beschäftigen uns auch mit den Wurzeln dieses Unternehmens und damit, was uns Unternehmensgründerin Dr. Antonie Kraut in der heutigen Zeit zu sagen hätte. Viel Spaß mit der Ausgabe „Aufbruch. Entfalten und die Zukunft gestalten“. Ihre Gute-Pflege-Redaktion | Gute Pflege | 1_2021 | 3
„Die Evangelische Heimstiftung hat die Aufgabe, alten, kranken und behinderten Menschen ein Zuhause zu geben oder sie in anderer Form zu betreuen und sich in der Öffentlichkeit für deren Belange einzusetzen“. Erster Satz in der Präambel zum Leitbild der Evangelischen Heimstiftung. Dieser Verantwortung stellt sich die EHS ganz vorauszudenken und präventiv zu agieren. bewusst und leitet daraus auch einen Hand- Schlussendlich versteht man unter Innovation lungsgrundsatz ab, der Innovation als Chance auch, Trends auszuschöpfen und Potenziale zu beschreibt: „Wir entwickeln auf der Grundlage nutzen, die aus neuen Technologien entstehen, auf unserer Erfahrungen und der aktuellen wissen- Basis der Anforderungen aus der Praxis noch nicht schaftlichen Erkenntnisse neue, moderne Kon- bekannte Lösungen zu finden und zu etablieren. zepte, Produkte und Prozesse. Durch deren Dies geschieht zum Beispiel in Forschungsprojek- Implementierung gestalten wir aktiv Verände- ten und interdisziplinärer Zusammenarbeit. rungsprozesse zum Nutzen unserer Kundinnen, Kunden und Mitarbeitenden.“ Innovation als Gesamtkonzept Doch die EHS geht noch einen Schritt weiter. „Wir sehen Innovation nicht nur als Chance, Aber was bedeutet nun Innovation konkret für sondern als Verpflichtung aus unserem Selbstver- das Umfeld der Altenpflege? In der EHS findet ständnis als diakonisches Unternehmen heraus Innovation auf all den genannten Wegen statt Dienstleister zu sein und auf allen Ebenen gute und das in verschiedensten Themenbereichen des Pflege sicherzustellen – auch, indem wir unseren Unternehmens. „Innovation auf den Begriff Mitarbeitenden ein Arbeitgeber nach ihren Vor- Digitalisierung herunterzubrechen, finde ich zu stellungen sind“, erklärt Hauptgeschäftsführer kurz gegriffen, auch wenn diese natürlich eine Bernhard Schneider. „Wer nicht innovativ ist, große Rolle spielt. Wir verstehen Innovation in bleibt stehen. Unser Anspruch ist aber, unsere der EHS als Gesamtkonzept“, beschreibt Schnei- Konzepte, Prozesse und Produkte so weiterzuent- der die Strategie. „Unser Innovationszentrum wickeln, dass sie den sich verändernden Bedürf- beteiligt sich zum Beispiel an Forschungsvorha- nissen unserer Kundinnen, Kunden und Mitar- ben. Wir haben dabei den Vorteil, nicht nur das beitenden entsprechen sowie beste Qualität Fachwissen, sondern auch eine Reihe Einrichtun- ermöglichen.“ gen als Praxispartner einbringen zu können und so auch praxisrelevante Ergebnisse zu erlangen. Innovation kann dabei aus unterschiedlichen Unsere Forschungsprojekte beschäftigen sich mit Situationen heraus entstehen. Treten unvorherge- der Verbesserung bestehender oder der Implemen- sehene Ereignisse ein, wie etwa die Coronakrise, tierung neuer Prozesse, Dienstleistungen und die das Umfeld verändern, in dem sich ein Unter- Produkte in der Altenpflege, um unseren Kundin- nehmen bewegt, kann Innovation zum Beispiel nen und Kunden die beste Pflege und Betreuung darin bestehen, besonders schnell, vorausschau- auf dem neuesten Stand der Forschung (und der end und über das verpflichtende Maß hinaus auf Technik) zu ermöglichen“, berichtet Dr. Susan die gegebenen Umstände zu reagieren. Innovation Smeaton, die das Innovationszentrum leitet. Im bedeutet aber auch, prognostizierte (gesellschaft- Referat Assistenzsysteme und Digitalisierung liche) Entwicklungen frühzeitig zu erkennen, spielen besonders technische Innovationen, wie >>> | Gute Pflege | 1_2021 | 5
Innovation > > > die Weitentwicklung der Digitalisierungsstrategie ein solches IAM notwendig, um effektiv und mit ALADIEN, eine große Rolle. Zu diesen Alltags- minimaler Fehleranfälligkeit unsere Systeme ver- unterstützenden Assistenzsystemen und Dienst- walten und Zugriffsrechte auch flexibel verändern leistungen zählen unter anderem Tablets, die mit zu können“, erklärt Martin Schäfer, Geschäfts- ihren Funktionen zu mehr Selbstständigkeit und bereichsleiter für Innovation und IT. Ganz prak- Teilhabe im Alter beitragen. „Wir sind hier stetig tisch bedeutet das, dass mitarbeiterbezogene in der Weiterentwicklung – aktuell prüfen wir Daten in einem übergeordneten System gepflegt zum Beispiel das Einsatzpotenzial einer digitalen werden, das IAM auf diese Datenbank zugreift Sprachassistenzuhr, die Nutzerinnen und Nutzer und automatisiert zum Beispiel bei einer Funkti- im Alltag unterstützen und Sicherheit geben soll“, onsänderung auch die Berechtigungen des jewei- erklärt Pia kleine Stüve, Leiterin des Referats. ligen Mitarbeitenden für alle internen Systeme Aber auch speziell während der Corona-Pandemie anpasst. „Die Funktionalität benötigen wir zum kommen die Tablets zum Beispiel zum Einsatz, Beispiel für unser gerade entstehendes digitales um den Bewohnerinnen und Bewohnern den Lernmanagementsystem. Mit Hilfe des IAM wird Kontakt zu ihren Angehörigen zu ermöglichen, es dann möglich sein, jedem Mitarbeitenden, ent- wo Kontakte nur eingeschränkt möglich sind. sprechend seiner Funktion, individuelle Weiter- Auch die Entwicklung neuer und innovativer bildungsangebote zu machen“, erläutert Hannah Wohnformen, die die Zukunft des Lebens und Walker, Geschäftsbereichsleiterin Personal. Wohnens im Alter aufzeigen, hat sich die EHS zur Aufgabe gemacht (siehe LebenPLUS-Residenz, Als größtes diakonisches Pflegeunternehmen Seite 10). in Baden-Württemberg kann die EHS auch Maß- stäbe in der Realisierung der besten Personal- schlüssel und Bezahlung für Pflegekräfte setzen und nimmt diese auch wahr – mit den Arbeitsver- tragsrichtlinien der Diakonie Deutschland und Kontakt in Corona-Zeiten einem deutschlandweit einmaligen Leuchtturm- dank ALADIEN projekt der Jungen Intensivpflege (siehe Seite 8). Der Stellenwert der Innovation im Bereich Personalmanagement zeigt sich zudem auch in dem besonderen Fokus auf der Führungskräfte- entwicklung: In einem breit angelegten Beteili- gungsprozess erarbeitet die EHS aktuell ein Führungskonzept (siehe Ausgabe 3/2020), „denn jeder Mitarbeitende hat einen Anspruch auf gute Führung“, so die Überzeugung von Haupt- geschäftsführer Bernhard Schneider. Darüber hinaus werden angehende Einrichtungsleitungen in einem einjährigen Traineeprogramm auf ihre Aufgaben vorbereitet (siehe Seite 24). Ein weiterer bedeutsamer Bereich der Inno- Neben den Innovationen in der ganz prakti- vation ist für die EHS die Kommunikation. Von schen Lebenswelt der Kundinnen, Kunden und einer Employer Branding Kampagne, in der die Mitarbeitenden in der Pflege und Betreuung der Marke EHS als Arbeitgeber herausgestellt und EHS spielt auch die innovative Gestaltung von gestärkt wird, über die professionelle Medienar- Strukturen und Prozessen eine große Rolle. beit und Krisenkommunikation, bis hin zur „Aktuell arbeiten wir an der Einführung eines politischen Diskussion branchenrelevanter The- Identity Access Managements (IAM), das bedeu- men wie etwa der Impfstrategie in Form von tet an der zentralen Identitäts- und Zugriffsver- Medienarbeit, sieht es die EHS als Selbstver- waltung unserer internen Systeme. Gerade da ständnis und Verpflichtung, als größtes diakoni- unsere über 9.300 Mitarbeitenden an 156 Stand- sches Pflegeunternehmen in Baden-Württemberg orten in verschiedenen Funktionen arbeiten, ist diesem Anspruch an Kommunukation gerecht zu 6 | Gute Pflege | 1_2021 |
werden. „Unsere Stimme wird gehört, das nimmt EHS zu fördern, ist eine verlässliche „grüne“ uns in die Verantwortung und diese nehmen wir EHS-Struktur die Grundlage. Dafür hat die EHS gerne wahr“, erklärt Bernhard Schneider. Zum ein eigenes Umweltmanagementsystem, das Beispiel in der Initiative Pro-Pflegereform. Die Grüne Segel, implementiert und entwickelt es Initiative, als deren Sprecher Schneider fungiert, immer weiter. setzt sich seit Jahren für eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung ein und hat in Das Grüne Segel ist ein EHS-Instrument für Zusammenarbeit mit Professor Heinz Rothgang den betrieblichen Umweltschutz. Auf der Ebene von der Universität Bremen entsprechende Kon- der Einrichtungen und Dienste der EHS werden zepte vorgelegt sowie den aktiven Diskurs mit ökologische Maßnahmen umgesetzt und negative der Landes- und Bundespolitik aufgenommen. Umweltauswirkungen wie Energieverbrauch, Abfälle oder CO2 -Emissionen reduziert. Bei der Das Selbstverständnis des innovativen Han- EHS hat sich das Grüne Segel zu einem Impuls- delns nimmt die EHS auch im Bereich Klima und geber für „grüne“ Innovationen und den nach- Umwelt wahr. Um „grüne“ Innovationen in der haltigen Wandel entwickelt. „Innovation ist für uns kein einzelner Bereich, sondern gelebte Unternehmens- kultur in allen Projekten und Themen, die wir angehen.“ Bernhard Schneider, Hauptgeschäftsführer Neue Wege gehen – VITAAL soll die Lösung sein: Das For- Digitale Rehabilitation mit VITAAL schungsprojekt des Innovationszentrums der Die Mobile Geriatrische Rehabilitation (MoGeRe) EHS hat den Einsatz telemedizinischer Möglich- ist in der Rehabilitationsklinik Bad Sebastians- keiten in der MoGeRe untersucht. „Es bestehen weiler bereits seit 2015 eine Alternative für Men- zwei Optionen: Mittels eines Tablets kann der schen, denen aus verschiedenen Gründen ein behandelnde Physiotherapeut oder die Therapeu- stationärer Aufenthalt nicht möglich wäre. tin während eines Hausbesuchs eine Videovisite „Besonders für psychisch oder demenziell mit dem Rehabilitationsarzt führen. Alle Betei- erkrankte Patientinnen und Patienten, aber auch ligten können so kommunizieren, die Entwick- für Menschen, die in der Rehabilitation auf lung verfolgen und mögliche Anpassungen in der Unterstützung von Angehörigen angewiesen sind, Therapie vornehmen. Videoaufnahmen können ist ein stationärer Aufenthalt zu Rehabilitation zudem im Nachgang auch in interdisziplinäre nicht die richtige Wahl“, erklärt Volker Gurski, Fallbesprechungen einfließen“, erklärt Dr. Susan Geschäftsführer der Rehabilitationsklinik in Bad Smeaton, Leiterin des Innovationszentrums der Sebastiansweiler, die als Praxispartner an dem EHS. Über gut drei Jahre lief das Projekt, geför- Forschungsprojekt beteiligt ist. Aufgrund von zu dert vom Ministerium für Soziales und Integra- weiten Anfahrtswegen ist dieses Angebot aber tion in Zusammenarbeit mit der Rehabilitations- bislang nur für Menschen im näheren Umfeld klinik in Bad Sebastianweiler, dem Zentrum für eine Option. Telemedizin Bad Kissingen, der Eberhard-Karls- >>> | Gute Pflege | 1_2021 | 7
Innovation > > > Universität Tübingen sowie dem Entwicklungs- zentrum Gut altwerden GmbH. „Kontinuität und das Einbinden der Angehö- rigen sind die Stärken von VITAAL. Es erleich- tert die Zusammenarbeit in der Rehabilitation über mehrere Disziplinen hinweg und vereinfacht die Kommunikation unter den Beteiligten“, beschreibt Smeaton das Projekt weiter. Nach der ärztlichen Aufnahmeuntersuchung folgte über sieben Wochen, bestehend aus etwa 40 Einheiten, ein individueller therapeutischer Behandlungs- plan. Das Projektteam entwickelte hierfür ein patienten- und prozessorientiertes Konzept, das telemedizinische Lösungen in die Behandlung integriert. Die Umsetzung wurde im Rahmen der Studie evaluiert und anschließend als Blaupause für andere Regionen zur Verfügung gestellt. „Wir wollten mit dem Projekt die Möglichkeit Mobile Rehabilitation einer kontinuierlichen mobilen Versorgung, im Projekt VITAAL unabhängig von der räumlichen Entfernung, schaffen, aber auch die Patientinnen und Patien- ten in der Selbstversorgung fördern“, erklärt Smeaton. „Das Besondere an VITAAL ist der direkte Austausch zwischen Arzt und Physiothe- Der Einsatz von Telemedizin ist an sich nicht rapeut sowie Patientinnen, Patienten und Ange- neu. Neu ist aber die direkte Kommunikation hörigen.“ VITAAL stärkt außerdem die Nach- zwischen allen Beteiligten und die Kombination haltigkeit der MoGeRe, indem Lehrmaterial für digitaler Werkzeuge nach individuellem Bedarf. den Behandlungsverlauf zur Verfügung gestellt Auch andere Regionen und Gesundheitsangebote und nach Abschluss der Reha-Maßnahmen wei- können davon profitieren. „Die Ergebnisse zei- ter genutzt werden kann. Zur technischen Aus- gen, dass eine hohe Akzeptanz bei den Anwen- rüstung von VITAAL gehört neben einem Tablet dungen vorliegt, verbunden mit einer Qualitäts- eine Gopro-Kamera auf einem Stativ, die mit steigerung im Bereich der direkten inter- und Fernbedienung am Handgelenk gesteuert werden transdisziplinären Kommunikation“, erläutert kann. Der Physiotherapeut oder die Therapeutin Smeaton die Ergebnisse der Forschung. Außer- hat so beide Hände für die Patientinnen und dem erlauben die Videokonsole und Videoauf- Patienten frei. Ein Fokus des Projekts lag zudem nahmen eine zeitnahe, zielgerichtete Steuerung darauf, die Akzeptanz für digitale Angebote in des Rehabilitationsprozesses. Eine technische der Medizin zu erhöhen. Weitere Anwendungs- Umsetzung ist auch im ländlichen Raum möglich. bereiche sind denkbar, das System kann modular „Auf den Ergebnissen von VITAAL wollen wir mit den Bedarfen der Kundinnen und Kunden auf jeden Fall gerne aufbauen und sind dazu wachsen. aktuell in der Abstimmung.“ Insgesamt haben 25 Patientinnen und Pati- Junge Intensivpflege enten im Alter von 60 bis 93 Jahren an der neu gedacht Feldphase teilgenommen. „Ihre durchschnittliche Mobilität wurde vor Beginn des Programms mit Im Oktober 2018 eröffnete die Junge Intensiv- 58,4 von 100 Punkten bewertet. Nach Abschluss pflege der EHS in Besigheim nach einer grund- konnte ein Durchschnittswert von 76,0 Punkten legenden konzeptionellen und baulichen Neu- und damit eine deutliche Verbesserung erzielt ausrichtung. Nicht nur die Ausstattung mit werden“, fasst Reha-Arzt Martin van Soest die modernem Deckenlifter, Licht- und Wellnessbad Ergebnisse zusammen. sowie modernen Therapieräumen hebt die Ein- 8 | Gute Pflege | 1_2021 |
richtung hervor, denn die Junge Intensivpflege Wichtig dafür sind auch die 100 Prozent hat einen eigenen Versorgungsvertrag für die Fachkraftquote und die Weiterbildungen: 120 Pflege von Menschen mit apallischem Syndrom, Stunden ist die sogenannte „kleine“, weitere 240 im Wachkoma und Menschen, die künstlich Stunden die „große“ Weiterbildung, die alle beatmet werden. Sie setzt seit über zwei Jahren besuchen müssen. Das verändert vieles. Früher ein bundesweit einmaliges Konzept um: 100 mussten die wenigen Fachkräfte oft allein ent- Prozent Fachkraftquote, Personalschlüssel von scheiden, heute tauschen sie sich aus, die Verant- wortung wird geteilt, die Handlungssicherheit 1 : 0,74 (Durchschnitt stationäre Pflege: 1 : 2,3). 30 Menschen können dort in den zwei Wohn- wird höher. Besonders positiv für die Mitarbei- bereichen „Glücksmoment“ und „Augenblick“ tenden: ein verlässlicher Dienstplan. Durch den leben. hohen Personalschlüssel können Ausfälle gut kompensiert werden. „Wir können uns gegensei- „Gute Pflege braucht viel Zeit. Die haben wir tig vertreten, ich musste in zwei Jahren nicht Dank des hohen Personalschlüssels. Diese so einmal aus dem Frei einspringen, wo gibt es so einzusetzen, dass sie bei den Bewohnerinnen und etwas?“, berichtet eine Kollegin. Bewohnern ankommt, das funktioniert nur mit Konzept“, berichtet eine Kollegin. Diese Ent- schleunigung muss im Kopf ankommen und im Alltag umgesetzt werden. Früher war es automa- tisiert, erzählen die Mitarbeitenden, Montag duschen, Dienstag mobilisieren, Mittwoch The- rapie. Heute entscheiden sie nach Bedarf: Worauf hat der Bewohner Lust, was tut ihm heute gut. Und das zahlt sich aus: Die jüngste Bewohnerin ist 21, sie mag es, wenn ihre Haare geflochten sind, das wissen die Kollegen von der Mutter. „Dafür haben wir jetzt Zeit und wir legen Wert darauf, dass sie so sein kann wie früher, so gut es eben geht.“ Das bedeutet mehr Verantwortung, aber eben auch mehr Selbstständigkeit. „Wir haben gelernt, uns einzubringen, im Kleinen und im Großen.“ Auch die Namen der Wohnbereiche wurden im Team entschieden: Glücksmoment und Augen- blick. „Das Team hat sich positiv entwickelt“, weiß Hausdirektorin Elke Eckert, „ich bin rich- tig stolz auf meine Leute.“ Mit voller Kraft für innovative Ideen | Gute Pflege | 1_2021 | 9
Innovation LebenPLUS. – Ein Zukunftsprojekt entsteht Sie soll der Startschuss für eine neue Generation des Wohnens und Lebens im Alter sein: die LebenPLUS-Residenz in Bönnigheim. Derzeit entwickelt ein inter- disziplinäres Team das Projekt rund um die Themen Quartiersarbeit, Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Architektur. nehmen? Von diesen Fragen lässt sich die Evan- Die Vision gelische Heimstiftung leiten, wenn neue Produkte „Mit der LebenPLUS-Residenz in Bönnigheim und Dienstleistungen entwickelt werden. „Wir wollen wir eine neue Tür zum Leben und Wohnen wollen in Bönnigheim ein neues Kapitel der pfle- im Alter aufstoßen“, berichtet Peter Hettig, gerischen Infrastruktur aufschlagen“, erklärt Geschäftsbereichsleiter Bau und Liegenschaften. Hauptgeschäftsführer Bernhard Schneider, „und „Das KDA (Kuratorium Deutsche Altershilfe zwar mit allem was dazu gehört: Wohnformen, Wilhelmine-Lübke-Stiftung e.V.) hat bereits fünf technische Assistenzsysteme, Unterstützungsan- Generationen von Pflegeheimen definiert, zuletzt gebote, Einbindung von Ehrenamt, Quartiersar- das Hausgemeinschaftskonzept und das Quar- beit, Nachhaltigkeit und natürlich gute Pflege.“ tiershauskonzept. Mit der jetzigen Weiterentwick- lung zum Pflegeheim 6.0 wollen wir bisherige Die Konzeptentwicklung Grenzen überschreiten und Neues wagen. Dabei orientieren wir uns an den bestehenden, aber auch Zuständig für die Entwicklung des neuen Ange- zukünftigen Bedarfen unserer potenziellen Kun- bots ist seit Sommer 2019 eine interdisziplinäre dinnen und Kunden.“ Wie wollen wir zukünftig Projektgruppe. Sie besteht aus Expertinnen und im Alter leben? Wie möchten wir wohnen, wenn Experten der Bereiche Pflege und Betreuung, wir Pflege- und Unterstützungsbedarf haben? Und Architektur und Bau, Quartier und Ehrenamt was brauchen wir, um weiterhin selbstständig zu sowie Kommunikation und Marketing und wird bleiben und am gesellschaftlichen Leben teilzu- von einem externen Moderator begleitet. Außer- 10 | Gute Pflege | 1_2021 |
Das Siegermodell einer Mehrfachausschreibung dem wurden erstmalig in einem Beteiligungsver- derungen für die LebenPLUS-Residenz: Kom- fahren auch Bürgerinnen und Bürger aus Bönnig- munikation und Austausch, Räume und Leben, heim in die Konzeptentwicklung eingebunden. Engagement und Gestaltung, Quartiersorientie- „Wir wollten ihre Ideen und Anregungen erfahren, rung. Die Ergebnisse der Bürgerbeteiligung und zwar sowohl als mögliche Kunden als auch wurden in einem Bürgergutachten festgehalten als Angehörige oder Ehrenamtliche“, erklärt Bet- und in einer öffentlichen Gemeinderatssitzung tina Ongerth, Leiterin der Quartiersentwicklung vorgestellt. Von der Gemeinschaft in der Resi- bei der EHS. 16 Bürgerinnen und Bürger hatten denz und der digitalen Vernetzung vor Ort, über so die Möglichkeit, sich aktiv in die Planung ein- Konzepte zur Einbindung von Ehrenamtlichen zubringen. Einer von ihnen war Bürgermeister – auch über digitales Engagement – bis hin zum Albrecht Dautel. „Die Herausforderung ist für aktiven Quartiersmanagement entstanden dabei uns jetzt vorauszudenken, was in zehn, 15 Jahren zahlreiche Ideen. „Die LebenPLUS-Residenz soll sein soll, wie wir das Wohnen im Alter für Bön- Raum für Freude und Trauer bieten, Architektur nigheim realisieren wollen. Ich freue mich, dass und Sozialraum sein, ein Ort, an dem sich Men- wir das gemeinsam mit der Evangelischen Heim- schen begegnen“, fasst Hettig zusammen. stiftung tun können.“ Das Ergebnis Der Beteiligungsprozess entstand mit Hilfe der Methode der „Planungszelle“. Diese wurde Entstehen soll in Bönnigheim in zentraler Lage ursprünglich in den 1970ern von Prof. Peter C. südlich des Altstadtkerns die erste LebenPLUS- Dienel an der Universität Wuppertal zur Verbes- Residenz und damit Wohn- und Lebensraum für serung von Planungsentscheidungen entwickelt rund 60 Menschen. „Alle Appartements werden und zuvor erst einmalig im Bereich der Altenhilfe 30 Quadratmeter groß sein und über eine eigene eingesetzt. Bürgerinnen und Bürger nehmen Küchenzeile verfügen. Damit sind sie in unter- dabei die Rolle von Laiengutachtern ein. Sie schiedlichen Wohnarrangements nutzbar“, erklärt werden vorab von Experten informiert und set- Hettig. Vorgesehen sind 36 Zimmer für Menschen zen sich anschließend mit verschiedenen Frage- mit Pflegebedarf nach den Grundsätzen der stati- stellungen auseinander. „Die Bürgerinnen und onären Pflege. Außerdem 24 Wohnungen für Bürger wurden dabei nach Interesse ausgewählt, Menschen mit Betreuungs- oder Pflegebedarf jedoch ohne professionellen Bezug zur Pflege. Sie orientiert am ambulanten Umfeld. Alle Zimmer engagieren sich in verschiedenen Bereichen wie werden geräumig und barrierefrei gebaut sowie der Kirche, der Gemeinde, in Kultur und im technisch modern und sicher ausgestattet. „Natür- pflegerischen Umfeld. Moderiert wurde die Ver- lich setzen wir auch mit ALADIEN unsere digi- anstaltung von einem Systemischen Berater und talen Unterstützungsgebote ein und entwickeln Coach“, erklärt Bettina Ongerth. Zu vier The- diese weiter. Die Residenz ist ein Modellhaus für menblöcken erarbeiteten die Teilnehmerinnen die Pflegeeinrichtung 6.0. Integriert werden zudem und Teilnehmer ihre Vorstellungen und Anfor- eine Tagespflege, ein Standort der Mobilen Dienste >>> | Gute Pflege | 1_2021 | 11
Innovation >>> sowie Begegnungsräume, eine Arztpraxis und Ehrenamtliche sowie Mitarbeitende und Ko- Gewerbeflächen“, erläutert Hettig. Vier Ziele hat operationspartner sind in einem transparenten die Agendagruppe dabei erarbeitet: Austausch. Ziel 1 – Wohnlichkeit und Quartiersorientierung Ziel 3 – Nachhaltige Innovationen Die Bewohnerinnen und Bewohner sollen ein Nachhaltige Innovationen in Architektur, gutes Leben, besonders bei Pflegebedürftigkeit, Gebäudetechnik, Betriebstechnik und Möblie- in einem innovativen und wohnlichen Haus rung des Pflegehaus 6.0 sind so gestaltet, dass führen. Verschiedene bedarfsgerechte Wohn- und Leben, Wohnen, Arbeiten, Pflege und Begegnung Pflegeangebote sowie Quartiersangebote, wie der Menschen in einer selbstbestimmten und beispielsweise Tagespflege, Arzt, Physiotherapie, sicheren Umgebung bestmöglich unterstützt Friseur oder Einkaufsmöglichkeiten unterstützen wird. sie dabei. Das „offene Haus“ ermöglicht Teil- habe, Teilgabe und Teilnahme für jeden. Ziel 4 – Mitarbeitende in Haupt- und Ehrenamt Haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende arbei- Ziel 2 – Kommunikation und Austausch ten in einer Wertschätzung vermittelnden Umge- Die schnelle und effiziente Kommunikation bung und sind an der konzeptionellen Weiterent- zwischen allen Beteiligten im Pflegehaus 6.0 wird wicklung beteiligt. Ein mitarbeiterorientiertes durch digitale Vernetzung unterstützt und Personalkonzept mit innovativen und neuen gefördert. Kundinnen und Kunden, Angehörige, Arbeitszeitmodellen, einer verlässlichen Dienst- 12 | Gute Pflege | 1_2021 |
plangestaltung per APP und freies WLAN bieten spektive für Menschen mit sich veränderndem einen attraktiven Arbeitsplatz. Ehrenamtliche sind Pflegebedarf. Digitale Angebote heben die Resi- eingebunden und werden professionell begleitet. denz genauso hervor wie die intensive Anbindung Eine Quartiers-Plattform stärkt die Vernetzung an das Gemeindeleben. Dieses wird mittels des und unterstützt die kommunale Entwicklung des Quartiersmanagements, aber auch der Gewerbe- Quartiers. flächen im Erdgeschoss sowie der innenstadtna- hen Lage deutlich. „Auch in der Architektur wird Die LebenPLUS-Residenz bietet damit Be- diese Anbindung sichtbar: mit einer Klinker- wohnerinnen und Bewohnern, aber auch Mitar- Fassade orientiert sie sich an der Altstadt und beitenden sowie Bürgerinnen und Bürgern ein fügt sich zum Wohngebiet hin mit einer moder- hoch innovatives Wohn- und Pflegekonzept, das nen Fassade harmonisch in das Bild ein. Bauliche Beteiligung und Selbstbestimmung in einem Qualität und technische Innovation bringen hohen Maße fördert. Aufgrund der baulichen natürlich mehr Kosten mit sich als übliche Gegebenheiten ist die Residenz nachhaltig Pflegeheime oder Betreute Wohnungen. Ande- zukunftsfähig und wandelbar. Die EHS stellt sich rerseits dürfen auch die Mieten nicht zu hoch mit der LebenPLUS-Residenz auf den Wegfall werden. Deshalb hoffen wir auf Fördergelder, der Sektoren ein und bietet dabei Wohnarrange- eine Stiftung oder Spenden für diesen innovativen ments für Menschen mit und ohne Pflegebedarf. Ansatz. Den Baubeginn erwarten wir für 2022“, Die vielfältigen Wohn- und Betreuungsangebote berichtet Hettig. ermöglichen zudem auch eine langfristige Per- | Gute Pflege | 1_2021 | 13
Pflege im Fokus Wertvoll. – Was heißt hier eigentlich systemrelevant? 14 | Gute Pflege | 1_2021 |
Was die Pflege ausmacht, gerade während dieser Pandemie, aber auch darüber hinaus, lässt sich nicht mit einem Wort beschreiben. Denn gute Pflege ist nicht nur systemrelevant. Gute Pflege ist mehr wert. Marie Färber ist Wohnbereichsleitung im Erdge- Die beiden Seiten des Wohnbereichs sind streng schoss des Haus am Seeweg in Heddesheim. Ende getrennt, sowohl für Bewohnerinnen und Bewoh- November 2020 hat sie eine Woche Urlaub. Im ner als auch für Mitarbeitende. Pflegeheim hat es einen Corona-Ausbruch gege- ben, das weiß sie schon. Es ist Sonntagabend, ihr Szenenwechsel ins Haus am Lindenplatz in letzter Urlaubstag. Als ihr Telefon klingelt und Neudenau. Von einem Corona-Ausbruch blieb Regionaldirektor Thomas Becker am anderen das Pflegeheim bis jetzt verschont, Sicherheit hat Ende spricht, ahnt sie nichts Gutes. Seine Frage dennoch die höchste Priorität, auch wenn die bestätigt das Gefühl. „Frau Färber, könnten Sie Gefahr gar nicht immer greifbar ist. „Bewohner ab morgen auf Wohnbereich 1 aushelfen? Das innen und Bewohnern fällt es oft schwer, uns zu Ausbruchsgeschehen hat sich verstärkt, auch erkennen und auch zu verstehen. Viele hören ja einige Mitarbeitende fallen aus, wir brauchen schlecht und lesen normalerweise von den Lippen Unterstützung.“ „Natürlich habe ich ja gesagt, ab, jetzt versuchen wir uns mit extra lautem natürlich hilft man aus“, erzählt Färber. Zumal Sprechen – mehr ist ja nicht möglich, denn die sie den Wohnbereich und viele Bewohnerinnen Maske verdeckt den Mund“, berichtet Michaela und Bewohner dort noch gut kennt. Ein Jahr Zeise, Pflegefachkraft im Haus am Lindenplatz. arbeitete sie dort als Pflegefachkraft, bevor sie die Leitung des Wohnbereichs im Erdgeschoss Auch die Kolleginnen und Kollegen der Mobi- übernahm. len Dienste kennen diese Probleme. „Besonders für Menschen, die an Demenz erkrankt sind, ist Dienstbeginn am Montagmorgen. Es ist still, es schwierig, uns zum einen überhaupt zu erken- als Marie Färber den Wohnbereich 1 betritt, nen, aber auch zu verstehen, denn einige regis- unheimlich still. Der erste Moment ist ein trieren tatsächlich erst mit dem Sehen der Lip- Schock, so beschreibt sie es heute. Der Aufent- penbewegung, dass sie angesprochen werden.“ haltsraum, der sonst wie ein Wohnzimmer den Anita Klein arbeitet als Pflegefachkraft für die lebhaften Mittelpunkt der Gemeinschaft dar- Mobilen Dienste in Hochdorf. Für viele ihrer stellt, ist menschenleer. Stapel verschiedenster Kundinnen und Kunden ist sie während Corona Materialien bestimmen das Bild. Schutzanzüge, einer der wenigen, wenn nicht sogar der einzige Masken, Visiere, Handschuhe, Desinfektions- Kontakt. „Ich merke, dass die Menschen auch mittel. Alles bereitgelegt für den nächsten Ein- viel mehr das persönliche Gespräch suchen, und satz. „Ich habe den Wohnbereich in diesem die Zeit nehme ich mir auch, wo es möglich ist.“ Moment nicht wiedererkannt. Normalerweise herrscht auf einem Gang niemals Stille.“ Ein Für Michaela Zeise in Neudenau hat sich demenziell erkrankter Bewohner läuft durch die nicht nur der Umgang mit Bewohnerinnen und Gänge, auf der Suche nach seinem Zimmer. Bewohnern verändert. Dazu kommt für sie ein Irgendwo klingelt es, jemand ruft – das übliche wesentlich erhöhter Arbeitsaufwand durch die Chaos des alltäglichen Lebens eben. „Ein schönes Schnelltests, die bei jeder Besucherin und jedem Chaos.“ Und jetzt Stille, verschlossene Türen. Besucher vor Betreten der Einrichtung durchge- >>> | Gute Pflege | 1_2021 | 15
Pflege im Fokus > > > führt werden müssen. „Wenn ich zum Beispiel Frühdienst habe und zum Testen eingeteilt bin, bedeutet das, ich komme um 5:45 Uhr für meinen eigenen Test und dann ab 6 Uhr teste ich die Kolleginnen und Kollegen, um halb 7 beginnt mein regulärer Dienst auf dem Wohnbereich. An Tagen, an denen unser Büro nicht besetzt ist und zum Beispiel Handwerker kommen, muss ich auch außerhalb der regulären Besuchszeiten meine pflegerischen Tätigkeiten unterbrechen und die Tests vornehmen. Natürlich konnten wir unsere Arbeitszeiten aufstocken, sodass das Zeitbudget vorhanden ist, aber trotzdem geht vor allem Ruhe im Umgang mit Bewohnerinnen und Bewohnern verloren.“ Im Haus am Lindenplatz selbst war bislang niemand mit Corona infiziert, aber der Austausch mit Mitarbeitenden anderer Einrichtungen, wie zum Beispiel dem Haus am Michaela Zeise aus Neudenau Seewege, sensibilisiert für die Gefahr: „Diese in Corona-Schutzausrüstung Berichte machen uns sehr betroffen. Und natür- lich bin ich bei jedem Halskratzen in Alarmbe- reitschaft. Dass ich meine Freunde nicht mehr sehe, um mich und andere vor Ansteckung zu schützen, ist klar, aber da auch mein Mann als und Verantwortungsgefühl hat sich auch privat Fahrer im Nahverkehr im Schichtbetrieb arbeitet, einiges verändert: „Wir gehen weniger aus dem haben wir auch privat mit kleinem Kind eine Haus und überlegen zwei Mal, ob ein Einkauf starke Doppelbelastung. Zum Glück unterstützt jetzt wirklich notwendig ist. Wir nehmen uns mich die EHS hier toll als Arbeitgeber, insbeson- wirklich sehr zurück und da ärgert es mich dere auch meine Chefin und das ganze Team.“ schon einmal, wenn ich Menschen sehe, die doch eher sorglos und unbeschwert mit der Situation umgehen.“ Man passt in diesen Zurück nach Heddesheim in das Haus am Seeweg: „Zu Beginn haben wir Überforderung Zeiten noch mehr gefühlt, aber wir haben uns schnell eingefunden: mehrmals täglich Fieber messen, Vitalwertkon- aufeinander auf. trolle, Pflege“, erinnert sich Marie Färber. Und dabei immer die Uhr im Blick. Mehr als 15 Minuten sollte man aufgrund der Infektionsge- Man passt in diesen Zeiten noch mehr auf- fahr auch in Schutzkleidung in keinem Zimmer einander auf, das findet auch Anita Klein von bleiben. „Dann schnell wieder raus, Wechsel der den Mobilen Diensten. „Das läuft hier ganz toll, Schutzkleidung und in das nächste Zimmer.“ Vor man fragt sich gegenseitig, auch vermehrt jetzt allem demenziell erkrankte Bewohnerinnen und während Corona, wie es den anderen geht.“ Bewohner waren zum Teil verängstigt von der Ob sie Sorge habe sich anzustecken? Ja, der neuen Situation. „Sie haben uns schlicht nicht Gedanke sei natürlich präsent. „Bevor wir einen erkannt und die Situation nicht verstanden. nachweislich Corona-postiven Kunden besu- Dachten, sie wären selbst krank, hätten etwas chen, werden wir aber informiert, um uns falsch gemacht. Mit der Zeit haben sie sich an entsprechend schützen zu können, und das den Anblick gewöhnt.“ Es ist warm unter dem klappt sehr gut – sowohl im Team als auch mit Schutzanzug, den Handschuhen, der Maske und unseren Vorgesetzten.“ Anita Kleins Partner dem Visier, die Brille beschlägt. Kurz raus, arbeitet ebenfalls in der Pflege. Aus Rücksicht durchatmen, wieder rein und weiter. „Zum 16 | Gute Pflege | 1_2021 |
„Ich sitze mit Bewohnerin- Glück mussten wir uns zu keinem Zeitpunkt nen oder Bewohnern, die Sorgen um die Schutzausrüstung machen, alles war immer ausreichend da. Jeden Tag kam außer- nicht schlafen können, dem ein Arzt, das waren Hausärzte hier vor Ort. Sie kamen auch nachts, wenn es notwendig war“, im Wohnzimmer, es gibt erzählt Färber weiter. Plätzchen und Tee. Das „Und es wurde notwendig. Ein täglicher sind ganz nahe Momente Kampf spielte sich ab und wir waren mitten- drin“, so empfand Färber die Situation. Ein – auch auf Abstand.“ Kampf in der Hoffnung, dass es dem Bewohner am nächsten Tage besser gehen würde, das ichaela Zeise, M Fieber sinkt, er wieder isst, trinkt und zu Kräf- Neudenau ten kommt. Dann der Moment der ganz greif- baren Hoffnung, wenn sich der Gesundheits- zustand verbessert. Und ganz plötzlich die niederschmetternde Nachricht, es ist wieder gemacht, zusammengehalten und uns nur selten schlechter geworden. Ein Kampf, an dem die die Anspannung anmerken lassen, die Sorge um Pflegekräfte machtlos teilnehmen. Alles geben die Bewohnerinnen und Bewohner und die Angst und nicht nur einmal doch verlieren. vor der eigenen Ansteckung.“ Frau Müller* ging es wirklich nicht gut. Marie Helfen und in diesen besonderen Zeiten Wärme Färber mochte sie besonders gern. „Mir war klar, und Geborgenheit schenken, das will Michaela dass sie sich auf den Weg machte zu gehen und in Zeise aus Neudenau genauso. Wie jedes Jahr hat dem Moment saß ich bei ihr, sie sah mich an und sie 2020 die Nachtschicht an Weihnachten über- drückte ganz fest meine Hand. Ich war in kom- nommen. Es ist für sie eine schöne Tradition – auch pletter Schutzausrüstung, natürlich auch mit wenn sie heute eine eigene Familie mit kleinem Kind Handschuhen. Meine Hand konnte ihr nicht die hat. „Ich sitze mit Bewohnerinnen oder Bewoh- Wärme geben, die ich ihr gerne gegeben hätte. Ich nern, die nicht schlafen können, im Wohnzimmer, strich ihr mit meiner Handschuh-Hand über die es gibt Plätzchen und Tee. Das sind ganz nahe Wange und sie drückte ihren Kopf gegen meine Momente – auch auf Abstand – in denen ich für Hand, wie Kinder das tun. Ich konnte für sie da sie da sein kann.“ Wie in diesem Jahr für Frau sein, aber es war nicht das Gleiche als hätte ich Weber*, die an Demenz erkrankt ist und norma- keine Handschuhe getragen, als hätte ich sie lerweise kaum noch spricht. In dieser Nacht erklärt umarmen können, um sie noch mehr spüren zu sie Michaela Zeise, wie sie am nächsten Tag den lassen, ich bin bei dir. Sie bedankte sich bei mir Sauerbraten für das Weihnachtsessen der Familie für den Einsatz, die Pflege. Einen Tag später ist sie zubereiten wird. „Diese Momente, die durch gestorben. Und wir waren müde, erschöpft und Corona rar geworden sind, bedeuten mir viel.“ traurig. Das waren wir alle, aber wir haben weiter- Auch Anita Klein kommt eigentlich aus der stationären Pflege. Für die Mobilen Dienste der EHS arbeitet Sie erst seit Ende letzten Jahres. Nach einem Burnout, infolge der Corona-Situation bei „Ich fühle mich wertgeschätzt ihrem alten Arbeitgeber, wagte sie den Neustart: „Ich habe endlich wieder Freude. Ich bin trotz dabei, wie die Geschäftsführung Corona an jedem einzelnen Tag gerne zur Arbeit sich für uns einsetzt.“ gegangen“, berichtet sie. „Ich fühle mich wertge- schätzt dabei, wie die Geschäftsführung sich für uns einsetzt, sei es bei der Corona-Prämie, der Anita Klein, Bereitstellung von Schutzmaterial und vielem >>> Mobile Dienste, Hochdorf * Name wurde geändert | Gute Pflege | 1_2021 | 17
Pflege im Fokus Anita Klein von den Mobilen Diensten in Hochdorf > > > mehr.“ An der ambulanten Pflege gefällt ihr Forderung nach mehr Aufmerksamkeit für Pfle- besonders der intensive Kontakt mit den Men- gekräfte ab. Ich wünsche mir, dass aus dieser schen, die sie betreut. „Dadurch, dass man die Zeit mehr bleibt. Dass wir uns auch in einem Kundinnen und Kunden in ihrem ganz privaten Jahr noch daran erinnern, was wirklich zählt.“ Umfeld kennenlernt, fühlt man sich fast wie ein Familienmitglied. Man erfährt viel Akzeptanz Im Haus am Seeweg in Heddesheim haben die und lernt zahllose Lebensgeschichten kennen.“ Impfungen stattgefunden. „Wir erlauben uns vorsichtig durchzuatmen“, beschreibt Färber die Michaela Zeise, Marie Färber und Anita aktuelle Situation. Auch sie selbst war im letzten Klein machen diesen Beruf, um für Menschen Jahr mit Corona infiziert und es gibt sie nach wie dazusein. Was Corona zeitweise daraus gemacht vor, diese Tage, an denen sie eine Pause einlegen hat, steht für sie im Widerspruch zu diesem muss, weil sie schlecht Luft bekommt. Aber es gibt Anspruch. Die Quarantäne zwang alle allein in auch die Tage, an denen sie wieder von Herzen ihre Zimmer. Ihre ganze Kraft setzen sie dafür lachen kann. „Wenn wir in das Zimmer einer ein, um auf unterschiedlichsten Wegen doch die demenziell erkrankten Bewohnerin kommen und Nähe, Wärme und Gemeinschaft eines Zuhauses sie uns freudig begrüßt mit den Worten: „Sie sind zu erhalten – denn das ist es für die Bewohnerin- aber schick angezogen!“ Dann schenkt sie uns nen und Bewohner: ihr Zuhause. einen kurzen Moment der Leichtigkeit. Auch wenn die Vorstellung ihr da einen kleinen Streich gespielt Langsam wird es heller am Horizont. Die hat. Weil ich eigentlich gar kein Kleid trage, son- Bewohnerinnen und Bewohner kommen wieder dern einen bodenlangen Schutzkittel.“ zu Kräften und auch die seelischen Wunden heilen. Es wird wieder mehr gelacht. Die Seele des Hauses kehrt zurück. „Einige Zimmer blei- ben leer, das ist für uns alle schwer. Wir sprechen „Wir erlauben uns darüber, nutzen auch seelsorgerische Angebote“, sagt Färber. Und natürlich bleibt die Anspan- vorsichtig durch nung, bleiben die Tests und die Sorge vor einem erneuten Ausbruch. Der Applaus ist längst ver- zuatmen.“ hallt, systemrelevant ist wieder mehr Wort als Gefühl – so nimmt es Anita Klein wahr. „All- Marie Färber, tagsthemen rücken in den Vordergrund. Die Heddesheim Sorge um den nächsten Friseurbesuch löst die 18 | Gute Pflege | 1_2021 |
Antonie Kraut. – Gemeinsam schaffen wir mehr Sie dachte quer, handelte quer. Antonie Kraut, und den Aufbau diakonischer Einrichtungen. die Grande Dame der Stuttgarter Diakonie. 1945 gründet sie – mit Vertretern der Inneren Selbstbewusst und bürgernah, mit beiden Füßen Mission, der Caritas und der Arbeiterwohlfahrt fest im Leben stehend. Sie hat erlebt, wie in der – die Liga der Freien Wohlfahrtspflege. Sie ist Nacht auf den 25. Juli 1944 zigtausende Bomben maßgeblich am Aufbau und der Entwicklung der die Innenstadt Stuttgarts in Schutt und Asche modernen Sozialplanung beteiligt. Mit ihren gelegt haben. Wie Obdachlose und Verletzte gutachterlichen Stellungnahmen hat sie die durch die Trümmer irrten. Wie Trümmer die Seele Sozialgesetzgebung und die Entwicklungen im belasteten. Und sie hat mitgewirkt, dass aus den Familienrecht beeinflusst. 1952 hat sie die Evan- Trümmern der Stadt neues Leben entstand. gelische Heimstiftung gegründet. >>> Nach dem Zweiten Weltkrieg organisiert die promovierte Juristin Unterkünfte für Flüchtlinge „Mutig sein, hinsehen, sich einmischen und helfen, wo geholfen werden muss.“ Antonie Kraut, Unternehmensgründerin der EHS | Gute Pflege | 1_2021 | 19
Pflege im Fokus >>> Wie kann aus Trümmern etwas Neues entste- hen? Oder auf unsere heutige Situation übertra- Wie kann aus der gen: Wie kann aus der Ausnahmesituation eine neue Offenheit füreinander entstehen? Wie kön- Ausnahmesituation eine nen Menschen sich in der Müdigkeit nicht verste- cken, sondern füreinander einstehen? Ich entdecke neue Offenheit für- den Keim dazu auf der Spurensuche bei Antonie Kraut. Einer ihrer Schlüsselsätze lautet: „Gemein- einander entstehen? sam schaffen wir mehr!“ Starke Antriebe entste- hen für sie im Brennpunkt gemeinsamer Überzeu- gungen und Motive. Und dann zieht sich die unausgesprochene Grundannahme durch ihre gebrochen ist und den Blick geöffnet hat für das, Vita: „In dir muss brennen, was du in anderen was wirklich wichtig ist. entzünden willst.“ Das bewirkt, dass Trümmer auch zusammenschweißen können und zu Soli- Viele haben erlebt, dass sozialer Verzicht nicht darität und umso stärkerem Lebenswillen führen. unbedingt Verlust ist, sondern neue Möglichkeits- Trümmer haben nicht die Macht, den Neubeginn räume eröffnet. Lehrerinnen und Lehrer lernten zu verhindern. eine Menge über Internet-Teaching. Das Home- office wurde für Viele zu einer Selbstverständlich- Antonie Kraut war Vordenkerin mit Visionen. keit. Medizinischer Fortschritt half. Aber nicht Unsere Aufgabe ist heute: nicht die Asche zu nur die Technik, sondern die Veränderung sozia- hüten, sondern die Flamme weiterzutragen. Die ler Verhaltensformen war entscheidend. Dass Seele des Sozialen quicklebendig zu halten. Viel- Menschen trotz radikaler Einschränkungen leicht würde Antonie Kraut uns Heutigen zwei Sätze weitergeben: „Gemeinsam schaffen wir mehr!“ Und die Voraussage: „Ihr werdet euch wundern, wenn die Corona-Krise vorbei ist.“ Gemeinsam handeln – auch heute Corona ist die Katastrophe unserer Zeit und bedeutet einen Einschnitt. Ein einfaches Zurück Auch in der aktuellen Coronakrise hat die EHS zum Status „ante“ wird es nicht geben. Es gibt die Grundsätze der Unternehmensgründerin zu ihrem Maßstab gemacht: Gemeinsam schaffen historische Momente, in denen die Zukunft ihre wir mehr. „Mutig sein, hinsehen, sich einmi- Richtung ändert. Krisen werfen Fragen auf: Wie schen.“ Mit schnellem und professionellem wollen wir weiterleben? Wie können wir eine Handeln konnte in der ersten Welle zum Beispiel Mitsorge für andere entwickeln? In der Mensch- die Ausstattung mit Schutzmaterialien sicher- heitsgeschichte hat es Naturkatastrophen immer gestellt werden. „Wir haben in der AG Corona gegeben. Vor fast 250 Jahren machte ein Erdbeben unsere Kräfte, aber auch unsere Fachkompetenz Lissabon zu einem Trümmerfeld. Vor 100 Jahren gebündelt und uns so gemeinsam sicher durch wütete die Spanische Grippe und tötete weltweit die Krise bewegt“, blickt Geschäftsführerin Elke rund 50 Millionen Menschen. Eckardt auf das letzte Jahr zurück. „Wir werden durch Corona unsere gesamte Es folgte eines der ersten umfassenden Öffnungs- Einstellung gegenüber dem Leben anpassen“, und Testkonzepte von Pflegeunternehmen in Deutschland sowie auch politische Forderungen prognostizierte im März 2020 Slavoj Žižek, zur Anpassung der Coronaverordnung entspre- einer der populärsten Philosophen der Gegen- chend dieser Konzepte. „Wir sind stolz darauf, wart. Rückblickend wundern wir uns heute: wie dass wir nun aufgrund unseres umfassenden nach einer ersten Schockstarre die Ausnahme Testkonzepts und der hohen Impfquote in den – auch in den Köpfen – zur neuen Normalität Einrichtungen weiter in die Zukunft denken und geworden ist. Wie die Corona-Zeit eine Unter- Öffnungsschritte hin zu einer neuen Normalität brechung und Verlangsamung, einen neuen Um- umsetzen können.“ gang mit den Atemlosigkeiten unseres Lebens, erzwungen hat. Wie Selbstverständliches weg- 20 | Gute Pflege | 1_2021 |
Zusammenstehen in der Krise Mitarbeitende des Karl-Wacker-Heims solidarisch und konstruktiv bleiben konnten, gab tens als entbehrlich erfahren werden kann. Das den Ausschlag. Im Fokus die Frage: Was ist der erzeugt Unruhe („Virologen gegen Wirrologen“), Mensch? Was sind wir füreinander? aber auch Innovation in allen Bereichen. Sichtbar wird die Macht kollektiver Anstrengungen. Gemeinsam abgestimmtes Handeln setzt neue Gemeinsam Perspektiven frei. neue Perspektiven schaffen Die Bereitschaft einander zu helfen gehört zu den Genau hinschauen, Ideen entwickeln und Sternstunden dieser Krise. Eine der stärksten umsetzen, Verantwortung übernehmen und die Visionen, die das Coronavirus hinterließ, sind Schwachen stärken – das, so lerne ich von Antonie die musizierenden Italiener auf den Balkonen. Kraut, gelingt am besten, wenn sich verschiedene Die zweite Vision waren Satellitenbilder, die Menschen und Organisationen zusammentun. plötzlich die Industriegebiete Chinas und Italiens Die Köpfe gemeinsam rauchen lassen, Ressourcen frei von Smog zeigten. Die großen Probleme von zusammenbringen und so Lösungen realisieren, Klimakrise, Armutsbekämpfung, Bildungsge- die eine(r) allein nicht hinbekommt. „Gemeinsam rechtigkeit und mehr bleiben uns durch die schaffen wir mehr!“ Pandemie erhalten – und werden zum Teil ver- schärft. Wir haben aber auch gelernt: Wenn wir Dr. Thomas Mäule uns Krisen stellen, eröffnet sich ein Möglichkeits- raum. In gesellschaftlichen Systemen ist ein unglaublich schneller Wandel möglich, wenn die Menschheit zur Gemeinsamkeit – bis auf einzelne Ausnahmen – vereint ist. Wir haben auch Selten war der Konsens zwischen Gesellschaft gelernt: Wenn wir und Politik so hoch wie heute. Die Krise hat – zumindest in den meisten Ländern – die Gesell- uns Krisen stellen, schaft nicht nachhaltig gespalten. Sondern das Gesellschaftliche dichter und sichtbarer gemacht. eröffnet sich ein Es fanden Verständigungsprozesse darüber statt, was „systemrelevant“ ist und was wir unbedingt Möglichkeitsraum. brauchen. Und was in einer Zeit kollektiven Fas- | Gute Pflege | 1_2021 | 21
Corona-Impfung Lisa Federle. – Gefragt Notärztin Lisa Federle engagierte sich 2020 besonders für die Corona-Teststrategie, die als „Tübinger Modell“ bekannt wurde. Gute Pflege hat mit ihr über die Impfung gesprochen. Frau Federle, das Thema Impfen ist seit jeher mit einer gewissen Skepsis behaftet, die bei weit kritischeren Themen gar nicht präsent ist – Stichwort Zigaretten und Alkohol zum Beispiel. Wie erklären Sie sich das? Ich denke, das Problem ist in erster Linie, dass man beispielsweise beim Rauchen oder Trinken zunächst einen Genuss verspürt und die Folgen erst viel später deutlich werden. Beim Impfen bleibt der unmittelbare „Genuss“ aus – im Gegenteil: Man impft in einer Situation, in der der Patient gesund ist, die Impfung ist vorbeugend und nicht jeder verträgt sie natürlich gleich gut – es kann – zu, in aller Regel unkritischen, Impfreaktionen kommen. Kooperation mit Luise-Wetzel-Stift Lisa Federle Lisa Federle arbeitet hatte bereits eng mit dem zu Beginn der Pandemie in enger Zusammenarbeit Luise-Wetzel-Stift zusammen mit dem Luise-Wetzel-Stift in Tübingen, ganz nach dem Motto der EHS, geholfen, „Alle Impfstoffe wo geholfen werden musste und die regelmäßige Testung von Bewohnerinnen und Bewohnern in wurden unabhängig Pflegeheimen in den Blick genommen. Gemeinsam mit Hausdirektorin Heike Merz berichtete sie von geprüft.“ dieser Strategie auch in einem Beitrag des Senders BBC über das Coronamanagement im europäischen Vergeich. 22 | Gute Pflege | 1_2021 |
„Eine ganz wichtige Säule bei der Bekämpfung des Virus ist es, sich impfen zu lassen.“ Was sind die häufigsten Argumente, die Welche Chance bietet uns die Impfung? Ihrer Erfahrung nach aktuell gegen eine Wie viel Hoffnung darf man begründeter Impfung vorgebracht werden, und wie Weise haben? bewerten Sie diese? Eine ganz wichtige Säule bei der Bekämpfung des Einige Menschen haben scheinbar Angst davor, Virus ist es, sich impfen zu lassen. Wir haben alle durch eine Impfung unfruchtbar zu werden. Das eine gemeinsame Verantwortung. Uns selbst, aber ist meiner Einschätzung nach nichts weiter als auch den Mitmenschen gegenüber. Ich betrachte ein Gerücht. Ich sehe hier weder bestätigte Fälle es aber mit Skepsis, alle Hoffnung ausschließlich noch Fakten, die diese Behauptung stützen wür- auf die Impfung zu setzen. Auch wenn wir geimpft den. Vorsicht ist aktuell lediglich während einer sind, müssen wir weiter Vorsicht walten lassen. bestehenden Schwangerschaft geboten. Wir müssen die Hygieneregeln strikt einhalten und dürfen nicht aufhören zu testen, da wir noch – Sicher sind einige Menschen auch skeptisch, nicht wissen, gegen welche Mutationen der Impf- da die Impfstoffe erst seit kurzem verfügbar sind stoff hilft und gegen welche nicht. und diese Art der mRNA-Impfung zuvor noch nicht verwendet wurde. Hinzu kommt, dass beispielsweise bei dem Impfstoff von Astra- Zeneca noch nicht geklärt ist, ob er gegen alle Welches Risiko schätzen Sie als höher ein? bisher bekannten Mutationen wirksam ist. Dem Eine Corona-Infektion mit einem schwe- kann ich allerdings entgegnen, dass alle Impf- ren Verlauf oder starke Nebenwirkungen stoffe unabhängig geprüft wurden und das bei einer Impfung? – Zulassungsverfahren für den Corona-Impfstoff genauso gilt wie für alle bekannten Impfungen. Ich denke, man kann davon ausgehen, dass das Risiko bei einer Corona-Infektion deutlich höher ist. Es gibt immer wieder Berichte, auch über junge Patienten, die selbst nach zehn Monaten Gibt es Voraussetzungen, die Ihrer Ein- noch mit Langzeitfolgen der Erkrankung zu schätzung nach gegen eine Impfung kämpfen haben. Sie berichten über Atemnot nach sprechen? nur geringer Anstrengung oder über ihren bis heute fehlenden Geschmacks- und Geruchssinn. Bei Menschen mit einem krankheitsbedingt sehr Und diese Langzeitfolgen können natürlich auch schwachen Immunsystem wird nicht geimpft, da trotz eines leichten Verlaufs auftreten. der Körper gar keinen Schutz aufbauen kann. Wenn in der Vergangenheit häufiger schwere allergische Schocks aufgetreten sind, ist man in diesem Fall natürlich auch vorsichtiger. Aber – allgemein kann man sagen, dass der Impfstoff gut vertragen wird. | Gute Pflege | 1_2021 | 23
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