Der Kirchentag Das Magazin - Streitbar sein - Deutscher Evangelischer Kirchentag
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Der Kirchentag ISSN 1869-0181 Das Magazin kirchentag.de Ausgabe 04/2019 Streitbar sein Dialogbereit bleiben
DAS FEST DES GL AU BENS D E U T S C H E R E VA N G E L I S C H E R K I R C H E N T A G Foto: Silvia Bins Liebe Leserinnen und Leser, zum Jahresende widmen wir die aktuelle Ausgabe des Im Porträt stellen wir Bea Johnson vor, eine streitbare Magazins dem Thema „Streitbar sein“. Auf den ersten Blick „No Waste“-Aktivistin, deren Müll in ein Einmachglas passt, passt Streit nicht in das Bild einer heiligen Weihnacht. Und die aber mit dem Flieger um die Welt reist. dennoch, gerade in dieser Zeit, in der Menschen, die sich Im Streitgespräch um Gottesbilder treffen die Theologen oft sonst nicht mehr so nah sind, zusammenrücken, in der Alexander Deeg und Notger Slenczka aufeinander. sich die Familie besucht und Zeit miteinander verbringt, Und warum Streit für die Demokratie wichtig ist, haben sind Diskussionen fast vorprogrammiert. Alles soll glänzen wir Charlotte Parnack gefragt, die Leiterin des neuen „Zeit“- und gelingen – wer kennt da keinen Streit um die Deko am Ressorts Streit. Weihnachtsbaum, um Einkäufe und Geschenke oder um In einem streitbaren Artikel befasst sich Ulrike Greim gut gehütete Tabuthemen, die in der stimmungsvollen und mit der Frage, ob der Kirchentag eine westdeutsche Veran- manchmal auch stimmungsgeladenen Runde am Tisch staltung ist, und kommt zu (k)einem überraschenden Ergebnis. aufbrechen? Kirchentag will streitbar sein und eine ehrliche, kritische, Streitbar sein bedeutet Auseinandersetzungen aushalten, faire und vor allem gewinnbringende Streitkultur fördern. bedeutet hinsehen, hinhören, Meinungen vertreten, aber auch andere Meinungen gelten lassen. Offen sein für den Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre und ein Deutscher Evangelischer Kirchentag Deutscher Evangelischer Kirchentag – abweichenden Standpunkt, ohne dem anderen diesen abzu- gesegnetes und diskussionsfreudiges Weihnachtsfest! Dortmund 2019 Wurzeln und Anfänge Dokumente Im Auftrag des Deutschen Evangelischen sprechen. Streit kann Neues hervorbringen, kann klärend Im Auftrag des Deutschen Evangelischen Kirchentages herausgegeben von sein, kann Altes infrage stellen und Alternativen aufzeigen. Kirchentages herausgegeben von Ellen Ueberschär „schaut hin“, lautet das Leitwort für den 3. Ökumeni- Stefanie Rentsch und Julia Helmke schen Kirchentag in Frankfurt am Main, das wir in dieser 304 Seiten / gebunden ca. 648 Seiten mit 32 Bildseiten / gebunden € 19,99 (D) / € 20,60 (A) / CHF* 28,90 Ausgabe vorstellen. Eine Aufforderung, die auch vor der ca. € 99,00 (D) / € 101,80 (A) / CHF* 134,00 * empf. Verkaufspreis Auseinandersetzung nicht haltmacht. * empf. Verkaufspreis ISBN 978-3-579-08209-7 ISBN 978-3-579-08213-4 Auch als E-Book erhältlich Sirkka Jendis Britta Jagusch Erscheint im Juli 2020 Chefredakteurin Redaktionsleiterin Gegründet wurde der Kirchentag im Jahr Der Dokumentarband versammelt 1949. Wer aber hatte die Idee zu einem die wichtigsten Bibelarbeiten, Vor- Kirchentag? Welche Herausforderungen träge, Podiumsdiskussionen, Foren standen am Anfang? Die Wurzeln liegen und liturgischen Veranstaltungen des im Widerstand gegen den National- Kirchentages in Dortmund. sozialismus, im Widerspruch gegen Damit ist er eine unerlässliche Hilfe die deutsche Teilung, in der kirchlichen zur Nachbereitung dieses kirchlichen Erneuerung durch die internationale Großereignisses, das sich als Forum Ökumene. Persönlichkeiten aus Kirche für kritische Debatten zu den brennen- und Gesellschaft, vor allem Reinold von den Themen unserer Zeit versteht. Thadden, brachten die Idee Kirchentag voran. Wer die Gründerpersönlichkeiten waren und was sie bewirkten, zeigt dieser Band auf. Mit bisher unbekannten Quellen werden die Anfänge des Deutschen Evangelischen Kirchentages freigelegt. Foto: Robert Gross www.gtvh.de
Inhalt 6 Kämpferin gegen den Überfluss 19 Quote gebraucht?! Im Porträt: Zero-Waste-Aktivistin Bea Johnson Ist der Kirchentag eine westdeutsche Veranstaltung? Anne Lemhöfer Ulrike Greim 8 schaut hin (Mk 6,38) Das Leitwort für den 3. ÖKT 2021 in Frankfurt am Main Harald Schroeter-Wittke Foto: OEKT 20 Ankommen in einer neuen Stadt Alle zwei Jahre umziehen – wie machen das Kirchentagsmitarbeiter*innen? 10 Reden statt rüsten Britta Jagusch Im Interview: Friedensforscherin Christine Schweitzer Silke Roß 22 70 Jahre Kirchentag Serie: Zeitzeug*innen berichten 13 Meldungen Stephan von Kolson #WirschickeneinSchiff Kirchentag und Klimastreik 24 Visionär und Brückenbauer Wechsel in der Kommunikation Der Kirchentag trauert um Erhard Eppler Weltversammlung Religions for Peace Julia Helmke 14 Über die Rolle von Streit 25 Nachrufe Fünf Fragen an „ZEIT“-Ressortleiterin Charlotte Parnack Dirigent des Kirchentages: Karl-Heinz Saretzki Britta Jagusch Günter Ruddat Humorvoll und zupackend: Meike Sahling Heike Baum und Gabriele Pieper 26 Blickwechsel „Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine“, hat Helmut Schmidt einst gesagt. Im neuen STREIT-Ressort Biblische Streit-Kultur der ZEIT nehmen wir ihn beim Wort. Julia Helmke 16 Widerborstigkeiten in der Bibel Im Streitgespräch: Alexander Deeg und Notger Slenczka Rosa Coco Schinagel Die Skulptur „Reconciliation“ (Versöhnung) von Vasconcellos zeigt zwei ehemalige Feinde, die sich umarmen. Sie steht heute an der „Kapelle der Versöhnung“ in der Bernauer Straße Berlin. Foto: Martinvl / CC BY-SA 4.0 Impressum Herausgegeben im Auftrag des Vereins zur Förderung des Deutschen Evangelischen Kirchentages e.V. Chefredaktion (verantwortlich): Sirkka Jendis. Projektleitung und Redaktion: Britta Jagusch. Art-Direktion: Holger Schäfers, Kölledesign. Titel: Holger Schäfers, Ricul/Dreamstime.com. Redaktionsbeirat: Dr. Christina Aus der Au, Dr. Julia Helmke, Bettina Limperg, Hans Leyendecker, Dr. Stefanie Schardien, Dr. Beatrice von Weizsäcker. Druck: Hoehl, Bad Hersfeld. Klimaneutral gedruckt. Weitere Infos unter: http://cpol.climatepartner.com/11077-1310-1001 Erscheinungsweise: vierteljährlich. 5 Redaktionsanschrift: Deutscher Evangelischer Kirchentag, Magdeburger Str. 59, 36037 Fulda, Tel. 0661 96950-0, Fax 0661 96950-90, E-Mail fulda@kirchentag.de. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion. ISSN 1869-0181 Nr. 4/19
Kämpferin gegen den Überfluss spricht Englisch mit einem deutlich hörbaren Akzent, ganz normalen Leben und von ihren ganz normalen kokettiert auch mit ein paar Brocken Deutsch. „Mein altes Eitelkeiten. Die nette Radikale von nebenan, die weder Leben fühlte sich völlig überfrachtet an. Ich hatte das in einem Erdloch haust noch völlig zerzaust und in Die Kalifornierin Bea Johnson versucht zu leben, ohne Abfall zu produzieren. Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können.“ Bea Johnson Jutegewändern auftritt. Und fliegt mit einem Einmachglas um die Welt. Anne Lemhöfer ist 45 Jahre alt. Die ehemals begeisterte Konsumentin Bea Johnson bringt die Menschen zum Staunen. kostspieliger Dinge ist heute eine Radikale, wenn man 247.000 Menschen folgen ihr aktuell auf Instagram. „Ich so will. Sie ist die wohl bekannteste Pionierin der Zero- entdeckte ein Weingut, das unsere Flaschen Rotwein Waste-Bewegung, die wieder befüllte, brachte mir bei, aus den Schulkopien „Was ist die Alternative zu Zero Waste? Weniger Abfall? Hund. Johnson, Anfang dreißig zu dem Zeitpunkt, ließ Zur Autorin: Anne Lemhöfer arbeitet als inzwischen nahezu der Kinder Papier zu schöpfen“, schreibt sie. Die Johnsons Nur ein bisschen Abfall? Es gibt keine Alternative!“ Wer sich platinblondes Barbie-Haar färben, die Haut künstlich Journalistin in Frankfurt am Main. überall auf der Welt leben heute einen Vortrag von Bea Johnson besucht oder sich einen bräunen, die Lippen aufspritzen und Fingernägel aus Anhängerinnen und nach einem fünfstufigen Prinzip: ablehnen, reduzieren, auf Youtube anschaut, merkt schnell: Hier ist eine Person, Acryl modellieren. 2007 war das. Anhänger findet. Zero Waste bedeutet: kein Müll. wiederverwenden, recyceln und kompostieren („refuse, die eine Mission hat. Eine Kämpferin. Sie ist offensicht- Zwölf Jahre später reist eine Frau, der man eine Ver- Zumindest: fast keinen. Ein paar Käse-Etiketten stecken reduce, reuse, recycle, rot“). lich voller Leidenschaft für das, was sie tut und was sie gangenheit als Pfadfinderin sofort abnehmen würde, in in ihrem Einmachglas. Borsten von Zahnbürsten. Rasier- verkörpert – mit Humor, Ironie, aber auch mit Ernst bei einem Wohnmobil durch Kanada und die USA. Eine Frau, klingen von Ehemann und Söhnen. Für dieses Einmach- der Sache. die ein Hohelied auf die Bambus-Zahnbürste singt. Regel- glas ist sie berühmt. mäßig ist sie auch in Europa zu Vorträgen zu Gast, in Bea Johnson betreibt einen Blog im Internet und ist Von Dingen im Überfluss Frankfurt hat sie zur Eröffnung des Unverpackt-Ladens Autorin des Buchs „Glücklich leben ohne Müll“, das in Als Bea Johnson beschloss, ohne Müll zu leben, war gramm.genau vorbeigeschaut. Mit einem Einmachglas im zwölf Sprachen übersetzt wurde. Das Einmachglas ist sie umgeben von Dingen. Sie wohnte mit ihrem Mann Gepäck, das den Müll enthält, den ihre Familie in einem bei Veranstaltungen ihr Türöffner. Der Satz „Wie kann Scott und den Söhnen Max und Leo in einem 280 Quadrat- ganzen Jahr produziert hat. Wie macht sie das? das denn sein?“ steht in imaginären Gedankenblasen meter großen Haus in Pleasant Hill, einem Vorort von über den vielen Köpfen ihres in großen Teilen jungen, San Francisco – und lebte den amerikanischen Traum. Pionierin der Zero-Waste-Bewegung alternativen, gebildeten Publikums in allen Erdteilen. Foto: ZeroWasteHome.com Das Haus hatte begehbare Kleiderschränke und eine Bea Johnson lächelt ihr Gegenüber offen an. „Hallo, Als die Johnsons beschlossen, fortan ohne Müll zu Dreifach-Garage. Die Familie besaß zwei Autos, vier ich bin Bea.“ Sie ist der Typ Frau, den sich andere Frauen leben, verkauften sie ihr großes Haus und erwarben Tische und 26 Stühle, einen Plasmafernseher und einen als beste Freundin wünschen. Die gebürtige Französin ein kleineres, das allerdings teurer war – dafür im urban-alternativen Mill Valley etwas näher an San Francisco mit seinen Bauernmärkten, Bioläden und aufgeschlossenen Menschen. Mit der Mission zur Müllvermeidung Auch Bea Johnson ist den Widersprüchen der Moderne ausgeliefert. Das ist Teil ihres Kampfes, ihrer Mission. Sie stellt sich ihren Kritikerinnen und Kritikern in den sozia- len Medien selbstbewusst entgegen. Warum sie immer Ohne das Leben komplizierter zu machen noch ein Auto hat? „Um mit meiner Familie der Natur „Ich glaube, viele assoziieren Zero Waste mit allen nahe sein zu können“. Warum sie um die Welt fliegt und Dingen, die hausgemacht sind“, sagt Johnson. „Dagegen mal im Oman, mal auf der Südseeinsel Tonga für Insta- wehre ich mich vehement, weil ich glaube, dass man gram-Posts Müll sammelt „Irgendjemand muss es ja tun.“ Mütter in Vollzeit-Jobs mit all den verrückten, unnötigen Gibt es ein richtiges Leben im falschen? „Vielleicht nicht. Produkten abschreckt.“ Menschen, die Vollzeit arbeiten, Aber ganz sicher ist es absurd, im Supermarkt zwei Bröt- könnten annehmen, dass ihnen die Zeit für Zero Waste chen in einer Papiertüte zu kaufen. Und wenn das Ziel fehle. Deshalb ließen viele es ganz bleiben. Aber: nicht die komplette Vermeidung von Müll ist, was dann?“ „Um einfach zu leben, benötigt man nicht mehr Zeit“, so Johnson. „Es macht das Leben nicht komplizierter, Sympathisch und verrückt sondern einfacher.“ Man müsse keine Seife, Zahnpasta, Irgendwann kam der Ehrgeiz. Bea Johnson füllte lose Shampoo und Co. selbst herstellen, es reiche, unverpackte, Waren im Supermarkt in Wäschenetze und nähte Stoff- minimal verarbeitete Produkte zu kaufen. „Das kann jede beutel aus alten Laken. Sechs Monate lang wusch sie ihre Frau oder jeder Mann außerhalb der Arbeitszeit erledi- Haare mit Küchennatron und Apfelessig. „Einer meiner gen, indem er oder sie das richtige Geschäft besucht.“ vielen Irrwege. Mein Mann meinte, es sei nicht sehr sexy, Bea Johnson hat viele Tipps parat. Dennoch schafft wenn ich abends im Bett wie eine Vinaigrette roch.“ Sie sie es, die Menschen nicht zu belehren. „Ich tue es ein- griff dann wieder auf in Glasflaschen abgefülltes loses fach nicht, sondern denke mir: An dem Punkt, an dem Foto: Jacqui J. Sze Shampoo zurück. die Leute jetzt sind, war ich vor ein paar Jahren auch. Es sind diese kleinen Anekdoten, die das Publikum Natürlich lehne ich keine Essenseinladung ab, bei der liebt. Da steht diese sympathisch verrückte Vorkämpferin verpackte Nahrungsmittel verwendet wurden.“ einer guten Sache und berichtet gut gelaunt aus ihrem 6 Nr. 4/19 Porträt Porträt Nr. 4/19 7
der Speisungsgeschichte Mk 6,35-44. 5000 Männer (ohne für den Donnerstag (Joh 9,1-12a) zeigt, dass dies anders Kinder und Frauen) folgen Jesus und seinen Worten in geht: Im Vorübergehen, en passant sieht Jesus einen eine einsame Gegend. Anders als in Frankfurt gibt es dort Blindgeborenen, woraus sich eine komplexe Heilungs- keine Verpflegung. Jesus sagt seinen Jüngern: „Gebt ihr geschichte entwickelt mit der Frage: „Wie sind deine ihnen zu essen.“ Die Jünger sind hilflos, denn das über- Augen geöffnet worden?“ (V10). Der Blindgeborene fordert ihre Finanzen. Jesus sagt: „Wie viele Brote habt antwortet wahrheitsgemäß und gerät dadurch in einen ihr? Geht hin und seht nach!“ Schaut hin! Ihr seid nicht unglaublichen Strudel von Inklusions- und Exklusions- am Ende, sondern am Anfang. kräften, an deren Ende er Jesus als Lebensspender Es finden sich nicht nur fünf Brote, sondern auch zwei bekennt, als den Gott, der hinschaut. Fische, also fast schon Luxus! Nehmt wahr und vertraut darauf, was vor Ort als Ressourcen vorhanden ist, und beginnt mit dem Teilen. Gesagt, getan – es gibt ein schaut hin ist ein Appell – an uns alle! Gelage auf grünem Gras. Jesus sieht zum Himmel, dankt, bricht das Brot, gibt es seinen Jüngern, die alles verteilen. Schauen ist mehr als sehen. Schauen nimmt wahr Alle essen und werden satt. Am Ende werden zwölf und geht nicht vorbei. Schauen bleibt stehen und Körbe von Brotkrümeln und Fischen gesammelt. Was übernimmt Verantwortung. Aktiv Verantwortung zu für ein Kirchentag! übernehmen ist unser Auftrag als Christinnen und Christen. Es ist unser gemeinsamer Auftrag als Verantwortung wagen Geschwister im Glauben an den Gott, der hinschaut. Doch selten ist auf Anhieb klar, wie das anzuschauen ist, was wir sehen. „Öffne mir die Augen, dass ich sehe die Bettina Limperg, Präsidentin des 3. ÖKT 2021 Wunder an deinem Gesetz“ (V18) bittet daher der Kirchen- tagspsalm 119,10-18. Die Sintflutgeschichte Gen 6,12-22 als Text für die Bibelarbeit am Freitag fokussiert die Foto: ÖKT ökologischen Herausforderungen: Die roten Linien sind überschritten, Reißleinen können nicht mehr gezogen Kirchentags-Generalsekretärin Julia Helmke, Bischof Georg Bätzing, Kirchenpräsident Volker Jung, ÖKT-Präsident Thomas Sternberg, werden. Ungeheures Unheil droht. Der deutlichen Kritik ZdK-Generalsekretär Stefan Vesper und ÖKT-Präsidentin Bettina Limperg (v. l.) bei der Vorstellung des Leitworts in Frankfurt am Main. an der Menschheit steht mit dem Blick auf Noah und die Arche eine Hoffnung gegenüber, die zu entschiedenem schaut hin (Mk 6,38) Handeln aufruft. Der gesamte Planet muss zur Arche werden. Menschen, die bereits daran bauen, sollen Genau dies wird in den Feierabendmahlen und Vor- abendmessen mit zwei Texten gefeiert: mit der Epistel gestärkt und diejenigen, die noch tatenlos bleiben, der katholischen Leseordnung 1. Joh 4,11-21: „Wir haben Ein Blick auf das Leitwort für den 3. Ökumenischen Kirchentag 2021 in Frankfurt am Main. motiviert werden. gesehen und bezeugen“ (V14): „Gott ist Liebe“ (V16). Harald Schroeter-Wittke Und mit dem Evangelium der Thomas-Woche, die die Gott schaut hin orthodoxen Kirchen während des ÖKT weltweit feiern: Ein echter Hingucker, das Leitwort des 3. Ökumenischen Christlicher Auftrag Wer angestrengt hinschaut und den Blick auf das ver- Joh 20,24-29: „Selig sind, die nicht sehen und doch glau- Kirchentages (ÖKT): schaut hin. Ich bin angesprochen Wer genau hinschaut, stellt fest: Das Leitwort des meintlich Eine fixiert, bekommt leicht einen Tunnelblick, ben“ (V29). Solche Paradoxien begegnen schließlich und werde aufgefordert, meinen Blick zu schärfen und 3. ÖKT in Frankfurt enthält keine Großbuchstaben. Das der das Naheliegende ausblendet. Der Text zum Himmel- auch in der Frauengeschichte der Samstagsbibelarbeit wahrzunehmen, was vor Augen ist. Da gibt es kein Ent- Leitwort ist nicht nur Imperativ, sondern auch Indikativ: fahrtsgottesdienst Apg 1,1-12 stellt dies infrage: „Was seht (Lk 24,1-10), der Ostergeschichte des Lukas: „Da sahen rinnen, selbst wenn ich wegschaue. Ich bin hin und weg! … schaut hin. Als Christinnen und Christen aller Konfes- ihr zum Himmel?“ (V11). Und auch der Bibelarbeitstext sie, dass der Stein weggewälzt war“ (V2). Hinschauen heißt nicht Wegschauen, auch nicht Ab- sionen bekennen wir Gott als Hinschauenden. Weil Gott Der Schlussgottesdienst feiert dieses „schaut hin“ mit und Zuschauen. Hinschauen heißt, von sich selbst abse- hinschaut auf diese Welt, auf uns, haben wir Kraft und dem Verheißungstext Jes 51,1-5. Gott kündigt an, zu trös- hen und seinen Blick auf das richten, was mir entgegen- Mut, genau hinzuschauen, was unter uns geschieht an ten, wiederaufzubauen, sein Recht und seine Gerechtig- tritt, entgegenkommt, was mir fremd ist und vielleicht Freud und Leid, an Lebenslust und Ungerechtigkeit, keit für alle Völker zu etablieren. Diese frohe Botschaft auch bleibt. Genau an Krieg und Frieden: Wie schaut die Welt aus Gottes Botschaft des Leitworts: „Wir schauen nicht weg.“ galt den Israeliten im Exil aber auch alle Christ*innen, die Zum Autor: Prof. Dr. Harald Schroeter-Wittke hinschauen heißt: Perspektive, im Licht Gottes aus? Mit dieser Blickrichtung sich als Kinder Abrahams und Saras verstehen, dürfen ist Professor für Didaktik der evangelischen auch das Unange- versammeln wir uns in Frankfurt und fragen nach unse- Das Leitwort fordert auf, hinzuschauen. Ein solches sich angesprochen fühlen. Mit diesem Text stellen wir uns Religionslehre mit Kirchengeschichte an der nehme wahrneh- rem christlichen Auftrag, unserer christlichen Verantwor- Schauen ist mehr als ein bloßes Sehen. Handeln zum Ende des Ökumenischen Kirchentages Gottes Ruf Universität Paderborn. men, sich von dem, tung für unsere Zeit. beginnt mit Wahrnehmen von Leid und Sorge, von zur Gerechtigkeit und öffnen uns für die Menschen in der was stört, bewegen Schönheit und Glück. In diesem Sinne wollen wir beim ganzen Welt. Gugge mer mal! lassen und zugleich eine kleine innere Distanz wahren, Biblisches Rückgrat Ökumenischen Kirchentag in Frankfurt in die Welt, auf um nicht völlig von dem vereinnahmt zu werden, was ich Das Leitwort, bei evangelischen Kirchentagen Losung die Sorgen und Ängste der Menschen schauen und mit anschaue. Es geht um Augenblicke, die berühren und so genannt, ist das biblische Rückgrat des Ökumenischen ihnen gemeinsam nach Lösungen suchen. neues Leben entstehen lassen – um einen Flirt mit dem, Kirchentages und fließt in alle inhaltlichen Grundüberle- Mehr erfahren über das Leitwort und den 3. Ökumenischen was lebt und um sein Leben kämpft. gungen ein. Das Leitwort für den 3. ÖKT 2021 entstammt Thomas Sternberg, Präsident des 3. ÖKT 2021 Kirchentag: oekt.de 8 Nr. 4/19 Leitwort Nr. 4/19 9
Zur Person: Christine Schweitzer ist Pazifistin und Friedensfor- scherin (Ph.D.) und seit vielen Jahren ehrenamt- lich und hauptberuflich in der Friedensbewegung aktiv. Sie ist Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und arbeitet seit 2001 für das Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konflikt- austragung (IFGK). Von 2014 bis 2019 war sie Vorsitzende der internationalen Netzwerkorganisa- tion War Resisters International. Foto: Holger Schäfers Auf dem Podium in Dortmund: Christine Schweitzer beim International Peace Centre des Kirchentages Reden statt rüsten Konflikte gewaltfrei bearbeiten, zerstrittene Parteien wieder an einen Tisch bringen, Opfer schützen – im Gespräch mit Friedensforscherin Christine Schweitzer über ziviles Peacekeeping. Wenn Gegner*innen das Gespräch verweigern, kann Spielt Vergebung eine Rolle in der gewaltfreien Konflikt- es helfen, Vermittler*innen zu finden, die das Vertrauen bearbeitung? Der Kirchentag – Das Magazin: Was sind Ihre Aufgaben als nur neutrale Hilfsaktionen erreichen Glaubwürdigkeit der jeweiligen Konfliktpartei genießen, damit es Vergebung ist ein sehr christlich konnotiertes Wort Friedensforscherin? bei allen beteiligten Parteien. Hilfsorganisationen zu einem, möglicherweise auch indirekten, Dialog und wird daher nicht neutral gehört. Außerdem ist Ver- Christine Schweitzer: Ich beschäftige mich vor allem müssen in Bürgerkriegen oder gewaltsam ausgetragenen kommen kann. gebung etwas, das man nicht einfordern oder verabre- damit, wie Konflikte gewaltfrei bearbeitet werden kön- Konflikten sehr genau darauf achten, dass ihre den kann. Der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien hat nen, und damit, wie Menschen vor Gewalt geschützt Aktionen gewaltmindernd und nicht gewalteskalierend Konflikte werden oft von Emotionen geleitet, wie gehen Sie gezeigt, dass es für viele Betroffene genug Herausforde- werden können, was wir mit dem Begriff des zivilen wirken. Ganz nach dem „Do-No-Harm“-Ansatz. damit um? rung war, wieder gemeinsam in den Dörfern zusammen- Peacekeepings bezeichnen. Bei der Konfliktbearbeitung Der Umgang mit Emotionen ist nicht einfach, aber leben zu können, nach allem, was passiert war. Dafür, geht es in den meisten Fällen darum, praktische Vor- Wie wichtig ist dabei eine gute Streitkultur? sie sind Teil dessen, was einen Menschen ausmacht. dass das möglich war, haben die Menschen viel gerun- schläge zu entwickeln, die die zerstrittenen Parteien Wichtig ist eine sorgfältige Vorbereitung, denn in gen und gearbeitet – da ist so etwas wie „Vergebung“ » wieder in eine Art von Beziehung bringen. Entschei- einem Konflikt gibt es immer auch Extremsituationen, für viele Menschen eine Überforderung. Tatsächlich dend ist, wie weit der Konflikt bereits eskaliert ist. Je … in denen man aufpassen muss, damit die Unparteilich- zielen auch die meisten traditionellen Methoden der höher die Eskalationsstufe ist, desto schwieriger wird Streit ist in Konflikten keit nicht verloren geht. Helfer*innen müssen ihre Wiedergutmachung eher darauf, einen Ausgleich zu es zumeist, eine Lösung zu finden. notwendig, das Gegenteil eigene Rolle als schaffen. Insgesamt sollte man sich in der Konfliktbear- Zur Autorin: Silke Roß ist Online-Redakteurin Vermittelnde beitung davor hüten, ein Ziel zu definieren, denn es Lassen sich auch schwere Konflikte gewaltfrei befrieden? wäre Unterdrückung. beim Zentrum für Mission und Ökumene der immer wieder erfordert schon viel Einsatz, Parteien überhaupt an Oft akzeptieren Konfliktparteien erst dann Hilfe, … Nordkirche. reflektieren und einen Tisch zu bekommen, und manchmal ist auch das wenn der Konflikt schon sehr weit fortgeschritten ist sozusagen aus nicht möglich. « und die Fronten verhärtet sind. Trotzdem muss man einer Metaperspektive die Standpunkte aller Seiten sich immer wieder vor Augen führen, dass heutzutage Wer aus Angst seine Meinung unterdrückt, wird nicht wahrnehmen. Denn jede Partei fühlt sich in der Regel Was kann man tun, wenn Parteien sich verweigern? wenige Konflikte dadurch beendet werden, dass eine streiten, insofern ist Streit eher ein gutes Zeichen und im Recht. In diesem Zusammenhang sind auch Traumata Das ist auf jeden Fall ein Problem. Es gibt zum Bei- Seite gewinnt. Die mit Abstand meisten Konflikte wer- ist nötig, damit die verschiedenen Positionen Gehör zu beachten, die bearbeitet werden müssen, und zwar spiel das Prinzip der „Shuttle Diplomacy“, bei dem die den durch Verhandlungen und Kompromisse beendet. finden können. Die Konfliktbearbeitung hilft, die Kon- häufig, bevor überhaupt Gespräche oder Begegnungen Verhandlungsführenden die einzelnen Konfliktparteien Wichtig ist es, bei Konfliktbearbeitung wie auch bei flikte und auch den Streit in klare Bahnen zu lenken, möglich sind. individuell aufsuchen. Im Bosnienkrieg war es zum humanitärer Hilfe auf Unparteilichkeit zu achten, denn denn es muss geredet, keine Gewalt angewendet werden. Beispiel nach vielen intensiven Verhandlungen schon 10 Nr. 4/19 Interview Interview Nr. 4/19 11
ein großer Erfolg, dass die Konfliktparteien gemeinsam Um Geld geht es ja auch in der Rüstungsindustrie – kann die #WirschickeneinSchiff in einem Hotel waren und die Konfliktbearbeitenden Welt wirklich darauf verzichten? Am 3. Dezember startete die Spendenkampagne #WirschickeneinSchiff – nur noch in verschiedene Etagen und nicht mehr in Wenn man es genau betrachtet, waren militärische eine Forderung der Kirchentagsresolution wird damit Wirklichkeit. verschiedene Städte eilen mussten. Dennoch ist eine Interventionen nie wirklich erfolgreich; oft haben sie Lösung eigentlich nicht möglich, wenn Verhandlungen mittelfristig die Situation wesentlich verschlimmert. Auf dem Kirchentag in Dortmund war die Seenotrettung im Mittelmeer ein großes Thema. Eine Resolution forderte ohne wichtige Teile der Zivilgesellschaft geführt wer- Zum Beispiel wäre der IS kaum ohne den internationa- die EKD und ihre Landeskirchen auf, selbst ein Rettungsschiff ins Mittelmeer zu schicken und Flagge zu zeigen. den sollen – das zeigt sich zurzeit im Syrienkonflikt. len Angriff auf den Irak 2003 entstanden. Da haben Unter dem Titel „United 4 Rescue – Gemeinsam Retten“ gründete sich ein breites Aktionsbündnis, das sich öffent- Hier verweigert die Türkei den syrischen Kurden die letztendlich gewaltfreie Lösungen eine bessere Statis- lich für die zivile Seenotrettung einsetzt. Ihre erste Spendenkampagne #WirschickeneinSchiff unterstützt den Kauf Teilnahme an Friedensverhandlungen, so kann nur über tik, denn die sind durchweg nachhaltiger. Mittlerweile eines zusätzlichen Rettungsschiffes. Organisationen und Einzelpersonen können das Aktionsbündnis und die sie, aber nicht mit ihnen geredet werden. Eventuelle wird immer deutlicher, dass die Politik nicht im Ein- Kampagne unterstützen. Kompromisse oder Absprachen werden dann ohne klang mit ihrem Anspruch ist. Die Rüstungsexporte wirschickeneinschiff.de diese wichtige Gruppe verabredet, und das birgt immer boomen, überall auf der Welt wird aufgerüstet, und die Gefahr, dass die ausgeschlossene Partei sich nicht immer wieder werden Militäreinsätze diskutiert und zu diesen Verabredungen bekennt. Der Konflikt wird geplant, anstatt zivile Mittel einzusetzen. dann zwar verändert, geht aber weiter. Die UN hat Der Kirchentag ist eine der umweltfreundlichsten Groß- Resolutionen verabschiedet, die die Beteiligung ver- Was können Graswurzelbewegungen bewirken? veranstaltungen in Deutschland. In seiner Arbeitskultur ist schiedener Gruppen, insbesondere auch von Frauen, festschreiben. Für UN-Mitgliedsländer sind diese Rege- Soziale Bewegungen bestehen immer aus vielen einzelnen Gruppen. Auch wenn sie oft verschiedene Kirchentag und Klimaschutz fest verankert. Grund genug für den Kirchentag, mit seinem Beitritt zur Initiative „Unternehmen für Fridays Klimastreik, das passt! lungen bindend, sie müssen daher beispielsweise Wege beschreiten, verändern sie das politische Klima for Future“ die vielen engagierten Menschen, die weltweit immer Frauenvertretungen beteiligen. und erreichen dadurch eine Auseinandersetzung mit demonstrieren, zu unterstützen. Der Kirchentag steht zur ihren Forderungen und oft auch, dass ihre Forderungen Umsetzung des Pariser Klimaabkommens und fordert Welche Rolle spielt Geld bei solchen Verhandlungen? – zumindest teilweise – umgesetzt werden. Ein gutes verlässliche Regeln für einen wirksamen Klimaschutz. Geld ist zumindest mittelbar ein wichtiger Faktor. Es Beispiel für eine solche Bewegung sind die Fridays for kirchentag.de/umwelt fängt damit an, dass Friedensverhandlungen im interna- Future: Die Bewegung hat viele verschiedene Men- tionalen Geschehen erheblich schneller aufgenommen schen auf die Straße gebracht, die auf diversen gesell- werden, wenn Rohstoffe, Handelswege oder andere schaftlichen und politischen Ebenen wirken können finanzwirksame Ressourcen bedroht sind. Auch Wie- und so eine Klimadebatte angestoßen haben. Wechsel in der Kommunikation deraufbauhilfen oder unterstützende Zahlungen sind letztendlich eine reine Geldfrage. Sie waren Podiumsgast auf dem Kirchentag in Dortmund, Mario Zeißig, seit 2014 Referent für thematisches Programm beim Kirchentag, hat am 1. Oktober die Leitung was kann eine solche Veranstaltung bewegen? Kommunikation des Kirchentages in Elternzeitvertretung für Sirkka Jendis übernommen. Der 41-Jährige wird somit » Große Versammlungen sind immer hilfreich, insbe- auch als Pressesprecher den 3. Ökumenischen Kirchentag begleiten. Seine Nachfolge hat als Fachreferentin in der … sondere, wenn sie einen gemeinsamen Nenner wie den Studienleitung die Religions- und Kulturwissenschaftlerin Verena Keilberth angetreten. Die internationale Glauben oder gemeinsame Identitäten haben. Jegliche Bereitschaft, in Krisen- Friedensarbeit macht es notwendig, im Gespräch auch mit Menschen zu bleiben, deren politische Überzeu- Von links: Dr. Jeannette Behringer (ECC, Zürich), Lydia fällen zu verhandeln, ist gung man nicht teilt, und eine Beziehung aufzubauen. Seifert (DEKT), Generalsekretärin Julia Helmke (DEKT) definitiv höher, wenn es um Dabei kann der Kirchentag helfen. und Daniel Schmidt-Holz, Vorsitzender des Ständigen Foto: Christian Flemming / Religions for Peace materielle Werte geht. Internationalen Ausschusses (DEKT). … « Religions for Peace Kirchentag zu Gast bei der Weltversammlung in Lindau Wie Kirchentag in seiner Gänze erklären, wenn es im Heimatland nichts Vergleichbares gibt? Gar nicht so leicht. Vom 20. bis 23. August fand in Lindau die 10. Weltversammlung von Religions for Peace statt, zu der rund 900 Vertreter aus 125 Ländern zusammenkamen. Der Deutsche Evangelische Kirchentag war eingeladen, sich als große religiöse Laienbewegung vorzustellen. Gemeinsam mit der European Christian Convention (ECC) informierte der Kirchentag über sein Anliegen und seine Ziele und warb für ein Kennenlernen und einen Besuch des Ökumeni- schen Kirchentages 2021 in Frankfurt am Main. Viel Interesse und Erstaunen. „The Kirchentag looks like a won- derful opportunity to bring people together with culture, art, music, discussion, civic, spiritual collaborations“, schrieb uns im Nachhinein ein britischer Musiker. 12 Nr. 4/19 Interview Meldungen Nr. 4/19 13
Welche Rolle spielt Streit für die Demokratie? Streit ist für eine Demokratie unerlässlich Wir sind überzeugt, dass Streit für eine Demokratie unerlässlich ist: Wenn sich die Mitte nicht streitet, polarisieren sich die Ränder, und die Debatte verroht. Das gilt längst nicht mehr nur für soziale Medien, in Dem Streit eine Plattform bieten: Das neue „ZEIT”-Ressort lädt zu Debatten und Kontroversen denen die Algorithmen ja so programmiert sind, dass wir uns nicht im ein. Über Ziele, Grenzen und die positiven Aspekte des Streitens spricht Ressortleiterin eigentlichen Sinne streiten – sondern uns in Meinungsblasen inhalt- Charlotte Parnack. lich selbst bestätigen und den Gegner brutalstmöglich und unter dem Applaus der Gleichgesinnten vernichten. Wie sehr die Spaltung schon picture alliance/dpa auf die analoge Welt übergreift, haben nicht zuletzt die drei Landtags- wahlen dieses Jahres gezeigt, in Sachsen, Brandenburg und Thüringen, mit ihren erschreckend hohen Wahlergebnissen für die AfD. Insofern glauben wir, dass die Mitte sich den Streit nicht von den Rändern Im September wurde das neue Ressort „Streit“ eingeführt, mit welchen abnehmen lassen darf. Wir müssen es aushalten, Denkroutinen zu Beweggründen? durchbrechen und angstfrei, aber respektvoll um das beste Argument Wir haben dieses Ressort nach der Anamnese einer schweren gesell- zu ringen, um uns zu verstehen. Auch mit jenen, deren Meinungen wir schaftlichen Erkrankung gegründet: Der Diskurs in Deutschland wird heute nicht teilen. Deshalb drucken wir unter den Titelkopf unseres Ressorts von den Rändern bestimmt, getreu dem Motto „je lauter, desto besser“. Und jede Woche ein Zitat von Helmut Schmidt: „Eine Demokratie, in der er wird vom unbedingten Willen getragen, das Gegenüber misszuverstehen. nicht gestritten wird, ist keine.“ Der anderen Seite gar nicht erst zuzuhören, sondern sie niederzubrüllen. Sich an den vermeintlichen Motiven des anderen abzuarbeiten, anstatt an seinen Argumenten. Insofern ist der Streit in Verruf geraten, aber im Prinzip ist er etwas Gutes Welche Themen aus journalistischer Sicht sind und Richtiges. Das neue Streit-Ressort der ZEIT will deshalb einen kleinen zurzeit in unserer Gesellschaft die strittigsten? Beitrag dazu leisten, diesen so aus den Fugen geratenen Diskurs wieder zu Das kann man so pauschal nicht sagen. zivilisieren, indem wir Menschen miteinander reden lassen. Vor allem aber Natürlich gibt es Großthemen wie Klimawan- wollen wir einem möglichst breiten Spektrum von Ansichten eine Bühne bie- del, Gender, Migration oder den Umgang mit ten und haben Streit deshalb als interdisziplinäres Ressort konzipiert, offen der AfD, die die Berichterstattung dominieren für die unterschiedlichsten Themen und Autoren. Wir wollen unsere Leser und die in sozialen Netzwerken großen Wider- nicht indoktrinieren, sondern ihnen die Mittel an die Hand geben, sich eine hall erzeugen. Aber wir dürfen nicht den Fehler picture alliance/dpa eigene Meinung zu bilden. machen, die Empörung auf Twitter, Facebook und Co für die Meinung der Mehrheit unserer Leser zu halten. Dazwischen liegen oft Welten. picture alliance/dpa In Debatten, gerade in sozialen Netzwerken, ist der Ton schärfer geworden, wo hört für Sie die sachliche Diskussion auf? Am Ende jedes Streittitels gibt es „60 Zeilen … Liebe“ – warum braucht Streit am Ende doch die Versöhnung? Was wir nicht wollen, ist Hetzern eine Ich glaube nicht, dass jeder Streit zwingend eine Versöhnung braucht – es ist schon viel gewonnen, wenn am Ende Plattform bieten – davon haben die schon die Einsicht steht, dass der andere mit seinem Punkt zumindest recht haben könnte. Aber kennt das nicht jeder? Es ist genug –, also keinen Rassisten, keinen gut, sich am Ende zu vertragen. Wir möchten den Leser nach drei Seiten Streit nicht auch noch mit einem Konflikt aus der Holocaustleugnern, keinen Verharmlosern Lektüre entlassen. Deshalb sucht sich unser Kolumnist Peter Dausend jede Woche eine besonders geschmähte Person, des Nationalsozialismus, keinen Sexisten die er in seiner Kolumne „60 Zeilen … Liebe“ freundlich und humorvoll wieder aufrichtet. oder Leugnern des Klimawandels. Grund- sätzlich und für alle Themen gilt: Egal wie Die Fragen stellte Britta Jagusch. hart in der Sache diskutiert wird – der Streit sollte immer vom Bemühen getragen sein, das Argument anzugreifen, nicht die Person. Dazu passt die englische Fairness-Regel: Zur Person: Charlotte Parnack leitet gemeinsam mit play the ball, not the man. Jochen Bittner das neue „ZEIT“-Ressort „Streit“. Foto: Vera Tammen 14 Nr. 4/19 Fünf Fragen Fünf Fragen Nr. 4/19 15
Zur Person: Prof. Dr. Notger Slenczka (1960) studierte Philosophie und Theologie in Tübingen, München und Göttingen. Seit 1999 hat er den Lehrstuhl für Systematische Theologie und Sozialethik Mainz und seit 2006 den Lehrstuhl für Systematische Theologie/ Dogmatik in Berlin inne. Er ist Universitäts- prediger sowie im Gemeinsamen Ausschuss für Kirche und Judentum der EKD, VELKD und UEK und im Theologischen Ausschuss der VELKD. Zur Person: Foto: Pressefoto / Uni Leipzig Prof. Dr. Alexander Deeg (1972) studierte Evangelische Theologie und Judaistik in Erlangen und Jerusalem. Nach einer Zeit als Assistent für Praktische Theologie in Erlangen leitete er das Zentrum für Evangelische Predigtkultur der EKD in Wittenberg und lehrt seit 2011 als Professor für Praktische Theologie in Leipzig. Gleichzeitig leitet er das Liturgie- wissenschaftliche Institut der VELKD Foto: privat und ist unter anderem Präsident der internationalen Societas Homiletica. Widerborstigkeiten in der Bibel Unter dem Titel „Kein lieber alter Mann“ diskutierten Alexander Deeg und Notger Slenczka für den Menschen“, der auch in der Gottverlassenheit Beschreibung des Vorgangs des Lesens wichtig ist. auf dem Kirchentag in Dortmund über die Widerborstigkeit biblischer Texte. Das moderierte des Todes als die Macht der Auferstehung da ist. Von Gerade die widerständigen biblischen Texte, jene also, Streitgespräch ging auch nach dem Kirchentag weiter – ein Auszug. diesem Geschehen her deutet Paulus sein Leben – die meine Vorstellungen und Deutungen am ehesten Gelingen, Glück, Krankheit, Misserfolg, Todesgefahr – und schon ganz vordergründig unterbrechen, haben als Erfahrung der Auferstehungsmacht im Tod. das Potenzial zu dieser heilsamen Verfremdung. Rosa Coco Schinagel: Welche Rolle spielt die jeweils lesende oder vielleicht die Worte der Bibel vom Zorn und der Person bei der Rezeption biblischer Texte und vice versa Verborgenheit Gottes zu lesen und zu verstehen. Wir Alexander Deeg: Die Erfahrung des Lesens lässt sich in Ich frage mich, nachdem wir über die Wechselbeziehungen welchen Einfluss hat der Text auf den Lesenden? erfahren Ermutigung, fühlen uns ermahnt, hören im der Perspektive der Deutung beschreiben, wie Kollege zwischen Lesenden und Text diskutierten, wie dominant das Notger Slenczka: Wir alle verstehen und deuten Gewissen eine vernichtende Stimme, die unsere eigene Slenczka das hier tut. Und zweifellos ist diese stimmig. eigene Gottesbild beim Lesen und Interpretieren der biblischen irgendwie die Erfahrungen, die wir in unserem Leben ist und doch nicht in unserer Verfügung steht – und Ich frage mich aber, ob damit schon alles gesagt ist, was Geschichten ist? machen. Wir tun das nicht freihändig, sondern am Leit- erfassen den Sinn der Gerichtsworte der Bibel. Die meines Erachtens gesagt werden kann und muss. Für Alexander Deeg: Es gibt immer die Gefahr, dass ich faden von traditionellen, meistens durch Texte vermit- Bibel gibt uns die Worte, mit denen wir in aller Lebens- Martin Luther war die Erfahrung grundlegend, dass schon „weiß“, wer Gott grundsätzlich und ganz speziell telten Deutungsangeboten. Biblische Texte sind solche erfahrung die rätselhafte Hand erkennen, die wir Gott ihm die Bibel immer auch als fremdes Wort entgegen- für mich ist. Gottesbilder sind unverzichtbar, aber Deutungsangebote. Diese Texte geben damit auch uns nennen. kommt, das den Kreislauf der eigenen Lebensdeutung gleichzeitig gefährlich. Sie können dazu führen, dass Worte und Vorstellungen zur Deutung unseres Lebens Damit stellt sich aber die Frage, was diese Hand und überraschend, herausfordernd und heilsam unterbricht. wir am Ende fröhlich um das Goldene Kalb unserer – in großer Vielfalt. Wir finden einen Lebensmenschen diese Stimme, die im Guten wie im Bösen in unser Nicht wir verwandeln die Schrift in unser Leben hinein, eigenen Gottesbilder tanzen. Besonders Theologinnen oder wir werden Eltern – sind zutiefst dankbar darüber Leben eingreift, die beides, Tod und Leben, schickt, meinte Luther einmal, sondern wir werden – so Gott und Theologen stehen in der ständigen Gefahr, zu viel und sprechen das mithilfe der biblischen Texte aus: als letztlich will – Tod oder Leben? Diese Frage beantwor- will – in die Bibel hinein verwandelt.1 Sie mache uns zu über Gott wissen zu wollen. Die in sich stimmige Theo- Erfahrung des schenkenden Gottes, des Schöpfers. tet für uns Christen die Person und das Geschick des denen, die wir noch nicht sind. Das ist die andere Seite logie wäre dann so etwas wie ein Schutzschirm vor Oder wir erfahren ein Schicksal, das unser Leben Jesus von Nazareth. Da hören wir etwas, was in unse- des Umgangs mit der Bibel für Leserinnen und Leser, Gotteserfahrungen, die anders und herausfordernd beschädigt, die Unausweichlichkeit der Krankheit, des rem Leben allein nie eindeutig wird, etwas, was wir uns die mir für eine dialektischere und spannungsreichere sind. Freilich müssen Theologinnen und Theologen – Verfalls und des Todes – und beginnen das Hiobbuch nicht selbst sagen können. Denn da zeigt sich der „Gott 16 Nr. 4/19 Gespräch Gespräch Nr. 4/19 17
wie alle Christenmenschen – in ihrem Reden von Gott auch begründet Akzente setzen, problematische Bilder Erfahrung zu deuten – aber dafür müssen die Worte auf jeden Fall mit unserer Erfahrung zusammenklingen, Quote gebraucht?! von Gott identifizieren und ablehnen. Das kann aber auch noch im Widerspruch! Das heißt nämlich nicht, Auf dem Weg zu einer gesamtdeutschen nur in einer beständigen Dynamik geschehen. Die Bibel dass die Texte unserer Erfahrung nicht widersprechen ist, wenn sie immer wieder neu und erwartungsvoll dürfen oder unsere Erfahrung das letzte Kriterium der Kirchentagsbewegung gibt es noch viel zu gelesen wird, in der Lage, die Kriterien, nach denen wir Wahrheit der Texte ist. Aber von Gott zu sprechen, der tun. Ein Kommentar von Ulrike Greim unser Reden von Gott überprüfen, zu zerschlagen und die Liebe ist, geht nicht, ohne dass auch die Lebenser- neue Gottesbilder zu zeichnen. Der israelische Aphoris- fahrung integriert wird, die diesem Bild Gottes wider- tiker Elazar Benyoëtz hat einmal gesagt: „CREDO: Zwi- spricht. Und von Gott zu sprechen, der die Sünde heim- schen Gott und mir darf kein Glaube stehen“ 2 – ein sucht, geht nicht, ohne die Lebenserfahrung des Ich komme aus einer Ost-Kirchentagsfamilie. Wir liebten Satz, den ich als Warnung vor fertigen Gottesbildern Unbeschwerten und Glücklichen zu integrieren. Daher Peter Janssens. Er mochte es bei uns, weil es noch so und allzu abgeschlossenen theologischen Kategorien sprechen die Texte der Bibel und der Tradition vielfältig schön ursprünglich war. Lobte unser Fallobst und klärte und Kriterien höre. Die 2018 abgeschlossene Revision von Gott – von der Freigiebigkeit des Schöpfers und uns auf, dass man in der Ökobewegung West gerade dazu der Lese- und Predigttexte hat – so meine ich – vor vom Richter, von dem, der den Tod schickt, und von überginge, wieder nur das zu essen, was die Natur freiwil- allem mit ihren neuen alttestamentlichen Texten einen dem, der das Leben gibt. Und die Texte, die Jesus von lig hergibt. Wir staunten. Und übernahmen seine kapita- Beitrag dazu geleistet, Gott in unseren Gottesdiensten Nazareth als den Sohn Gottes verkündigen, sind noch lismuskritische Haltung, sangen sein Lied gegen die Weg- immer neu auf der Spur zu bleiben, anstatt einigerma- einmal besonders, sie sind, wie Eberhard Jüngel sagt, werfdosen, bevor wir sie hatten, und waren gefeit, als sie ßen konventionell bereits zu wissen, wer „er“ ist. Das eine „Erfahrung mit der Erfahrung“: Sie „sortieren“ diese kamen. „er“ in Anführungszeichen zeigt exemplarisch eine der vielfältigen Erfahrungen und die daran hängenden Carola Wolf, die damalige Pressesprecherin des Grafik: Holger Schäfers vielen Gefangenschaften, in die wir Gott gesperrt Bilder Gottes – der Schöpfer, der Richter, der Gebende, Kirchentages, nimmermüde Netzwerkerin, hat uns regel- haben: die Gefangenschaft in patriarchale Bilder männ- der Strafende – und leiten dazu an, wider die Erfahrung mäßig besucht und – wo ging – einige von uns über die licher Dominanz, die der Vielfalt biblischen Redens (!) zu vertrauen auf den Willen Gottes, der durch Grenze gehievt, hat Promis vermittelt und lange am nicht entspricht. Gericht und Tod hindurch das Leben will. Abendbrottisch gesessen und zugehört. Ehrhard Eppler, Hildegard Hamm-Brücher, Richard von Weizsäcker Notger Slenczka: Selbstverständlich haben wir ein Got- Das Interview führte Rosa Coco Schinagl, Referentin waren da, besuchten unsere Kirchentage, diskutierten Im evangelischen Teil des 45-köpfigen Gemeinsamen tesbild – alle! Meistens kein festes, sondern es wechselt im Kirchentagspastorat des Deutschen Evangelischen mit und bestärkten uns. Präsidiums für den Ökumenischen Kirchentag ist ledig- im Laufe der Zeit unseres Lebens. Es nimmt helle und Kirchentages. Das war ein großes Signal: Wir sind eins. lich eine einzige Ostdeutsche vertreten – im Rat der EKD dunkle Erfahrungen unseres Lebens auf, und zuweilen Mit der deutschen Einheit nun auch wieder vollumfänglich. übrigens: null. zerbricht es an unserer Erfahrung. Die biblischen Texte Oder nicht? Wir diskutieren hier parallel zu allen anderen gesell- geben uns kein Gottesbild. Sie geben uns Worte, unsere Wie überall – die aktuellen Debatten zeigen es – hat schaftlichen Gruppen: Die Repräsentanz Ostdeutscher – sich auch beim Kirchentag die westdeutsche Spielart und vermutlich damit einhergehend ihrer Themen – ist durchgesetzt. Gewiss nicht aggressiv, sondern einfach, mangelhaft. Brauchen wir wieder eine Quote? Ich fürchte weil sie personell und strukturell besser aufgestellt war. schon. Und mehr Selberermunterung Ostdeutscher, bei Wäre es möglich gewesen, die gesamtdeutsche Kirchen- Anfragen auch fröhlich Ja zu sagen und sich nicht scham- tagsbewegung unter den neuen Gegebenheiten anders voll zurückzuhalten. zu denken? Nein, wir waren schlicht zu beschäftigt. Der Dortmunder Kirchentag – er war fröhlich und Aber was wir erleben, ist doch dies: Der Kirchentag ernst und wunderbar – hatte geradezu ein Leck an The- hat im Osten nach wie vor eine hauchdünne Basis. Auch men mit erkennbar ostdeutschem Bezug (ich habe ledig- weil der Kirchentag sehr gezielt das bildungsbürgerliche lich ein Podium gefunden). Die friedliche Revolution – Milieu ansteuert. Unser Ost-Bürgertum ist in den letzten angeführt von Ost-Kirchentagsleuten!! – fand als eigen- hundert Jahren kontinuierlich in den Westen ausgewan- ständiges Thema beispielsweise überhaupt keinen Platz dert. Sein Fehlen ist eines unserer Traumata. Der Flop der im Programm. Wir dürfen uns die Augen reiben. So selbst- Kirchentage verständlich ist deutsche Einheit, dass das genaue Hin- Zur Autorin: Ulrike Greim ist Rundfunkbeauftragte auf dem Weg hören nicht mehr nötig ist? Doch, ist es. Wieder. Und der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und hat hier zwar dringend. Und wechselseitig. Und jetzt. Sonst wird Vorsitzende des Landesausschusses des Kirchentages einen seiner der Kirchentag eine westdeutsche Veranstaltung. Er ist in Mitteldeutschland. zahlreichen gerade auf dem besten Wege dahin. Aus Platzgründen konnte leider nur ein Teil des Streitge- Gründe. Viele Themen könnten – einmal aus west- und einmal sprächs abgedruckt werden. Das komplette Interview finden Nach wie vor ist der Anteil Ostdeutscher am Kirchentag aus ostdeutscher Perspektive betrachtet – deutlich an Bri- Sie hier: kirchentag.de/streitgespraech verblüffend gering – sowohl bei den Teilnehmenden als sanz gewinnen. Wenn man denn will. Es braucht wieder auch bei den Mitwirkenden. Liedermacher Ost und West, die sich besuchen und ihre Beim Kirchentag 2019 in Dortmund kamen weniger Themen austauschen. Es braucht Pressemenschen, die 1 als drei Prozent aller Teilnehmenden aus dem Osten neugierig nachfragen. Promis, die hüben und drüben ein- Die Stelle heißt im Original: „Et ita nos in verbum suum mutuat, non autem verbum suum in nos mutuat.“ WA 56, 227, 2-5. Vgl.: Alexander Deeg, Predigt und Derascha: Homiletische Textlektüre im Dialog mit dem Judentum, 2006, S. 485. Deutschlands (der Anteil der Ostdeutschen an der geladen werden. Und leidenschaftliche Netzwerkerinnen, 2 Elazar Benyoëtz: Scheinhellig: Variationen über ein verlorenes Thema, Wien 2009, S. 67 Gesamtbevölkerung liegt bei immerhin 17 Prozent). die nimmermüde Brücke um Brücke bauen. 18 Nr. 4/19 Gespräch Kommentar Nr. 4/19 19
ankommen und nicht ein halbes Jahr auf Umzugskisten sitzen, sondern rasch eine wohnliche Atmosphäre schaffen, sodass man gern nach Hause kommt.“ Nach dem Einzug ging es los mit Kontakten knüpfen. Kein Problem für Foto: DEKT / Philip Wilson die Umzugserfahrenen. „Ich habe mir einen Chor gesucht und eine Yoga- Ankommen in einer neuen Stadt gruppe“, sagt Vivian. Die 32-Jährige freut sich auf die nächste Probe mit Foto: Jan Lurweg der Jungen Kantorei St. Josef in Frankfurt-Bornheim. Jan hat sich dem Lauf- und Triathlonverein Spiridon in Mitarbeiter*innen der Geschäftsstelle des Kirchentages entdecken alle zwei Jahre eine Stadt neu. Frankfurt-Sachsenhausen ange- Wie das gut gelingen kann, wollten wir von Vivian, Christoph und Jan wissen. Sie sind in schlossen. Christoph, der aus der Rhön stammt, hat noch auf der Bergerstraße, diese Vielseitigkeit. Das bunte Frankfurt am Main zusammen in eine Wohngemeinschaft gezogen. Britta Jagusch Freunde von früher in Frankfurt. „Ich habe jetzt jeden Bahnhofsviertel im Kontrast zum Bankenviertel, die über- zumindest schon einmal besucht.“ füllte Einkaufsmeile und vieles mehr. Ich freue mich rich- tig auf das Abenteuer Frankfurt.“ Auch Christoph, der die Den veganen Braten mit Klößen und Rotkohl, den das Tolle an unserem Job, man lernt immer wieder neue Kirchentag – ein wichtiges Band Stadt vorher schon kannte, ist von den vielen schönen können jetzt alle drei kochen. „Jan ist der Veganer in der Städte und Menschen kennen.“ Wichtig ist den dreien, dass sie keine reine „Kirchen- Orten überrascht. „Das hatte ich so nicht in Erinnerung.“ WG“, erklärt Vivian, und Christoph fügt hinzu: „Das ist Jan zog für den Kirchentag von Köln nach Dortmund tags-WG“ sein wollen. „Wir haben auch andere Kontakte Und dann wird natürlich gemeinsam die Stadt erkun- das Schöne an einer Wohngemeinschaft, man lernt dazu.“ und jetzt an den Main. „Das Schöne ist, dass man zwar und sprechen nicht nur über unsere Arbeit“, sagt Chris- det, mit dem Rad zum Lohrberg, dem Frankfurter Haus- Aber in der Wohngemeinschaft von Vivian Boerschmann, die Stadt wechselt, aber viele Kolleg*innen sozusagen toph, der auch in der Programmabteilung arbeitet und berg, oder zu Fuß in die Van-Gogh-Ausstellung im Städel Jan Lurweg und Christoph Krenzer geht es nicht nur ums mitnimmt, etwas Vertrautes bleibt also.“ Auch Christoph, mit 35 Jahren der Wohngemeinschaftserfahrenste ist. Museum. „Ich habe zu meinem Geburtstag aus dem Kochen. Alle drei sind Mitarbeitende in der Geschäfts- der von seiner Sechser-WG in Dortmund ganz ohne „Dennoch ist der Kirchentag ein wichtiges Band“, weiß Freundeskreis eine Jahreskarte für die Museen bekom- stelle des Ökumenischen Kirchentages im Frankfurter Kirchentagsmitbewohner*innen schwärmt, findet um- Kollegin Vivian. „Das geht ja allen so, die beim Kirchen- men und von meinen Kolleg*innen einen Operngut- Ostend. Sie haben sich dazu entschieden, von Dortmund ziehen gar nicht schlecht. „Man blickt ganz anders auf tag arbeiten, das hat so eine ganz eigene Dynamik. Es schein“, sagt Vivian. „Eine neue Stadt auch kulturell zu nach Frankfurt zu ziehen, um beim Kirchentag weiter eine Stadt, wenn man sie mit Kirchentagsaugen sieht.“ bilden sich Freundschaften und Netzwerke, die lang über entdecken, das ist wirklich klasse.“ Auch hier hat Frank- dabei zu sein. den Kirchentag hinaus noch halten.“ furt viel zu bieten, sind sich alle einig. Mit dem Fahrrad ins Büro Und wie gestaltet sich das Zusammenleben? Jan Neue Menschen kennenlernen Schon in Dortmund befreundet, fiel der Entschluss aus der Presseabteilung ist Frühaufsteher, somit gibt es Über die Schokoladenseite freuen „Arbeiten in der Geschäftsstelle heißt ja alle zwei zusammenzuziehen recht schnell. Alle drei wollten gern morgens kein Gedrängel, witzeln Vivian und Christoph. „Und die Schokoladenseite der Stadt zeigt sich jeden Jahre umziehen“, sagt Vivian, die schon in der Programm- in einer Wohngemeinschaft wohnen und am besten mit- Dafür schauen die beiden Männer abends gemeinsam Morgen auf dem Weg zur Arbeit“, sagt Jan. Vom Schweizer abteilung für den Kirchentag in Berlin arbeitete. Von ten in der Stadt. „Mit dem Fahrrad ins Büro fahren, das gern American Football. „Und große WG-Regularien Platz aus mit dem Rad Richtung Main, die Kulisse der Berlin ging es zum Katholikentag nach Münster, dann war für uns das wichtigste Kriterium“, sagt Jan. Und dann haben wir auch nicht, sondern Kommunikation ist das Frankfurter Innenstadt im Blick, weiter am Ufer entlang. nach Dortmund und jetzt Frankfurt. „Das ist aber auch ging es los: Anzeige aufsetzen und mit drei festen Ein- Mittel“, sagt Vivian. „Wir kannten uns ja schon gut“, sagt Hochhäuser und der Eiserne Steg, der in die neue alte kommen und dem Kirchentag als Arbeitgeber Christoph. „Das macht sicherlich vieles einfacher, aber Altstadt führt, der Dom, Hotels, die Banken und Touristen. werben. „Eine Woche später hatten wir zehn der Vorteil einer Wohngemeinschaft ist, dass man lernt, Gänse und Frachtschiffe, Ausflugsdampfer und eine Besichtigungstermine, und in der zweiten gut mit Konflikten umzugehen. Man muss reden, Kom- Promenade mit vielen Museen und Cafés. Jan, Vivian Woche haben wir den Mietvertrag unterschrie- promisse schließen und erkennen, was den anderen und Christoph sind in Frankfurt angekommen. ben“, erzählt Vivian. wichtig ist.“ Seit Oktober leben die drei in Sachsen- hausen in einer renovierten Altbauwohnung. Frankfurt überrascht Das gemeinsame Wohnzimmer nimmt den Und welchen Eindruck macht Frankfurt? „Frankfurt größten Platz ein, hier wird geklönt, gelesen und wird total unterschätzt, auch von mir“, sagt Vivian. „Ich gefeiert. „Wir haben auch alles gemeinsam ein- komme aus Berlin, gerichtet“, sagt Jan, mit 26 der Jüngste der WG. Zur Autorin: Britta Jagusch ist Redakteurin da ist alles sehr in „Jeder hat so seinen Kram mitgebracht.“ Die des Magazins „Der Kirchentag“ und arbeitet die Breite gezogen, Garderobe und der Esstisch wurden eigens für als Journalistin in Frankfurt am Main. große Entfernun- Die Geschäftsstelle des Kirchentages in Dortmund ist die Wohnung gebaut. gen, lange Wege, geschlossen. Die Mitarbeiter*innen aus Dortmund sind hier kann man alles super mit dem Fahrrad erreichen, der nun mit den Kolleg*innen des Katholikentages in ein Nach Hause kommen Öffentliche Nahverkehr ist gut, und die Stadt hat etwas gemeinsames Büro für den Ökumenischen Kirchentag Foto: Jan Lurweg „Bei der kleinen Einweihungsfeier waren alle Weltoffenes.“ nach Frankfurt gezogen. Adresse: Danziger Platz 12, überrascht, wie schön und gemütlich es schon „Ich habe in Köln gewohnt, aber Frankfurt finde ich 60314 Frankfurt am Main. ist“, freut sich Vivian. „Wir wollten auch schnell schöner“, sagt Jan. „Die Skyline, die Kneipen und Geschäfte 20 Nr. 4/19 Reportage Reportage Nr. 4/19 21
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