Hessischer Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau

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Hessischer Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau
Hessisches Ministerium für Wirtschaft,
Energie, Verkehr und Wohnen

                   2. Hessischer Preis
                   für Innovation
                   und Gemeinsinn
                   im Wohnungsbau

                                           Miteinander
                                         der Generationen
                                           im Quartier
Hessischer Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau
INNOVATIO N UND GE ME INS INN IM WOHNU NGS BAU

         INHALT
         Seite:

         2        —› Einleitung – 2. Hessischer Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau

         6        —› Wie es gelingen kann, zukunftsweisende Quartiere zu entwickeln
         		          Gespräch mit Prof. Dr. Constanze A. Petrow und Dr. Robert Kaltenbrunner

         14 —› Vernetzung und Nachbarschaften von Beginn an
         		          »Konsortiale Quartiersentwicklung« am Beispiel des Prinz Eugen Parks in München

         20 —› Nachbarschaftshilfe weiter entwickelt – die »sorgende Gemeinschaft«
         		          im ländlichen Gillenfeld
         		          »Wohnen und Leben im Florinshof«

         22 —› Besonderheiten der Gemeinwesenarbeit in ländlichen Räumen
         		          Dr. Maren Heincke

         25 —› Wie sich die »jungen Alten« neu erfinden: Utopien und Pioniergeist sind gefragt!
         		          Neue Lebens- und Wohnkonzepte für »junge Alte«

         30 —› Standorte der 21 Beiträge

         32 —› Ideenpool für lebenswerte Quartiere

         35 —› Ausgezeichnete und nominierte Beiträge

         68 —› Anhang: Informationsquellen, Jury, Kooperationspartner
Hessischer Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau
I N N OVATI ON U N D G EM EI N SI N N I M WOH N U N G SB AU

Grußwort
Liebe Leserinnen und Leser,

eine funktionierende Nachbarschaft bedeutet    Brennpunkte ­Hessen e. V., der Liga der freien
Lebensqualität und sozialen Zusammenhalt.      Wohlfahrtspflege in Hessen und der Nassaui-
Soziale Dienstleistungen in der näheren        schen Heimstätte den »Hessischen Preis für
­Umgebung erleichtern es Bürgerinnen und       Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau«
                                                                                                                                    1
Bürgern, auch im hohen Alter in ihren ge-      ausgelobt. Die zweite, vom Hessischen Minis-
wohnten vier Wänden zu bleiben und am          terium für Soziales und Integration unterstützte
Leben im Quartier teilzuhaben – vor allem      Runde stand unter dem Motto »Miteinander
dann, wenn auch Architektur und Städtebau      der Generationen
von vorneherein die Bedürfnisse aller Gene-    im Quartier«.
rationen berücksichtigen.
                                               Diese Dokumentation präsentiert beispielhafte
Daraus wird klar: Funktionierende Nachbar-     Projekte aus unserem Bundesland. Sie zeigen,
schaften entstehen nicht zufällig. Was aber    worauf es bei lebenswerten Quartiere ankommt,
sind ihre Voraussetzungen? Wer initiiert und   welche Potenziale Alt- und Neubauten bieten,
trägt sie? Welche Ideen fördern das Zusam-     welchen Beitrag Freiräume leisten. Ich danke
menleben im Sinne von Gemeinschaft und         den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des
­Inklusion? Und welche baulichen Maßnahmen     Wettbewerbs und allen Andern, die sich um
unterstützen diese Ideen?                      gute Lösungen des Miteinanders der Genera-
                                               tionen bemühen.
Um Antworten und gute, übertragbare
Konzepte zu finden, hat das Hessische          Ich wünsche eine anregende Lektüre.
Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr
und Wohnen in Kooperation mit der Archi-       Tarek Al-Wazir
tekten- und Stadtplanerkammer Hessen,          Hessischer Minister für Wirtschaft, Energie, Verkehr
der Landesarbeitsgemeinschaft Soziale          und Wohnen
Hessischer Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau
INNOVATIO N UND GE ME INS INN IM WOHNU NGS BAU

    2. HESSISCHER PREIS FÜR
    INNOVATION UND GEMEINSINN
    IM WOHNUNGSBAU
    Miteinander der Generationen im Quartier

                  Lebenswerte Quartiere für alle                     Innovation und Gemeinsinn werden
                  Generationen                                       ausgezeichnet

                  Quartiersentwicklungen und Wohnungsbauten          Nach dem 1. Hessischen Preis für Innovation
                  müssen einer alternden und vielfältigeren Be-      und Gemeinsinn im Wohnungsbau im Jahr
                  völkerung, neuen Lebensentwürfen und dem           2018, setzt der vom Land Hessen im Sommer
                  Bedürfnis nach Nachbarschaft, nach Gemein-         2020 zum zweiten Mal ausgelobte Wettbewerb
                  schaft und Inklusion gerecht werden. Sie sollen    hier thematisch an. Gesucht wurden Ideen
                  adäquate Wohnformen und eine hohe Lebens-          und Konzepte für ein zukunftsweisendes und
                  qualität innerhalb und außerhalb der Gebäude       attraktives Zusammenleben von Menschen
                  bieten und dadurch auch in Zukunft attraktiv       unterschiedlichen Alters, mit unterschiedlichen
                  bleiben.                                           Lebensstilen und unterschiedlicher Herkunft,
                                                                     mit und ohne Behinderungen. Zudem sollten
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                  Dies wird vielfach als Zielvorstellung und An-     die Ideen der Weiterentwicklung und Umge-
                  spruch für künftige Quartiere, aber auch in be-    staltung von Wohnquartieren auf andere Orte
                  stehenden Quartieren oder Wohnsiedlungen           und Projekte übertragbar sein.
                  formuliert. Dabei geht es nicht nur um urbane
                  Viertel oder Siedlungen, auch gewachsene           Im Idealfall wird durch die Umsetzung der vor­
                  Ortskerne im ländlichen Raum sind Quartiere,       geschlagenen Maßnahmen die Durchmischung
                  in denen Innovation im Wohnungsbau gefragt         von Quartieren erhöht, z. B. durch unterschied-
                  sind.                                              liche Wohnformen, aber auch das soziale Mit-
                                                                     einander belebt, wie durch attraktive Service-
                                                                     Angebote und nicht zuletzt das Wohnumfeld
                  Gestaltung von Lebensqualität in                   für Alle attraktiver gestaltet. Angesichts der
                  Quartieren                                         aktuellen Herausforderungen durch die Corona-
                                                                     Pandemie haben insbesondere Qualitäten
                  Bei der Anpassung von bestehenden Quartie-         im Freiraum erheblichen Einfluss auf Lebens-
                  ren an die sich wandelnden Anforderungen           qualität und das soziale Zusammenleben im
                  der Bewohner*innen werden innovative An­           Quartier.
                  sätze häufig von diesen selbst in Zusammen-
                  arbeit mit weiteren engagierten Akteuren           Viele alte Menschen wollen und sollen so
                  entwickelt. In neu entstehenden Quartieren         lange wie möglich im gewohnten häuslichen
                  hingegen bilden sich Nachbarschaften, Wohn-        Umfeld bleiben können. Das gelingt erfah-
                  umfeld- und Lebensqualität erst langsam her-       rungsgemäß besser, wenn die gegenseitige
                  aus. Einige Gebäude sind u.U. schon bezogen,       Unterstützung von Generationen und gesell-
                  der Freiraum ist noch nicht endgültig gestaltet,   schaftlichen Gruppen Zeit hatte zu entstehen
                  erste Initiativen von Bewohner*innen, die die      und zu wachsen oder aber das Engagement
                  Gemeinschaft und das Zusammenleben der             der Bewohner*­innen gebündelt wird.
                  Generationen in einem attraktiven Umfeld im
                  Blick haben, entstehen gerade.
Hessischer Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau
I N N OVATI ON U N D G EM EI N SI N N I M WOH N U N G SB AU

Betrachtungsebene bei der Ausschreibung des Preises
war somit immer das Quartier bzw. die Nachbarschaft,
nicht ein Einzelgebäude. Wichtig war dem Auslober, dass
die Ideen und vorgeschlagenen Maßnahmen innovativ
sind, modellhaften Charakter haben und umsetzbar sind,
z. B. durch private oder gemeinnützige Träger wie auch von
Wohnungsbaugesellschaften und privaten Unternehmen.

Von Bedeutung war darüber hinaus, auf welche Art und
Weise die vorgeschlagenen Maßnahmen umgesetzt werden
sollen, z. B. durch ungewöhnliche Konstellation und Art
der Zusammenarbeit von Akteuren, welche Instrumente,
Ver­fahren, Finanzierungsmodelle und Trägerschaften dabei
eine Rolle spielen werden.

Welche Maßnahmen sind denkbar?

                                                                                                                                     3
Im Quartier sollen unterschied­       Die Qualitäten des Freiraums              Die gegenseitige Unterstützung
liche Formen des Zusammen­            werden erhöht, das Wohnumfeld             von Generationen und gesell-
lebens angeboten werden.              für Alle attraktiver und die Bedürf-      schaftlichen Gruppen sowie ein
Bauformen und Bauweisen von           nisse der Bewohnerschaft berück-          am Gemeinwesen orientiertes
Gebäuden erlauben variable            sichtigt. Dies fördert den sozialen       Leben werden gestärkt. Das Enga-
Wohnformen und vielgestaltige         Zusammenhalt im Quartier.                 gement der Bewohner*innen wird
Nutzflächen.                                                                    gebündelt und alten Menschen
                                      Möglich wird dies z. B. durch             ermöglicht, so lange wie möglich
Dies kann z. B. erreicht werden                                                 im gewohnten häuslichen Umfeld
                                         Generationengerechte und
durch                                                                           zu bleiben.
                                         klimatisch vorteilhafte Ge-
   Gemeinschaftlich nutzbare             staltung von Freiräumen mit
                                                                                Fördern kann man dies z. B. durch
   Räume, Werkstätten und                Aufenthalts- und Kommunika-
   Begegnungsorte,                       tionsmöglichkeiten                         Neue attraktive Serviceange-
                                                                                    bote, Pflege- und Assistenz-
   Coworking-Flächen, Flächen            Schaffung von Wegebezie­
                                                                                    konzepte und innovative
   für Kunst und Kultur, Freizeit        hungen und Erhöhung der
                                                                                    Versorgungsmodelle
   u.v.m.                                Durchlässigkeit von Grund­
                                         stücken                                    Digitale Angebote und Teil-
   Räume für Pflege und Betreu-
                                                                                    habe
   ung                                   Ermöglichung gemeinschaft-
                                         lichen Gärtnerns                           Das Teilen von Raum und
   Barrierefreie und altersgerech-
                                                                                    ­Ressourcen
   te Umgestaltungen, Integration        Integration alternativer Mobilität
   von Universal Design                                                             Angebote für eine generati­
                                                                                    onengerechte Mobilität
Hessischer Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau
INNOVATIO N UND GE ME INS INN IM WOHNU NGS BAU

    Die eingereichten Bewerbungen wurden anhand folgender
    Kriterien bewertet:

    Förderung bzw. Unterstützung von

       Mehrgenerationen-Wohnen und vielfältigen Wohnformen im Quartier

       Altersgerechtem und selbstbestimmtem Leben und Wohnen im Quartier

       Netzwerken und Gemeinsinn im Quartier

       Partizipatorische Planungsprozesse

       Quartiers- und Freiraumqualitäten im weiten Sinne

       Modellcharakter und Innovationsgrad

       Umsetzbarkeit und Übertragbarkeit der quartiersbezogenen Vorhaben, z. B. durch
       private oder gemeinnützige Träger, Wohnungsbauunternehmen

    Teilnahmebedingungen, Preisgeld und Auszeichnungsverfahren

    Die vorgeschlagenen Ideen und Maßnahmen durften noch nicht umgesetzt und
    mussten für einen Ort in Hessen geplant sein mit dem Ziel, ihre Wirkung in einem
    oder mehreren bestehenden oder derzeit entstehenden Wohnquartieren oder
    Wohnsiedlungen zu entfalten. Bei neu entstehenden Quartieren war die Verfügbar-
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    keit der Liegenschaft Voraussetzung.

    Beiträge konnten bis zum 2. Oktober 2020 sowohl von Trägern, Vereinen, Verbänden,
    Bürger*innen bzw. Projektinitiativen, von kirchlichen Organisationen sowie von Kom-
    munen eingereicht werden.

    Preisgeld und Auszeichnungsverfahren

    Der Preis ist mit 75.000 Euro Preisgeld ausgestattet.   Tag der Auslobung: 06. August 2020
    Damit möchte das Land die weitere Ausarbeitung
    und Konkretisierung der Ideen und vorgeschlagenen       Abgabe der Wettbewerbsbeiträge (Stufe 1):
    Maßnahmen unterstützen und so zu deren späterer         02. Oktober 2020
    Verwirklichung im Quartier beitragen.
                                                            Abgabe der Vertiefung der nominierten Beiträge
    Das Wettbewerbsverfahren war zweistufig aufge-          (Stufe 2): 27. Januar 2021
    baut. In einer ersten Stufe bewarben sich die Teil­
    nehmer*innen anhand eines kurzen Konzeptsteck-          Zwei Nominierte haben ihre Beiträge auf Empfehlung
    briefs.                                                 der Jury nach der ersten Wettbewerbsphase freiwillig
    In einer ersten Jurysitzung im Dezember 2020            zusammengefasst, denn beide Einreichungen kamen
    ­wurden neun Wettbewerbsbeiträge für die zweite         aus der gleichen Kommune und verfolgten inhalt-
    Phase nominiert, in der die Wettbewerbsbeiträge         lich vergleichbare Ziele. Daher lagen der Jury in der
    und insbesondere die vorgeschlagenen Maßnah-            zweiten Wettbewerbsphase insgesamt acht Beiträge
    men, die aus Sicht der Einreichenden Priorität haben,   zur Prüfung vor. Aus diesen Beiträgen wurden in der
    detaillierter dargestellt wurden.                       zweiten Jurysitzung am 23. Februar 2021 die Preis­
                                                            träger ausgewählt.
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Fachbeiträge

                                                                   5
Hessischer Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau
INNOVATIO N UND GE ME INS INN IM WOHNU NGS BAU

    WIE ES GELINGEN KANN,
    ZUKUNFTSWEISENDE QUARTIERE
    ZU ENTWICKELN
    Gespräch mit Prof. Dr. Constanze A. Petrow
    und Dr. Robert Kaltenbrunner

    Geführt haben das Interview die für die Redaktion der vorliegenden Publikation
    Verantwortlichen Andrea Schwappach und Benjamin Pfeifer.

                    PFEIFER:   Wo mehrere Häuser gleichzeitig ent­                   nur in Teilbereichen ein Quartier, denn hier leben
                    stehen oder ein Stadtviertel umgebaut wird,                      größtenteils Menschen ähnlichen Alters und Her-
                    fällt der Begriff des Quartiers. Was ist eigent­                 kunft. Im Frankfurter Stadtteil Bornheim dagegen
                    lich ein Quartier?                                               bevölkern gleichermaßen junge und ältere Men-
                                                                                     schen die Straßen und treffen sich auf ein Schwätz-
                    PETROW:    Tatsächlich ist zu beobachten, dass die               chen. Das hat sicher auch mit der hessischen Kultur
                    Immobilienbranche versucht, mit dem Quartiers-                   und Mentalität zu tun. Für die Lebensqualität in
                    begriff ein Qualitätslabel zu etablieren. Doch                   einem Quartier ist die Mischung der Leute und
                    die Frage bleibt, was ein Quartier ausmacht und                  eine gewachsene Identität ganz wichtig. Durch
                    warum dieser Begriff inflationär benutzt wird. Es                den Fall der Mauer und den Umbruch verloren
6                   gab eine Zeit, da wurde alles als Park bezeichnet,               die Quartiere in Berlin-Mitte ihre Identität. Die
                    bis hin zum Gewerbepark. Das hat sicher etwas                    Gebäude wurden saniert, kleine Läden schlossen
                    damit zu tun, dass bestimmte Begriffe positiv                    und gleichzeitig hat sich die Bevölkerung fast kom-
                    besetzt sind. Als ich vor zwölf Jahren von Berlin-               plett ausgetauscht. Dadurch hat der Stadtteil sein
                    Mitte nach Bornheim Mitte in Frankfurt am Main                   Herz verloren. Ein Quartier braucht ein Herz, eine
                    gezogen bin, habe ich mir den Kopf zerbrochen,                   Lebensader, einen Ort, wo alle hingehen, sich —
                    warum das eine ein Quartier ist und das andere                   treffen, wo es Angebote des täglichen Bedarfs und
                    nicht. Berlin-Mitte ist nach meiner Auffassung                   Gastronomie gibt – wo Leben auf der Straße ist!

                                                                                     PFEIFER:   Würden Sie sagen, dass das Quartier
                                                                                     eine genuin städtische Einheit ist?

                                                                                     PETROW:    Ich würde vielleicht sogar so weit gehen,
                                                                                     dass es etwas mit Großstadt zu tun hat, doch
                                                                                     findet sich Urbanität sicher auch in Kleinstädten.
                                                                                     Zumindest braucht es eine bestimmte Dichte: in
                                                                                     der Bevölkerung wie auch in der Bebauung.
Hessischer Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau
I N N OVATI ON U N D G EM EI N SI N N I M WOH N U N G SB AU

PFEIFER:   Herr Kaltenbrunner, Sie beschäftigen sich in      KALTENBRUNNER:     Ja, doch fehlen mir noch Zwischen-
                                                                                                                                          7
Ihrem Buch »Die Stadt der Zukunft« intensiv mit den          schritte. Ich würde sagen, dass das Quartier so etwas
Qualitäten von Quartieren. Können Sie Frau Petrow            wie das grundsätzliche Ordnungsmodul des städtischen
zustimmen, was den Begriff des Quartiers betrifft?           Lebens ist. Es ist sowohl baulich-räumliche Einheit wie
                                                             soziales Feld, in dem Menschen interagieren. Und da
KALTENBRUNNER:    Ja, die Wahrnehmungen von Frau             spielen dann Nachbarschaften, Bekanntschaften und
Petrow teile ich. Allerdings ist das mit den Begriffsdefi-   Freundschaften als Formen sozialer Verbindlichkeit
nitionen so eine Sache. Ob nun Quartier, Kiez und auch       eine Rolle. Neue Wohnformen und nachbarschaftliche
Höfe: Jedes größere Neubaugebiet im innerstädtischen         Zusammenhänge setzen oft einen gewissen Grad an
Kontext wird so tituliert. Das weckt bildreiche Assozia-     Homogenität voraus – im Kontext gewünschter sozialer
tionen und unterstützt die Vermarktung. Allerdings bleibt    Mischung also ein Spannungsfeld und eine gewisse innere
auch in der Fachliteratur unklar, was ein Quartier ist. Es   Ambivalenz. Wenn Sie Nachbarn in Ihrem Haus haben,
gibt den berühmten amerikanischen Stadtforscher George       die ähnlich leben und denen sie sich verbunden fühlen,
Galster, der mit seiner Aussage den Nagel auf den Kopf       würden Sie wahrscheinlich denen den Schlüssel geben
getroffen hat, »dass das Quartier ohne jeden Zweifel eine    oder die Katze versorgen lassen, wenn Sie in den Urlaub
sozial-räumliche Organisationsform sei, die größer als       fahren, und nicht dem Tätowierten, der drei Kampf-
ein Haushalt, aber kleiner als eine Stadt ausfalle.« Und     hunde in der Wohnung hält. Ich würde am Ende auch
dann sagt er, dass der Konsens genau da aufhöre. Also        dazu kommen, dass soziale Mischung wichtig ist, aber
wissenschaftlich ist es mitnichten klar, was ein Quartier    vor platten Aussagen oder Prämissen, die man einfach so
ist. Doch der Begriff setzt positive Bindungskräfte frei:    unterstellt, warnen. Manches muss man hinterfragen.
sowohl in der Fachszene als auch bei Bewohnern.
PFEIFER:   Wenn es also schwer ist, den Begriff des          PETROW:   Soziale Mischung ist ja erst einmal nur ein Begriff.
Quartiers territorial zu fassen – »mehr als ein Haus­        Wo beginnt sie überhaupt oder wo endet sie? Was ich für
halt, aber kleiner als das Stadtviertel« – ist es eine       entscheidend halte, ist die Altersmischung, die das Leben in
Frage der sozialen Mischungen, so wie Frau Petrow            einem Quartier durch bestimmte Tagesrhythmen und Akti-
es beschrieben hat?                                          vitäten im öffentlichen Raum prägt. Vermutlich würden
                                                             sich nicht einmal Stadtsoziologen darauf festlegen wollen,
                                                             wann eine soziale Mischung als gelungen zu bezeichnen ist.
Hessischer Preis für Innovation und Gemeinsinn im Wohnungsbau
INNOVATIO N UND GE ME INS INN IM WOHNU NGS BAU

    KALTENBRUNNER:   Entscheidend für die Qualität eines          ­aufeinander in hintereinander liegenden Höfen gelebt.
    Quartiers ist die Mesoebene, zwischen der Mikroebene          ­Vielleicht ist das Thema der Höfe schon damals in die
    des individuellen Wohnens und der Makroebene von              Städte gekommen und wird immer wieder neu interpretiert.
    Städten oder ganzen Gesellschaften. Auf dieser Meso­
8
    ebene geschieht das, was für das Gelingen von Stadtleben      SCHWAPPACH:    Was würden Sie sagen: Wie kann gute
    von entscheidender Bedeutung ist.                             Stadtentwicklung und die Schaffung lebenswerter
                                                                  Stadtteile heute gelingen?
    SCHWAPPACH:    Bezug nehmend auf den Begriff der
    Höfe: Ist das eine Typologie, die aus der dörflichen          PETROW:   Seit sich die Stadt- und Architekturkritikerin
    Struktur landwirtschaftlicher Höfe stammt und über­           Jane Jacobs in den 1960er Jahren für den Erhalt und
    tragen wird auf urbane Wohnformen? Und ist nicht              die behutsame Erneuerung vorhandener Stadtstrukturen
    vielleicht der gesellschaftliche Zusammenhalt einer           eingesetzt hat, wissen wir, unter welchen Bedingungen ein
    Dorfgemeinschaft vergleichbar mit dem Idealbild               Stadtviertel gut funktioniert. Dass eine Generation von
    eines Quartiers?                                              Planern und Architekten zwischenzeitlich vergessen hat,
                                                                  wie das geht, glaube ich nicht. Dennoch scheinen beim
    KALTENBRUNNER:   Ich glaube, das geht in die Richtung.        Blick auf Quartiere, die in den letzten Jahren entstanden
    Da passt auch der dritte Begriff Kiez dazu, wo man sich       sind, einige grundlegende Qualitätsmerkmale abhanden
    zumindest vom Sehen kennt und auf vieles Bekanntes            gekommen zu sein, wie räumliche Überdimensionierun-
    stößt, ohne dass es gleich familiär ist oder diese Verbind-   gen und leblose Erdgeschosszonen zeigen. Auch viele
    lichkeiten gibt. Ich glaube, dass das auch entscheidend ist   Landschaftsarchitekten definieren Urbanität rein formal:
    für ein gelingendes Stadtleben. Die Sehnsucht nach Höfen      Urban sei viel Beton, wenn überhaupt Bäume, dann im
    bildet sich auch in den größeren Wohnungsbauprojekten         Raster gepflanzte, versiegelte Böden, harte Kanten. Diese
    in Berlin ab. Allerdings läuft man schnell Gefahr, »Gated     extrem formalen Vorstellungen von Urbanität basieren
    Communities« zu bauen. Hier wird die Sehnsucht be-            auf fragwürdigen planerischen Leitbildern, doch dienen
    dient, unter seinesgleichen zu sein. Das Dörfliche, das       sie nicht den Menschen, die dort leben und sich aufhal-
    hätte man dann gern im bildungsbürgerlichen Kontext,          ten. Es reicht also nicht, einen modisch-minimalistischen
    wo finanzielle Sorgen weniger eine Rolle spielen und die      Park zu bauen und die Leute kommen so oder so, weil
    Sicherheit und Geborgenheit der Kinder gewährleistet ist.     öffentliches Grün vielerorts Mangelware ist. Wenn sich
                                                                  Planer und Beteiligte den Fragen stellten, was so ein Ort
    PETROW:   Ich bin nicht davon überzeugt, dass die Höfe        bieten und leisten könnte, wären unsere Parks und öffent-
    vom Dorf kommen. In der Gründerzeit hat man eng               lichen Räume sicher vielschichtiger und lebendiger.
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KALTENBRUNNER:   Zur Ehrenrettung der Planer und im          chen Erfahrungshorizont, Milieu und Nutzungsverhalten
Hinblick auf die Bauherrn und weitere Entscheider: Bei       abzuleiten, sondern die Menschen in den Blick zu neh-
der ganzen Diskussion sind die ökonomischen Zusam-           men, für die Wohnungen, Parks und Infrastruktur gebaut
menhänge nicht außer Acht zu lassen. Auch fehlt Neu-         werden. So kann etwa eine flexibel nutzbare Erdgeschoss-
bauprojekten oft noch die Patina und das lebensweltliche     zone ein »Surplus« für das Gemeinwohl sein, statt als
Flair. Die Neuheit und Sterilität müssten kontrastiert       »cash cow« die Renditeerwartungen der Investoren zu
werden durch ein vielfältiges, ein buntes und vielleicht     erfüllen. Und auch wenn geschwungene Wege durch
auch ein widersprüchliches Alltagsleben, das mit der Zeit    einen Park oder eine Grünfläche toll aussehen in der
kommt. Wenn man sich Bilder aus der Erbauungszeit des        Plangrafik, wollen Menschen in ihrem Alltag zumeist den
gründerzeitlichen Berlins mit den breiten Straßenachsen      kürzesten Weg nehmen, und wenn der über eine wunder-
oder auch der heute pittoresken Hufeisensiedlung von         bare Rasenfläche führt, bilden sich Trampelpfade, die viel
Bruno Taut anschaut, dann fragt man sich, ob man da          ausgeprägter sind als die festgelegten Wege.
wohnen wollte. Doch nach 20 Jahren, wenn die Bäume
größer werden und sich das Leben eingeschliffen hat,         PETROW:    Deshalb ist es auch nicht die alles verändern-
erscheinen die meisten dieser Gebiete anders als zu ihrer    de, heilsbringende Lösung, privaten Investoren und
Entstehungszeit. Wenn man ehrlich ist, muss man allen        Projektentwicklern die Gestaltung öffentlicher Räume,
Neubaugebieten eine Wachstumszeit zubilligen. Es zeigt       Parks und Gebäude zu übertragen. Private haben aus
sich also, dass die Kritik von Jane Jacobs immer noch        wirtschaftlichen Gesichtspunkten kein Interesse daran,
gilt: Es braucht Zeit, damit Nachbarschaften entstehen       dass ihre Flächen intensiv genutzt werden. Deshalb ge-
und sich Stadtleben entfalten kann. Der Stadtsoziologe       hören öffentliche Freiräume, so wie Schulen und andere
Hartmut Häußermann hat mal gesagt, dass Urbanität            ­Gemeinwohleinrichtungen, in die öffentliche Hand!
nicht das Ergebnis bewusster planerischer Entscheidun-
gen sei, sondern das Ergebnis einer Entwicklung, an der      PFEIFER:   Damit sind wir beim Thema der Freiraum­
eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Akteure und Initiati-   gestaltung. Was ist eigentlich öffentlicher, was halb­
                                                                                                                                          9
ven mit ihren jeweiligen Interessen beteiligt sind. Urbane   öffentlicher und was privater Raum? Was macht einen
Orte entstehen also in einem vielschichtigen Prozess und,    gelungenen öffentlichen Raum aus?
spitz formuliert, behindert Planung solche Prozesse eher,
als sie zu befördern. Als Architekt und Planer glaubt man    PETROW:    Da gibt es kein allgemein gültiges Rezept.
immer, eine wichtige Rolle bei der Gestaltung unserer        Grundsätzlich würde ich sagen, geht es nicht alleinig um
Umwelt zu spielen, doch sollte man auch Demut an den         öffentliche Räume, sondern um unterschiedliche Öffent-
Tag legen und die eigenen Einflussmöglichkeiten nicht        lichkeitsgrade, die für das Quartier und die dort lebenden
überschätzen. Planer müssen ein Gespür dafür entwi-          Menschen wichtig sind. Zum Halböffentlichen würde ich
ckeln, was die zukünftigen Nutzer sich wünschen und          auch das Gemeinschaftliche zählen, wie beispielsweise
brauchen und müssen die Investoren davon überzeugen,         Community Gardening. Auf der Quartiersebene ist es
dies unabhängig von deren Vorstellungen umzusetzen. Es       wichtig Orte zu schaffen, die zum Bleiben einladen. Das
geht also nicht darum, alles vom eigenen gesellschaftli-     klingt simpel, vielleicht die Hälfte der Freiräume in den
                                                             Städten lässt diese Qualität jedoch vermissen und ist
                                                             nicht oder nur schlecht gestaltet. Keiner nutzt lieblos
                                                             hingestellte Bänke an einer Straßenkreuzung. Sicher ist es
                                                             eine Frage des Budgets und der Ausstattung der kommu-
                                                             nalen Grünflächenämter. Wenn eine beliebte, stark ge-
                                                             nutzte und dadurch völlig »überweidete« Grünfläche wie
                                                             das Frankfurter Mainufer alle Ressourcen bindet, bleibt
                                                             nichts übrig für andere Freiräume in den Quartieren. Was
                                                             ermöglicht also eine Gestaltung, die auf die inhärenten
                                                             Qualitäten eines Ortes und auf die gesamte Bandbreite
                                                             der Nutzer- und Altersgruppen eingeht? Gibt es Schatten-
                                                             plätze? Gibt es gute Sitzmöglichkeiten? In welchem räum-
                                                             lichen Verhältnis stehen die Kinderspielmöglichkeiten zu
                                                             den Aufenthaltsmöglichkeiten der Eltern? Diese Art der
                                                             Alltagsqualitäten, die für die Menschen wichtig sind, doch
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     mit deren Beantwortung Planer nur selten Wettbewerbe           PETROW:    Meiner Meinung nach sind wir nicht mehr auf
     gewinnen – die müssen zurück in die Wahrnehmung der            der Ebene des Wünschenswerten, sondern der Notwen-
     Entscheidungsträger!                                           digkeit angekommen. Der Klimawandel veranlasst uns,
                                                                    Stadt anders zu denken. Zur Klimaanpassung müssen wir
     PFEIFER:   Sind gelungene Stadt- und Freiräume also            sie tatsächlich massiv begrünen. An erster Stelle stehen
     jene, die ungezwungene Begegnungen ermögli­                    Bäume, die ohnehin zum Stadtbild gehören, zur räum-
     chen?                                                          lichen Wirkung beitragen und Schatten spenden. Wenn
                                                                    man die Fassaden und Dächer begrünt, ist das gut und
     KALTENBRUNNER:    Aktive Begegnung ist vielleicht schon zu     nützlich, doch nicht vergleichbar mit der Wirkung von
     viel der Erwartung. Der einfache Aufenthalt als Komple-        Bäumen. Wir merken es, wenn wir im Hochsommer an
     mentär zur Wohnung oder zum Büro, das Draußensein,             Orten entlanggehen, wo mangels Schatten die Hitze steht.
     das Sehen und Gesehen werden oder beobachten und               Die Städte müssen in den kommenden Jahren viel mehr
     teilhaben können, ohne dass ich mich aktiv einbringen          ins Grün-Budget investieren. Selbstverständlich kann das
     oder mit jemandem reden muss, sind elementare Quali-           auch durch Begrünung von Gebäuden passieren. Doch im
     täten öffentlicher Räume.                                                                     Wesentlichen geht es um
     Dazu noch zwei Bemer-                                                                         die Orte, die Menschen
     kungen: Einerseits gibt                                                                       nutzen können. Es geht
     es die Modeerscheinung          Nach meiner Meinung sind wir                                  nicht nur darum den einen
     steinerner Plätze, die keine     nicht mehr auf der Ebene der                                 großen Park, sondern
     kostspielige und aufwändi-                                                                    ­Pocket-Parks in die Quar-
     ge Pflege nach sich ziehen,      Bedürfnisse, sondern der Not-                                tiere zu bringen, also durch
     und andererseits rangieren       wendigkeit angekommen. Der                                   viele kleine Orte das Grün
     die Grünflächenämter                                                                          auf struktureller Ebene
10   in der Hierarchie immer          Klimawandel veranlasst uns,                                  in die Stadt einzuweben.
     hinter dem Tief- und             Stadt anders zu denken. Zur                                  Selbstverständlich gehört
     Hochbau und leiden unter                                                                      das Thema auch in die In-
     dieser untergeordneten          Klimaanpassung müssen wir sie                                 nenstädte, wo das Zusam-
     Rolle. Wenn einem ganzen         tatsächlich massiv begrünen.                                 menspiel von Grün und
     Berufszweig nicht die ange-                                                                   Stein neu zu verhandeln
                                                         Constanze A. Petrow
     messene Bedeutung zuge-                                                                       ist. Ohne neues Geld und
     sprochen wird, dann fehlen                                                                    nachhaltige Investitionen
     hier auch die kreativen und                                                                   wird das nicht gelingen.
     fähigen Köpfe, die für ihre
     Aufgaben brennen. Da gibt es also Wechselwirkungen             KALTENBRUNNER:    Noch pathetischer könnte man sagen:
     zwischen dem Anspruch an die Gestaltung und der mög-           Man könnte die Dialektik von Stadt und Land neu defi-
     lichen Umsetzung. Eine Stadtverwaltung muss sich als           nieren. Ich weiß nicht, ob es neues Geld braucht, sondern
     Anwalt des Gemeinwohls sehen: Es geht darum, inner-            vielleicht eine Umschichtung vorhandener Gelder. Bei
     halb der Stadt vielerlei Räume zur Verfügung zu stellen.       der Frage der Klimaanpassung ist das Grün unverzicht-
     Wie ein öffentlicher Raum genutzt wird, ist eng damit          bar. Doch ich sehe es als Bestandteil jedweder Form
     verknüpft, wie er empfunden wird. Um Orte für die              von Stadtentwicklung. Fassadenbegrünung mag da eher
     Öffentlichkeit attraktiv zu machen, braucht es mehr als        ein Modehype sein, der in subtropischen Städten wie
     eine formal-ästhetische Planung, denn auf zugigen oder         Singapur seine Berechtigung hat. In anderen Klimazonen,
     kunstvoll drapierten Plätzen wird das kaum passieren.          wie hier in Deutschland erscheint es mir eher fragwürdig,
                                                                    da die baukonstruktiven Voraussetzungen und auch die
     PFEIFER:   Das Deutsche Architekturmuseum zeigt                Pflegeintensität viel höher sind. Doch das Wichtige sind
     aktuell eine Ausstellung über das städtische Grün.             geschützte Plätze und Mikro-Pocket-Parks im Umfeld
     Es geht um vertikale Gärten, Fassadenbegrünung,                der Wohnungen. Angesichts der Klimawende ist es eine
     grüne Dachterrassen und mehr. Die Stadt soll grün              Frage der Notwendigkeit innerstädtisches bzw. urbanes
     werden. Hilft dieser Ansatz, das Klima in unseren              Wohnen attraktiv zu gestalten, um den urban sprawl –
     Städten zu verbessern?                                         die Zersiedelung unserer Landschaften – aufzuhalten!
I N N OVATI ON U N D G EM EI N SI N N I M WOH N U N G SB AU

PFEIFER:   Herr Kaltenbrunner, in Ihrem Buch beziehen        land, als Autobauer-Nation, ist die Frage der Mobilität
Sie sich auf den dänischen Architekten und Stadt­            mit irrationalen Gefühlen verbunden, wie schon die
planer Jan Gehl, der konkrete Vorschläge für das             Diskussion um ein Tempolimit auf den Autobahnen zeigt.
Zusammenleben der Generationen entwickelt hat.               Aber ich denke auch, man muss über die gerechte Nutzung
Wie kann das im Quartier gelingen?                           der Stadträume reden. Selbst in Städten wie Kopenhagen,
                                                             wo es einen starken Fahrradverkehr gibt, sind die überwie-
KALTENBRUNNER:      Jan Gehl ist ein wichtiger Protagonist   genden Flächenanteile dem Auto vorbehalten. Und dann
– etwas mehr Consultant als Planer, doch als solcher         muss man sehen, dass die parkenden Autos das ganz große
extrem wichtig. Seinen Ansatz, den er mit dem Motto          Problem sind, mehr noch als der fließende Verkehr. Sie
»Leben zwischen Häusern« umschreibt, mit großzü-             verbrauchen städtische Flächen, die für Wohnen, Grün und
gigen Gehwegen und einer Orientierung am Fahrrad,            andere Nutzungen zur Verfügung stehen müssten. Insofern
verdient unbedingt Unterstützung. Es gibt kein Gesetz,       bin ich sehr dankbar für die Pop-up-Fahrradwege, die in ­
dass Eingänge oder Treppenhäuser reine Funktions­räume       der Pandemiezeit geschaffen wurden, weil auf ihnen
sein müssen, in denen                                                                                 mittlerweile so viele
sich niemand begeg-                                                                                   Fahrradfahrer unter-
nen möchte. Gleiches                                                                                  wegs sind, dass man
gilt für den potenziell                                                                               zu bestimmten Zeiten
öffentlichen Raum –                                                                                   als Zwanzigster an
sei es der erweiterte                                                                                 der Ampel steht und
Bürgersteig bzw. Vor-                                                                                 erst in der nächsten
garten, der Innenhof                                                                                  Grün­phase über die
oder die Abstands-                                                                                    Kreuzung kommt.
flächen zwischen den                                                                                  Ich glaube auch, dass
Gebäuden – der nicht                                                                                  die Mobilitätsfrage                11
exklusiv den Bewoh-                                                                                   entscheidend ist, aber
nern vorbehalten sein                                                                                 auch die gerechte
muss. Die von Jan                                                                                     Verteilung der Räume.
Gehl geprägte Formel                                                                                  Doch welche Räume
»8/80« steht symbo-                                                                                   und Wege sind damit
lisch für eine Planung,                                                                               gemeint? Das Mobili-
die sich gleichermaßen                                                                                tätsbedürfnis der Klein-
an jungen und alten                                                                                   familie, wo der Mann
Menschen, eben von acht bis 80 Jahren, ausrichtet.           der Ernährer der Familie und der berufliche Pendelverkehr
                                                             vom Haus zur Arbeit entscheidend war, ist überholt. Heu-
PETROW:    Eigentlich haben wir das wirklich entscheidende   te gilt es, das feinmaschige Netz von Wegen innerhalb der
Thema noch gar nicht angepackt, nämlich die Mobili-          Stadt so zu nutzen, dass alle Menschen – zu Fuß, mit dem
tätswende. Wenn wir generationsübergreifendes Wohnen         Fahrrad und dem Auto – sicher, bequem und effizient von
im Quartier wollen, dann geht es um eine Verteilungs­        A nach B kommen.
gerechtigkeit von Räumen. Und darum, dass alte Men-
schen mit einer ganz anderen Geschwindigkeit genauso         PETROW:   Wir waren vorhin bei der Privatisierung des
sicher im Quartier leben wie junge Menschen und nicht        öffentlichen Raumes. Christa Müller, die Frontfrau des
permanent um Autos herum laufen müssen. Diese Do-            Urban Gardenings in Deutschland, hat mal gesagt: Sein
minanz des Autos muss aufhören und der Straßenraum           Auto im öffentlichen Raum abzustellen, das ist Privati-
allen zur Verfügung gestellt werden. Man sollte also         sierung des öffentlichen Raums. Diese Aussage würde in
intelligent prüfen, wo Räume für welche Geschwindig-         der breiten Bevölkerung auf Unverständnis stoßen, doch
keiten entstehen.                                            genauso ist es. Insofern bin ich froh, dass Mobilitätswende
                                                             und Klimawandel jetzt hier ankommen, sodass wir in eine
KALTENBRUNNER:      Ich stimme Ihnen völlig zu. Wenn man     neue Phase der Stadtentwicklung eintreten, ohne die Stadt
einen Hebel für eine veränderte Stadtwirklichkeit sucht,     neu zu bauen, sondern indem wir die bestehende Stadt um-
liegt er in der Mobilitätsfrage. Aber gerade in Deutsch-     bauen und umdeuten.
INNOVATIO N UND GE ME INS INN IM WOHNU NGS BAU

                   PFEIFER:   Die Pariser Bürgermeisterin Anne             auf die Spitze und sind Vorreiter in Deutschland.
                   Hidalgo geht bei der Verkehrswende voran:               Ein deutsches Kopenhagen. Die Rezepte sind
                   Jedes Jahr sollen zwei Prozent der Stellplätze          ja alle da. Wenn also eine Stadt, im Sinne des
                   in der Stadt wegfallen. Wie sehen Sie diese             Gemeinwesens, Gesundheit und Lebensqualität
                   Initiative, was sind erfolgsversprechende Maß­          an erste Stelle rückt und alle politischen, wirt-
                   nahmen der Politik?                                     schaftlichen und sozialen Entscheidungen danach
                                                                           ausrichtet. Frankfurt könnte das, anders als Berlin,
                   PETROW:    Wir wissen ja eigentlich alle, dass das      seiner Größe nach sein.
                   Anwohnerparken viel zu billig ist. Berlin ist sogar
                   Spitzenreiter mit 30 Euro. Dafür kann man ein           PFEIFER:   Zum Abschluss unseres Gesprächs
                   ganzes Jahr in seiner Nachbarschaft parken. Es          habe ich noch zwei Fragen. Erstens: Was bleibt
                   gibt Berechnungen, wie teuer es ist, einen Park-        von Corona und wie verändert die Pandemie
                   platz im öffentlichen Raum zu finanzieren. Das          in Zukunft unsere Stadtentwicklung? Zweitens:
                   macht die öffentliche Hand. Die wichtigste Stell-       Stellen Sie sich vor, wir schreiben das Jahr
                   schraube sollte also sein, das erst mal unattraktiver   2035 – Wie sieht das gelungene Stadtquartier
                   zu machen, die Kosten neu zu verteilen und das          aus?
                   Geld von den Verursachern zu holen.
                                                                           PETROW:    Ich würde behaupten, erst durch die Pan-
                   KALTENBRUNNER:     Ich glaube, man muss einfach         demie haben viele Leute verstanden, was das Woh-
                   mal Ross und Reiter benennen. Kostenlose Park-          nen in einem Quartier wirklich bedeutet. Natürlich
                   plätze im öffentlichen Raum sind eine Art der           gibt es große Unterschiede zwischen denen, die
                   Subvention. Aber es ist natürlich schwierig, eine       ein Auto oder ein Fahrrad haben. Dann gibt es die
                   Subvention, die gefühlt immer schon gewährt             Alten, die überhaupt nicht mehr rauskommen. Die
                   ­wurde, auf einmal wegzunehmen. Deswegen habe           Wahrnehmung, ob das eigene Quartier Lebens-
12
                   ich viel Sympathie für den Pariser Ansatz, die Stell-   qualität hat oder nur der Ort ist, wo ich ständig
                   flächen pro Jahr um zwei Prozent zu reduzieren.         rein- und rausfahre, weil ich immer nur auf Achse
                   Die Politik wäre aber gut beraten, dafür dann etwas     bin, aber hier kaum lebe, hat sich geschärft. Es
                   anzubieten, was in der kollektiven Wahrnehmung          hat zudem bewirkt, dass die Mobilität in der Stadt
                   als etwas Besseres gilt. Das würde die Akzeptanz        anders bewertet wird – Stichwort Pop-up-Rad-
                   fördern.                                                wege – wie auch generell die Qualität und Erreich-
                                                                           barkeit von Grün- und Freiräumen. Wir sollten
                   PETROW:    Ich warte eigentlich immer darauf, dass      die Herausforderungen der Pandemie als Chance
                   eine deutsche Stadt mal sagt: Wir treiben es jetzt      begreifen und noch mehr daraus machen!
I N N OVATI ON U N D G EM EI N SI N N I M WOH N U N G SB AU

KALTENBRUNNER:    Ich glaube mit den Lockdowns                   und für die Stadtverwaltung. Ich habe allerdings
hat die Stadtgesellschaft gelernt, wie wichtig                   keine Vorliebe für die suggestiven Bilder, die mit
der Freiraum ist, der öffentliche Raum und das                   einer Superschnellbahn, Hochhäusern und viel
Grün. Als Komplementär zur Wohnung, die unter                    Stadtgrün eine idealisierte Zukunft zeichnen. Das
Homeoffice-Bedingungen, Kindererziehung und                      empfinde ich als naiv-schönmalerische Vorstellung
Alltagsbewältigung an die Grenzen gekommen                       des Urbanen. Ich denke eher, dass die Stadt auch
ist. Das ist lehrreich. Ich glaube nicht, dass alle              in zwanzig, dreißig Jahren ähnlich aussehen wird
unsere Bestrebungen zur Stadtentwicklung, die in                 wie heute und sich die Lebensumstände nicht
den letzten Jahren entwickelt wurden, jetzt obsolet              großartig ändern werden. Viele der technischen
sind. Es wird auch ein retardierendes Element in                 Voraussetzungen, auch bei der Digitalisierung,
der Stadtgesellschaft geben und Begegnungen wer-                 sind im räumlichen Sinne eher unsichtbar und ver-
den – sobald das unter hygienischen oder sonstigen               ändern die Urbanität nicht von Grund auf. Nach
Gegebenheiten möglich ist – wieder aufleben. Ich                 wie vor glaube ich, dass unsere wichtigste Aufgabe
glaube auch, dass die Städte bei uns einfach besser              ein guter Umgang mit dem Bestand ist. Das knüpft
dastehen als in anderen Weltregionen. Weil wir                   an den Einstieg unseres Gesprächs an, dass Neu-
doch viele gute Ansätze haben. Aber auffällig ist                bauviertel viel überzeugender werden, wenn sie
– und das baut eine Brücke zum Zukunftsthema –                   angebunden sind an ältere, bereits funktionierende
dass die Digitalisierung eine wahnsinnige Verän-                 Strukturen – wir also im Sinne der Fortschreibung
derung der Gesellschaft in sich birgt. Man sollte                der Geschichte anbauen, weiterbauen und weiter-
aufpassen, dass die Weichen richtig gestellt werden.             entwickeln. Statt Tabula rasa braucht es meiner
Ich glaube, dass viele der Tools entscheidend sein               Meinung nach »Authentizitätsanker«, denn das
können: im partizipativen Sinne, für die Verkehrs-               freie Feld ist nicht immer die beste Voraussetzung,
lenkung, als Hilfsmittel für die Stadtentwicklung                um alles richtig und gut zu machen.

                                                                                                                                                         13

                               Dr. Constanze A. Petrow
                               ist Landschaftsarchitektin, Professorin für Freiraumplanung und Gesellschaft
                               sowie Co-Leiterin des Studienbereichs »Landschaftsarchitektur« der Hoch-
                               schule Geisenheim. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bauhaus-
                               Universität Weimar und der TU Darmstadt sowie Gastdozentin an der Virginia
                               Tech in Alexandria/Washington D.C.
                               Sie forscht und publiziert zu den soziokulturellen Dimensionen der Land-
                               schaftsarchitektur, der sozialen Leistungsfähigkeit städtischer Freiräume, den
                               Anforderungen an die Freiraumentwicklung vor dem Hintergrund des gesell-
                               schaftlichen Wandels sowie zum Thema Freiraumgestaltung und kollektive
                               Erinnerung. Sie ist Mitglied im Städtebaubeirat der Stadt Frankfurt am Main
                               und im Beirat für Stadtgestaltung der Stadt Marburg.

                                         Dr. Robert Kaltenbrunner
                  ist gelernter Architekt und Stadtplaner und war von 1990 bis 1999 bei der
                       Senatsverwaltung für Bauen, Wohnen und Verkehr in Berlin als Projekt-
                 gruppenleiter für städtebauliche Großvorhaben tätig. Seit 2000 leitet er die
               Abteilung »Bau- und Wohnungswesen« im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und
                Raumforschung (BBSR in Bonn und Berlin), die an der Schnittstelle zwischen
                Politik, Forschung und Praxis agiert. Er ist u.a. Mitherausgeber der Zeitschrift
                  »Informationen zur Raumentwicklung« und Mitglied im Wissenschaftlichen
              Kuratorium von »Forum Stadt« der Stadt Esslingen und hat zahlreiche Beiträge
                                     zu verschiedenen urbanistischen Themen veröffentlicht.
INNOVATIO N UND GE ME INS INN IM WOHNU NGS BAU

                   VERNETZUNG UND
                   NACHBARSCHAFTEN
                   VON BEGINN AN
                   »Konsortiale Quartiersentwicklung«
                   am Beispiel des Prinz Eugen Parks in München

14
I N N OVATI ON U N D G EM EI N SI N N I M WOH N U N G SB AU

Quartier

Die ehemalige Prinz-Eugen-Kaserne in Mün-        Der Siegerentwurf sah deshalb vor, kompakte
chens 13. Stadtbezirk Bogenhausen wurde          Baufeldcluster mit unterschiedlichen Gebäude-
von der Landeshauptstadt München 2005            typologien – von der Teppichsiedlung bis zum
erworben. Auf dem 30 Hektar großen Gelände       7-geschossigen Turmhaus – mitten ins Grün zu
entsteht seit 2017 ein neues Stadtquartier mit   setzen.
etwa 1.800 Wohnungen für ca. 4.500 Bewoh-
ner*innen und der dazugehörigen sozialen         Fünf Baufelder mit 570 Wohneinheiten wurden
Infrastruktur mit Grundschule und Kinderta-      als ökologische Mustersiedlung in Holzbau-
geseinrichtungen sowie Dienstleistungsein-       weise errichtet, derzeit Deutschlands größte
richtungen. Die Baumaßnahmen mit Park-           Holzbausiedlung.
gestaltung werden voraussichtlich Ende 2021
abgeschlossen sein.                              Gemäß des wohnungspolitischen Handlungs­
                                                 programms »Wohnen in München VI« wurden
Als Grundlage der Planung diente der             die Grundstücke nach der »Münchner Mi-
erste Preis des städtebaulichen und land-        schung« an städtische Wohnungsbaugesell-
schaftsplanerischen Ideenwettbewerbes, den       schaften (35 %), private Investoren (9 %) und
GSP Architekten aus München mit Rainer           bestandhaltende Wohnungsunternehmen
Schmidt Landschaftsarchitekten, ebenfalls aus    (12 %) sowie Baugemeinschaften (14 %) und
München, für sich entschieden. Auf dem unge-     Genossenschaften (23 %) vergeben. Sie er-
nutzten Gelände hatte sich bereits ein Biotop    stellen einen Mix aus Eigentums- (23 %) und
entwickelt mit großem alten Baumbestand.         Mietwohnungen (77 %), davon 50 % gefördert.

                                                                                                                                  15
INNOVATIO N UND GE ME INS INN IM WOHNU NGS BAU

     Akteure

     Landeshauptstadt München

     Im Sinne des Stadtentwicklungskonzeptes          beispielsweise die Grundstücke nicht zum
     »Perspektive München«, mit seinen Leitlinien     Höchstpreis, sondern in Rahmen einer Kon-
     zur wirtschaftlichen, sozialen, räumlichen und   zeptvergabe, in der sie von den Bauherren in
     ökologischen Entwicklung der Stadt, sind im      ihren Bewerbungen unter anderem Angebote
     Prinz Eugen Park neue und innovative Ansätze     an das Quartier und Mobilitätsbausteine ver-
     im Siedlungs- und Wohnungsbau umgesetzt          langte. Diese einzelnen Bausteine konnten in
     worden. Diese betreffen nicht nur bauliche       der Folge durch das Konsortium der Bauherren
     und planerische, sondern insbesondere auch       abgestimmt und zu schlüssigen Quartierskon-
     soziale Zielsetzungen mit Schwerpunkt Nach-      zepten weiterentwickelt werden. Durch die
     barschaftsbildung.                               Vergabe von 40 % der Grundstücke an Wohn-
                                                      projekte – selbstorganisierte Baugemeinschaf-
     Die Stadt München hat durch planerische          ten und Genossenschaftsprojekte, die von den
     Voraussetzungen, definierte Rahmenbedingun-      späteren Bewohner*innen mitgeplant und ent-
     gen und Anreize Grundlagen geschaffen, die       wickelt werden – konnten knapp die Hälfte der
     es den Bauherren ermöglichten, Zielsetzungen     späteren Quartiersbewohner*innen frühzeitig
     mitzutragen und umzusetzen. So vergab sie        miteingebunden und beteiligt werden.

16

           Information,
          Vernetzung und
          Austausch sind
          die Grundlage
         für Engagement.
                        Natalie Schaller
I N N OVATI ON U N D G EM EI N SI N N I M WOH N U N G SB AU

Bauherren

Alle 21 Bauherren des Quartiers haben sich
auf freiwilliger Basis zusammengeschlossen.
Das Konsortium der Bauherren fungiert in der
Realisierungsphase als Bindeglied zwischen
den Zielsetzungen der Stadtplanung und den
Wünschen und Anforderungen der späteren
Bewohner*innen.

Ihre Zielsetzungen zur Entwicklung eines
lebendigen, lebenswerten Quartiers haben sie
in einer »Charta der Quartiersvernetzung« zu-
sammengefasst, hier ein Auszug:
                                                    einem der Arbeitskreise, bei der Quartierszei-
    Bedarfsgerechte Quartierskonzepte               tung »Prinzenpost« oder bei der Organisation
Abgestimmte Konzepte, beispielsweise für            und Durchführung von Stadtteilfesten. Sie
Raumnutzung und Mobilität durch Austausch           bieten Kurse oder nachbarschaftliche Aktivitä-
der Bauherren mit Politik und Verwaltung sowie      ten in einem der Gemeinschaftsräume an oder
frühzeitige Beteiligung der zukünftigen             engagieren sich als Mitglieder der Quartiers-
Bewohner*innen.                                     genossenschaft oder im Quartiersrat.

    Raum für Gemeinschaft
Herstellung von Räumlichkeiten für eine             Nachbarschaft mitgestalten
­kleinteilige soziale, kulturelle und kommerzi­
                                                                                                                                     17
elle Infrastruktur, die den zukünftigen Bewoh­      Information
ner*innen und weiteren Interessierten zur
Nutzung offensteht.                                 Die Grundlage für Beteiligung bildet Infor-
                                                    mation. Zunächst wurde eine Website www.
    Nachbarschaft mitgestalten                      prinzeugenpark.de und ein Newsletter einge-
Frühzeitiges Kennenlernen und Vernetzen             richtet, welche alle notwendigen Informationen
der neuen Nachbar*innen sowie Förderung             für die (zukünftige) Bewohnerschaft bündeln.
der Eigeninitiative und Selbstorganisation der      Das schwarze Brett des Quartiers bildet die
Bewohner*innen bis hin zur Unterstützung des        Plattform www.nebenan.de, die für den Prinz
Aufbaus einer Quartiersorganisation.                Eugen Park bereits vor Bezug genutzt werden
                                                    konnte.
Die Arbeit des Konsortiums, das für die Inte-
ressen der neuen Quartiersbewohner*innen
eintritt und diese frühzeitig miteinbezog, hatte    Mitmachen
schließlich einen entscheidenden Anteil daran,
dass diese gemeinsamen Ziele auf privater           Vernetzung und Austausch sind wiederum die
Ebene umgesetzt und realisiert werden konnten.      Grundlage für Engagement. Bereits ein Jahr
                                                    vor Bezug der ersten Häuser wurde das erste
                                                    Vernetzungstreffen organisiert, Umfragen
Bewohner*innen                                      erstellt, Arbeitsgruppen initiiert, Ideen und
                                                    Anregungen aufgenommen und zum Enga-
Letzen Endes sind es jedoch die Bewohner*in-        gement motiviert. Für später hinzukommende
nen selbst, die das Quartiersleben prägen und       Bewohner*innen wurden Willkommensflyer
die Chance genutzt haben, ihr Quartier und          gestaltet, die über die Besonderheiten und
ihre Nachbarschaft mitzugestalten. Viele enga-      Mitgestaltungsmöglichkeiten informieren so-
gieren sich für das Quartiersleben und bringen      wie zu regelmäßigen Informationsterminen für
sich in vielfältiger Weise ein, beispielsweise in   Neubewohner*innen einladen.
INNOVATIO N UND GE ME INS INN IM WOHNU NGS BAU

                   Selbstorganisation                                 Quartierszentrale finden sich die Büro- und
                                                                      Serviceräume der GeQo eG, ein Bewohner*in-
                   Als wesentliches Element der Selbstorgani-         nencafé sowie die Mobilitätszentrale des
                   sation wurde ein Quartiersrat eingerichtet. Er     Quartiers.
                   besteht aus gewählten Bewohner*innen aus
                   jedem Bauprojekt sowie aus Vertreter*innen
                   der Arbeitskreise und der Quartiersgenossen-       Raum für Gemeinschaft
                   schaft GeQo eG. Er versteht sich als Infor-
                   mationsschnittstelle, Meinungsplattform und        Über das Quartier verteilt gibt es bzw. wird
                   bietet den Bewohnenden die Möglichkeit, sich       es eine Vielzahl von Gemeinschaftsräumen
                   über ihre Ideen und Anliegen auszutauschen.        geben, die teilweise den Hausgemeinschaften,
                   Er vertritt die Interessen und Positionen der      zum Großteil jedoch für das ganze Quartier
                   Bewohnerschaft des gesamten Quartiers auch         und die Nachbarschaft zur Verfügung stehen.
                   nach außen.                                        Sie können über die Website für private Feiern,
                                                                      Kindergeburtstage, für Kurse, Seminare und
                                                                      Veranstaltungen und vor allem für nachbar-
                   Quartierszentrale und                              schaftliche Aktivitäten gebucht werden. Es gibt
                   -genossenschaft                                    unterschiedlich große Räume für verschiedene
                                                                      Zwecke – von der Nachbarschaftsküche, dem
                   Die Arbeit des Konsortiums war von Beginn an       Musikübungsraum bis hin zur Kreativwerk-
                   ausgelegt auf die langfristige Einrichtung eines   statt. Zudem werden Coworking Spaces und
                   Quartiersmanagements, welches idealerweise         Gästeapartments angeboten. Die unterschied-
                   durch die Bewohner*innen des Quartiers selbst      lichen Größen und Nutzungsmöglichkeiten der
                   getragen wird. Aus dem Arbeitskreis Quartiers-     Räume wurden im Vorfeld durch die Bauherren
                   organisation heraus wurde die Quartiersge-         abgestimmt. Hierbei wurden Wünsche und
18
                   nossenschaft GeQo eG gegründet, die heute          Anregungen der Bewohner*innen aufgenom-
                   das Management übernommen hat. Sie ist             men. Eine in die Website integrierte Buchungs-
                   die erste Anlaufstelle für alle Bewohner*innen     plattform und ein gemeinsames elektronisches
                   im Quartier. Die Genossenschaft pflegt die         Schließsystem erleichtern die Raumverwaltung
                   Website www.prinzeugenpark.de, vermittelt          und Zugänglichkeit.
                   Dienstleistungen und bietet Verleihgegen-
                   stände, verwaltet die Gemeinschaftsräume und
                   Kursangebote im Quartier, fördert die Vernet-      Mobilitätskonzept
                   zung und den Austausch der Nachbar*innen,
                   veranstaltet Feste und nachbarschaftliche          Aus den vielen einzelnen Mobilitätsbausteinen,
                   Aktivitäten, betreibt das Nachbarschaftscafé       welche die Bauherren in ihrer Grundstücksbe-
                   und die Mobilitätszentrale.                        werbung angeboten hatten, wurde in Abstim-
                                                                      mung mit der Stadt ein stimmiges Gesamtkon-
                   Die Finanzierung des Quartiersmanagements          zept entwickelt und umgesetzt. Wesentliches
                   ist ein Beispiel für die konsortiale Zusammen-     Ziel des Konzeptes ist eine Verbesserung der
                   arbeit. Es wird getragen durch einen Zuschuss      Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum mit
                   der Stadt für bewohnerbezogene Quartiers-          Vorrang für Fußgänger und Zweiräder. Die
                   arbeit, eine freiwillige monatliche Verwaltungs-   effiziente und flexible Nutzung des Parkrau-
                   pauschale der Eigentümer und die Genossen-         mes in den Tiefgaragen macht Stellplätze im
                   schaftsbeiträge der Bewohner*innen.                Straßenraum entbehrlich. Durch kurze Wege
                                                                      im Quartier, eine gute Nahversorgung und Er-
                   Im Herbst 2020 wurde die Quartierszentrale         reichbarkeit von Kinderbetreuungs- und Kultur­
                   eröffnet, das Herzstück des Quartiers. Sie ist     einrichtungen fällt es leicht, auf den eigenen
                   zentraler Anlauf- und Servicepunkt für die         PKW zu verzichten, insbesondere dann, wenn
                   vielfältigen Belange der Wohnbevölkerung.          gut verfügbare Carsharing- und attraktive
                   Zugleich soll sie ein Ort der niederschwelligen    Alternativangebote zur Verfügung stehen. Im
                   Begegnung und Vernetzung werden. In der            Prinz Eugen Park wird langfristig eine breite
I N N OVATI ON U N D G EM EI N SI N N I M WOH N U N G SB AU

Palette an Mobilitätsmitteln angeboten, wie                 zum Ziel gesetzt hatten, ist noch nicht zu 100 %
E-Bikes und Lastenräder, Fahrradanhänger und                abgeschlossen oder befindet sich in einer
Carsharing-PKWs. Ergänzt wird das Angebot                   Pilotphase. In vielen Fällen wurde Neuland
durch eine Fahrradwerkstatt, die sich auch um               betreten, insbesondere was Koordination und
die Wartung der Leihräder kümmert. Die Quar-                Abstimmung anbelangt, wie auch technische
tiersgenossenschaft kümmert sich langfristig                Umsetzung und rechtliche Regelungen.
um die Aufrechterhaltung des Mobilitätsange-
                                                                                                                                                19
bots im Quartier.                                           Eine Quartiersentwicklung ist ein langer Pro-
                                                            zess – von der ersten Idee bis zur Belebung
                                                            durch die Bewohner*innen. Es ist nicht selbst-
Konsortiale Entwicklung                                     verständlich, dass Zielsetzungen, die in der
                                                            Phase der städtebaulichen Planung getroffen
Die stattbau münchen GmbH wurde vom Kon-                    wurden, in der baulichen Umsetzung durch die
sortium der Bauherren mit der Koordination                  verschiedenen Bauherren weitergetragen und
und Umsetzung der gemeinsamen Zielsetzun-                   umgesetzt wie auch in der Wohnphase durch
gen beauftragt.                                             Bewohner*innen anerkannt und wertgeschätzt
                                                            werden.
Der Auftrag endete im Juli 2020. Die Quar-
tiersgenossenschaft GeQo eG führt nun die                   Im Prinz Eugen Park ist dies in einem konsortia-
Quartierentwicklung auf der Ebene der Bewoh-                len Prozess in besonderer Weise gelungen.
ner*innen fort. Einiges, was sich die Bauherren

            Natalie Schaller
            Studium der Architektur an der TU München. Seit 2014 geschäftsfüh­
            rende Gesellschafterin der stattbau münchen GmbH, die im Auftrag
            der Stadt München die »mitbauzentrale münchen« – Beratungsstelle
            für gemeinschaftsorientiertes Wohnen – betreibt. Für das Konsortium
            Prinz Eugen Park koordinierte die stattbau die Quartiersentwicklung
            des neuen Stadtviertels. Schwerpunktmäßige Themenfelder sind
            gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung, Wohnprojekte, Mobilitäts­
            konzepte und Nachbarschaftsentwicklung in Quartieren.
INNOVATIO N UND GE ME INS INN IM WOHNU NGS BAU

     NACHBARSCHAFTSHILFE
     WEITER ENTWICKELT –
     DIE »SORGENDE GEMEINSCHAFT«
     IM LÄNDLICHEN GILLENFELD
     »Wohnen und Leben im Florinshof«

     Gillenfeld ist eine Gemeinde mit rund 1.500 Einwoh-       gliedern möglichst lange das Wohnen in vertrauter
     nern im Landkreis Vulkaneifel in Rheinland-Pfalz. Der     Umgebung zu ermöglichen und das Miteinander zu
     Anteil älterer Menschen steigt dort wie vielerorts seit   stärken. Genossenschaften sind per se nicht rendite-
     Jahren, auch stehen immer mehr Gebäude im Ort             orientiert, Überschüsse kommen wieder der Gemein-
     leer und die Versorgung der Bevölkerung verschlech-       schaft zugute, es besteht lebenslanges Wohnrecht.
     tert sich. Im Jahr 2009 wurde eine Befragung der          Ideell geht es auch um Eigenverantwortung und die
     Bürger*innen durchgeführt, in der viele Menschen          gegenseitige Unterstützung der Mitglieder der Ge-
     den Wunsch äußerten, im Ort auch alt werden zu            nossenschaft und der Bürger*innen in Gillenfeld.
20
     können. Allerdings seien sie dann zunehmend auf
     Hilfe und pflegerische Unterstützung angewiesen.          Unmittelbar im Ortskern wurden schließlich die bei-
                                                               den Gebäude des »Florinshofs« auf einer ehemaligen
     Parallel verfolgt die Gemeinde seit einigen Jahren        Brachfläche errichtet. Benachbart liegt das kleine
     eine Strategie der Innenentwicklung und rief dazu         Backhaus aus Naturstein, das in die Gestaltung eines
     eine eigene Arbeitsgruppe ins Leben. Aus dieser           kleinen öffentlichen Platzes, der als Treffpunkt dient,
     Arbeitsgruppe heraus, die aus Teilen des Gemein-          integriert wurde. Rückwärtig geht der Blick auf die alte
     derats besteht, wurde 2014 die »Genossenschaft            Feuerwache und eine Minigolfanlage. Bäckerei, Metz-
     am Pulvermaar – Eine sorgende Gemeinschaft eG«            gerei, Supermarkt, Friseur, Arzt, Zahnarzt und Apothe-
     gegründet. Ziel der Genossenschaft ist es, ihren Mit-     ke sind in wenigen Minuten fußläufig erreichbar.

                                                               Das Gebäudeensemble geht auf einen Landeswett-
                                                               bewerb im Jahr 2014 in der Reihe »Mehr Mitte bitte«
                                                               zurück, die das Ziel verfolgt, innerörtliche Wohn- und
                                                               Lebensräume zu erhalten bzw. wiederherzustellen
                                                               und gleichzeitig das attraktive Ortsbild, welches zu
                                                               einem guten Lebensumfeld für die Menschen bei-
                                                               trägt, zu bewahren.

                                                               Der Siegerentwurf sah insgesamt zwölf barrierefreie
                                                               1- und 2-Zimmerwohnungen und eine 3-Zimmer-
                                                               wohnung zwischen 50 qm und 85 qm sowie einen
                                                               Gemeinschaftsraum vor. Die Wohnungen haben ge-
                                                               schützte Loggien, die vom Nachbargebäude abge-
                                                               wandt angeordnet wurden. Die Erschließungsflächen
                                                               im Gebäude konnten gering gehalten werden, so
                                                               dass anteilig großzügigere Wohnflächen entstan-
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