Ich will fahren, wann ich will - alle 5 Minuten durch die City - Kreuzer Leipzig

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Ich will fahren, wann ich will - alle 5 Minuten durch die City - Kreuzer Leipzig
Ich will fahren,
alle 5 Minuten durch die City
                                       wann ich will
                                                       © Person: shutterstock.com/De Repente, Hintergrund: istock.com/querbeet
Ich will fahren, wann ich will - alle 5 Minuten durch die City - Kreuzer Leipzig
EDITORIAL

Es ist gar nicht so einfach, so eine Ge-        derem einigen Zufällen, dem Wirken seiner
schichte aufzuschreiben wie die in diesem       Eltern, einer ebenso kampflustigen wie er-
Heft über den Chef des Stasi-Museums            folgreichen Verteidigung des Status quo –
Tobias Hollitzer. Denn wenngleich der           und einer zerknirscht-machtlosen Duldung
Schaden groß ist, den eine machtvolle Per-      durch Stadt, Ämter und Behörden, die sein
son an der falschen Stelle anrichten kann,      Museum mit immerhin knapp 500.000
so erschöpft sich vieles, was es dazu zu        Euro im Jahr finanzieren. Doch 30 Jahre
sagen gibt, in Singularitäten, mittelschwe-     nach dieser Ausnahmesituation ist es Zeit,
ren Vergehen, bizarren Episoden, kindi-         die Erinnerungsarbeit zu Stasi und Dik-
schen Unglaublichkeiten. Noch schwerer          tatur in Leipzig auf zeitgemäße und soli-
wird es, wenn solch eine Person sich je-        de Füße zu stellen. Aber damit bedeuten-
dem Dialog verschließt, keine Einblicke         de Dinge besser gemacht werden können,
gewährt, keine Stellung bezieht – und sich      müssen Missstände erst mal angesprochen
in einer nicht öffentlichen, wenngleich von     werden – und das tun Britt Schlehahn und
der Öffentlichkeit finanzierten, Struktur       Tobias Prüwer in ihrem Dossier zum The-
versteckt, für die es keine externe demo-       ma ab Seite 14.
kratische Kontrolle gibt. Dies alles ist bei
Tobias Hollitzer und dem Trägerverein des       Weiter geht es im Anschluss mit einem
Stasi-Museums in der Runden Ecke, dem           Interview des einzigen Transmanns im
Bürgerkomitee Leipzig, der Fall. Und doch       Deutschrap, des Leipziger Künstlers Sir
ist die Bedeutung ebenjener Institution für     Mantis. Im großen Interview von Juliane
die Stadt Leipzig so groß, dass selbst ein-     Streich und Kay Schier auf Seite 28 er-
deutige Regelverstöße von der Verwaltung        fährt man viel über Battlerap, Transgen-
toleriert werden – und niemand öffentlich       der, Bürgertum, Cis-Personen und wie das
Kritik äußern möchte.                           alles zusammenhängt. Ja, und wer schon
                                                immer mal wissen wollte, wie das so ist
Der Beginn solch einer Karriere wie die         als Cannabis-Produzent, der sollte mal
des Tobias Hollitzer lag in einer revolu-       auf den Spielseiten vorbeischauen (S. 44).
tionären Zeit, einer absoluten Ausnahme-        Oder gleich zum Literaturressort blättern,
situation, in der die alten Eliten komplett     wo ein kleiner Verlag vorgestellt wird, der
weggefegt wurden. Plötzlich war in einem        jedem Manuskript eine Chance gibt und so
ganzen Land sehr viel Platz, Raum für           vielleicht dem ein oder anderen eine Alter-
neue Karrieren. Der größte Teil wurde mit       native bietet zur Karriere als Drogendealer
Personal aus Westdeutschland aufgefüllt,        (S. 66). Doch damit nicht genug, denn auf
viele davon kamen leicht in Positionen, die     den Seiten drum herum findet sich die
sie unter normalen Umständen nur schwer         ganze Bandbreite des kulturellen Lebens
hätten erreichen können. Zu welchen Pro-        in Leipzig und darüber hinaus – bis hin zu
blemen das führte, zeigten beispielsweise       einem Besuch in den Toten Tälern bei Frey-
die Ausläufer des Sachsensumpf-Skandals         burg, die alles andere als tot sind (S. 82).
im sächsischen Justizsystem. Ein anderer,
viel kleinerer Teil dieses Freiraums wurde      Mit diesem Heft verlässt uns Politikre-
mit Personen aus dem Osten besetzt. Auch        dakteurin Jennifer Stange. Nach einem
hier gab es steile Karrieren und ebenso stei-   Jahr kreuzer zieht sie nun wieder ihrer
le Abstürze aufgrund persönlicher Verfeh-       Wege durch die spannende Welt des Jour-
lungen. Ibrahim Böhme, Günther Krause           nalismus. Wir danken Jennifer für eine
oder Wolfgang Schnur – einer der 30 ersten      ebenso spannende Zeit hier auf der alten
Besetzer der Leipziger Stasi-Zentrale und       Kogge und wünschen für die Zukunft nur
der Mann, der Angela Merkel in die Politik      das Allerbeste.
holte – sind Beispiele dafür.
                                                Eine gute Lektüre wünscht
Auch Tobias Hollitzer gehört zu diesen          ANDREAS RAABE
Emporgekommenen, das Museum in der              chefredaktion@kreuzer-leipzig.de

Runden Ecke ist ein Relikt aus dieser Zeit.
                                                                                                ANZEIGE

Seine Position verdankt Hollitzer unter an-

                                                                            KREUZER 0619   3
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kreuzer

                                                                                                                                                                           FOTO: DAVID TRETBAR
                                                                                            ILLUSTRATION: GERLINDE MEYER
auf zwei
Seiten                                      12 Produkt: Wahlprogramm Erstmals
                                            vertrauen sich die sächsischen Parteien
                                            flächendeckend Kommunikationsagenturen
                                                                                                                           66 Prinzip: Herzblut Der Independent-
                                                                                                                           Verlag Liesmich entscheidet demokratisch
                                                                                                                           über Manuskripte, arbeitet mit flachen Hie-
TIPPS DES MONATS                            an und setzen im Wahlkampf auf Marke-
                                            tingstrategien. Dadurch ändert sich der
                                                                                                                           rarchien und beantwortet jede Einsendung.
                                                                                                                           Verlagschef Karsten Möckel über sechs Jah-
6   Zwölf für 30                            Dialog zwischen Parteien und Wählern.                                          re engagierter Arbeit.

KREUZFAHRT

                                                                                            FOTO: CHRISTIANE GUNDLACH

                                                                                                                                                                           FOTO:MARCUS KORZER
8 Pointen des Lebens: Schnorrstraße 34
9 Leserbriefe | Aus dem Maschinenraum
10 Demokratie da draußen: Warum
Netzwerken gegen Rechts mehr als gut
gemeint sein muss
11 Keine Schnellschüsse: Verkehr
gestalten statt resignieren

POLITIK
12 Darstellung ist alles: Politische
Kommunikation im Wahlkampf

TITEL
14 Der Revolutionswächter: Tobias
Hollitzer ist Chef der Stasigedenkstätte
Runde Ecke in Leipzig. Doch warum
eigentlich? Schließlich wird ihm neben
fachlicher Inkompetenz und fehlender
professioneller Distanz zum Thema
auch Kommunikations- und Konflikt-
unfähigkeit vorgeworfen. Dem Museum         28 Hauptgegner: System Battlerapper Sir                                        78 Essen: Gut Im Mai gründete sich der
schadet diese Personalie – was besonders    Mantis spielte Hunderte Konzerte unter                                         Leipziger Ernährungsrat. Sein Ziel: Land-
im dreißigsten Jahr nach der Friedlichen    dem Namen Jennifer Gegenläufer, bevor er                                       wirtschaft und Ernährungspolitik in der
Revolution augenfällig wird.                sich als Transmann outete. In seinen Songs                                     Stadt ökologisch, demokratisch und trans-
                                            setzt er sich mit sexistischen, homophoben                                     parent zu machen. Ein Interview mit dem
MAGAZIN                                     und rassistischen Strukturen auseinander.                                      Vereinsvorstand über die nächsten Projekte.

26 Aufbau Ost: Multifunktionsgebäude
am Uni-Klinikum
                                                                                            FOTO: SWEN REICHHOLD

                                                                                                                                                                           FOTO: TOBIAS PRÜWER

27 Kaufrausch: Handweberin und
Goldschmiedin Robyn Chamberlain
28 Interview des Monats:
Rapper Sir Mantis
31 Abocoupon
32 Wenig kreativ: Die Architektur des
Leipzig-Booms
34 Frauenperspektiven: Die Feministische
Sommeruni | Comic von Kerstin Rupp | Drei
Meldungen | Fünf Gründe gegen Open Air
36 Westen werden – 1991: Comic-Serie        32 Trend: Traurig Leipzig ist ein Eldo-                                        82 Koniks: Was? Die Toten Täler bei Frey-
von Marcel Raabe und Phillip Janta          rado für Baustellenfetischisten. Doch die                                      burg machen ihrem Namen keine Ehre,
                                            Architektur des Baubooms lässt Kreativität                                     aber das ist auch ganz gut so für ein attrak-
                                            und Nachhaltigkeit vermissen. Der Bund                                         tives Ausflugsziel. Ihr Trumpf mit dem
                                            Deutscher Architekten findet: Es ist Zeit für                                  höchsten Oh-wie-niedlich-Faktor sind die
                                            Visionen, damit die Stadt lebendig bleibt.                                     Koniks, robuste Wildpferdchen.

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FILM                                            KUNST
38 Diffuses Unbehagen: Die Leipzigerin          70 Möglichkeitsraum: Die Halle 14 zeigt
Susanne Heinrich über ihren Debütfilm           den Islam in der zeitgenössischen Kunst
39 Robuste Technik: 20 Jahre Wander-            71 Fragwürdig: Die LIA stellt
kino | Gemeinsame Wirklichkeit: Filme im        Axel Krause aus | Künstliche Ruinen:
ländlichen Raum fördern                         Das Werkleitz Festival 2019
40 Filmkritiken                                 72 Talenteshow: Ronny Szillo
42 Film A–Z                                     72 Kunst A–Z

SPIEL                                           STADTGESCHICHTEN
44 Unaufregend: »Weedcraft Inc.« hat            74 Eine andere Kunstgeschichte:
Potenzial, löst es aber nicht ein | Periskop:   Der Kopf – Folge 12
Analog ist besser
45 Rezensionen: »Days Gone«,
»Ghost Giant« | Der Klassiker: »Flight
                                                KINDER UND FAMILIE
Unlimited« (1995)                               76 Basteln und spielen: Die Leipziger
                                                Firma Musekind entwirft Papp-Spielzeug
MUSIK                                           77 Kinder A–Z

46 Pomp und Lametta: Das Bachfest 2019
47 Almost famous: Pipapo
                                                ESSEN UND TRINKEN
48 Klingende Verschmelzung: Magi                78 Gutes Essen für die Stadt: Interview
Hikri und Shiran | Smells like Punk-Spirit:     mit dem Leipziger Ernährungsrat
20 Jahre Major Label                            79 Feine Speisen: Carls Laden bietet
49 Retro-Bombe: Bloc Party im Clara-Park        Spezialitäten | Löffelprobe: »Leipziger
50 Freiheitlich Gedachtes: Interview mit        Aufschnitt« von Brotzeit-Produkt
Jazz-Sängerin Uschi Brüning
52 Konzerttipps im Juni | Weiblich
                                                80 Kulinarische Traditionspflege: Das
                                                russische Restaurant Skaska | Vier Kurze
                                                                                                         PREMIEREN
gestimmt: Die Reihe »Sommertöne«                81 Biergärten in Leipzig
53 Mit Knarzbrettchen: Share Leipzig                                                                     OPER
Trilogie zeigt Klang- und Bildexperimente
54 Plattenrezensionen
                                                AUSFLUG UND REISE                                        DER LI EBES TRAN K
56 Musik A–Z                                    82 Belebt: Die Toten Täler bieten                        L’ E L I S I R D ’A M O R E
                                                Wildpferde und Mopsfledermäuse auf                       Gaetano Donizetti | 14. Sep. 2019, Opernhaus
THEATER                                         83 Lohnendes Wanderziel: Viel
                                                Aussicht beim Besteigen des Kottmar                      TRI S TAN U ND I S OLDE
58 Mann der ersten Stunde: Kabarettist          84 Ein Tag in …: Perleberg                               Richard Wagner | 05. Okt. 2019, Opernhaus
Burkhard Damrau im Porträt                      85 Auf nach Gommern: Zu
59 Kopfkino: Bowies »Lazarus« im                Kinderzehnkampf, Lügenbaron und                          DER S TU RZ DES A NTICHR IST
Schauspielhaus | Im Wald: »Kukułka«, eine       Wasserburg | Kreuzfeldein                                Viktor Ullmann | 21. Mär. 2020, Opernhaus
theatrale Untersuchung
60 Drei Ankündigungen | Raucherpause:
Unverfügbar | Street Credibility: »Mafia
                                                LETZTE SEITE                                             DI E ZAU BERF LÖT E
                                                                                                         Wolfgang A. Mozart | 02. Mai 2020, Opernhaus
Kids« im TdJW                                   114 Andreas Reimanns Augen –
61 Mit Bär und Bombast: Olena Tokar             Periphere Szene
singt »Die verkaufte Braut«
                                                                                                         C AP RI C C I O
                                                                                                         Richard Strauss | 28. Jun. 2020, Opernhaus
62 Illegaler Goldabbau: Gespräch mit
Regisseur Frank Heuel | Lebendes Archiv:
                                                SERVICE
Das Lofft-Festival »X Spindeln«                 86 VERANSTALTUNGSKALENDER                                LEIPZIGER BALLETT
63 Premierenbesuch: »Prinz Friedrich von
                                                108 VERANSTALTUNGSORTE | ADRESSEN
Homburg«                                                                                                 DO RNRÖ S C H EN
64 Theater A–Z                                  110 KLEINANZEIGEN
                                                                                                         ONCE UPON A DREAM
                                                112 LESERSERVICE                                         Jeroen Verbruggen | 29. Nov. 2019, Opernhaus
LITERATUR                                       113 IMPRESSUM
66 Traum vom Buch: Karsten Möckel über
                                                                                                         L AMENTO
                                                                                                         Mario Schröder | 08. Feb. 2020, Opernhaus
den Leipziger Liesmich-Verlag                    Das kreuzer-ePaper wird unterstützt
67 Für die Tasche: Die Punctum-Reihe |           von 1000°. www.1000grad.de
Bildungslücke: Folge 26 – Sarah und Rainer
                                                                                                         TRI P LE BI LL
Kirsch: »Gespräch mit dem Saurier« (1965)                                                                Veldman / Pérez / Harriague |
68 Rezensionen zu Saša Stanišić, Olaf                                                                    08. Apr. 2020, Schauspiel Leipzig
Schmidt, Lothar Quinkenstein
69 Rezension zum Jahrbuch der Leipziger                                                                  S OTO /S C H O LZ/S CHR ÖDER
Buchwissenschaft                                                                                         3-teiliger Ballettabend |
                                                                                               ANZEIGE

69 Literatur A–Z                                                                                         06. Jun. 2020, Opernhaus

                                                                   KREUZER 0619            5             TICKETS +49 (0)341-12 61 261 | OPER-LEIPZIG.DE
Ich will fahren, wann ich will - alle 5 Minuten durch die City - Kreuzer Leipzig
TIPPS DES MONATS

    FILM »Meela – Erstes Afghanisches                                                                                                             CLUBBING »Das Erotik Magazin Nr. 2«
    Kulturfestival Leipzig«
                                                                                                                                                  Bei dieser speziellen Releaseparty steht
    Vom 19. bis 22. Juni wird das erste Afgha­                                                                                                    nicht zu befürchten, dass sich das Ganze
    nische Kulturfestival »Meela« gefeiert und                                                                                                    als Rumsteherei samt kollektivem Schulter­
    die Schaubühne Lindenfels eröffnet mit                                                                                                        geklopfe zu seichter Hintergrundbeschal­
    einem kleinen Filmfestival. Gezeigt w
                                        ­ erden                                                                                                   lung herausstellt: Das Mjut öffnet seine
    aktuelle Kurz- und Langspielfilme vom an-                                                                                                     Kammern zu Ehren der zweiten Ausgabe
    haltenden Konflikt, von Flucht und Migra­                                                                                                     von Das Erotik Magazin und lädt nicht nur
    tion und Einblicke in das Alltagsleben in                                                                                                     Lokal­matadoren aus dem Bereich von Beats
    Afghanistan. Im Anschluss gibt es Gelegen­                                                                                                    und Bass wie Rzr oder Dorothy Parker ein,
    heit zur Diskussion mit den Filmem­achern.                                                                                                    sondern auch die Rapperin Ebow (im Foto).
    Am 21. und 22. Juni folgen Workshops,                                                                                                         Deren Abrissqualitäten im Bereich Rapmu­
    Podiumsdiskussion, Lesungen und ein
    ­                                                                                                                                             sik sind auch kein großes Geheimnis mehr,
    Konzert in der Arno-Nitzsche-Straße.                                                                                                          darum: Hingehen und gratulieren.
    ■ 19.–22.6., Schaubühne Lindenfels u. a. Orte                                                                                                 ■ 22.6., 22 Uhr, Mjut
                                                    FILM: FACING THE DRAGON

                                                                              MUSIK White Wine
                                                                              Der, Zitat: »anxious american« Joe Haege
                                                                              hat mit Fritz Brückner und Christian Kuhr
                                                                              eine Band am Start, welche die ins Deutsche
                                                                              unübersetzbare Anxiousness musikalisch
                                                                              vermittelt. White Wine sind dabei aber auch
                                                                              noch unfassbar catchy, bringen Einflüsse
                                                                              von Jazz über Techno bis Pete ­Doherty zu­
                                                                              sammen und machen daraus teils beklem­
                                                                              mende, immer starke Popsongs. Zudem ist
                                                                              leider zu hören, dass der Gig in der Hei­
    FILM 2cl Sommerkino                                                                                                                          CLUBBING Mjuzik [at] Eli
                                                                              landskirche in Plagwitz bis auf Weiteres der
    »What a feeling!« – Das Sommerkino der                                    letzte sein wird, aber darauf kein Amen.                            Wer Abwechslung braucht vom gewohnten
    Cinémathèque legt los, und das wie immer                                  ■ 22.6., 21 Uhr, Unterdeck in der Heilandskirche Plagwitz           Ablauf einer Party beziehungsweise eines
    mit einem Auftakt nach Maß: Am 22.6.                                                                                                          DJ-Sets, sollte zur Mjuzik im Elipamano­
    gibt es »Flashdance« von Adrian Lyne zu                                                                                                       ke vorbeischauen: Das Ensemble »Der
    sehen. Von der Popkultur der Achtziger                                                                                                        Apparillo« hat eingespielt, was DJ Pavel,
    geht es hinein in die Neunziger mit Jonah                                                                                                     gesampelt und bearbeitet, auflegt, wozu
    Hills wundervollem Regiedebüt »Mid90s«.                                                                                                       Mitglieder des Apparillos wiederum live
    Es gibt Horror mit »Wir«, Musik mit »Gun­                                                                                                     spielen, und dann rappt einer noch dazu,
    dermann« und am 30.6. lädt das 2cl in den                                                                                                     alles im Geiste von Hiphop und Beats. Das
    »Ramen Shop« – wie immer im Original mit                                                                                                      klingt ebenso musikalisch spannend wie
    Untertiteln. Der Sommer kann kommen!                                                                                                          partytauglich. Abgerundet wird das Ganze
    ■ ab 22.6., Freisitz Conne Island                                                                                                            dann noch von einem Set der immer gern
                                                                                                                                                  gehörten Leipziger Größe The Micronaut.
                                                    FILM: FLASHDANCE

                                                                                                                                                  ■ 21.6., 23 Uhr, Elipamanoke
                                                                                                                                          FOTO:

                                                                              MUSIK Aluminé Guerrero
                                                                              Man kommt nicht hinterher mit der Auf­
                                                                              zählung der Genres, deren sich Aluminé
                                                                              Guerrero bedient: Indie, Psychedelic Rock,
                                                                              lateinamerikanischen Pop verbindet sie
                                                                              munter mit der Ästhetik von Trap und
                                                                              Bassmusik, und das eingebettet in Tango
                                                                              und Flamenco als Fundament. Das klingt
                                                                              ebenso selbstbewusst im Durchbrechen
                                                                              altbackener Motive und Strukturen, wie es
                                                                              gleichzeitig profunde Kenntnis der verwen­
                                                                              deten Elemente beweist. Größer als seine
                                                                              einzelnen Teile, mutig, und dabei auch
                                                                              noch verdammt eingängig.
                                                                              ■ 13.6., 20 Uhr, Kaya

6   KREUZER 0619
Ich will fahren, wann ich will - alle 5 Minuten durch die City - Kreuzer Leipzig
TIPPS DES MONATS

                                                                                                LITERATUR Thilo Krause

                                                             FOTO: LABORA - MATTHIAS ZIELFELD

                                                                                                                                                                                                                     FOTO: WOLFGANG G. SCHRÖTER
                                                                                                und Patrizia Cavalli
                                                                                                In der zweisprachigen Lesung sind Patrizia
                                                                                                Cavalli, die bedeutende Dichterin aus Itali­
                                                                                                en, deren Lyrik Alltagserscheinungen ver­
                                                                                                handelt, und Lyriker Thilo Krause zu Gast,
                                                                                                der sich ebenfalls an der Alltäglichkeit be­
                                                                                                dient. Die daraus entstehenden Gedichte
                                                                                                sind dagegen ganz und gar ungewöhnlich.
                                                                                                Oder wie es der Leipziger Autor Thomas
                                                                                                Kunst formulierte: »Ein Gedicht ist erst
                                                                                                dann ein Gedicht, wenn mich die gewöhn­
                                                                                                lichsten Dinge in ihm auf das Heftigste irri­
                                                                                                tieren.« Mit dabei sind auch die Übersetzer
                                                                                                der Autoren Piero Salabé und Roberta Gado.
                                                                                                ■ 13.6., 19.30 Uhr, Haus des Buches

                                                                                                                                                  FOTO: PRIVAT
                                                                                                                                                                 KUNST »Untergegangene Arbeitswelten«
THEATER »X-Spindeln«
                                                                                                                                                                 Ob VEB Druckhaus Einheit oder VEB
Hier wird Industriekultur erfahrbar. Das                                                                                                                         Schwermaschinenbau S. M. Kirow – Wolf­
Lofft-Festival nimmt direkten Bezug zum                                                                                                                          gang C. Schröter (1928–2012) zeigte die
neu bezogenen Gebäude auf der Baumwoll­                                                                                                                          Arbeitswelten der fünfziger bis siebziger
                                                                                                                                                                 ­
spinnerei. Drei Künstlerinnen haben Per­                                                                                                                         Jahre in diesen Leipziger Kombinaten auf
formances und Installationen gestaltet, die                                                                                                                      farbenfrohen Fotos. Schröter, der in Leip­
die Vergangenheit und Gegenwart in Bezie­
hung setzen. Wer hat hier gearbeitet? Wie
waren und sind die physischen Herausfor­
                                                                                                  Zwölf für 30
                                                                                                  Die Veranstaltungstipps im Juni
                                                                                                                                                                 zig Farbfotografie studiert hatte und ab
                                                                                                                                                                 1972 als Dozent für Farbfotografie an der
                                                                                                                                                                 HGB tätig war, hatte als Werkfotograf einen
derungen? Welchen Rhythmen unterlagen                                                                                                                            besonderen Blick auf die arbeitende Klasse
die Arbeitenden – welche herrschen heute?                                                                                                                        und die geschaffenen Produkte, die es heu­
                                                                                                LITERATUR »Just as I meant shimmer
■ 13.–15.6., Lofft                                                                                                                                              te längst nicht mehr gibt.
                                                                                                literally I mean grammar literally«
                                                                                                                                                                 ■ bis 4.8., Sächsisches Industriemuseum Chemnitz
                                                                                                Bei der Reading-Performance von ­Autorin
                                                                                                Tabea Nixdorff und Lektorin Monique
                                                             PROBENFOTO: ROLF ARNOLD

                                                                                                Ulrich anlässlich der Neuerscheinung
                                                                                                ­
                                                                                                »Fehler lesen. Korrektur als Textproduk­
                                                                                                tion« bei Spector Books geht es um die Feh­
                                                                                                ler in ­Texten und die Verletzlichkeit, die
                                                                                                in diesen Fehlern zum Ausdruck kommt.
                                                                                                Auch Spector-Books-Verleger Jan Wenzel
                                                                                                ist ­dabei. Gemeinsam fragen sie, wer Feh­
                                                                                                ler korrigiert und welche Spuren das im
                                                                                                Text hinterlässt. Neben der Lesung wer­
                                                                                                den ­Ulrich und Nixdorff Korrekturmaterial
                                                                                                klanglich verdichten.
                                                                                                ■ 11.6., 19 Uhr, Rotorbooks Leipzig
                                                                                                                                                FOTO: ANONYM

                                                                                                                                                                 KUNST » Otto Fischbeck«
                                                                                                                                                                 Einen bisher unbekannten Architekten
THEATER » Lazarus«
                                                                                                                                                                 rücken die Stadtteilbibliotheken im Wes­
Hubert Wild ist zurück und inszeniert ein                                                                                                                        ten und im Süden in den Mittelpunkt: ih­
Rätsel von Einsamkeit. Dieses Mal führt                                                                                                                          ren Erbauer Otto Fischbeck. 1893 in Leip-
der Musiker selbst Regie und gestaltet ein                                                                                                                       zig geboren, eröffnet er 1925 sein eigenes
Musical von David Bowie und Enda Walsh.                                                                                                                          Büro und emigriert 1934 nach Südafrika.
Inhaltlich dreht sich dieses um einen vom                                                                                                                        Die Bibliotheksgebäude gehören zu seinen
Universum auf die Welt Gefallenen, der zu­                                                                                                                       wichtigsten Leipziger Bauten. Obwohl sie
rück auf seinen Heimatplaneten will. »E.T.«                                                                                                                      so populär sind, war bisher über Fischbe­
für Erwachsene gewissermaßen. Die Insze­                                                                                                                         ck nicht sehr viel bekannt. Die Ausstellung
nierung verspricht Kopfkino im Zickzack                                                                                                                          räumt mit dem Vergessen auf.
mit Fragezeichen und Musik.                                                                                                                                      ■ bis 17.7., Bibliothek Plagwitz
                                                                                                                                                                 ■ ab 22.7., Bibliothek Südvorstadt
■ 15.6. (Premiere), 21., 26.6., 19.30 Uhr, Schauspielhaus

                                                                                                                                                                                                      KREUZER 0619                                7
Ich will fahren, wann ich will - alle 5 Minuten durch die City - Kreuzer Leipzig
TITEL

                                                                                    Historikerin Ehl: »Aktualität sollte schon Anspruch einer Ausstellung sein«

                    EIn Interview von TOBIAS PRÜWER

                    »Es geht um Deutungsmacht«
                    Geschichtsdidaktikerin Sylvia Ehl über Museumsarbeit und das Verhältnis zwischen Zeitzeugen und Experten

                    A    n der Berliner Humboldt-Universität lehrt die His-
                         torikerin Sylvia Ehl das Vermitteln von Geschichte.
                    Sie hat in Leipzig studiert, kennt die Runde Ecke aus
                                                                               Ich denke nicht, dass es in Leipzig unbedingt ein
                                                                               weiteres Museum geben müsste, das sich der Zeitge-
                                                                               schichte widmet. Andere Formate, Einbindung
                    dieser Zeit. Mit dem kreuzer spricht sie über angemes-     digitaler Medien, das Begreifen der ganzen Stadt als
                    senes Gedenken und die Klippen der Zeitzeugenschaft.       historischen Lernort: Damit ließen sich bestehende
                                                                               Angebote ergänzen, Geschichte neu erzählen, aber
                    kreuzer: Was vermittelt eine über 30 Jahre unverän-        auch neue Geschichten erzählen. Aber dafür wären
                    derte Schau?                                               natürlich finanzielle Mittel notwendig, damit das kein
                    Sylvia Ehl: Aktualität sollte schon Anspruch einer         Hobbyprojekt von Geschichtsenthusiasten wird.
                    Ausstellung sein. Das heißt: Berücksichtigung jüngerer     Und natürlich der Wille, sich der Zeitgeschichte noch
                    Forschungen, Nutzung neuer Medien, Einschlagen             mal neu zu stellen, die bekannten Blickwinkel zu
                    neuer Vermittlungswege und Methoden. Das sind              verlassen, Neubeurteilungen zu akzeptieren. Solange
                    Voraussetzungen guter Geschichtsvermittlung. Hier          wir es mit einer Zeit zu tun haben, die noch aktuell
                    steht der Empfänger, also der Besucher, im Mittelpunkt,    ist, die Mitmenschen erlebt haben, wird so etwas oft
                    der sich der dargestellten Geschichte auf verschiede-      als heikel empfunden.
                    nen Wegen nähern soll.                                     kreuzer: Der Zeitzeuge ist der natürliche Feind des
                    kreuzer: Es ist die Ausstellung, mit der sich Leipzig      Historikers, heißt es. Stimmt das?
                    als Wendeort präsentiert, also als Aushängeschild –        Ehl: Das Bonmot braucht Erklärung. Es ist ja nicht
                    wie bewerten Sie das?                                      so, dass Historiker Zeitzeugen aus ihrer Forschung
                    Ehl: Es gibt ja noch das Zeitgeschichtliche Forum Leip-    ausblenden. Aussagen von Zeitzeugen sind eine sehr
                    zig. Aber ich finde es generell nicht begrüßenswert,       relevante Quelle in der Geschichtsforschung seit
                    wenn ein Geschichtsbild zum Aushängeschild gemacht         1945. Schwierig wird es erst dann, wenn Zeitzeugen
                    wird. Sicherlich prägen bedeutsame Ereignisse die          beanspruchen, die Richtigkeit oder Falschheit von
                    Stadtgeschichte und sollten auch thematisiert werden.      Forschung beurteilen zu können oder gar als Einzige
                    Aber wenn das mit der Zielstellung geschieht, sich         zu dürfen, da sie schließlich in der Geschichte dabei
                    mit dieser eigenen Geschichte präsentieren zu wollen,      gewesen sind. Hier werden dann andere Sichtweisen
                    misslingt das eigentlich immer. Weil hier vieles aus-      als die eigenen nicht akzeptiert, selbst wenn dies
                    geblendet wird, keine Grauzonen auftauchen, Nichtre-       zum Beispiel andere Zeitzeugenaussagen sind. Es geht
                    präsentatives ausgelassen wird.                            also um Deutungsmacht und -anspruch. In den
                    kreuzer: Braucht es ein neues Museum?                      meisten Fällen kommt das aber nicht vor. Wenn Schul-
                    Ehl: Ich würde da verschiedene Träger befürworten,         klassen Zeitzeugen einladen, dann ist im Vorfeld
                    unterschiedliche Orte und Formate, die wiederum            klar, dass sie eine einzelne, von subjektiver Erfahrung
                    verschiedene Zugänge zur Vergangenheit liefern.            geprägte und womöglich rückblickend veränderte

24   KREUZER 0619
Ich will fahren, wann ich will - alle 5 Minuten durch die City - Kreuzer Leipzig
MAGAZIN

     EIn Interview von NADJA NEQQACHE

                                                                                                                                                                 FOTO: CHRISTIANE GUNDLACH
                                                   über den Körper fest, mit Paragraf 24 gab
                                                   es ein verbrieftes Recht auf Arbeit. Für

     »Die Frage                                    ostdeutsch sozialisierte Frauen fiel all das
                                                   mit der Wiedervereinigung weg.
                                                   kreuzer: War Emanzipation für Frauen

     ist, wer                                      aus der DDR überhaupt Thema? Sie
                                                   lebten ja bereits emanzipiert – hatten
                                                   Berufe, verdienten eigenes Geld, ließen

     spricht«                                      sich scheiden, wenn sie nicht mehr
                                                   glücklich waren.
                                                   Berndt: Was es im Osten nicht gab, war
     Sandra Berndt über Frauen in Ost und
                                                   eine emanzipatorische Struktur, aus der
     West und die Feministische Sommeruni
                                                   sich eine Frauenbewegung wie in West-

     E   nde Juni veranstaltet die Louise-Otto-
         Peters-Gesellschaft eine Feministische
     Sommeruni, die in diesem Jahr im Zei-
                                                   deutschland herausgebildet hat. Gruppen
                                                   haben sich erst spät gegen Ende der acht-
                                                   ziger Jahre gebildet, durch eine jüngere
     chen der Wende und neuer Perspektiven         Generation, die sich vorrangig für das Klima
     aus Ostdeutschland steht. Der kreuzer hat     und den Umweltschutz, für Abrüstung
     mit der Vereinsvorsitzenden Sandra Berndt     und Frieden, aber auch für mehr Emanzi-
     über die Unterschiede zwischen ost- und       pation zusammengeschlossen hatte.
     westdeutschem Feminismus gesprochen.          Die Auseinandersetzung mit den Rechten
                                                   von Frauen und emanzipatorischen Ge-
     kreuzer: In den Infos über die Feministi-     danken fand in der DDR vor allem in Lite-
     sche Sommeruni heißt es, die Geschichte       ratur und Kunst statt. Es gibt eine Reihe
                                                                                                  Feministin Berndt: »Für westdeutsche Frauen ein Fortschritt«
     des Feminismus sei eine westdeutsche          bekannter Autorinnen, die sich dem Thema
     Erzählung. Inwiefern prallten bei der         in ihren Werken gewidmet haben, wie
     Wiedervereinigung zwei feministische          zum Beispiel Maxie Wander mit ihrer Pro-       voneinander gelernt.
     Welten aufeinander?                           tokollliteratur. Darüber hinaus hat die        kreuzer: Der Begriff der »Ostfrau« ist
     Sandra Berndt: Vor dreißig Jahren sind das    Auseinandersetzung mit feministischen          umstritten. Warum?
     Frauen gewesen, die mit grundsätzlich         Themen auch in der Literatur von Brigitte      Berndt: Diesen Begriff zu benutzen, ist
     unterschiedlichen Lebens- und Berufser-       Reimann, Christa Wolf oder Irmtraud            vor allem dann kritisch, wenn man diese
     fahrungen aufeinandergeprallt sind. Die       Morgner stattgefunden.                         Sozialisation nicht erlebt hat, denke ich.
     Frauen aus dem Osten hatten vollkommen        kreuzer: Wo hat Ihrer Meinung nach             Besonders, weil das Bild der Ostfrau ein
     andere Forderungen als die aus dem            die stärkste Annäherung zwischen               bestimmtes Frauenbild transportiert –
     Westen. Zur Feministischen Sommeruni          Frauen aus Ost- und Westdeutschland            eine toughe Frau, die selbstbewusst Fami-
     werden viele Zeitzeuginnen von den            stattgefunden?                                 lie und Beruf unter einen Hut bekommt,
     damaligen Umbrüchen und feministischen        Berndt: Ich denke, die stärkste Annähe-        die sich selbstständig gemacht hat, ihre For-
     Auseinandersetzungen berichten.               rung war direkt während der Umbruchs-          derungen in politische Räume getragen
     kreuzer: Hatten Frauen in Ostdeutsch-         zeit, als Paragraf 218 verhandelt wurde.       hat. Ein positives Bild, mit dem sich aber
     land gegenüber westdeutschen Frauen           Die sehr liberale Gesetzgebung der DDR         auch nicht zwingend alle ostdeutschen
     einen emanzipatorischen Vorsprung?            wurde zurückgenommen, der Paragraf             Frauen identifizieren wollen.
     Berndt: Das kann man so pauschal nicht        in die Form reformiert, die bis heute in       kreuzer: Würden Sie sogar so weit
     sagen. Aber ostdeutsche Frauen hatten         der Verfassung niedergeschrieben ist.          gehen, zu sagen, das ist ein antifemi-
     beispielsweise einen Vorsprung, was Gleich-   Für westdeutsche Frauen war das ein Fort-      nistischer Begriff?
     stellung betrifft. Das war so in der DDR-     schritt. In diesem Punkt sind Frauen           Berndt: Wenn er diffamierend benutzt
     Verfassung festgeschrieben. Paragraf 218      aus unterschiedlichen Erfahrungsräumen         wird, ja. Die Frage ist immer, wer spricht.
     beispielsweise legte die freie Bestimmtheit   aufeinander zugegangen und haben               ■ Feministische Sommeruni, 28.–29.6., versch. Orte

34   KREUZER 0619
Ich will fahren, wann ich will - alle 5 Minuten durch die City - Kreuzer Leipzig
MUSIK

                                                                                    Bachfest-Intendant Michael Maul an der Pforte zum »Originalschauplatz« Thomaskirche

     Hof-Compositeur
     Beim Bachfest 2019 gibt es eine weniger bekannte Seite des Thomaskantors zu erleben
                                                                                                         sechs Jahre Kapellmeister am Köthener
                                                                                                         Hof war, bevor er Thomaskantor wurde«,
                                                                                                         sagt Michael Maul. Dass Bach eigene und
                                                                                                         Kollegen-Kompositionen im barocken Pa-
                                                                                                         rodieverfahren recycelt und bearbeitet

     D    er Intendant des Bachfestes, Michael
          Maul, ist begeistert von der Aussicht
     auf das bevorstehende Ereignis. Mit der
                                                    man mit dem kulturellen Hochglanzpro-
                                                    dukt »Kantatenring« in einem dreitägigen
                                                    Musik-Marathon die »besten 30 geistlichen
                                                                                                         hat, ist bekannt. Manchmal wurde auch
                                                                                                         nur der Text verändert. Ein solcher Fall
                                                                                                         ist auch das »Jauchzet, frohlocket« aus
     Planung ist er aber eigentlich schon weiter.   Bach-Kantaten« dargeboten und von den                der ersten Kantate des Weihnachtsorato-
     »Die Champions League der Bachinterpre-        weltbesten Ensembles an Bachs Original-              riums. Der berühmte Eingangschor wurde
     ten ist eben schon drei, vier Jahre im Vor-    schauplätzen gespielt hören können.                  1733 ursprünglich als Huldigungsmusik
     aus ausgebucht.« Somit war auch schon im              Stürzt das Bachfest 2019 unter dem            für die Kurfürstin komponiert und hatte
     letzten Jahr klar, dass die umstritten-ver-    Titel »Hof-Compositeur« Bach nach dem                mit Weihnachten nichts zu tun. Unter dem
     ehrte Galionsfigur des Bachfestes, Sir John    glamourös-konzentrierten »Kantatenring«              Motto »Musik an Originalschauplätzen« ist
     Eliot Gardiner, mit seinen Ensembles in        nun in profane Niederungen ab? Der Bach-             zum Bachfest ein Aufmarsch der Musiker
     diesem und wohl auch im kommenden Jahr         fest-Besucher muss mit seiner Gewohnheit             vor dem Königshaus am Markt geplant, wo
     nicht vertreten sein würde. Vielleicht hat     brechen, Bach ausschließlich als getreuen            einstmals auch Kurfürst August mit seiner
     der 76-jährige Meister seine barocke Mis-      Lutheraner, als vom Glauben durchdrun-               Frau logierte und Bach mit dem Collegium
     sion erfüllt, denn gerade ist er beschäftigt   genen Kirchendiener und Kantor der Tho-              musicum unterm Fenster aufspielte.
     mit einer Berlioz-Oper, nächstes Jahr stürzt   mas- und Nikolaikirche zu sehen. Eher un-                    »Natürlich waren Ehrentitel erst
     er sich ins Beethovenjahr. Auch Gardiners      gewohnt ist ihm die Vorstellung von einem            mal Lametta, aber ›kurfürstlich sächsischer
     Posten als Präsident des Bach-Archivs ist      Bach als Diener an barocken Höfen, der               Hof-Compositeur‹ zu sein, hieß, dass Bach
     abgelaufen, neuer Inhaber ist seit Mitte       durchaus auch Energie in den Erwerb von              nominell ein Mitglied der Hofkapelle war
     Mai Ton Koopman, Cembalist, Dirigent           Ehrentiteln investierte.                             und dadurch unter besonderer Protektion
     und Organist gleicher Generation. Aber es             »Geistliche Arbeit ist natürlich ma-          des Kurfürsten stand. Das bedeutete, in
     gibt Vorabsprachen für 2022, sagt Maul.        ximal weit entfernt vom barocken Hofleben            den nicht wenigen Auseinandersetzungen
     »Es ist toll, wenn wir ihn dabei haben, aber   mit Pomp und Verschwendung. Aber man                 mit der Leipziger Obrigkeit direkt den Kur-
     die Bachwelt dreht sich auch ohne Gar-         sollte nicht vergessen, dass Bach bereits            fürsten ›anrufen‹ zu können und von ihm
     diner weiter.« Im vergangenen Jahr hatte       neun Jahre Hoforganist in Weimar und                 gehört zu werden.«

46   KREUZER 0619
Ich will fahren, wann ich will - alle 5 Minuten durch die City - Kreuzer Leipzig
THEATER

Geist                                                                                                                   vermitteln. Da kann das Cineplex Oper
                                                                                                                        im Kino zeigen, das reicht nicht ans echte
»Erscheinungen«: Diederik Peeters (Brüs-                                                                                Ereignis in London heran.
sel) schaut in Leipzigs Vergangenheit als                                                                                       Die angebliche Verfügbarkeit von
Spiritismuszentrum. Die Performance                                                                                     allem ist eine Pest. Im Berufsalltag soll man
lässt Körper ohne Stimmen (auf )erstehen                                                                                stets und ständig erreichbar, also verfügbar
und ruft die Gespenster aus dem Äther an.                                                                               sein. Das setzt sich als sozialer Druck auf
»Hunde, wollt ihr ewig leben?« Die Antwort                                                                              Kanälen wie Facebook, Whatsapp und Ins-
lässt das Publikum von allen guten Geis-
tern verlassen zurück. TPR
■ 14./15., 20.–22.6., 20 Uhr, Residenz/Spinnerei
                                                                         Unverfügbar                                    tagram fort: »Warum antwortest du nicht?«
                                                                                                                        Wir leben in einer Zeit, in der Verfügbar-
                                                                                                                        keit das heilige Ideal ist. Der Glaube an die

Macht                                                                    N     eulich berichten mir Freunde von ei-
                                                                               nem Maisprung-Ritual im Harz. Dort
                                                                         seien Menschen um und durch ein Feuer ge-
                                                                                                                        Überlegenheit des binären Computercodes,
                                                                                                                        den Deus ex machina, bestimmt das Zeital-
                                                                                                                        ter. Gott als Leerstelle ist durch das ebenso
Die Apokalypse ist da: Das Jugendthea-                                   hüpft. Sie haben das gemacht, was man sich     leere Wort Information ersetzt worden.
terprojekt »Dunkles Land« lotet die finale                               in der Spätmoderne so unter heidnischer                Diese angebliche Verfügbarkeit gau-
Konsequenz technischer Machbarkeitsfan-                                  Tradition vorstellt. Kurzum: Sie spielten      kelt uns vor, dass alle Probleme schnell zu
tasien aus. Was, wenn alle Macht implo-                                  Theater, hielten ein Fest ab, wie man es als   lösen sind. Das verführt zu einer Kurzfris-
diert? Was macht man nach dem Weltun-                                    Ursprung des Theaters vermuten mag. Das        tigkeit im Denken. Langfristige Pläne gibt
tergang? In einer Welt ohne Strom? Wenn                                  Merkwürdige dabei: Zig Leute sollen das        es in der Politik auch darum nicht mehr.
es nur noch ums nackte Überleben geht?                                   Geschehen mit ihren Telefonen mitgefilmt       Aus diesem Grund können sich viele Men-
TPR                                                                      haben, wurden also halb vom Ritual mit-        schen Weltlagen wie den Klimawandel
■ 13./14.6., 19 Uhr, Halle D/Werk 2                                      gerissen und hielten es zur anderen Hälfte     nicht vorstellen.
                                                                         auf Dauer fest. Sie haben da etwas gewal-              Auf individueller Ebene immerhin
                                                                                                                        kann Abhilfe darin bestehen, sich des
Wahn                                                                     tig missverstanden, aber sie sind nicht
                                                                         allein damit.                                  Unverfügbaren bewusst zu werden. Wenn
»EskalationWeekender – Escape!«: Raus in                                         Seit sie es können – also mit ihren    es regnet, ist es nicht zu ändern – seien wir
die Freiheit, den Käfig der Vernunft verlas-                             Mobilfonen –, versuchen die Menschen,          froh für die unter Dürre darbende Natur.
sen. Das Jugendtheater fährt allerhand auf,                              auch so flüchtige, unverfügbare Erlebnisse     Genießen wir im Theater jeden Moment,
um den Eskapismus hübsch gemütlich aus-                                  wie Theater und Konzerte für die Ewigkeit      denn wir werden ihn nie wieder so erle-
zukleiden. Fette Bässe, satte Beats. Hallo,                              einzufangen. Sie sollen verfügbar gemacht      ben können. Aber hoffentlich noch andere
Endorphin! Es geht um den Einzelnen und                                  werden. Natürlich funktioniert das nicht,      Momente. Und wenn Leute im Harz oder
die Gruppe, Mensch und Masse und das                                     wie man aus dem Theaterkontext weiß.           anderswo um und durch ein Feuer hüpfen,
Verschmelzen in Trance. TPR                                              Eine filmisch dokumentierte Performance        seis drum. Dann freu ich mich mit ihnen.
■ 27.–29.6., 20 Uhr, Kulturwerkstatt Kaos                                ist eben der Film einer Performance, aber      Ich lasse die Kamera aus, steck mir eine
                                                                         nicht sie selbst. Und er kann das Erlebnis,    an und bin froh, Tabak stets verfügbar zu
                                                                         einer solchen beizuwohnen, auch nicht          haben. TOBIAS PRÜWER
                                                     FOTO: TOM SCHULZE

                                                                         REzENSION                                      Dann werden die dicken Stifte zu Spielfi-
                                                                                                                        guren für einen Prolog. Fotos von Platten-

                                                                         Mein Block                                     bauten werden an die hintere Wand proji-
                                                                                                                        ziert: mein Block. Als schließlich die ganze
                                                                                                                        Gang auftritt, kommen Masken ins Spiel. Die
                                                                         »Mafia Kids«: Figurentheater à la Film noir
                                                                                                                        zwei Darstellenden (Nora-Lee Sanwald und

                                                                         H     auptsache ballern! Auf Drogen und
                                                                               Knarren fahren diese Kids ab. Die
                                                                         Jungs um Niko machen auf dicke Hose und
                                                                                                                        Moritz Ceste) setzen sich wechselnd Mas-
                                                                                                                        ken auf, ziehen Kapuzen über die Köpfe
                                                                                                                        und schaffen mit jeweils anderem Habitus
                                                                         kesse Lippe, dabei sind sie noch Backfische.   und Sprechweise verschiedene Typen. Wer-
                                                                         Das macht die Clique aber nicht harmlos,       den sie nicht benötigt, ruhen die Masken
                                                                         wie in 70 treibenden Minuten zu erleben        auf in den Boden gesteckten Stäben. Sie
                                                                         ist. Im Gegenteil: »Mafia Kids« kommt          können weggedreht oder sichtbar gemacht
                                                                         ohne Happy End daher.                          werden. Immer wieder neu lassen sich die
                                                                                 Der in Leipzig wohlbekannte Figu-      Stäbe platzieren. Das flexible Bühnenbild
                                                                         renspieler Dirk Baum hat den Thriller für      ermöglicht so ein abwechslungsreiches
                                                                         Jugendliche am Theater der Jungen Welt         Spiel, das das Duo ausgiebig auskostet.
                                                                         inszeniert. Entstanden ist ein vom Film noir   Beatlastige Musik besorgt ansehnliche Tanz-
                                                                         inspiriertes Maskentheater. Kontrastreich      einlagen, in denen besonders Nora-Lee
                                                                         und wie in Filmschnitten wechseln die          Sanwald zu Höchstform inklusive Break-
                                                                         Szenen ineinander über. Der ästhetische        dance-Einlagen aufläuft. Das hat Drive, und
                                                                         Zugriff ist um Street Credibility bemüht.      wenn Sanwald am verstörenden Ende plötz-
                                                                         Zum Glück kommt die »Straßenglaubwür-          lich im roten Kleid erscheint, macht sie im
                                                                         digkeit« mit typischem Rapperslang und         Kontrast zur Jogginghosenwelt eine beson-
                                                                         -geste nicht zu gewollt rüber, wirkt oft wie   ders gute Figur. Als Cliffhanger steht sie am
                                                                         ein leicht ironisches Zitat.                   Bühnenrand, den Blick fest entschlossen.
                                                                                 Zum Start krakelt ein Spieler mit      Fortsetzung folgt. TOBIAS PRÜWER
Lässig bis tödlich: Es fallen nicht nur die Masken
                                                                         einem Marker Graffiti auf die Spielfläche.     ■ »Mafia Kids«: 6.6., 19.30 Uhr, 7.6., 11 Uhr, TdJW

60         KREUZER 0619
KUNST

»!«?                                                              Vergleichen mit Gesinnungsdiktatur von
                                                                  Pegida-NRW. In diese Kerbe schlägt auch
                                                                  der Potsdamer Autor Steffen Meltzer
                                                                                                                        doch nur eine sehr einfache Haltung dar,
                                                                                                                        um Geld mit Kunst zu verdienen. Spä-
                                                                                                                        testens wenn Leute wie Erika Steinbach
Die Leipziger Jahresausstellung gibt mit
                                                                  (Gastautor bei »Die Achse des Guten«),                die Ausstellung besuchen – wie bei Axel
Axel Krause ein falsches Signal
                                                                  der auf seiner Homepage über die derzei-              Krauses erster Soloschau in seiner neuen

I  m Juni präsentiert die Leipziger Jahres-
   ausstellung (LIA) ihre 26. Schau und
wählte dafür den Titel »!«. Sie steht unter
                                                                  tige Ausstellung von Krause in Potsdam
                                                                  bei der »liberalen Galeristin« Friederike
                                                                  Sehmsdorf schreibt. Dazu gehört offen-
                                                                                                                        Galerie in Frankfurt am Main – und darü-
                                                                                                                        ber twittern, ist klar, dass es kein unpoli-
                                                                                                                        tisches Ausstellen gibt. Der LIA hätte das
der Schirmherrschaft von Burkhard Jung.                           sichtlich, dass sie »gute Kunst ausstelle             bewusst sein müssen. BRITT SCHLEHAHN
Zur Eröffnung wird der Preis für die he-                          und keine politischen Haltungen«. Das                 ■ 26. Leipziger Jahresausstellung »!«: 6.–30.6., Werkschauhalle
rausragende künstlerische Produktion –                            soll wohl Neutralität suggerieren und stellt          auf der Spinnerei

gestiftet unter anderem von der Sparkasse
                                                                  2018 in der Werkschauhalle: Die 25. Ausgabe der LIA
– vergeben. 2019 ist er Louise Otto-Peters

                                                                                                                                                                                           FOTO: SYLVIA SCHADE
(1819–1895) gewidmet. Sie begründete die
bürgerliche Frauenbewegung in Deutsch-
land, forderte das Recht der Frauen auf
Erwerb, kämpfte gegen Männer, die dach-
ten, dass sie per se ein Recht auf alles ha-
ben, was sie umgibt, einfach weil sie als
Junge auf die Welt kamen. Kurz: Sie stritt
für ein demokratisches Miteinander.
        Ein Blick auf die Liste der Aus-
stellenden verwundert daher: die Wahl
von Axel Krause. Bis August 2018 vertrat
ihn die Galerie Kleindienst. Seine öffent-
lich vorgetragene politische Meinung, die
eine Haltung gegen dieses demokratische
Miteinander erkennen ließ, führte zum
Bruch. Wer heute auf die Facebook-Seite
der Galerie geht, liest anerkennende Worte
über den konsequenten Schritt bis zu

                                                                                                                                                                                 ANZEIGE

Modell Ruine                                                                                            GEFÄSS
Das Werkleitz Festival 2019 lädt nach Dessau ein
                                                                                                        SKULPTUR 3
A    m Bauhaus-Jubiläum kommt das Werkleitz-Festival
     nicht vorbei und siedelt für seine diesjährige Aus-
gabe zum Thema »Modell und Ruine« von Halle nach                                                        DEUTSCHE UND
Dessau über. Hier findet sich mit dem Bauhaus nicht
nur ein Modell für eine erweiterte Kunstausbildung der
                                                                                                        INTERNATIONALE
Moderne, sondern jede Menge künstliche Ruinen. So
bietet der Georgengarten antike Torbögen, eine römi-
                                                                                                        KERAMIK SEIT 1946
sche Ruine oder das Denkmal von Fürst Franz im anti-
ken Gewand. Im ab 1780 entstandenen Landschafts-
garten nach englischem Vorbild wie im nahe gelegenen                                                    bis 13. 10. 2019
Mausoleum bis zu den Meisterhäusern finden sich bis
zum 10. Juni Arbeiten von 13 Kunstschaffenden. Aus
Leipzig stammt der Beitrag Holmer Feldmann feat.
Piotr Baran, den das Kuratorenteam Daniel Hermann
und Alexander Klose auswählte, um das Verhältnis
von Klassik und Moderne zu diskutieren. Traditionel-
lerweise kuratiert Florian Wüst das Filmprogramm.
Dort dreht sich alles um Stadt als Schauplatz gesell-
schaftlicher Umbrüche und wird im Kiez Kino gezeigt.
Geführte Rundgänge sowie Exkursionen in den Wörlit-
zer Park oder in das Stadtarchiv Dessau-Rosslau ergän-
zen das Programm.                                                                                           grassi
                                                                                                             grassi
        Wer bis zum 2. Juni den Weg nach Dessau fin-
det, der kann sich auch gleich noch das Festival Archi-
tektur Radikal anschauen. Dabei geht es um zeitgemäße
                                                                                                        www.grassimuseum.de
radikale Bauten. BRITT SCHLEHAHN
■ Werkleitz Festival 2019 »Modell und Ruine«: bis 10.6., Dessau
                                                                                                                  /grassimak
■ Festival Architektur Radikal: bis 2.6., Bauhaus Museum Dessau

                                                                                                                                                                KREUZER 0619                                     71
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