IDEOLOGIE 01 20 - "Wo Ordnung sein soll " Prof. W. Münch, Bleibendes Vermächtnis 6 Dr. M. M. Müller, Dr. Friedrich Joseph Haass 24 ...

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IDEOLOGIE 01 20 - "Wo Ordnung sein soll " Prof. W. Münch, Bleibendes Vermächtnis 6 Dr. M. M. Müller, Dr. Friedrich Joseph Haass 24 ...
MEDIZIN &
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                                                                                                      42. Jahrgang
                             IDEOLOGIE

                                                        »Wo Ordnung sein soll ...«
                                                        Prof. W. Münch, Bleibendes Vermächtnis 6
                                                        Dr. M. M. Müller, Dr. Friedrich Joseph Haass 24

                             Informationsblatt der
                             Europäischen Ärzteaktion
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WIR ÜBER UNS

  Impressum                                 Die Europäische Ärzteaktion
  Herausgeber,
  Redaktion und Vertrieb:
  Europäische Ärzteaktion in den            ist eine gemeinnützige Vereinigung von              Dabei gibt der Name „Medizin und Ideo-
  deutschsprachigen Ländern e.V.            Ärzten und Nicht-Ärzten. Sie wurde 1975             logie“ immer mal wieder Anlaß zur Nach-
  Vordertullnberg 299                       in Ulm von Herrn Dr. Siegfried Ernst mit            frage, denn häufig versteht man unter
  A – 5580 Tamsweg                          der Zielsetzung gegründet, die Achtung des         „Ideologie“ eine eher willkürliche, sach-
                                            menschlichen Lebens vom Beginn der Zeu-             lich nur teilweise begründete und ver-
  Telefon AT: +43 (0) 664 – 11 88 820       gung bis zu seinem natürlichen Tod in allen         zerrte Wahrnehmung und Interpretation
  Telefon DE: +49 (0) 178 – 493 12 69       medizinischen und gesellschaftlichen Be-            der Realität. Doch der Begriff „Ideologie“
  E-Mail: aerzteaktion@t-online.de          reichen zu fördern.                                 bedeutet wörtlich die „Lehre von den Ide-
  Internet: www.eu-ae.com                                                                       en“ und die Ausformung einer konkreten
  Verantwortlich für den Inhalt:            Die rasant zunehmenden Möglichkeiten                weltanschaulichen Perspektive im Sinne
  Dr. Bernhard Gappmaier                    der Medizin lassen immer neu die Frage              eines schlüssigen Ideensystems. Und so
                                            aufkommen, ob das medizinisch Mach-                 dient diese Zeitschrift dem Anliegen, die
  Redaktion:                                bare wünschenswert und letztendlich                 medizinisch-ethischen Grenzfragen im
  Dr. Manfred M. Müller; Dr. Eva Salm       auch menschenwürdig ist. Der Mensch                 Kontext der sie beeinflussenden weltan-
  Gestaltung: Dr. Manfred M. Müller         darf nicht Objekt von Machbarkeitsstre-             schaulichen Ideen darzustellen und zu
  Satz: Jakub Sproski, MA                   ben sein, sondern er muß in seiner Ge-              verstehen.
                                            samtheit, in den Dimensionen von Körper,
  Grafisches Konzept:                       Geist und Seele verstanden werden, wie
  AugstenGrafik www.augsten.at              es im christlichen Verständnis des Men-                        Vereinsvorstand der
                                            schen beispielhaft zum Ausdruck kommt.                      Europäischen Ärzteaktion:
  Druck: Samson-Druck,
  A-5581 St. Margarethen
                                            Unsere Zeitschrift „Medizin und Ideolo-                   Dr. med. Bernhard Gappmaier
  Telefon: +43 (0) 6476 – 833-0
                                            gie“ bietet Beiträge von Autoren verschie-                   Dr. med. Siegfried Ernst
  Medizin und Ideologie                     dener Disziplinen zu den vielfältigen                       Dr. med. Reinhard Sellner
  erscheint viermal pro Jahr.               bioethischen und anthropologischen Fra-                        Dr. Winfried König
  Einzelausgabe: 4 € / Jahresabo: 16 €      gestellungen. Denn diese betreffen nicht
                                            nur die Medizin und die Ärzte, sondern

                                                                                                                                 .
                                            die Gesellschaft insgesamt. Und ihre Ein-          Die Europäische Ärzteaktion ist Mitglied
  Hinweise für Autoren                      schätzung und Lösung braucht sowohl                der World Federation of Doctors who Re-
                                            fachliches Wissen wie eine stimmige geis-          spect Human Life sowie Mitglied im Bun-
  Die Zusendung von Artikeln, Kom-          tige Orientierung.                                 desverband Lebensrecht (BvL).
  mentaren, Kurzinformationen oder
  Rezensionen zu bioethischen und an-
  thropologischen Fragestellungen aus
  den Bereichen der Medizin, Rechtswis-
  senschaften, Theologie, Philosophie,
  Pädagogik und anderen ist erwünscht.
  Aber auch Hinweise zu einzelnen Fra-
  gestellungen und Publikationen, die                        Jeder Beitrag zählt
  für die Zeitung geeignet erscheinen,
  sind willkommen.

  Der Umfang der Artikelbeiträge sollte     Da unsere gemeinsame Arbeit auch wei-                          Bankverbindungen
  in der Regel 2-6 Seiten betragen (Seite   terhin nur von den Spenden unserer
  zu 5.500 Buchstaben mit Leerzeichen).     Mitglieder und Freunde getragen wird,
  Ausnahmen sind in Einzelfällen            kommen wir nicht umhin, auch für die                              Deutschland:
  möglich, eventuell ist eine Darstellung   Zukunft um Spenden und Unterstützung                             Sparkasse Ulm
  in Folgeform anzustreben. Längere         zu bitten. Wir wollen dies aber nicht tun,             Konto-Nr. 123 509, BLZ 630 500 00
  Beiträge sollten einleitend mit einer     ohne gleichzeitig für alle bisherige Unter-           IBAN: DE 56 630 500 000 000 123509
  kurzen Zusammenfassung versehen           stützung zu danken. Besonders danken                         BIC: SOLADES 1 ULM
  werden, Artikel, Kommentare und           möchten wir auch jenen, die uns ihre tiefe
  Rezensionen abschließend mit einer        Verbundenheit und ihren Beistand durch                            Österreich:
  kurzen biographischen Notiz zur Per-      testamentarische Verfügung über ihren                   RAIKA Ramingstein – Thomatal
  son des Autors.                           eigenen Tod hinaus versichert haben. Wir                  Konto-Nr. 14 555, BLZ 35 050
                                            werden ihr aller Vertrauen rechtfertigen.              IBAN: AT48 3506 3000 1801 4555
  Die Beiträge sind in gedruckter Form                                                                   BIC: RVSAAT 2 S 063

                                    .
  und als Datei eines Standardprogram-

                                                                                                                                        .
                                            Am einfachsten und kostengünstigsten
  mes (z.B. Word) zu übersenden, nach       wäre es, wenn Sie uns einen Dauerauftrag
  telefonischer Absprache ist auch die      erteilen würden, den Sie jederzeit wider-          Selbstverständlich ist Ihre Spende auch
  Übersendung als E-Mail möglich.           rufen können.                                      weiterhin steuerlich abzugsfähig.

2 MEDIZIN & IDEOLOGIE 01/20                                            Titelfoto: Rainer Sturm - Puzzle mit Rechtsschutz - pixelio.de
IDEOLOGIE 01 20 - "Wo Ordnung sein soll " Prof. W. Münch, Bleibendes Vermächtnis 6 Dr. M. M. Müller, Dr. Friedrich Joseph Haass 24 ...
EDITORIAL

Liebe Mitglieder
und Freunde der
Europäischen
Ärzteaktion e.V. !

Ich werde Angst, Furcht und Panik               Fragen über Fragen
verursachen...                                      Sind letztlich die politisch verfügten,
    Zwei Weltkriege haben der Mensch-           zutiefst einschneidenden Maßnahmen
heit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-      der tatsächlichen Bedrohung angemes-
derts unermessliches Leid, Zerstörung           sen gewesen? Hat ein angstmachender
und Tod zugefügt.                               Krankheitserreger Machthabern die Ver-
    Die bisher vergangenen zwei Jahrzehn-       suchung und Gelegenheit zu einem be-
te des 21. Jahrhunderts wiederum stehen         sonderen gesellschaftspolitischen Ex-
im Zeichen schon wiederholt weltweit an-        periment abgegeben? D.h., wurde ein
gekündigter Seuchenbedrohungen.                 unsichtbar mysteriöser Krankheitserre-
    Und ein solches Krankheitsszenario          ger für weltpolitische Strategien miss-
hat uns in den letzten Monaten zu Zeu-          braucht, die in ihren Absichten zunächst
gen eines geschichtlich so noch nie da-         nicht einfachhin einsehbar sind? Strafen
gewesenen globalen Ereignisses werden           die vielen Erkrankten und Toten die ver-
lassen. Wir sind in die Geiselhaft eines        breiteten    Weltverschwörungstheorien
mysteriösen, todbringenden Krankheits-          Lügen? Werden wir unsere Erlösung von
erregers oder vielmehr der damit ein-           aller weiterhin drohenden Gefahr den
her gegangenen gesellschaftspolitischen         glorreichen Fortschritten der Wissen-
Maßnahmen genommen worden.                      schaft verdanken können? Wird somit
    Man hat sich selbst als neugieriger Zuse-   am Ende eine zwangsweise Impfung je-
her unvermittelt in ein einzigartiges Welten-   des Menschen den unsichtbaren Erreger
theater versetzt empfunden und das darge-       und alle Angst vor jehem Tode weltweit
botene Drama mit der ungewissen Spannung        besiegen?
verfolgt, womit das Regiebuch unbekannten           Einfache Antwort lassen sich auf all
Umfangs noch überraschen wird.                  die Fragen nicht geben.

                                                                                  01/20 MEDIZIN & IDEOLOGIE 3
IDEOLOGIE 01 20 - "Wo Ordnung sein soll " Prof. W. Münch, Bleibendes Vermächtnis 6 Dr. M. M. Müller, Dr. Friedrich Joseph Haass 24 ...
EDITORIAL

     Noch halten uns Einschränkun-        einzige      Diagnosevoraussetzung?       Vorbild für die Verwirklichung ihrer
gen vielfach in einem gelockerten         Angst als Ratgeber? Definition und        drängenden Klimaschutz-Umwelta-
Würgegriff fest! Im Verlauf wird jeder    Glaubwürdigkeit der Todeszahlen?          genda gesehen.
sich aus den zu erkennenden Wider-        Impfzwang? Unterdrückung sonsti-              Die Lobbyisten eines öffentlich
sprüchlichkeiten ein persönliches         ger Begleitaspekte?...), zweitens die     kaum wahrgenommenen Industrie-
Urteil bilden können, wenn nicht per-     gesellschaftlichen Begleitumstände        zweigs wiederum sorgten sich wegen
sönliche Angst und mediale Dauer-         (Verhältnismäßigkeit der politisch        der Einschränkungen in besonde-
propaganda das Erkenntnis- und Un-        verfügten Maßnahmen? Rolle der Me-        rer Weise um die Gefährdung eines
terscheidungsvermögen bedrohlich          dien? Wirtschaftliche Folgeschäden?       scheinbaren Grundrechts, nämlich
beeinträchtigt haben!                     Rechtfertigung der Grundrechtsein-        des „reproduktiven Rechtes“ der
     Es ist allemal beeindruckend, zu     schränkungen? Mögliche sonstige In-       Frauen auf Abtreibung – letztlich
welch unglaublichen Beschränkun-          teressen? Zensur der Kritiker?...) und    um ihre handfesten Geschäfte! Die
gen sich ein Großteil der Menschen        drittens die metaphysisch-religiöse       Not ließ sie erfinderisch werden:
zur Wahrung ihrer Gesundheit bzw.         Dimension der Ereignisse (Rechtfer-       Home-Service!
aus Angst vor Krankheit und Tod           tigung des radikalen Maßnahmen-               Vergleichsweise zu den in den
innerhalb kurzer Zeit hat bewegen         vollzugs der Kirche im Verein mit         vergangenen Monaten insgesamt
lassen. Und es ist zugleich sehr ver-     den Vorgaben des Staates? Virtual-        verstorbenen, meist alten Menschen
ständlich, dass manche wiederum           präsenz statt Realpräsenz? Teufel /       sind die nach Angaben der WHO
mit großer Sorge eine bedrohliche Ge-     Weihwasser? Wissenschaftsgläubig-         weltweit durch Abtreibungen im
fährdung der menschlichen Grund-          keit statt Vertrauen in die Sakramen-     Mutterleib jährlich umgebrachten 50
rechte einmahnen.                         te? Göttin „Ewige Gesundheit“ oder       – 60 Millionen Kinder himmelschrei-
     Ein weiser 94-jähriger Freund hat    der Himmel als Ziel? Geheime Of-          end. Würde dieselbe WHO diese Not
die Frage nach seinem Urteil zu den       fenbarung als geistlicher Kompass?        mit den Anstrengungen einzudäm-
aktuellen gesellschaftlichen Ereignis-    Gebete in den Familien als mögliche       men versuchen wollen, wie sie die
sen und politisch verfügten Maßnah-       Heilmittel auch gegen die Angst des       zuletzt ausgerufenen Pandemie mit
men mit der Erinnerung an Paralle-        Ungewissen?...)                           einem Impfstoff im Schnellverfahren
len aus seiner Jugendzeit beantwortet.        Ein junger politischer Hoffnungs-     in Griff zu bekommen vorgibt? Wür-
Insbesondere die Isolierung – „Social     träger hatte zwischenhinein die Wen-      den die verantwortlichen Politiker
Distancing“ – sei immer schon ein po-     de zu einer „neuen Kultur“ verkündet.     hierzulande der längst erkennbaren
litisches Mittel gewesen, Menschen        Gemeint hatte er damit vor allem,         Not der fehlenden eigenen Kinder für
für ideologische Indoktrinierungen        dass man sich so wie in Teilen Asiens     eine völlig überalterte Gesellschaft
gefügiger zu machen.                      auch in Europa an das Tragen von Ge-      mit einer ebenso raschen Gesetzes-
                                          sichtsmasken gewöhnen werde. Nun          novelle zum unantastbaren Schutz
                                          denn! Ein Hoch unserer neuen fort-        der menschlichen „Leibesfrucht“ vor-
                                          schrittlichen europäischen Kultur!        beugen? Würden sie diesem Unrecht
Ärztliche Ratsuche                        Das Interesse an den Vorbeugemaß-         ebenso großzügig entgegensteuern,
    Viele Patienten fragten in der ei-    nahmen beginnt sich zu erschöpfen.        wie sie viele Milliarden Steuergelder
genen ärztlichen Praxis verunsichert      Ob die vielen Notstandsgesetze wie-       zur staatlichen Schadensbegrenzung
zur persönlichen Einschätzung der         der ausgesetzt werden?                    für überzogene Maßnahmen zur Be-
tatsächlichen Gefährlichkeit nach.            Die vor allem wirtschaftlichen        herrschung einer zweifelhaften Pan-
Allerdings scheinen für die Ärzte das     Folgen sind noch nicht absehbar.          demie verfügt haben? Würden sie
Studium und die oft jahrelangen Er-                                                 zusammen mit den Kirchenführern
fahrungen zuletzt wertlos geworden                                                  alle mediale Einflussnahme, welche
zu sein. Denn nicht klinisch zu beob-     Interessant                               in den letzten Monaten zur Beherr-
achtende Symptome erschließen die             Die Krise des öffentlichen Still-     schung eines mysteriösen Krank-
Krankheit und ihre Bedrohlichkeit,        stands hat auch zu manchen inter-         heitserregers aufgewandt worden war,
sondern allein die (mithin zweifel-       essanten Klärungen beigetragen: die       zur Verteidigung auch der schutzlo-
haften) Testergebnisse der medizini-      Überängstlichen, die Skrupelanten,        sen Ungeborenen einsetzen?
schen Laboratorien. Das Bemühen,          die Medizingläubigen, die politisch           Die WHO und unsere politischen
als Arzt wenigstens das selbständi-       Willfährigen, die Rebellen und die        Verantwortungsträger werden es
ge Nachdenken der Hilfesuchenden          Denunzianten, eine Vielzahl von           nicht tun!
anzuregen, umfasste demnach drei          Charakteren haben in der Not ihre
hauptsächliche Aspekte, zu welchen        Profile deutlicher erscheinen lassen.       Aber wir dürfen uns mit die-
hier im Einzelnen nur Stichworte              Und ideologische Spitzen sind        sem Unrecht nicht abfinden. Dieser
angeführt werden: erstens das mys-        ebenso erkennbar geworden. Die Grü-      weltweite Krieg gegen die ungebore-
teriöse Virus selbst (Symptomen-          nen haben sich in den zügigen gesetz-    nen Kinder stellt alles andere in den
bild und Schwere? Labortests als          lichen Verfügungen gleich schon ein      Schatten!

                                                            Ihr
                                        Dr . m e d. Be r n h a r d Ga ppm a i e r,
                              Vor si tz e n de r de r Eu ropä isch e n Ä r z t e a k t ion

4 MEDIZIN & IDEOLOGIE 01/20
IDEOLOGIE 01 20 - "Wo Ordnung sein soll " Prof. W. Münch, Bleibendes Vermächtnis 6 Dr. M. M. Müller, Dr. Friedrich Joseph Haass 24 ...
INHALT

                                                                                             Inhalt
                                                                                            01 | 2020
       »Wo Ordnung sein soll, muß Disziplin sein, das ist aber nur möglich,
                 wo Gerechtigkeit ist, jeder seine Pf licht tut.«
                                                            JEREMIAS GOTTHELF

        Fundamente                                                        Blitzlicht
  6     Das »hörende Herz« König Salomons.                            18   Klartext I
        Die Ansprache Papst Benedikts XVI.                            20   Klartext II
        vor dem Deutschen Bundestag                                   21   Keine Statistik
        Prof. Dr. Werner Münch                                        33   Klartext III
                                                                      33   Smarthphones, Kinder und Pornographie
                                                                      35   Wann ist eine Frau eine Frau?
        Portrait                                                     37   Die fünfte Prophetie von Humanae vitae

24      Friedrich Joseph Haass
        10.08.1780–16.08.1853                                              Standards
        Die Güte
        oder: »Beeilt euch, Gutes zu tun.«                             2   Impressum / Wir über uns
        Dr. Manfred M. Müller                                          3   Editorial
                                                                      40   Interna

Foto: Rainer Sturm - Puzzle mit Rechtsschutz - pixelio.de                                             01/20 MEDIZIN & IDEOLOGIE 5
IDEOLOGIE 01 20 - "Wo Ordnung sein soll " Prof. W. Münch, Bleibendes Vermächtnis 6 Dr. M. M. Müller, Dr. Friedrich Joseph Haass 24 ...
FUNDAMENTE

               Fundamente
               Das »hörende Herz« König Salomons.
               Die Ansprache Papst Benedikts XVI.
                  vor dem Deutschen Bundestag
                                      Prof. Dr. Wer n er Mü nch

(Red.) Wir leben in schnellen Zeiten. Die Neuigkeiten   ren: »Ich bin einfach ein Pilger, der nun die letzte
und Sensationen jagen einander. Medien, Handys,         Etappe seines Weges auf dieser Erde antritt.« Am
Computer – der schnelle Zugriff und die schnellen       19. April 2005 war er zum 265. Papst in der Ge-
Klicks haben dafür gesorgt, daß wir gleichsam per-      schichte der katholischen Kirche gewählt worden
manent auf Hatz und Hetze getrimmt sind. Da tut es      und hat danach viele Menschen, die hören und
gut innezuhalten, sich zu erinnern, sich zu besinnen.   verstehen wollten, in seinem fast achtjährigen Pon-
Denn das Gedächtnis, wenn es recht arbeitet, ist ein    tifikat als brillanter Denker und Theologe sowie
Vermögen, in dem wir die Schätze finden, die blei-      als Lehrer des Glaubens von Weltrang tief beein-
ben. Es ist noch keine zehn Jahre her, daß Benedikt     druckt. Christus, seine große Liebe, stand dabei
XVI. seine Rede im Deutschen Bundestag gehalten         immer im Mittelpunkt. Karl-Heinz Menke, Pro-
hat. Prof. Dr. Werner Münch, Politikwissenschafter,     fessor em. für Dogmatik an der Universität Bonn,
einst Mitglied des Europäischen Parlaments sowie        schrieb anläßlich des fünften Jahrestages des Pon-
ehemaliger Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt,        tifikats von Benedikt XVI. am 15. April 2010:
ruft die berühmte Rede des Papstes in Erinnerung.           »Mehr als alle seine Vorgänger denkt und
Fundamente werden nicht gelegt durch das Ver-           handelt dieser Papst aus Grundüberzeugungen.
gessen, sondern in einer Kultur der Überlieferung       Er ist der Gelehrte auf dem Papstthron, der seine
und Bewahrung. Wer könnte berufener sein, den           Antworten auf die konkreten Herausforderungen
bleibenden Gehalt der päpstlichen Grundsatzrede         und Fragen der Gegenwart aus dem Glauben ablei-
ins Bewußtsein zu heben, als ein Politiker, zu dessen   tet, daß es objektive Wahrheit gibt und daß diese
Lebenswerk es gehört, mitzuarbeiten an den Grund-       Wahrheit offenbar geworden ist in den dreiund-
lagen einer menschenwürdigen Gesellschaft.              dreißig Jahren des Lebens, Leidens und Sterbens
                                                        Jesu Christi.« 1 Über 600 Publikationen, darunter
                                                        seine drei Bände über Jesus von Nazareth, drei
1. Benedikt XVI. und seine Botschaften an               Enzykliken und dreizehn Apostolische Schreiben
die Politik                                             legen davon ein beredtes Zeugnis ab.
   Die letzten öffentlichen Abschiedsworte von              Aber darüber hinaus gibt es auch viele Reden,
Papst Benedikt XVI. vom Balkon der päpstlichen          die er während seiner zahlreichen Besuchsreisen
Residenz in Castel Gandolfo im Februar 2013 wa-         gehalten hat. Seine Aufrufe zum Frieden sowie

6 MEDIZIN & IDEOLOGIE 01/20
IDEOLOGIE 01 20 - "Wo Ordnung sein soll " Prof. W. Münch, Bleibendes Vermächtnis 6 Dr. M. M. Müller, Dr. Friedrich Joseph Haass 24 ...
FUNDAMENTE

»Beim Kleinen beginnt alles, und je größer
 und mächtiger etwas werden soll, desto
  langsamer und scheinbar mühsamer
               wächst es.«
                         JEREMIAS GOTTHELF

gegen Gewalt und Mißachtung der menschlichen                       verankert ist. Person und Menschenwürde, Glaube
Würde standen dabei im Vordergrund. Hierbei                        und Vernunft sind Schlüsselbegriffe, auf die er in
richtete er sich oft an die Adresse der Politik und                seinen Publikationen, Ansprachen und Vorträgen
scheute keine Kritik, mit der er bestehende Miß-                   immer wieder hinweist.
stände anprangerte. Er hatte selbst in seiner Ju-                      Benedikt XVI. war also nicht nur theologisch
gendzeit den »braunen Terror« des Nazi-Regimes                     brillant, sondern in gesellschaftlichen und politi-
mit der »Bedrohung des Menschseins und des                         schen Fragen einer der großen Vordenker unserer
Glaubens« erlebt. In der 68er-Bewegung hat er die                  Zeit, nicht selten mit prophetischen Gaben.
besondere Gefahr gesehen, daß diese »Reformbe-                         Eine seiner zahlreichen bedeutenden Reden, die
wegung in der Kirche eine gefährliche Anpassung                    einen besonderen Rang haben, möchte ich heraus-
an die Welt« bedeutet, und in der sogenannten                      greifen und bewerten, nämlich seine Ansprache
Befreiungstheologie sah er »die Gefahr einer Poli-                 vor dem Deutschen Bundestag 2011.
tisierung des Glaubens und einer Sakralisierung
der Politik«. 2 Dies waren Einschnitte in seinem
Leben, die ihn geprägt haben und mit ein Grund                     2. Hinführung zur Rede Benedikts XVI.
waren, warum er immer wieder auf das Naturrecht                    im Deutschen Bundestag in Berlin am 22.
verwiesen hat, das für ihn nicht ein Katalog von                   September 2011
Normen und Pflichten, sondern eine Denkweise                           Vom 22. bis 25. September 2011 hat Benedikt
ist. Dabei sieht er die Herkunft des Naturrechts                   XVI. in einer Apostolischen Reise seine deutsche
in dem von der Natur her gegebenen Recht, das                      Heimat besucht und dabei zahlreiche Predigten,
dem menschlichen Wesen innewohnt und deshalb                       Ansprachen und Grußworte gehalten.3
auch nicht zufällig in zahlreichen Verfassungen                        Vor seinem Besuch gab es eine Reihe von öffent-
der Welt, oft einschließlich des Gottesbezuges,                    lichen Protesten, die sich nicht selten in Haß gegen

Foto: Kelli McClintock - https://unsplash.com/photos/wBgAVAGjzFg                                    01/20 MEDIZIN & IDEOLOGIE 7
IDEOLOGIE 01 20 - "Wo Ordnung sein soll " Prof. W. Münch, Bleibendes Vermächtnis 6 Dr. M. M. Müller, Dr. Friedrich Joseph Haass 24 ...
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die katholische Kirche und den Papst entluden.           Ernennung zum Papst, beschäftigte sich Joseph
    In Berlin formierte sich ein Aktionsbündnis          Ratzinger mit den Themen »Vernunft und Glaube/
»Der Papst kommt«, das sich »gegen die menschen-         Religion« bzw. »Natur und Gewissen«. Aus seinen
feindliche Geschlechter- und Sexualpolitik des           zahlreichen Schriften seien nur vier beispielhaft
Papstes« wandte, den sie »als einen der Hauptver-        erwähnt, die den Zeitraum von 1984 bis 2004 um-
antwortlichen für die Unterdrückung von Lesben,          fassen und zeigen, daß das von ihm im Deutschen
Schwulen und Transgender auf der Welt« verant-           Bundestag behandelte Thema schon lange, bevor
wortlich machten.                                        er Papst wurde, eine zentrale Rolle für ihn gespielt
    Einige Abgeordnete des Deutschen Bundestages         hat.
wollten nicht einmal die Toleranz aufbringen, sich
die Rede des Papstes wenigstens anzuhören, was           2.1 Wahrheit, Mehrheit und Gewissen
die meisten aber dann doch taten.                           1984 stellt er in einem Beitrag in der Frank-
    In Freiburg gab es wochenlang Leserbriefe in         furter Allgemeinen Zeitung die Frage, ob in Zei-
der regionalen Zeitung gegen den Besuch des Pap-         ten der Säkularisierung und der Diktatur des
stes mit der Begründung, der Sicherheitsaufwand          Relativismus die Annahme eines Naturrechts
und die Kosten seien nicht zu vertreten – eine           bzw. natürlichen Sittengesetzes noch aufrecht-
Begründung, die wir vorher noch nie zum Beispiel         zuerhalten ist oder ob nicht alte moralische
bei einem Fußballspiel oder einem Castor-Trans-          Gewissheiten längst zerbrochen sind. Er weist,
port gehört hatten.                                      nicht zum ersten Mal, darauf hin, daß der Staat
    Schon seit vielen Jahren, bereits lange vor seiner   »Kräfte von außerhalb seiner selbst braucht, um

      »Wer im Kleinen ungetreu ist, wird der treu im Großen werden? Und wer an Vater oder
        Mutter, Weib und Kindern ein Schelm ist, kann der ein Ehrenmann sein gegenüber
                            seiner Gemeinde oder gar dem Staate.«
                                             JEREMIAS GOTTHELF

8 MEDIZIN & IDEOLOGIE 01/20                                        Foto: Ravi Roshan - https://unsplash.com/photos/_AdUs32i0jc
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als er selbst bestehen zu können«.                     le und religiöse Überzeugungen »in den Bereich
    Seine Überzeugung faßt er wie folgt zusammen:      des ›Subjektiven‹« verbannt werden. »Nur die
»Es führt kein Weg daran vorbei, daß wir uns wie-      Überzeugung, daß es eine von Gott geschaffene
der zu einer größeren Weite der Vernunft bekehren      Vernunft gibt«, kann die »›Abschaffung des Men-
müssen, daß wir die moralische Vernunft wieder         schen‹ verhindern.« 8
als Vernunft erlernen müssen. Für das Staatswesen
heißt das, daß die Gesellschaft nie fertig ist, son-   2.3 Verantwortung vor Gott und den
dern immer wieder vom Gewissen her neu gebaut          Menschen
werden muß und nur von dorther gesichert werden            Auch in seinem 1991 erschienenen Buch Wen-
kann. Das bedeutet des Weiteren, daß der grundle-      dezeit für Europa? 9 , das Reden und Vorträge von
gende Akt für die Entwicklung und für das Über-        Joseph Ratzinger zu Themen des Verhältnisses von
dauern gerechter Gesellschaften die moralische Er-     Kirche und Welt enthält, die er in den Jahren zuvor
ziehung ist, in der der Mensch den Gebrauch seiner     gehalten hatte, widerspricht er der Behauptung
Freiheit erlernt ...« Der Staat »muß erkennen, daß     des Szientismus, daß die Natur »eine vom Zufall
ein Grundgefüge von christlich fundierten Werten       und seinen Spielregeln aufgebaute Montage« sei.
die Voraussetzung seines Bestehens ist ... Er muß      Vielmehr drücke sich Schöpfung in der Natur als
lernen, daß es einen Bestand von Wahrheit gibt,        der Creator Spiritus aus. »Der Staat ist nicht das
der nicht dem Konsens unterworfen ist, sondern         Reich Gottes ... er kann auch nicht selber Moral
ihm vorausgeht und ihn ermöglicht.« 4                  hervorbringen. Er bleibt gerade dann ein guter
                                                       Staat, wenn er diese seine Grenzen einhält«, und
2.2 Christlicher Glaube und öffentliche                er kann »nur gut bleiben ... wenn die Grundlagen
Vernunft                                               in Kräften sind, die er nicht selbst hervorbringt«.
     Am 26. November 1987 plädiert er im Rahmen        10
                                                          Seine Überzeugung lautet: »Die Verfassung ruht
der »Eichstätter Hochschulreden« für eine »Vernunft    auf Grundlagen, die sie selbst nicht vorschreiben
der Moral«, die nicht als »Kerker der Menschen«,       kann, sondern voraussetzen muß.« 11 Das haben
sondern geradezu als »das Göttliche an ihm« zu ver-    auch die Verfassungsgeber unseres Grundgesetzes
stehen sei, sowie für die »Vernunft des Glaubens«,     in der Präambel gemeint, die mit dem Satz be-
der nicht »Begrenzung oder Lähmung der Vernunft        ginnt: »Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor
ist, sondern sie erst zu ihrem eigenen Werk frei       Gott und den Menschen ... hat sich das Deutsche
macht«. 5 Es gebe »nicht nur Naturgesetze im Sinne     Volk ... dieses Grundgesetz gegeben.« 12 Und auf-
physikalischer Funktionen, sondern das eigentliche     grund dieser Überzeugung formuliert Ratzinger
Naturgesetz ist ein moralisches Gesetz«. Der christ-   die wunderschönen Sätze: »Moral ist nicht Kerker
liche Glaube sei nicht »eine Lähmung der Vernunft«,    des Menschen, sondern das Göttliche an ihm« 13
sondern ein »Vorposten menschlicher Freiheit«. 6       und: »Wo Gott ausgeschlossen wird, ist das Prinzip
Und er beendet seine Rede mit seinem Bekenntnis        Räuberbande – in unterschiedlich krassen oder
zum christlichen Naturrechtsdenken: »Der Mensch        gemilderten Formen – gegeben. Das beginnt sicht-
braucht das Ethos, um er selbst zu sein. Das Ethos     bar zu werden dort, wo das geordnete Umbringen
aber braucht den Schöpfungs- und den Unsterblich-      unschuldiger Menschen – Ungeborener – mit
keitsglauben, d. h. es braucht die Objektivität des    dem Schein des Rechts umkleidet wird, weil es
Sollens und die Endgültigkeit von Verantwortung        die Deckung des Interesses einer Mehrheit hinter
und Erfüllung.« 7                                      sich hat.« 14 Hier befindet er sich im Übrigen in
     Lothar Roos hat in seiner Auseinandersetzung      voller Übereinstimmung mit dem sogenannten
mit der Frage, wie Benedikt XVI. das moralische        »Böckenförde-Diktum« des früheren deutschen
Naturgesetz versteht, mit Recht darauf hingewie-       Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böc-
sen, daß bei einer »Verengung der Vernunft auf         kenförde, das lautet: »Der freiheitliche säkula-
die Wahrnehmung des Quantitativen« Werturtei-          risierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er

                                                                                       01/20 MEDIZIN & IDEOLOGIE 9
IDEOLOGIE 01 20 - "Wo Ordnung sein soll " Prof. W. Münch, Bleibendes Vermächtnis 6 Dr. M. M. Müller, Dr. Friedrich Joseph Haass 24 ...
FUNDAMENTE

                                                                                  Die Ordnung Gottes
                                                                                     läßt sich nicht
                                                                                  ungestraft verkehren
                                                                                     jeremias gotthelf

selbst nicht garantieren kann.« 15                         ist gebraucht.« 16 Deshalb ist die Menschlichkeit
                                                           des Naturrechtsgedankens für ihn so entschei-
2.4 Korrelation zwischen Glaube und                        dend, weshalb er sie auch in seiner Rede vor dem
Vernunft                                                   Deutschen Bundestag in den Mittelpunkt rückt.
    2004 schließlich führte Joseph Ratzinger einen         Und dabei kommt es ihm ganz entscheidend auf
Dialog mit Jürgen Habermas, der weltweit für Auf-          eine »notwendige Korrelationalität von Vernunft
sehen sorgte. Während Habermas in diesem Ge-               und Glaube, Vernunft und Religion« an, die »zu
spräch für »die praktische Vernunft eines nachme-          gegenseitiger Reinigung und Heilung berufen sind
taphysischen säkularen Denkens« plädiert, steht            und sich gegenseitig brauchen und das gegenseitig
bei Ratzinger »die jeder rationalen gemeinschaft-          anerkennen müssen«. 17
lichen Festsetzung vorausliegende Wirklichkeit
des Menschen von seinem Schöpfer her« im Mit-
telpunkt. Aufgrund dieser Prämisse treibt ihn die          3. Ansprache im Deutschen Bundestag in
Frage nach dem Recht und seinen Grundlagen um,             Berlin am 22. September 2011
ohne die ein Staat dauerhaft und menschenwürdig                Die Ansprache des Papstes vor den Abgeordne-
nicht funktionieren kann. Ratzinger verteidigt ein         ten des Deutschen Bundestages greift genau diese
Recht, »das aus der Natur, dem Sein des Menschen           vorher aufgezeigten zentralen Fragen auf. Sein
selbst folgt«. Dabei stellt er mit Bedauern fest, daß      wesentliches Anliegen war es, »Gedanken über
»das Naturrecht, welches früher als feste Größe            die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaates«
galt«, nur noch »als Argumentationsfigur« geblie-          vorzutragen. 18 Der Papst erzählt eine kleine Ge-
ben, aber »leider stumpf geworden« sei. Das sei eine       schichte aus der Heiligen Schrift, aus dem ersten
Folge der Evolutionstheorie, die er für falsch hält        Buch der Könige. Salomon bittet Gott, bevor er
und gegen die er seine eigene Position stellt: »Wir        zum König gekrönt wird, ihm in seiner Regent-
sind nicht das zufällige und sinnlose Produkt der          schaft ein »hörendes Herz« zu verleihen. Daraus
Evolution. Jeder von uns ist Frucht eines Gedan-           leitet der Papst für die Abgeordneten die Regel ab,
kens Gottes. Jeder ist gewollt, jeder ist geliebt, jeder   daß der Grund für die Arbeit und letzter Maßstab

10 MEDIZIN & IDEOLOGIE 01/20                                                             Foto: Lupo - Justitia - pixelio.de
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des Wirkens eines Politikers »nicht der Erfolg und    deshalb: »Die Fenster müssen wieder aufgerissen
schon gar nicht materieller Gewinn« sein darf,        werden, wir müssen wieder die Weite der Welt, den
sondern dass Politik »Mühen um Gerechtigkeit«         Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu
19
   sein muß. Dann wird er noch deutlicher: »Dem       gebrauchen lernen.« 25 Und wie geht das? Antwort:
Recht zu dienen und der Herrschaft des Unrechts       »Es gibt auch eine Ökologie des Menschen ... Der
zu wehren ist und bleibt die grundlegende Aufga-      Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit
be des Politikers.« 20 Und er fragt: »Wie erkennen    ... Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und
wir, was recht ist?«                                  sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur
    In seiner Antwort unterscheidet er zwischen       achtet, sie hört und sich annimmt als der, der er ist
zwei Kategorien, nämlich solchen, bei denen »die      und der sich nicht selbst gemacht hat.« 26
Mehrheit ein genügendes Kriterium« sein kann,              In diesem Zusammenhang weist Benedikt XVI.
und anderen, »in denen es um die Würde des Men-       auf den bedeutenden Vertreter des Rechtspositi-
schen und der Menschheit geht« 21 , bei denen das     vismus, Hans Kelsen (1881–1973), hin, der gesagt
in Demokratien angewandte Mehrheitsprinzip als        hat, »daß Normen nur aus dem Willen kommen
Entscheidungsgrundlage nicht ausreicht. Was aber      können. Die Natur könnte folglich Normen nur
ist recht in diesen wichtigen Fragen? Früher seien    enthalten ... wenn ein Wille diese Normen in sie
es die Grundbegriffe Natur und Gewissen gewesen       hineingelegt hätte. Dies wiederum ... würde einen
(also das erbetene »hörende Herz« des Salomon),       Schöpfergott voraussetzen, dessen Wille in die Na-
aber im letzten halben Jahrhundert habe es hier       tur miteingegangen ist.« Zu der Aussage Kelsens,
eine dramatische Veränderung gegeben. »Der Ge-        daß es aussichtslos sei, über die Wahrheit dieses
danke des Naturrechts gilt heute als katholische      Glaubens zu diskutieren, bemerkt Benedikt XVI:
Sonderlehre«, weil inzwischen in weiten Teilen von    »Ist es wirklich sinnlos zu bedenken, ob die ob-
Gesellschaft und Politik ein »positivistisches Ver-   jektive Vernunft, die sich in der Natur zeigt, nicht
ständnis von Natur« 22 herrscht. Dies bedeutet: Die   eine schöpferische Vernunft, einen Creator Spiri-
Natur wird »rein funktional« gesehen, und deshalb     tus, voraussetzt?« Und mit dem Hinweis auf 24 das
gibt es »keine Brücke zu Ethos und Recht«. »Was       kulturelle Erbe Europas faßt er zusammen: »Von
nicht verifizierbar oder falsifizierbar ist, gehört   der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die
danach nicht in den Bereich der Vernunft im stren-    Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit
geren Sinne. Deshalb müssen Ethos und Religion        aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der
dem Raum des Subjektiven zugewiesen werden            Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem ein-
und fallen aus dem Bereich der Vernunft im stren-     zelnen Menschen und das Wissen um die Verant-
gen Sinne des Wortes heraus.« 23                      wortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt
    Der Papst erkennt die positivistische Weltsicht   worden. Diese Erkenntnisse der Vernunft bilden
als einen wichtigen und unverzichtbaren Aspekt        unser kulturelles Gedächtnis. Es zu ignorieren
ausdrücklich an. Aber er allein könne keine »dem      oder als bloße Vergangenheit zu betrachten, wäre
Menschen in seiner Weite entsprechende und            eine Amputation unserer Kultur insgesamt und
genügende Kultur« hervorbringen, sondern dazu         würde sie ihrer Ganzheit berauben.« 27 Die Er-
gehörten »alle übrigen Einsichten und Werte un-       kenntnisse Jerusalems (der »Gottesglaube Israels«),
serer Kultur«, und diese dürften auf gar keinen       Athens (die »philosophische Vernunft der Grie-
Fall in die »Kulturlosigkeit« oder in den »Status     chen«) und Roms (das »Rechtsdenken«) haben die
einer Subkultur« 24 verbannt werden. Es gebe keine    Kultur Europas gestaltet. »Sie hat im Bewußtsein
Begründung für eine Alleinherrschaft des Rechts-      der Verantwortung vor Gott und in Anerkennung
positivismus und eine damit verbundene Disqua-        der unantastbaren Würde des Menschen, eines
lifikation und Ablehnung des Naturrechts. Eine        jeden Menschen, Maßstäbe des Rechts gesetzt, die
sich »exklusiv gebende positivistische Vernunft«      zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde
gleiche »den Betonbauten ohne Fenster«. Und           aufgegeben ist.« 28

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4. Bewertungen der Grundpositionen                    einem vagen religiösen Mystizismus; vom Agno-
Benedikts XVI.                                        stizismus zum Synkretismus, und so weiter. Jeden
     Selbstverständlich hat der Papst mit seiner      Tag entstehen neue Sekten, und dabei tritt ein, was
Ansprache durch seine Hinweise auf das »hörende       der heilige Paulus über den Betrug unter den Men-
Herz« König Salomons auf die christliche Tradition    schen und über die irreführende Verschlagenheit
und Kultur Europas aufmerksam machen wollen.          gesagt hat (vgl. Eph 4,14). Einen klaren Glauben
Darüber hinaus hat er mit seinen grundsätzlichen      nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als
Anmerkungen über das Naturrecht, die Ökologie         Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der
des Menschen und seine Würde sowie über den           Relativismus, das sich ›vom Windstoß irgendeiner
Zusammenhang von objektiver und subjektiver           Lehrmeinung Hin-und-hertreiben-Lassen‹, als die
Vernunft, von Vernunft und Glaube, Vernunft und       heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint.
Natur, Natur und Gewissen gleichzeitig seine be-      Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die
rechtigte Sorge wegen des mangelnden Schutzes         nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß
von Ehe und Familie zum Ausdruck gebracht. Er         nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten läßt.
hat den Menschen unmissverständlich davor ge-         Wir haben jedoch ein anderes Maß: den Sohn
warnt, die Axt an den Baum des Lebens zu legen        Gottes, den wahren Menschen. Er ist das Maß des
und Schöpfer spielen zu wollen, weil er mit der       wahren Humanismus.« 29
Rolle als Geschöpf Gottes nicht mehr zufrieden            Schon ein Jahr vor seinem Deutschlandbesuch
ist (Stichworte zum Beispiel: Abtreibung, Stamm-      hatte der Papst in seiner Ansprache im Vatikan an
zellenforschung, Präimplantationsdiagnostik,          Herrn Walter Jürgen Schmid, damals neuer Bot-
Reproduktionsmedizin, aktive Sterbehilfe, Gender-     schafter beim Heiligen Stuhl, unmißverständlich
Mainstreaming, gleichgeschlechtliche Lebens-          erklärt, daß die katholische Kirche die Entwicklun-
partnerschaften, Abwertung von Ehe und Familie        gen im Lebensschutz und bei Ehe und Familie in
sowie Sexualisierung von Kindern und Pädophilie;      Deutschland nicht akzeptieren kann. Diese Geset-
die Aufhebung des Inzesttabus und das Einfrie-        ze »tragen zu einer Aufweichung naturrechtlicher
ren von Eizellen, das sogenannte Social Freezing,     Prinzipien und damit der Relativierung der gesam-
waren 2011 noch kein Thema). Er hat dazu aufge-       ten Gesetzgebung, aber auch zu einer Verschwom-
fordert, Kurs zu halten, und hatte dabei besonders    menheit der Wertvorstellungen in der Gesellschaft
den Politiker im Blick, der Entscheidungen für das    bei ... Der Mensch hat immer Vorrang gegenüber
Gemeinwohl fällt und Gesetze beschließt. Er hat       anderen Zwecken. Die neuen Möglichkeiten von
ihn ermahnt, sich nicht dem Zeitgeist und einem       Biotechnologie und Medizin führen uns hier oft
Relativismus zu unterwerfen, weil diese Entwick-      in komplexe Situationen, die einer Wanderung auf
lungen allein von einer positivistischen Weltsicht    schmalem Grat gleichen. Wir haben die Pflicht, ge-
beherrscht werden, die für den Menschen verhee-       nau zu prüfen, wo solche Verfahren eine Hilfe für
rend ist.                                             den Menschen sein können und wo es um Mani-
     Bereits in der heiligen Messe zur Wahl des       pulation des Menschen, um eine Verletzung seiner
neuen Papstes 2005 hatte Joseph Ratzinger gesagt:     Integrität und Würde geht. Wir können uns diesen
»Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in die-        Entwicklungen nicht verweigern, müssen aber sehr
sen letzten Jahrzehnten kennengelernt, wie viele      wachsam sein. Wenn man einmal damit beginnt,
ideologische Strömungen, wie viele Denkweisen         und oft geschieht dies schon im Mutterleib, zwi-
... Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist   schen lebenswertem und lebensunwertem Leben
nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken           zu unterscheiden, wird keine andere Lebensphase
gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen        ausgespart bleiben, gerade auch Alter und Krank-
worden: vom Marxismus zum Liberalismus bis            heit nicht.« 30 Benedikt XVI. bedrückte es also zu-
hin zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum         tiefst, in welcher Weise christliche Grundüberzeu-
radikalen Individualismus; vom Atheismus zu           gungen in unserem Land aufgeweicht worden oder

12 MEDIZIN & IDEOLOGIE 01/20
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schon gänzlich auf der Strecke geblieben sind.                  denken und zu leben historisch bedingt und an
    Die Vermittlung dieser Botschaft war sein zen-              historische Kulturen gebunden. Sie als allein gültig
trales Anliegen in Berlin, und deshalb hat er in                zu betrachten, würde den Menschen verkleinern
seiner Rede im Deutschen Bundestag am 22. Sep-                  und ihm wesentliche Dimensionen seiner Existenz
tember 2011 für alle, besonders für die Mitglieder              nehmen. Wo das Ethos in seinem über das Prag-
der Legislative, ein »hörendes Herz« erbeten, also              matische hinausweisenden wahren Wesen und der
»die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und               Blick auf Gott keinen Raum mehr finden, ist der
so wahres Recht zu setzen, der Gerechtigkeit zu                 Mensch nicht größer, sondern kleiner geworden.
dienen und dem Frieden«. 31                                     Die positivistische Vernunft hat ihren Ort in den
    Welchen zentralen Stellenwert die Frage nach                großen Handlungsfeldern von Technik und Wirt-
dem wahren Menschen für ihn einnimmt, hat der                   schaft, aber sie füllt nicht das Ganze des Menschen
emeritierte Papst noch im Herbst 2014 in einer                  aus.« 32
Botschaft an die Päpstliche Universität Urbaniana                   Immer wieder hat es während des Pontifikats
anläßlich der feierlichen Eröffnung ihrer restau-               von Benedikt XVI., natürlich auch schon vor sei-
rierten »Aula Magna« zum Beginn des akademi-                    ner Rede im Deutschen Bundestag 2011, Kritik an
schen Jahres 2014/2015 wie folgt zum Ausdruck                   seinen ethischen und moralischen Auffassungen
gebracht: »In der Gegenwart werden die Stimmen                  gegeben, vor allem bezüglich seiner Absichten,
lauter, die uns einreden wollen, daß Religion an                das Naturrechtsdenken zu revitalisieren und das
sich überholt sei. Nur die kritische Vernunft dürfe             bei politischen Entscheidungen in Demokratien
das Handeln der Menschen bestimmen. Hinter                      übliche Mehrheitsprinzip zu relativieren. Es ist
solchen Auffassungen steht die Meinung, mit dem                 lohnenswert, sich näher mit diesen beiden Fragen
positivistischen Denken sei nun die Vernunft in                 zu beschäftigen, die zusammengehören und nicht
ihrer ganzen Reinheit endgültig zur Herrschaft                  voneinander zu trennen sind. Einige Meinungen
gekommen. In Wirklichkeit ist auch diese Art zu                 hierzu sollen vorgestellt werden:

                      »An unbeschränkter Freiheit gehen die Menschen
                   nicht dutzendweise, sondern zu Tausenden zugrunde.«
                                                      JEREMIAS GOTTHELF

Foto: Adri Ramdeane - https://unsplash.com/photos/HXWBIBMokQw                                    01/20 MEDIZIN & IDEOLOGIE 13
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     Es gibt ein sehr schönes Wort bei Scott Hahn,      was möglich und machbar ist, ohne Frage nach
Benjamin Wiker in ihrer Auseinandersetzung mit          der ethischen Qualität beschlossen und verwirk-
der Gottesleugnung von Richard Dawkins, das             licht werden darf – auch dann nicht, wenn es eine
lautet: »Die göttlichen Gebote sind ... in der Natur    Mehrheit dafür gibt. Und auch wenn das den Ver-
verwurzelt (und hier nehmen wir die Position des        teidigern dieser Position oft vorgeworfen wird: Das
katholischen Naturrechts ein, das besagt, daß Got-      hat nichts mit Fundamentalismus zu tun!
tes moralische Gebote in der Natur zum Ausdruck             Die Verfassungsgeber unseres Grundgesetzes
kommen, nicht durch willkürliche Setzungen).            haben aufgrund der historischen Erfahrungen
Um dafür ein offenkundiges Beispiel zu geben:           vier Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges
›Du sollst nicht töten‹ ist ein Gebot, das allein die   nicht zufällig den ersten Satz in der Präambel so
Menschen betrifft, eben weil sie Menschen sind          formuliert: »Im Bewußtsein seiner Verantwortung
... Ein anderes Beispiel ist die Ehe, die in gewisser   vor Gott und den Menschen ...« und in den Grund-
Weise eine heilige Einrichtung ist, die zwar auf        rechten in Artikel 1 festgestellt: (1) »Die Würde
die Unterscheidung zwischen Männchen und                des Menschen ist unantastbar ...« sowie (2) »Das
Weibchen im Tierreich zurückgeht, aber auch weit        Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzli-
darüber hinausgeht, weil zu ihr eine Treue gehört,      chen und unveräußerlichen Menschenrechten als
die viel mehr durch den Schöpfer als durch bloße        Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des
Fortpflanzung bestimmt ist. Diese Gebote sind           Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.« 37
unverletzlich, weil sie in der menschlichen Natur           Daß es ein Recht gibt, nämlich das Naturrecht
verwurzelt sind, die dadurch definiert ist, daß sie     als Gottesrecht, das höher ist als alle Gesetze, ein-
in ihrem Sein als Abbild Gottes geschaffen wurde.       schließlich seiner Akzeptanz, wird zum Beispiel
Menschen haben daher Anteil an Gottes eigener,          darin deutlich, daß 1954 die Strafrichter des Bun-
heiliger Unverletzlichkeit. Daher ist auch das mo-      desgerichtshofes die Auffassung vertraten, daß
ralisch Gute und Böse in der geschaffenen Natur         jeder Selbstmord verboten sei und es die sittliche
verwurzelt.« 33                                         Ordnung verlange, »daß sich der Verkehr der Ge-
     Joachim Kardinal Meisner hat bezüglich dieser      schlechter grundsätzlich in der Einehe vollziehe,
Frage schon 2001 festgestellt: »Es geht nicht um        weil der Sinn und die Folge des Verkehrs das Kind«
eine katholische Sonderethik, sondern um den            sei. 38 Ist es 63 Jahre später nicht einmal mehr er-
rechten Gebrauch der Vernunft.« 34                      laubt, daran zu erinnern?
     Lothar Roos verweist in einem Beitrag von              Die Tatsache, daß Benedikt XVI. politische
2004 zu dieser Thematik sowohl auf die heiligen         Entscheidungen in einem demokratischen Staat
Päpste Johannes XXIII. (Pacem in Terris) als auch       noch nicht deshalb für gut und richtig hält, weil sie
auf Johannes Paul II. (Fides et Ratio) mit der Fest-    »formal korrekt durch demokratisch legitimierte
stellung, daß es ein »Festhalten an einer objektiven    parlamentarische Mehrheiten getroffen« worden
Wahrheit« geben muß und »wir nur mithilfe der           sind, hat nichts damit zu tun, wie ihm häufiger
uns vom Schöpfergott geschenkten natürlichen            unterstellt worden ist, daß er gegenüber der Demo-
Vernunft die Unterscheidung von Gut und Böse            kratie negativ eingestellt sei, sondern beruht nach
vornehmen« können. 35 Wir sind wie Roos in der          Stefan Ahrens lediglich darauf, daß er »Fehlent-
Frage dieser Unterscheidung eben nicht der Auffas-      wicklungen innerhalb des aufgeklärten Denkens«
sung von Rousseau, daß alles das gut ist, was die       benennt und dazu auch den Positivismus und
Volonté générale (»der Gemeinwillen des Volkes«)        den Empirismus zählt, die »zu einem veränderten,
dafür hält, oder, in die heutige Sprache übersetzt,     szientistisch-instrumentellen Vernunftverständnis
was eine Mehrheit beschließt, sondern »daß es eine      geführt haben«. 39
mit der menschlichen Natur gegebene, nicht mehr             In einem Beitrag über das moralische Natur-
hinterfragbare Würde jedes Menschen … gibt«.            gesetz von Benedikt XVI. hat Lothar Roos die
36
    Dies heißt nichts anderes, als daß nicht alles,     anthropologischen Grundlagen der mit der Natur

14 MEDIZIN & IDEOLOGIE 01/20
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des Menschen gegebenen conditio humana in fol-
genden drei Punkten zusammengefaßt: 40
• das »Selbstverständnis des Menschen als morali-
    sches Wesen«; 41
• der Mensch hat sich »unabhängig von Raum und
    Zeit stets in gleicher Weise zu bewähren«; 42
• durch »Grundvertrauen in die Vernunft«. 43

Eben deshalb ist bei Benedikt XVI. die Natur
»Schöpfung« und das »eigentliche Naturgesetz ...
ein moralisches Gesetz«. 44
     Die »wirkliche und schlimmste Bedrohung un-
serer Zeit«, so sagt Joseph Ratzinger, liegt in dem
»Ungleichgewicht zwischen technischen Möglich-
keiten und moralischer Stärke«. 45
     Auch Joachim Detjen hat Ende der 80er-Jahre
klargestellt, daß es ohne unverletzliche und un-
veräußerliche Menschenrechte »keinen Schutz vor
dem Willen eines Einzelnen oder einer Mehrheit«
gebe. 46 Und der Rechtsgelehrte Martin Kriele sagt
in seiner Staatslehre unzweideutig, daß Menschen-
rechte Naturrecht sind. Sie »gelten zeitlich gesehen
ewig, räumlich gesehen überall auf der Welt, sie
sind in der Natur oder in Gottes Schöpfung ver-
wurzelt, sie haben den Charakter der Heiligkeit
oder Unverbrüchlichkeit«. 47
     Geradezu abstoßend wirkt es dagegen, wenn            Niemand weiß,
der britischdeutsche Journalist Alan Posener in            was ein Kind
einem 2009 erschienenen Buch behauptet: »Die             ist, und was ein
benediktinische Wende bedeutet: Abkehr von der            Kind birgt. Das
Moderne, Rollback der Aufklärung, Einschränkung             Kind ist ein
der Demokratie, Abschied vom wissenschaftli-             Neujahrstag, und
chen Denken, Schluß mit der Emanzipation der             der Neujahrstag
Frau und der sexuellen Selbstbestimmung des              trägt ein ganzes
Menschen. Sie bedeutet eine massive Umdeutung             Jahr in seinem
der Geschichte und eine Umwertung aller Werte            Schoße; ein Kind
... Benedikts Kreuzzug bedeutet ... die Verneinung         ist ein Rätsel,
von allem, was den Westen bei aller Unzulänglich-          und in diesem
keit zur liebens- und lebenswertesten Gesellschaft       Rätsel liegt viel-
macht, die unser Planet bislang gekannt hat.« 48 Da       leicht der Stein
hier offensichtlich Blindheit und Haß die Feder ge-         der Weisen.
führt haben, verbietet sich eine Kommentierung.
     Kopfschütteln ruft aber auch ein Beitrag von            JEREMIAS
Stephan Goertz, Professor für Moraltheologie (!)             GOTTHELF
in Mainz, hervor, den er kurz vor dem Besuch
von Benedikt XVI. in Deutschland im Septem-

Foto: PICSEA - https://unsplash.com/photos/LfNmCLx9r0s                  01/20 MEDIZIN & IDEOLOGIE 15
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ber 2011 veröffentlicht hat. 49 Er behauptet, daß    ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fi-
die Theologie dieses Papstes »ohne human- oder       scher hatte erkannt: »Eine Ethik, die sich nicht auf
sozialwissenschaftliche Vermittlung« auskommt        die tiefer reichende, normative Kraft einer verbind-
und bemerkt: »Wir haben bei Ratzingers Begriff       lichen Religion ... stützen kann, wird es schwer
der Moderne so etwas wie einen blinden Fleck zu      haben, sich in der Gesellschaft durchzusetzen und
konstatieren.« 50 Das über die klugen Gedanken       von Dauer zu sein ...« 51
eines Papstes zu sagen, von dem man nachweislich         Welche Aufmerksamkeit die Ansprache Papst
behaupten kann, daß kaum ein anderer so diffe-       Benedikts XVI. im Deutschen Bundestag in Berlin
renziert in zahlreichen Veröffentlichungen und Re-   am 22. September 2011 ausgelöst hat, wird nicht
den über das Verhältnis von Glaube und Vernunft      zuletzt daran deutlich, daß es ein eigenes Buch nur
sowie über Vernunft und Naturrecht nachgedacht       zu dieser Rede mit zehn Beiträgen von zehn Auto-
hat wie Benedikt XVI., ist überheblich und auch      ren aus vier Ländern (Deutschland, Italien, Nieder-
falsch. Joseph Ratzingers Theozentrik gegen die      lande und Österreich) gibt. 52 Die Beurteilungen der
Autonomie der Gesellschaft und des Einzelnen         Autoren gehen weit auseinander. Beispielhaft seien
auszuspielen, macht schon deshalb keinen Sinn,       nur je eine negative und eine positive Stimme
weil in mehreren empirischen Untersuchungen          zitiert. Es bleibt dabei dem Leser überlassen, sich
zweifelsfrei nachgewiesen ist, daß eine gottlose     selbst ein Urteil zu bilden:
Gesellschaft zu einem signifikanten Moralverfall     • »Nicht zuletzt der Umstand, daß Benedikt XVI.
führen würde.                                             die in der ›Moderne‹ erhobenen Ansprüche
    Selbst der frühere Politiker der »Grünen« und         prinzipiell infrage stellt, seine Fundierung der

                               »Gute Leute finden immer gute Leute.«
                                        JEREMIAS GOTTHELF

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FUNDAMENTE

    Gottesthematik hingegen auf unzureichende
    bzw. obsolet gewordene Begründungsfiguren
    stützt, weist wohl auf eindringliche Weise diese
    ›Glaubenskrise‹ in der Tat als eine ›Gotteskrise‹
    aus. Die Reden des Papstes bestätigen in Wahr-
    heit also lediglich, wie tief diese Krise ist – und
    demonstrieren zudem die Ohnmacht, in der die
    Leitung der katholischen Kirche ihr gegenüber-
    steht.« 53
•   Und trotz einiger kritischer Einschränkungen
    die positive Bewertung: Hier hat »ein ehemaliger
    Professor eine glänzende geisteswissenschaft-
    liche Rede vorgetragen, von deren gedankli-
    chem Niveau man dem Bundestag recht viele
    wünscht«. 54

Das bleibende Vermächtnis dieser Papstrede liegt
darin, daß der Papst die Korrelation zwischen
Naturrecht und Schöpfer sowie zwischen Glau-
be und Vernunft herausgestellt hat. Er hat das
Naturrecht aus der Geschichte und der christli-
chen Kultur definiert. Dem Positivismus hat er
zwar seine Vorzüge bescheinigt, aber gleichzeitig         Die Redaktion von Medizin und Ideologie ent-
seine Bedrohungen und das für den Menschen                nimmt den vorstehenden Beitrag dem Buch von
Schädliche, Tödliche oder Vernichtende nicht              Prof. Münch, Freiheit ohne Gott. Kirche und Politik
verschwiegen. Und er hat die Politiker ermahnt,           in der Verantwortung. Erschienen im Verlag
in Fragen, die die Würde des Menschen betreffen,          Media Maria, 3. Aufl. 2019, S. 38–58.
nicht ausschließlich nach dem in anderen weni-                Wir danken Autor und Verlag herzlich für die
ger wichtigen Fragen in Demokratien üblichen              Genehmigung zum Abdruck!
Mehrheitsprinzip zu entscheiden. Eine wertfreie
und religionslose Gesellschaft, in der Tugenden
für unnötig gehalten und durch Techniken er-              Fußnoten
setzt werden, die man verifizieren oder falsifizie-
                                                          1   Karl-Heinz Menke, »Theologie im Petrusamt«, in: Rheinischer Merkur, 15. April
ren kann, gibt es nämlich nicht. Gerade aus der               2010.

Historie der Neuzeit (u. a. Nationalsozialismus,          2   Interview mit Siegfried Wiedenhofer, in: Rheinischer Merkur, 12. April 2007.
Faschismus, Stalinismus, Kommunismus, Maois-
                                                          3   Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 189, Apostolische Reise Seiner Hei-
mus und militantem religiösem Fanatismus, wie                 ligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg, 22.–25. September
                                                              2011, Predigten, Ansprachen und Grußworte, a. a. O., S. 30–38.
zum Beispiel Islamismus mit allen schrecklichen
                                                          4   Joseph Kardinal Ratzinger, »Der Mut zur Unvollkommenheit und zum Ethos«,
Folgen) wissen wir, daß eine Trennung von Politik             in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. August 1984.
und Ethik, Werten und Moral schon zu genug Ka-
                                                          5   Joseph Kardinal Ratzinger, »Abbruch und Aufbruch. Die Antwort des Glaubens
tastrophen geführt hat.                                       auf die Krise der Werte«, in: Eichstätter Hochschulreden, Heft 61, München
                                                              1988, S. 5–19, bes. S. 16.

                                                          6   Ebd., S. 17.
Gerade deshalb war diese Rede von Benedikt XVI.

                                           .
so wichtig und das für seine Besuchsreise nach            7   Ebd., S. 18.

Deutschland gewählte Leitwort so richtig wie be-          8   Lothar Roos, »Was allen Menschen wesensgemäß ist – Das moralische Naturge-
                                                              setz bei Papst Benedikt XVI.«, in: Kirche und Gesellschaft, Nr. 330, Köln 2006, S.
rechtigt: »Wo Gott ist, da ist Zukunft.«55                    3–16, bes. S. 4.

                                                                                                                01/20 MEDIZIN & IDEOLOGIE 17
FUNDAMENTE

9   Joseph Kardinal Ratzinger, Wendezeit für Europa? Diagnosen und Prognosen zur      40 Lothar Roos, »Was allen Menschen wesensgemäß ist – Das moralische Naturge-
    Lage von Kirche und Welt, a. a. O.                                                   setz bei Papst Benedikt XVI.«, in: Kirche und Gesellschaft, Heft Nr. 330, S. 13–16.
                                                                                      41 Ebd., S. 5.
10 Ebd., S. 100.
                                                                                      42 Ebd., S. 6.
11 Ebd., S. 109.
                                                                                      43 Ebd., S. 6.
12 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, Präambel.
                                                                                      44 Ebd., S. 7.
13 Ebd., S. 26.
                                                                                      45 Vortrag von Joseph Kardinal Ratzinger kurz vor seiner Wahl zum Papst in
14 Ebd., S. 96.                                                                          Subiaco am 1. April 2005, in: Medizin und Ideologie, 3/2005, S. 18.

15 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt a.M., 2.      46 Joachim Detjen, Neopluralismus und Naturrecht, Paderborn 1988, S. 639.
   Aufl. 2016, S. 60.                                                                 47 Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, Stuttgart 1994, S. 132.

16 Predigt von Papst Benedikt XVI. in der heiligen Messe bei seiner Amtseinfüh-       48 Alan Posener, »Kreuzzug gegen die Moderne«, in: Benedikts Kreuzzug. Der
   rung am 24. April 2005 in Rom, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls,          Angriff des Vatikans auf die moderne Gesellschaft, Berlin 2009, S. 18.
   Nr. 168, Der Anfang – Papst Benedikt XVI. – Joseph Ratzinger, Predigten und
   Ansprachen April/Mai 2005, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.),      49 Stephan Goertz, »Theozentrik oder Autonomie? Zur Kritik und Hermeneutik
   Bonn 2005, S. 30–36, bes. S. 35.                                                      der Moral der Moderne bei Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.«, in: ETHICA, 19
                                                                                         (2011) 1, S. 51–83.
17 Florian Schuller, Vorwort, in: Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger, Dialektik der
   Säkularisierung, Über Vernunft und Religion, Freiburg 2011.                        50 Ebd., S. 74.

18 Ansprache von Papst Benedikt XVI. im Deutschen Bundestag, in: Verlautba-           51 Joschka Fischer, Die Linke nach dem Sozialismus, Hamburg 1992, S. 191.
   rungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 189, Apostolische Reise Seiner Heiligkeit
   Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg, 22.–25. September 2011,      52   Georg Essen (Hg.), Verfassung ohne Grund? Die Rede des Papstes im Bundestag,
   Predigten, Ansprachen und Grußworte, a. a. O., S. 30.                                   Freiburg 2012.

19 Ebd., 30 f.                                                                        53 Rudolf Langthaler, »Einige Gedanken zu bestimmenden Themen in der Papst-
                                                                                         rede im Deutschen Bundestag«, in: Georg Essen (Hg.), Verfassung ohne Grund?
20 Ebd., 31.                                                                             Die Rede des Papstes im Bundestag, ebd., S. 147–178, bes. S. 167 f.

21 Ebd., 32.                                                                          54 Tine Stein, »Zur ethischen Funktion des Naturrechts – nicht nur für den Staat«,
                                                                                         in: ebd., S. 205–216, bes. S. 206.
22 Ebd., 34.
                                                                                      55 Dieser Beitrag war bereits erschienen in der Schriftenreihe »Veröffentlichun-
23 Ebd., 35.                                                                             gen der Joseph-Höffner-Gesellschaft«, Band 4, Paderborn 2015, S. 67–96.

24 Ebd., S. 35 f.

25 Ebd., S. 36.

26 Ebd., S. 37.

27 Ebd., S. 37 f.

28 Ebd., S. 38.

29 Benedikt XVI., Missa pro eligendo Romano Pontifice, 18. Mai 2005.

30 Ansprache des Heiligen Vaters Papst Benedikt XVI. an Herrn Walter Jürgen
   Schmid, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland beim Heiligen Stuhl, 13.
   September 2010.

31 Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 189, Apostolische Reise S einer
   Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg, 22.–25. Septem-
   ber 2011, Predigten, Ansprachen und Grußworte, a. a. O., S. 38.

32 Benedikt XVI., »Die wahre Religion«, in: Die Tagespost, 25. Oktober 2014.

33 Scott Hahn, Benjamin Wiker, Antwort auf den neuen Atheismus – Gegen Richard
   Dawkins’ Gottesleugnung, Illertissen 2012, S. 153 f.

34 Joachim Kardinal Meisner, in: Die Tagespost, 23. Juni 2001.
                                                                                      Klartext I
35 Lothar Roos, »Die politische Verantwortung des Christen unter Bedingungen
   von Pluralismus, Laizismus und Relativismus«, in: Unitas, 2004, S. 184 f.
                                                                                      Abgeordneter verurteilt Abtreibung:
36 Ebd., S. 185.
                                                                                      »Nächste Woche habe ich Geburtstag, aber
37 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Präambel und Art. 1.
                                                                                      61 Millionen Amerikaner haben keinen.«
38 Walter Grasnick, »Ab mit Würde«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Okto-         (…) Nächste Woche werde ich Geburtstag ha-
   ber 2003.
                                                                                      ben, aber 61 Millionen Amerikaner haben keinen.
39 Stefan Ahrens, »Zur Legitimation demokratischer Ordnung bei Joseph Ratzin-
   ger/Benedikt XVI. Ein Kreuzzug gegen die politische Moderne?«, in: Die Neue        Lassen Sie diesen Gedanken mal kurz auf sich
   Ordnung, 68. Jg., Heft 4, 2014, S. 244–255, bes. S. 249–251.
                                                                                      einwirken, denn das ist die Bevölkerung von Ka-

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