IDEOLOGIE 01 20 - "Wo Ordnung sein soll " Prof. W. Münch, Bleibendes Vermächtnis 6 Dr. M. M. Müller, Dr. Friedrich Joseph Haass 24 ...
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MEDIZIN & 01 20 Einzelpreis 4,– € | B13915 42. Jahrgang IDEOLOGIE »Wo Ordnung sein soll ...« Prof. W. Münch, Bleibendes Vermächtnis 6 Dr. M. M. Müller, Dr. Friedrich Joseph Haass 24 Informationsblatt der Europäischen Ärzteaktion
WIR ÜBER UNS Impressum Die Europäische Ärzteaktion Herausgeber, Redaktion und Vertrieb: Europäische Ärzteaktion in den ist eine gemeinnützige Vereinigung von Dabei gibt der Name „Medizin und Ideo- deutschsprachigen Ländern e.V. Ärzten und Nicht-Ärzten. Sie wurde 1975 logie“ immer mal wieder Anlaß zur Nach- Vordertullnberg 299 in Ulm von Herrn Dr. Siegfried Ernst mit frage, denn häufig versteht man unter A – 5580 Tamsweg der Zielsetzung gegründet, die Achtung des „Ideologie“ eine eher willkürliche, sach- menschlichen Lebens vom Beginn der Zeu- lich nur teilweise begründete und ver- Telefon AT: +43 (0) 664 – 11 88 820 gung bis zu seinem natürlichen Tod in allen zerrte Wahrnehmung und Interpretation Telefon DE: +49 (0) 178 – 493 12 69 medizinischen und gesellschaftlichen Be- der Realität. Doch der Begriff „Ideologie“ E-Mail: aerzteaktion@t-online.de reichen zu fördern. bedeutet wörtlich die „Lehre von den Ide- Internet: www.eu-ae.com en“ und die Ausformung einer konkreten Verantwortlich für den Inhalt: Die rasant zunehmenden Möglichkeiten weltanschaulichen Perspektive im Sinne Dr. Bernhard Gappmaier der Medizin lassen immer neu die Frage eines schlüssigen Ideensystems. Und so aufkommen, ob das medizinisch Mach- dient diese Zeitschrift dem Anliegen, die Redaktion: bare wünschenswert und letztendlich medizinisch-ethischen Grenzfragen im Dr. Manfred M. Müller; Dr. Eva Salm auch menschenwürdig ist. Der Mensch Kontext der sie beeinflussenden weltan- Gestaltung: Dr. Manfred M. Müller darf nicht Objekt von Machbarkeitsstre- schaulichen Ideen darzustellen und zu Satz: Jakub Sproski, MA ben sein, sondern er muß in seiner Ge- verstehen. samtheit, in den Dimensionen von Körper, Grafisches Konzept: Geist und Seele verstanden werden, wie AugstenGrafik www.augsten.at es im christlichen Verständnis des Men- Vereinsvorstand der schen beispielhaft zum Ausdruck kommt. Europäischen Ärzteaktion: Druck: Samson-Druck, A-5581 St. Margarethen Unsere Zeitschrift „Medizin und Ideolo- Dr. med. Bernhard Gappmaier Telefon: +43 (0) 6476 – 833-0 gie“ bietet Beiträge von Autoren verschie- Dr. med. Siegfried Ernst Medizin und Ideologie dener Disziplinen zu den vielfältigen Dr. med. Reinhard Sellner erscheint viermal pro Jahr. bioethischen und anthropologischen Fra- Dr. Winfried König Einzelausgabe: 4 € / Jahresabo: 16 € gestellungen. Denn diese betreffen nicht nur die Medizin und die Ärzte, sondern . die Gesellschaft insgesamt. Und ihre Ein- Die Europäische Ärzteaktion ist Mitglied Hinweise für Autoren schätzung und Lösung braucht sowohl der World Federation of Doctors who Re- fachliches Wissen wie eine stimmige geis- spect Human Life sowie Mitglied im Bun- Die Zusendung von Artikeln, Kom- tige Orientierung. desverband Lebensrecht (BvL). mentaren, Kurzinformationen oder Rezensionen zu bioethischen und an- thropologischen Fragestellungen aus den Bereichen der Medizin, Rechtswis- senschaften, Theologie, Philosophie, Pädagogik und anderen ist erwünscht. Aber auch Hinweise zu einzelnen Fra- gestellungen und Publikationen, die Jeder Beitrag zählt für die Zeitung geeignet erscheinen, sind willkommen. Der Umfang der Artikelbeiträge sollte Da unsere gemeinsame Arbeit auch wei- Bankverbindungen in der Regel 2-6 Seiten betragen (Seite terhin nur von den Spenden unserer zu 5.500 Buchstaben mit Leerzeichen). Mitglieder und Freunde getragen wird, Ausnahmen sind in Einzelfällen kommen wir nicht umhin, auch für die Deutschland: möglich, eventuell ist eine Darstellung Zukunft um Spenden und Unterstützung Sparkasse Ulm in Folgeform anzustreben. Längere zu bitten. Wir wollen dies aber nicht tun, Konto-Nr. 123 509, BLZ 630 500 00 Beiträge sollten einleitend mit einer ohne gleichzeitig für alle bisherige Unter- IBAN: DE 56 630 500 000 000 123509 kurzen Zusammenfassung versehen stützung zu danken. Besonders danken BIC: SOLADES 1 ULM werden, Artikel, Kommentare und möchten wir auch jenen, die uns ihre tiefe Rezensionen abschließend mit einer Verbundenheit und ihren Beistand durch Österreich: kurzen biographischen Notiz zur Per- testamentarische Verfügung über ihren RAIKA Ramingstein – Thomatal son des Autors. eigenen Tod hinaus versichert haben. Wir Konto-Nr. 14 555, BLZ 35 050 werden ihr aller Vertrauen rechtfertigen. IBAN: AT48 3506 3000 1801 4555 Die Beiträge sind in gedruckter Form BIC: RVSAAT 2 S 063 . und als Datei eines Standardprogram- . Am einfachsten und kostengünstigsten mes (z.B. Word) zu übersenden, nach wäre es, wenn Sie uns einen Dauerauftrag telefonischer Absprache ist auch die erteilen würden, den Sie jederzeit wider- Selbstverständlich ist Ihre Spende auch Übersendung als E-Mail möglich. rufen können. weiterhin steuerlich abzugsfähig. 2 MEDIZIN & IDEOLOGIE 01/20 Titelfoto: Rainer Sturm - Puzzle mit Rechtsschutz - pixelio.de
EDITORIAL Liebe Mitglieder und Freunde der Europäischen Ärzteaktion e.V. ! Ich werde Angst, Furcht und Panik Fragen über Fragen verursachen... Sind letztlich die politisch verfügten, Zwei Weltkriege haben der Mensch- zutiefst einschneidenden Maßnahmen heit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun- der tatsächlichen Bedrohung angemes- derts unermessliches Leid, Zerstörung sen gewesen? Hat ein angstmachender und Tod zugefügt. Krankheitserreger Machthabern die Ver- Die bisher vergangenen zwei Jahrzehn- suchung und Gelegenheit zu einem be- te des 21. Jahrhunderts wiederum stehen sonderen gesellschaftspolitischen Ex- im Zeichen schon wiederholt weltweit an- periment abgegeben? D.h., wurde ein gekündigter Seuchenbedrohungen. unsichtbar mysteriöser Krankheitserre- Und ein solches Krankheitsszenario ger für weltpolitische Strategien miss- hat uns in den letzten Monaten zu Zeu- braucht, die in ihren Absichten zunächst gen eines geschichtlich so noch nie da- nicht einfachhin einsehbar sind? Strafen gewesenen globalen Ereignisses werden die vielen Erkrankten und Toten die ver- lassen. Wir sind in die Geiselhaft eines breiteten Weltverschwörungstheorien mysteriösen, todbringenden Krankheits- Lügen? Werden wir unsere Erlösung von erregers oder vielmehr der damit ein- aller weiterhin drohenden Gefahr den her gegangenen gesellschaftspolitischen glorreichen Fortschritten der Wissen- Maßnahmen genommen worden. schaft verdanken können? Wird somit Man hat sich selbst als neugieriger Zuse- am Ende eine zwangsweise Impfung je- her unvermittelt in ein einzigartiges Welten- des Menschen den unsichtbaren Erreger theater versetzt empfunden und das darge- und alle Angst vor jehem Tode weltweit botene Drama mit der ungewissen Spannung besiegen? verfolgt, womit das Regiebuch unbekannten Einfache Antwort lassen sich auf all Umfangs noch überraschen wird. die Fragen nicht geben. 01/20 MEDIZIN & IDEOLOGIE 3
EDITORIAL Noch halten uns Einschränkun- einzige Diagnosevoraussetzung? Vorbild für die Verwirklichung ihrer gen vielfach in einem gelockerten Angst als Ratgeber? Definition und drängenden Klimaschutz-Umwelta- Würgegriff fest! Im Verlauf wird jeder Glaubwürdigkeit der Todeszahlen? genda gesehen. sich aus den zu erkennenden Wider- Impfzwang? Unterdrückung sonsti- Die Lobbyisten eines öffentlich sprüchlichkeiten ein persönliches ger Begleitaspekte?...), zweitens die kaum wahrgenommenen Industrie- Urteil bilden können, wenn nicht per- gesellschaftlichen Begleitumstände zweigs wiederum sorgten sich wegen sönliche Angst und mediale Dauer- (Verhältnismäßigkeit der politisch der Einschränkungen in besonde- propaganda das Erkenntnis- und Un- verfügten Maßnahmen? Rolle der Me- rer Weise um die Gefährdung eines terscheidungsvermögen bedrohlich dien? Wirtschaftliche Folgeschäden? scheinbaren Grundrechts, nämlich beeinträchtigt haben! Rechtfertigung der Grundrechtsein- des „reproduktiven Rechtes“ der Es ist allemal beeindruckend, zu schränkungen? Mögliche sonstige In- Frauen auf Abtreibung – letztlich welch unglaublichen Beschränkun- teressen? Zensur der Kritiker?...) und um ihre handfesten Geschäfte! Die gen sich ein Großteil der Menschen drittens die metaphysisch-religiöse Not ließ sie erfinderisch werden: zur Wahrung ihrer Gesundheit bzw. Dimension der Ereignisse (Rechtfer- Home-Service! aus Angst vor Krankheit und Tod tigung des radikalen Maßnahmen- Vergleichsweise zu den in den innerhalb kurzer Zeit hat bewegen vollzugs der Kirche im Verein mit vergangenen Monaten insgesamt lassen. Und es ist zugleich sehr ver- den Vorgaben des Staates? Virtual- verstorbenen, meist alten Menschen ständlich, dass manche wiederum präsenz statt Realpräsenz? Teufel / sind die nach Angaben der WHO mit großer Sorge eine bedrohliche Ge- Weihwasser? Wissenschaftsgläubig- weltweit durch Abtreibungen im fährdung der menschlichen Grund- keit statt Vertrauen in die Sakramen- Mutterleib jährlich umgebrachten 50 rechte einmahnen. te? Göttin „Ewige Gesundheit“ oder – 60 Millionen Kinder himmelschrei- Ein weiser 94-jähriger Freund hat der Himmel als Ziel? Geheime Of- end. Würde dieselbe WHO diese Not die Frage nach seinem Urteil zu den fenbarung als geistlicher Kompass? mit den Anstrengungen einzudäm- aktuellen gesellschaftlichen Ereignis- Gebete in den Familien als mögliche men versuchen wollen, wie sie die sen und politisch verfügten Maßnah- Heilmittel auch gegen die Angst des zuletzt ausgerufenen Pandemie mit men mit der Erinnerung an Paralle- Ungewissen?...) einem Impfstoff im Schnellverfahren len aus seiner Jugendzeit beantwortet. Ein junger politischer Hoffnungs- in Griff zu bekommen vorgibt? Wür- Insbesondere die Isolierung – „Social träger hatte zwischenhinein die Wen- den die verantwortlichen Politiker Distancing“ – sei immer schon ein po- de zu einer „neuen Kultur“ verkündet. hierzulande der längst erkennbaren litisches Mittel gewesen, Menschen Gemeint hatte er damit vor allem, Not der fehlenden eigenen Kinder für für ideologische Indoktrinierungen dass man sich so wie in Teilen Asiens eine völlig überalterte Gesellschaft gefügiger zu machen. auch in Europa an das Tragen von Ge- mit einer ebenso raschen Gesetzes- sichtsmasken gewöhnen werde. Nun novelle zum unantastbaren Schutz denn! Ein Hoch unserer neuen fort- der menschlichen „Leibesfrucht“ vor- schrittlichen europäischen Kultur! beugen? Würden sie diesem Unrecht Ärztliche Ratsuche Das Interesse an den Vorbeugemaß- ebenso großzügig entgegensteuern, Viele Patienten fragten in der ei- nahmen beginnt sich zu erschöpfen. wie sie viele Milliarden Steuergelder genen ärztlichen Praxis verunsichert Ob die vielen Notstandsgesetze wie- zur staatlichen Schadensbegrenzung zur persönlichen Einschätzung der der ausgesetzt werden? für überzogene Maßnahmen zur Be- tatsächlichen Gefährlichkeit nach. Die vor allem wirtschaftlichen herrschung einer zweifelhaften Pan- Allerdings scheinen für die Ärzte das Folgen sind noch nicht absehbar. demie verfügt haben? Würden sie Studium und die oft jahrelangen Er- zusammen mit den Kirchenführern fahrungen zuletzt wertlos geworden alle mediale Einflussnahme, welche zu sein. Denn nicht klinisch zu beob- Interessant in den letzten Monaten zur Beherr- achtende Symptome erschließen die Die Krise des öffentlichen Still- schung eines mysteriösen Krank- Krankheit und ihre Bedrohlichkeit, stands hat auch zu manchen inter- heitserregers aufgewandt worden war, sondern allein die (mithin zweifel- essanten Klärungen beigetragen: die zur Verteidigung auch der schutzlo- haften) Testergebnisse der medizini- Überängstlichen, die Skrupelanten, sen Ungeborenen einsetzen? schen Laboratorien. Das Bemühen, die Medizingläubigen, die politisch Die WHO und unsere politischen als Arzt wenigstens das selbständi- Willfährigen, die Rebellen und die Verantwortungsträger werden es ge Nachdenken der Hilfesuchenden Denunzianten, eine Vielzahl von nicht tun! anzuregen, umfasste demnach drei Charakteren haben in der Not ihre hauptsächliche Aspekte, zu welchen Profile deutlicher erscheinen lassen. Aber wir dürfen uns mit die- hier im Einzelnen nur Stichworte Und ideologische Spitzen sind sem Unrecht nicht abfinden. Dieser angeführt werden: erstens das mys- ebenso erkennbar geworden. Die Grü- weltweite Krieg gegen die ungebore- teriöse Virus selbst (Symptomen- nen haben sich in den zügigen gesetz- nen Kinder stellt alles andere in den bild und Schwere? Labortests als lichen Verfügungen gleich schon ein Schatten! Ihr Dr . m e d. Be r n h a r d Ga ppm a i e r, Vor si tz e n de r de r Eu ropä isch e n Ä r z t e a k t ion 4 MEDIZIN & IDEOLOGIE 01/20
INHALT Inhalt 01 | 2020 »Wo Ordnung sein soll, muß Disziplin sein, das ist aber nur möglich, wo Gerechtigkeit ist, jeder seine Pf licht tut.« JEREMIAS GOTTHELF Fundamente Blitzlicht 6 Das »hörende Herz« König Salomons. 18 Klartext I Die Ansprache Papst Benedikts XVI. 20 Klartext II vor dem Deutschen Bundestag 21 Keine Statistik Prof. Dr. Werner Münch 33 Klartext III 33 Smarthphones, Kinder und Pornographie 35 Wann ist eine Frau eine Frau? Portrait 37 Die fünfte Prophetie von Humanae vitae 24 Friedrich Joseph Haass 10.08.1780–16.08.1853 Standards Die Güte oder: »Beeilt euch, Gutes zu tun.« 2 Impressum / Wir über uns Dr. Manfred M. Müller 3 Editorial 40 Interna Foto: Rainer Sturm - Puzzle mit Rechtsschutz - pixelio.de 01/20 MEDIZIN & IDEOLOGIE 5
FUNDAMENTE Fundamente Das »hörende Herz« König Salomons. Die Ansprache Papst Benedikts XVI. vor dem Deutschen Bundestag Prof. Dr. Wer n er Mü nch (Red.) Wir leben in schnellen Zeiten. Die Neuigkeiten ren: »Ich bin einfach ein Pilger, der nun die letzte und Sensationen jagen einander. Medien, Handys, Etappe seines Weges auf dieser Erde antritt.« Am Computer – der schnelle Zugriff und die schnellen 19. April 2005 war er zum 265. Papst in der Ge- Klicks haben dafür gesorgt, daß wir gleichsam per- schichte der katholischen Kirche gewählt worden manent auf Hatz und Hetze getrimmt sind. Da tut es und hat danach viele Menschen, die hören und gut innezuhalten, sich zu erinnern, sich zu besinnen. verstehen wollten, in seinem fast achtjährigen Pon- Denn das Gedächtnis, wenn es recht arbeitet, ist ein tifikat als brillanter Denker und Theologe sowie Vermögen, in dem wir die Schätze finden, die blei- als Lehrer des Glaubens von Weltrang tief beein- ben. Es ist noch keine zehn Jahre her, daß Benedikt druckt. Christus, seine große Liebe, stand dabei XVI. seine Rede im Deutschen Bundestag gehalten immer im Mittelpunkt. Karl-Heinz Menke, Pro- hat. Prof. Dr. Werner Münch, Politikwissenschafter, fessor em. für Dogmatik an der Universität Bonn, einst Mitglied des Europäischen Parlaments sowie schrieb anläßlich des fünften Jahrestages des Pon- ehemaliger Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, tifikats von Benedikt XVI. am 15. April 2010: ruft die berühmte Rede des Papstes in Erinnerung. »Mehr als alle seine Vorgänger denkt und Fundamente werden nicht gelegt durch das Ver- handelt dieser Papst aus Grundüberzeugungen. gessen, sondern in einer Kultur der Überlieferung Er ist der Gelehrte auf dem Papstthron, der seine und Bewahrung. Wer könnte berufener sein, den Antworten auf die konkreten Herausforderungen bleibenden Gehalt der päpstlichen Grundsatzrede und Fragen der Gegenwart aus dem Glauben ablei- ins Bewußtsein zu heben, als ein Politiker, zu dessen tet, daß es objektive Wahrheit gibt und daß diese Lebenswerk es gehört, mitzuarbeiten an den Grund- Wahrheit offenbar geworden ist in den dreiund- lagen einer menschenwürdigen Gesellschaft. dreißig Jahren des Lebens, Leidens und Sterbens Jesu Christi.« 1 Über 600 Publikationen, darunter seine drei Bände über Jesus von Nazareth, drei 1. Benedikt XVI. und seine Botschaften an Enzykliken und dreizehn Apostolische Schreiben die Politik legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Die letzten öffentlichen Abschiedsworte von Aber darüber hinaus gibt es auch viele Reden, Papst Benedikt XVI. vom Balkon der päpstlichen die er während seiner zahlreichen Besuchsreisen Residenz in Castel Gandolfo im Februar 2013 wa- gehalten hat. Seine Aufrufe zum Frieden sowie 6 MEDIZIN & IDEOLOGIE 01/20
FUNDAMENTE »Beim Kleinen beginnt alles, und je größer und mächtiger etwas werden soll, desto langsamer und scheinbar mühsamer wächst es.« JEREMIAS GOTTHELF gegen Gewalt und Mißachtung der menschlichen verankert ist. Person und Menschenwürde, Glaube Würde standen dabei im Vordergrund. Hierbei und Vernunft sind Schlüsselbegriffe, auf die er in richtete er sich oft an die Adresse der Politik und seinen Publikationen, Ansprachen und Vorträgen scheute keine Kritik, mit der er bestehende Miß- immer wieder hinweist. stände anprangerte. Er hatte selbst in seiner Ju- Benedikt XVI. war also nicht nur theologisch gendzeit den »braunen Terror« des Nazi-Regimes brillant, sondern in gesellschaftlichen und politi- mit der »Bedrohung des Menschseins und des schen Fragen einer der großen Vordenker unserer Glaubens« erlebt. In der 68er-Bewegung hat er die Zeit, nicht selten mit prophetischen Gaben. besondere Gefahr gesehen, daß diese »Reformbe- Eine seiner zahlreichen bedeutenden Reden, die wegung in der Kirche eine gefährliche Anpassung einen besonderen Rang haben, möchte ich heraus- an die Welt« bedeutet, und in der sogenannten greifen und bewerten, nämlich seine Ansprache Befreiungstheologie sah er »die Gefahr einer Poli- vor dem Deutschen Bundestag 2011. tisierung des Glaubens und einer Sakralisierung der Politik«. 2 Dies waren Einschnitte in seinem Leben, die ihn geprägt haben und mit ein Grund 2. Hinführung zur Rede Benedikts XVI. waren, warum er immer wieder auf das Naturrecht im Deutschen Bundestag in Berlin am 22. verwiesen hat, das für ihn nicht ein Katalog von September 2011 Normen und Pflichten, sondern eine Denkweise Vom 22. bis 25. September 2011 hat Benedikt ist. Dabei sieht er die Herkunft des Naturrechts XVI. in einer Apostolischen Reise seine deutsche in dem von der Natur her gegebenen Recht, das Heimat besucht und dabei zahlreiche Predigten, dem menschlichen Wesen innewohnt und deshalb Ansprachen und Grußworte gehalten.3 auch nicht zufällig in zahlreichen Verfassungen Vor seinem Besuch gab es eine Reihe von öffent- der Welt, oft einschließlich des Gottesbezuges, lichen Protesten, die sich nicht selten in Haß gegen Foto: Kelli McClintock - https://unsplash.com/photos/wBgAVAGjzFg 01/20 MEDIZIN & IDEOLOGIE 7
FUNDAMENTE die katholische Kirche und den Papst entluden. Ernennung zum Papst, beschäftigte sich Joseph In Berlin formierte sich ein Aktionsbündnis Ratzinger mit den Themen »Vernunft und Glaube/ »Der Papst kommt«, das sich »gegen die menschen- Religion« bzw. »Natur und Gewissen«. Aus seinen feindliche Geschlechter- und Sexualpolitik des zahlreichen Schriften seien nur vier beispielhaft Papstes« wandte, den sie »als einen der Hauptver- erwähnt, die den Zeitraum von 1984 bis 2004 um- antwortlichen für die Unterdrückung von Lesben, fassen und zeigen, daß das von ihm im Deutschen Schwulen und Transgender auf der Welt« verant- Bundestag behandelte Thema schon lange, bevor wortlich machten. er Papst wurde, eine zentrale Rolle für ihn gespielt Einige Abgeordnete des Deutschen Bundestages hat. wollten nicht einmal die Toleranz aufbringen, sich die Rede des Papstes wenigstens anzuhören, was 2.1 Wahrheit, Mehrheit und Gewissen die meisten aber dann doch taten. 1984 stellt er in einem Beitrag in der Frank- In Freiburg gab es wochenlang Leserbriefe in furter Allgemeinen Zeitung die Frage, ob in Zei- der regionalen Zeitung gegen den Besuch des Pap- ten der Säkularisierung und der Diktatur des stes mit der Begründung, der Sicherheitsaufwand Relativismus die Annahme eines Naturrechts und die Kosten seien nicht zu vertreten – eine bzw. natürlichen Sittengesetzes noch aufrecht- Begründung, die wir vorher noch nie zum Beispiel zuerhalten ist oder ob nicht alte moralische bei einem Fußballspiel oder einem Castor-Trans- Gewissheiten längst zerbrochen sind. Er weist, port gehört hatten. nicht zum ersten Mal, darauf hin, daß der Staat Schon seit vielen Jahren, bereits lange vor seiner »Kräfte von außerhalb seiner selbst braucht, um »Wer im Kleinen ungetreu ist, wird der treu im Großen werden? Und wer an Vater oder Mutter, Weib und Kindern ein Schelm ist, kann der ein Ehrenmann sein gegenüber seiner Gemeinde oder gar dem Staate.« JEREMIAS GOTTHELF 8 MEDIZIN & IDEOLOGIE 01/20 Foto: Ravi Roshan - https://unsplash.com/photos/_AdUs32i0jc
FUNDAMENTE als er selbst bestehen zu können«. le und religiöse Überzeugungen »in den Bereich Seine Überzeugung faßt er wie folgt zusammen: des ›Subjektiven‹« verbannt werden. »Nur die »Es führt kein Weg daran vorbei, daß wir uns wie- Überzeugung, daß es eine von Gott geschaffene der zu einer größeren Weite der Vernunft bekehren Vernunft gibt«, kann die »›Abschaffung des Men- müssen, daß wir die moralische Vernunft wieder schen‹ verhindern.« 8 als Vernunft erlernen müssen. Für das Staatswesen heißt das, daß die Gesellschaft nie fertig ist, son- 2.3 Verantwortung vor Gott und den dern immer wieder vom Gewissen her neu gebaut Menschen werden muß und nur von dorther gesichert werden Auch in seinem 1991 erschienenen Buch Wen- kann. Das bedeutet des Weiteren, daß der grundle- dezeit für Europa? 9 , das Reden und Vorträge von gende Akt für die Entwicklung und für das Über- Joseph Ratzinger zu Themen des Verhältnisses von dauern gerechter Gesellschaften die moralische Er- Kirche und Welt enthält, die er in den Jahren zuvor ziehung ist, in der der Mensch den Gebrauch seiner gehalten hatte, widerspricht er der Behauptung Freiheit erlernt ...« Der Staat »muß erkennen, daß des Szientismus, daß die Natur »eine vom Zufall ein Grundgefüge von christlich fundierten Werten und seinen Spielregeln aufgebaute Montage« sei. die Voraussetzung seines Bestehens ist ... Er muß Vielmehr drücke sich Schöpfung in der Natur als lernen, daß es einen Bestand von Wahrheit gibt, der Creator Spiritus aus. »Der Staat ist nicht das der nicht dem Konsens unterworfen ist, sondern Reich Gottes ... er kann auch nicht selber Moral ihm vorausgeht und ihn ermöglicht.« 4 hervorbringen. Er bleibt gerade dann ein guter Staat, wenn er diese seine Grenzen einhält«, und 2.2 Christlicher Glaube und öffentliche er kann »nur gut bleiben ... wenn die Grundlagen Vernunft in Kräften sind, die er nicht selbst hervorbringt«. Am 26. November 1987 plädiert er im Rahmen 10 Seine Überzeugung lautet: »Die Verfassung ruht der »Eichstätter Hochschulreden« für eine »Vernunft auf Grundlagen, die sie selbst nicht vorschreiben der Moral«, die nicht als »Kerker der Menschen«, kann, sondern voraussetzen muß.« 11 Das haben sondern geradezu als »das Göttliche an ihm« zu ver- auch die Verfassungsgeber unseres Grundgesetzes stehen sei, sowie für die »Vernunft des Glaubens«, in der Präambel gemeint, die mit dem Satz be- der nicht »Begrenzung oder Lähmung der Vernunft ginnt: »Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor ist, sondern sie erst zu ihrem eigenen Werk frei Gott und den Menschen ... hat sich das Deutsche macht«. 5 Es gebe »nicht nur Naturgesetze im Sinne Volk ... dieses Grundgesetz gegeben.« 12 Und auf- physikalischer Funktionen, sondern das eigentliche grund dieser Überzeugung formuliert Ratzinger Naturgesetz ist ein moralisches Gesetz«. Der christ- die wunderschönen Sätze: »Moral ist nicht Kerker liche Glaube sei nicht »eine Lähmung der Vernunft«, des Menschen, sondern das Göttliche an ihm« 13 sondern ein »Vorposten menschlicher Freiheit«. 6 und: »Wo Gott ausgeschlossen wird, ist das Prinzip Und er beendet seine Rede mit seinem Bekenntnis Räuberbande – in unterschiedlich krassen oder zum christlichen Naturrechtsdenken: »Der Mensch gemilderten Formen – gegeben. Das beginnt sicht- braucht das Ethos, um er selbst zu sein. Das Ethos bar zu werden dort, wo das geordnete Umbringen aber braucht den Schöpfungs- und den Unsterblich- unschuldiger Menschen – Ungeborener – mit keitsglauben, d. h. es braucht die Objektivität des dem Schein des Rechts umkleidet wird, weil es Sollens und die Endgültigkeit von Verantwortung die Deckung des Interesses einer Mehrheit hinter und Erfüllung.« 7 sich hat.« 14 Hier befindet er sich im Übrigen in Lothar Roos hat in seiner Auseinandersetzung voller Übereinstimmung mit dem sogenannten mit der Frage, wie Benedikt XVI. das moralische »Böckenförde-Diktum« des früheren deutschen Naturgesetz versteht, mit Recht darauf hingewie- Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böc- sen, daß bei einer »Verengung der Vernunft auf kenförde, das lautet: »Der freiheitliche säkula- die Wahrnehmung des Quantitativen« Werturtei- risierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er 01/20 MEDIZIN & IDEOLOGIE 9
FUNDAMENTE Die Ordnung Gottes läßt sich nicht ungestraft verkehren jeremias gotthelf selbst nicht garantieren kann.« 15 ist gebraucht.« 16 Deshalb ist die Menschlichkeit des Naturrechtsgedankens für ihn so entschei- 2.4 Korrelation zwischen Glaube und dend, weshalb er sie auch in seiner Rede vor dem Vernunft Deutschen Bundestag in den Mittelpunkt rückt. 2004 schließlich führte Joseph Ratzinger einen Und dabei kommt es ihm ganz entscheidend auf Dialog mit Jürgen Habermas, der weltweit für Auf- eine »notwendige Korrelationalität von Vernunft sehen sorgte. Während Habermas in diesem Ge- und Glaube, Vernunft und Religion« an, die »zu spräch für »die praktische Vernunft eines nachme- gegenseitiger Reinigung und Heilung berufen sind taphysischen säkularen Denkens« plädiert, steht und sich gegenseitig brauchen und das gegenseitig bei Ratzinger »die jeder rationalen gemeinschaft- anerkennen müssen«. 17 lichen Festsetzung vorausliegende Wirklichkeit des Menschen von seinem Schöpfer her« im Mit- telpunkt. Aufgrund dieser Prämisse treibt ihn die 3. Ansprache im Deutschen Bundestag in Frage nach dem Recht und seinen Grundlagen um, Berlin am 22. September 2011 ohne die ein Staat dauerhaft und menschenwürdig Die Ansprache des Papstes vor den Abgeordne- nicht funktionieren kann. Ratzinger verteidigt ein ten des Deutschen Bundestages greift genau diese Recht, »das aus der Natur, dem Sein des Menschen vorher aufgezeigten zentralen Fragen auf. Sein selbst folgt«. Dabei stellt er mit Bedauern fest, daß wesentliches Anliegen war es, »Gedanken über »das Naturrecht, welches früher als feste Größe die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaates« galt«, nur noch »als Argumentationsfigur« geblie- vorzutragen. 18 Der Papst erzählt eine kleine Ge- ben, aber »leider stumpf geworden« sei. Das sei eine schichte aus der Heiligen Schrift, aus dem ersten Folge der Evolutionstheorie, die er für falsch hält Buch der Könige. Salomon bittet Gott, bevor er und gegen die er seine eigene Position stellt: »Wir zum König gekrönt wird, ihm in seiner Regent- sind nicht das zufällige und sinnlose Produkt der schaft ein »hörendes Herz« zu verleihen. Daraus Evolution. Jeder von uns ist Frucht eines Gedan- leitet der Papst für die Abgeordneten die Regel ab, kens Gottes. Jeder ist gewollt, jeder ist geliebt, jeder daß der Grund für die Arbeit und letzter Maßstab 10 MEDIZIN & IDEOLOGIE 01/20 Foto: Lupo - Justitia - pixelio.de
FUNDAMENTE des Wirkens eines Politikers »nicht der Erfolg und deshalb: »Die Fenster müssen wieder aufgerissen schon gar nicht materieller Gewinn« sein darf, werden, wir müssen wieder die Weite der Welt, den sondern dass Politik »Mühen um Gerechtigkeit« Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu 19 sein muß. Dann wird er noch deutlicher: »Dem gebrauchen lernen.« 25 Und wie geht das? Antwort: Recht zu dienen und der Herrschaft des Unrechts »Es gibt auch eine Ökologie des Menschen ... Der zu wehren ist und bleibt die grundlegende Aufga- Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit be des Politikers.« 20 Und er fragt: »Wie erkennen ... Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und wir, was recht ist?« sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur In seiner Antwort unterscheidet er zwischen achtet, sie hört und sich annimmt als der, der er ist zwei Kategorien, nämlich solchen, bei denen »die und der sich nicht selbst gemacht hat.« 26 Mehrheit ein genügendes Kriterium« sein kann, In diesem Zusammenhang weist Benedikt XVI. und anderen, »in denen es um die Würde des Men- auf den bedeutenden Vertreter des Rechtspositi- schen und der Menschheit geht« 21 , bei denen das vismus, Hans Kelsen (1881–1973), hin, der gesagt in Demokratien angewandte Mehrheitsprinzip als hat, »daß Normen nur aus dem Willen kommen Entscheidungsgrundlage nicht ausreicht. Was aber können. Die Natur könnte folglich Normen nur ist recht in diesen wichtigen Fragen? Früher seien enthalten ... wenn ein Wille diese Normen in sie es die Grundbegriffe Natur und Gewissen gewesen hineingelegt hätte. Dies wiederum ... würde einen (also das erbetene »hörende Herz« des Salomon), Schöpfergott voraussetzen, dessen Wille in die Na- aber im letzten halben Jahrhundert habe es hier tur miteingegangen ist.« Zu der Aussage Kelsens, eine dramatische Veränderung gegeben. »Der Ge- daß es aussichtslos sei, über die Wahrheit dieses danke des Naturrechts gilt heute als katholische Glaubens zu diskutieren, bemerkt Benedikt XVI: Sonderlehre«, weil inzwischen in weiten Teilen von »Ist es wirklich sinnlos zu bedenken, ob die ob- Gesellschaft und Politik ein »positivistisches Ver- jektive Vernunft, die sich in der Natur zeigt, nicht ständnis von Natur« 22 herrscht. Dies bedeutet: Die eine schöpferische Vernunft, einen Creator Spiri- Natur wird »rein funktional« gesehen, und deshalb tus, voraussetzt?« Und mit dem Hinweis auf 24 das gibt es »keine Brücke zu Ethos und Recht«. »Was kulturelle Erbe Europas faßt er zusammen: »Von nicht verifizierbar oder falsifizierbar ist, gehört der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die danach nicht in den Bereich der Vernunft im stren- Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit geren Sinne. Deshalb müssen Ethos und Religion aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der dem Raum des Subjektiven zugewiesen werden Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem ein- und fallen aus dem Bereich der Vernunft im stren- zelnen Menschen und das Wissen um die Verant- gen Sinne des Wortes heraus.« 23 wortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt Der Papst erkennt die positivistische Weltsicht worden. Diese Erkenntnisse der Vernunft bilden als einen wichtigen und unverzichtbaren Aspekt unser kulturelles Gedächtnis. Es zu ignorieren ausdrücklich an. Aber er allein könne keine »dem oder als bloße Vergangenheit zu betrachten, wäre Menschen in seiner Weite entsprechende und eine Amputation unserer Kultur insgesamt und genügende Kultur« hervorbringen, sondern dazu würde sie ihrer Ganzheit berauben.« 27 Die Er- gehörten »alle übrigen Einsichten und Werte un- kenntnisse Jerusalems (der »Gottesglaube Israels«), serer Kultur«, und diese dürften auf gar keinen Athens (die »philosophische Vernunft der Grie- Fall in die »Kulturlosigkeit« oder in den »Status chen«) und Roms (das »Rechtsdenken«) haben die einer Subkultur« 24 verbannt werden. Es gebe keine Kultur Europas gestaltet. »Sie hat im Bewußtsein Begründung für eine Alleinherrschaft des Rechts- der Verantwortung vor Gott und in Anerkennung positivismus und eine damit verbundene Disqua- der unantastbaren Würde des Menschen, eines lifikation und Ablehnung des Naturrechts. Eine jeden Menschen, Maßstäbe des Rechts gesetzt, die sich »exklusiv gebende positivistische Vernunft« zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde gleiche »den Betonbauten ohne Fenster«. Und aufgegeben ist.« 28 01/20 MEDIZIN & IDEOLOGIE 11
FUNDAMENTE 4. Bewertungen der Grundpositionen einem vagen religiösen Mystizismus; vom Agno- Benedikts XVI. stizismus zum Synkretismus, und so weiter. Jeden Selbstverständlich hat der Papst mit seiner Tag entstehen neue Sekten, und dabei tritt ein, was Ansprache durch seine Hinweise auf das »hörende der heilige Paulus über den Betrug unter den Men- Herz« König Salomons auf die christliche Tradition schen und über die irreführende Verschlagenheit und Kultur Europas aufmerksam machen wollen. gesagt hat (vgl. Eph 4,14). Einen klaren Glauben Darüber hinaus hat er mit seinen grundsätzlichen nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Anmerkungen über das Naturrecht, die Ökologie Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der des Menschen und seine Würde sowie über den Relativismus, das sich ›vom Windstoß irgendeiner Zusammenhang von objektiver und subjektiver Lehrmeinung Hin-und-hertreiben-Lassen‹, als die Vernunft, von Vernunft und Glaube, Vernunft und heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Natur, Natur und Gewissen gleichzeitig seine be- Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die rechtigte Sorge wegen des mangelnden Schutzes nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß von Ehe und Familie zum Ausdruck gebracht. Er nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten läßt. hat den Menschen unmissverständlich davor ge- Wir haben jedoch ein anderes Maß: den Sohn warnt, die Axt an den Baum des Lebens zu legen Gottes, den wahren Menschen. Er ist das Maß des und Schöpfer spielen zu wollen, weil er mit der wahren Humanismus.« 29 Rolle als Geschöpf Gottes nicht mehr zufrieden Schon ein Jahr vor seinem Deutschlandbesuch ist (Stichworte zum Beispiel: Abtreibung, Stamm- hatte der Papst in seiner Ansprache im Vatikan an zellenforschung, Präimplantationsdiagnostik, Herrn Walter Jürgen Schmid, damals neuer Bot- Reproduktionsmedizin, aktive Sterbehilfe, Gender- schafter beim Heiligen Stuhl, unmißverständlich Mainstreaming, gleichgeschlechtliche Lebens- erklärt, daß die katholische Kirche die Entwicklun- partnerschaften, Abwertung von Ehe und Familie gen im Lebensschutz und bei Ehe und Familie in sowie Sexualisierung von Kindern und Pädophilie; Deutschland nicht akzeptieren kann. Diese Geset- die Aufhebung des Inzesttabus und das Einfrie- ze »tragen zu einer Aufweichung naturrechtlicher ren von Eizellen, das sogenannte Social Freezing, Prinzipien und damit der Relativierung der gesam- waren 2011 noch kein Thema). Er hat dazu aufge- ten Gesetzgebung, aber auch zu einer Verschwom- fordert, Kurs zu halten, und hatte dabei besonders menheit der Wertvorstellungen in der Gesellschaft den Politiker im Blick, der Entscheidungen für das bei ... Der Mensch hat immer Vorrang gegenüber Gemeinwohl fällt und Gesetze beschließt. Er hat anderen Zwecken. Die neuen Möglichkeiten von ihn ermahnt, sich nicht dem Zeitgeist und einem Biotechnologie und Medizin führen uns hier oft Relativismus zu unterwerfen, weil diese Entwick- in komplexe Situationen, die einer Wanderung auf lungen allein von einer positivistischen Weltsicht schmalem Grat gleichen. Wir haben die Pflicht, ge- beherrscht werden, die für den Menschen verhee- nau zu prüfen, wo solche Verfahren eine Hilfe für rend ist. den Menschen sein können und wo es um Mani- Bereits in der heiligen Messe zur Wahl des pulation des Menschen, um eine Verletzung seiner neuen Papstes 2005 hatte Joseph Ratzinger gesagt: Integrität und Würde geht. Wir können uns diesen »Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in die- Entwicklungen nicht verweigern, müssen aber sehr sen letzten Jahrzehnten kennengelernt, wie viele wachsam sein. Wenn man einmal damit beginnt, ideologische Strömungen, wie viele Denkweisen und oft geschieht dies schon im Mutterleib, zwi- ... Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist schen lebenswertem und lebensunwertem Leben nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken zu unterscheiden, wird keine andere Lebensphase gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen ausgespart bleiben, gerade auch Alter und Krank- worden: vom Marxismus zum Liberalismus bis heit nicht.« 30 Benedikt XVI. bedrückte es also zu- hin zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum tiefst, in welcher Weise christliche Grundüberzeu- radikalen Individualismus; vom Atheismus zu gungen in unserem Land aufgeweicht worden oder 12 MEDIZIN & IDEOLOGIE 01/20
FUNDAMENTE schon gänzlich auf der Strecke geblieben sind. denken und zu leben historisch bedingt und an Die Vermittlung dieser Botschaft war sein zen- historische Kulturen gebunden. Sie als allein gültig trales Anliegen in Berlin, und deshalb hat er in zu betrachten, würde den Menschen verkleinern seiner Rede im Deutschen Bundestag am 22. Sep- und ihm wesentliche Dimensionen seiner Existenz tember 2011 für alle, besonders für die Mitglieder nehmen. Wo das Ethos in seinem über das Prag- der Legislative, ein »hörendes Herz« erbeten, also matische hinausweisenden wahren Wesen und der »die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und Blick auf Gott keinen Raum mehr finden, ist der so wahres Recht zu setzen, der Gerechtigkeit zu Mensch nicht größer, sondern kleiner geworden. dienen und dem Frieden«. 31 Die positivistische Vernunft hat ihren Ort in den Welchen zentralen Stellenwert die Frage nach großen Handlungsfeldern von Technik und Wirt- dem wahren Menschen für ihn einnimmt, hat der schaft, aber sie füllt nicht das Ganze des Menschen emeritierte Papst noch im Herbst 2014 in einer aus.« 32 Botschaft an die Päpstliche Universität Urbaniana Immer wieder hat es während des Pontifikats anläßlich der feierlichen Eröffnung ihrer restau- von Benedikt XVI., natürlich auch schon vor sei- rierten »Aula Magna« zum Beginn des akademi- ner Rede im Deutschen Bundestag 2011, Kritik an schen Jahres 2014/2015 wie folgt zum Ausdruck seinen ethischen und moralischen Auffassungen gebracht: »In der Gegenwart werden die Stimmen gegeben, vor allem bezüglich seiner Absichten, lauter, die uns einreden wollen, daß Religion an das Naturrechtsdenken zu revitalisieren und das sich überholt sei. Nur die kritische Vernunft dürfe bei politischen Entscheidungen in Demokratien das Handeln der Menschen bestimmen. Hinter übliche Mehrheitsprinzip zu relativieren. Es ist solchen Auffassungen steht die Meinung, mit dem lohnenswert, sich näher mit diesen beiden Fragen positivistischen Denken sei nun die Vernunft in zu beschäftigen, die zusammengehören und nicht ihrer ganzen Reinheit endgültig zur Herrschaft voneinander zu trennen sind. Einige Meinungen gekommen. In Wirklichkeit ist auch diese Art zu hierzu sollen vorgestellt werden: »An unbeschränkter Freiheit gehen die Menschen nicht dutzendweise, sondern zu Tausenden zugrunde.« JEREMIAS GOTTHELF Foto: Adri Ramdeane - https://unsplash.com/photos/HXWBIBMokQw 01/20 MEDIZIN & IDEOLOGIE 13
FUNDAMENTE Es gibt ein sehr schönes Wort bei Scott Hahn, was möglich und machbar ist, ohne Frage nach Benjamin Wiker in ihrer Auseinandersetzung mit der ethischen Qualität beschlossen und verwirk- der Gottesleugnung von Richard Dawkins, das licht werden darf – auch dann nicht, wenn es eine lautet: »Die göttlichen Gebote sind ... in der Natur Mehrheit dafür gibt. Und auch wenn das den Ver- verwurzelt (und hier nehmen wir die Position des teidigern dieser Position oft vorgeworfen wird: Das katholischen Naturrechts ein, das besagt, daß Got- hat nichts mit Fundamentalismus zu tun! tes moralische Gebote in der Natur zum Ausdruck Die Verfassungsgeber unseres Grundgesetzes kommen, nicht durch willkürliche Setzungen). haben aufgrund der historischen Erfahrungen Um dafür ein offenkundiges Beispiel zu geben: vier Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges ›Du sollst nicht töten‹ ist ein Gebot, das allein die nicht zufällig den ersten Satz in der Präambel so Menschen betrifft, eben weil sie Menschen sind formuliert: »Im Bewußtsein seiner Verantwortung ... Ein anderes Beispiel ist die Ehe, die in gewisser vor Gott und den Menschen ...« und in den Grund- Weise eine heilige Einrichtung ist, die zwar auf rechten in Artikel 1 festgestellt: (1) »Die Würde die Unterscheidung zwischen Männchen und des Menschen ist unantastbar ...« sowie (2) »Das Weibchen im Tierreich zurückgeht, aber auch weit Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzli- darüber hinausgeht, weil zu ihr eine Treue gehört, chen und unveräußerlichen Menschenrechten als die viel mehr durch den Schöpfer als durch bloße Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Fortpflanzung bestimmt ist. Diese Gebote sind Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.« 37 unverletzlich, weil sie in der menschlichen Natur Daß es ein Recht gibt, nämlich das Naturrecht verwurzelt sind, die dadurch definiert ist, daß sie als Gottesrecht, das höher ist als alle Gesetze, ein- in ihrem Sein als Abbild Gottes geschaffen wurde. schließlich seiner Akzeptanz, wird zum Beispiel Menschen haben daher Anteil an Gottes eigener, darin deutlich, daß 1954 die Strafrichter des Bun- heiliger Unverletzlichkeit. Daher ist auch das mo- desgerichtshofes die Auffassung vertraten, daß ralisch Gute und Böse in der geschaffenen Natur jeder Selbstmord verboten sei und es die sittliche verwurzelt.« 33 Ordnung verlange, »daß sich der Verkehr der Ge- Joachim Kardinal Meisner hat bezüglich dieser schlechter grundsätzlich in der Einehe vollziehe, Frage schon 2001 festgestellt: »Es geht nicht um weil der Sinn und die Folge des Verkehrs das Kind« eine katholische Sonderethik, sondern um den sei. 38 Ist es 63 Jahre später nicht einmal mehr er- rechten Gebrauch der Vernunft.« 34 laubt, daran zu erinnern? Lothar Roos verweist in einem Beitrag von Die Tatsache, daß Benedikt XVI. politische 2004 zu dieser Thematik sowohl auf die heiligen Entscheidungen in einem demokratischen Staat Päpste Johannes XXIII. (Pacem in Terris) als auch noch nicht deshalb für gut und richtig hält, weil sie auf Johannes Paul II. (Fides et Ratio) mit der Fest- »formal korrekt durch demokratisch legitimierte stellung, daß es ein »Festhalten an einer objektiven parlamentarische Mehrheiten getroffen« worden Wahrheit« geben muß und »wir nur mithilfe der sind, hat nichts damit zu tun, wie ihm häufiger uns vom Schöpfergott geschenkten natürlichen unterstellt worden ist, daß er gegenüber der Demo- Vernunft die Unterscheidung von Gut und Böse kratie negativ eingestellt sei, sondern beruht nach vornehmen« können. 35 Wir sind wie Roos in der Stefan Ahrens lediglich darauf, daß er »Fehlent- Frage dieser Unterscheidung eben nicht der Auffas- wicklungen innerhalb des aufgeklärten Denkens« sung von Rousseau, daß alles das gut ist, was die benennt und dazu auch den Positivismus und Volonté générale (»der Gemeinwillen des Volkes«) den Empirismus zählt, die »zu einem veränderten, dafür hält, oder, in die heutige Sprache übersetzt, szientistisch-instrumentellen Vernunftverständnis was eine Mehrheit beschließt, sondern »daß es eine geführt haben«. 39 mit der menschlichen Natur gegebene, nicht mehr In einem Beitrag über das moralische Natur- hinterfragbare Würde jedes Menschen … gibt«. gesetz von Benedikt XVI. hat Lothar Roos die 36 Dies heißt nichts anderes, als daß nicht alles, anthropologischen Grundlagen der mit der Natur 14 MEDIZIN & IDEOLOGIE 01/20
FUNDAMENTE des Menschen gegebenen conditio humana in fol- genden drei Punkten zusammengefaßt: 40 • das »Selbstverständnis des Menschen als morali- sches Wesen«; 41 • der Mensch hat sich »unabhängig von Raum und Zeit stets in gleicher Weise zu bewähren«; 42 • durch »Grundvertrauen in die Vernunft«. 43 Eben deshalb ist bei Benedikt XVI. die Natur »Schöpfung« und das »eigentliche Naturgesetz ... ein moralisches Gesetz«. 44 Die »wirkliche und schlimmste Bedrohung un- serer Zeit«, so sagt Joseph Ratzinger, liegt in dem »Ungleichgewicht zwischen technischen Möglich- keiten und moralischer Stärke«. 45 Auch Joachim Detjen hat Ende der 80er-Jahre klargestellt, daß es ohne unverletzliche und un- veräußerliche Menschenrechte »keinen Schutz vor dem Willen eines Einzelnen oder einer Mehrheit« gebe. 46 Und der Rechtsgelehrte Martin Kriele sagt in seiner Staatslehre unzweideutig, daß Menschen- rechte Naturrecht sind. Sie »gelten zeitlich gesehen ewig, räumlich gesehen überall auf der Welt, sie sind in der Natur oder in Gottes Schöpfung ver- wurzelt, sie haben den Charakter der Heiligkeit oder Unverbrüchlichkeit«. 47 Geradezu abstoßend wirkt es dagegen, wenn Niemand weiß, der britischdeutsche Journalist Alan Posener in was ein Kind einem 2009 erschienenen Buch behauptet: »Die ist, und was ein benediktinische Wende bedeutet: Abkehr von der Kind birgt. Das Moderne, Rollback der Aufklärung, Einschränkung Kind ist ein der Demokratie, Abschied vom wissenschaftli- Neujahrstag, und chen Denken, Schluß mit der Emanzipation der der Neujahrstag Frau und der sexuellen Selbstbestimmung des trägt ein ganzes Menschen. Sie bedeutet eine massive Umdeutung Jahr in seinem der Geschichte und eine Umwertung aller Werte Schoße; ein Kind ... Benedikts Kreuzzug bedeutet ... die Verneinung ist ein Rätsel, von allem, was den Westen bei aller Unzulänglich- und in diesem keit zur liebens- und lebenswertesten Gesellschaft Rätsel liegt viel- macht, die unser Planet bislang gekannt hat.« 48 Da leicht der Stein hier offensichtlich Blindheit und Haß die Feder ge- der Weisen. führt haben, verbietet sich eine Kommentierung. Kopfschütteln ruft aber auch ein Beitrag von JEREMIAS Stephan Goertz, Professor für Moraltheologie (!) GOTTHELF in Mainz, hervor, den er kurz vor dem Besuch von Benedikt XVI. in Deutschland im Septem- Foto: PICSEA - https://unsplash.com/photos/LfNmCLx9r0s 01/20 MEDIZIN & IDEOLOGIE 15
FUNDAMENTE ber 2011 veröffentlicht hat. 49 Er behauptet, daß ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fi- die Theologie dieses Papstes »ohne human- oder scher hatte erkannt: »Eine Ethik, die sich nicht auf sozialwissenschaftliche Vermittlung« auskommt die tiefer reichende, normative Kraft einer verbind- und bemerkt: »Wir haben bei Ratzingers Begriff lichen Religion ... stützen kann, wird es schwer der Moderne so etwas wie einen blinden Fleck zu haben, sich in der Gesellschaft durchzusetzen und konstatieren.« 50 Das über die klugen Gedanken von Dauer zu sein ...« 51 eines Papstes zu sagen, von dem man nachweislich Welche Aufmerksamkeit die Ansprache Papst behaupten kann, daß kaum ein anderer so diffe- Benedikts XVI. im Deutschen Bundestag in Berlin renziert in zahlreichen Veröffentlichungen und Re- am 22. September 2011 ausgelöst hat, wird nicht den über das Verhältnis von Glaube und Vernunft zuletzt daran deutlich, daß es ein eigenes Buch nur sowie über Vernunft und Naturrecht nachgedacht zu dieser Rede mit zehn Beiträgen von zehn Auto- hat wie Benedikt XVI., ist überheblich und auch ren aus vier Ländern (Deutschland, Italien, Nieder- falsch. Joseph Ratzingers Theozentrik gegen die lande und Österreich) gibt. 52 Die Beurteilungen der Autonomie der Gesellschaft und des Einzelnen Autoren gehen weit auseinander. Beispielhaft seien auszuspielen, macht schon deshalb keinen Sinn, nur je eine negative und eine positive Stimme weil in mehreren empirischen Untersuchungen zitiert. Es bleibt dabei dem Leser überlassen, sich zweifelsfrei nachgewiesen ist, daß eine gottlose selbst ein Urteil zu bilden: Gesellschaft zu einem signifikanten Moralverfall • »Nicht zuletzt der Umstand, daß Benedikt XVI. führen würde. die in der ›Moderne‹ erhobenen Ansprüche Selbst der frühere Politiker der »Grünen« und prinzipiell infrage stellt, seine Fundierung der »Gute Leute finden immer gute Leute.« JEREMIAS GOTTHELF 16 MEDIZIN & IDEOLOGIE 01/20 Foto: Haiiimam - https://unsplash.com/photos/UUACBQP62xw
FUNDAMENTE Gottesthematik hingegen auf unzureichende bzw. obsolet gewordene Begründungsfiguren stützt, weist wohl auf eindringliche Weise diese ›Glaubenskrise‹ in der Tat als eine ›Gotteskrise‹ aus. Die Reden des Papstes bestätigen in Wahr- heit also lediglich, wie tief diese Krise ist – und demonstrieren zudem die Ohnmacht, in der die Leitung der katholischen Kirche ihr gegenüber- steht.« 53 • Und trotz einiger kritischer Einschränkungen die positive Bewertung: Hier hat »ein ehemaliger Professor eine glänzende geisteswissenschaft- liche Rede vorgetragen, von deren gedankli- chem Niveau man dem Bundestag recht viele wünscht«. 54 Das bleibende Vermächtnis dieser Papstrede liegt darin, daß der Papst die Korrelation zwischen Naturrecht und Schöpfer sowie zwischen Glau- be und Vernunft herausgestellt hat. Er hat das Naturrecht aus der Geschichte und der christli- chen Kultur definiert. Dem Positivismus hat er zwar seine Vorzüge bescheinigt, aber gleichzeitig Die Redaktion von Medizin und Ideologie ent- seine Bedrohungen und das für den Menschen nimmt den vorstehenden Beitrag dem Buch von Schädliche, Tödliche oder Vernichtende nicht Prof. Münch, Freiheit ohne Gott. Kirche und Politik verschwiegen. Und er hat die Politiker ermahnt, in der Verantwortung. Erschienen im Verlag in Fragen, die die Würde des Menschen betreffen, Media Maria, 3. Aufl. 2019, S. 38–58. nicht ausschließlich nach dem in anderen weni- Wir danken Autor und Verlag herzlich für die ger wichtigen Fragen in Demokratien üblichen Genehmigung zum Abdruck! Mehrheitsprinzip zu entscheiden. Eine wertfreie und religionslose Gesellschaft, in der Tugenden für unnötig gehalten und durch Techniken er- Fußnoten setzt werden, die man verifizieren oder falsifizie- 1 Karl-Heinz Menke, »Theologie im Petrusamt«, in: Rheinischer Merkur, 15. April ren kann, gibt es nämlich nicht. Gerade aus der 2010. Historie der Neuzeit (u. a. Nationalsozialismus, 2 Interview mit Siegfried Wiedenhofer, in: Rheinischer Merkur, 12. April 2007. Faschismus, Stalinismus, Kommunismus, Maois- 3 Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 189, Apostolische Reise Seiner Hei- mus und militantem religiösem Fanatismus, wie ligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg, 22.–25. September 2011, Predigten, Ansprachen und Grußworte, a. a. O., S. 30–38. zum Beispiel Islamismus mit allen schrecklichen 4 Joseph Kardinal Ratzinger, »Der Mut zur Unvollkommenheit und zum Ethos«, Folgen) wissen wir, daß eine Trennung von Politik in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. August 1984. und Ethik, Werten und Moral schon zu genug Ka- 5 Joseph Kardinal Ratzinger, »Abbruch und Aufbruch. Die Antwort des Glaubens tastrophen geführt hat. auf die Krise der Werte«, in: Eichstätter Hochschulreden, Heft 61, München 1988, S. 5–19, bes. S. 16. 6 Ebd., S. 17. Gerade deshalb war diese Rede von Benedikt XVI. . so wichtig und das für seine Besuchsreise nach 7 Ebd., S. 18. Deutschland gewählte Leitwort so richtig wie be- 8 Lothar Roos, »Was allen Menschen wesensgemäß ist – Das moralische Naturge- setz bei Papst Benedikt XVI.«, in: Kirche und Gesellschaft, Nr. 330, Köln 2006, S. rechtigt: »Wo Gott ist, da ist Zukunft.«55 3–16, bes. S. 4. 01/20 MEDIZIN & IDEOLOGIE 17
FUNDAMENTE 9 Joseph Kardinal Ratzinger, Wendezeit für Europa? Diagnosen und Prognosen zur 40 Lothar Roos, »Was allen Menschen wesensgemäß ist – Das moralische Naturge- Lage von Kirche und Welt, a. a. O. setz bei Papst Benedikt XVI.«, in: Kirche und Gesellschaft, Heft Nr. 330, S. 13–16. 41 Ebd., S. 5. 10 Ebd., S. 100. 42 Ebd., S. 6. 11 Ebd., S. 109. 43 Ebd., S. 6. 12 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, Präambel. 44 Ebd., S. 7. 13 Ebd., S. 26. 45 Vortrag von Joseph Kardinal Ratzinger kurz vor seiner Wahl zum Papst in 14 Ebd., S. 96. Subiaco am 1. April 2005, in: Medizin und Ideologie, 3/2005, S. 18. 15 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt a.M., 2. 46 Joachim Detjen, Neopluralismus und Naturrecht, Paderborn 1988, S. 639. Aufl. 2016, S. 60. 47 Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, Stuttgart 1994, S. 132. 16 Predigt von Papst Benedikt XVI. in der heiligen Messe bei seiner Amtseinfüh- 48 Alan Posener, »Kreuzzug gegen die Moderne«, in: Benedikts Kreuzzug. Der rung am 24. April 2005 in Rom, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Angriff des Vatikans auf die moderne Gesellschaft, Berlin 2009, S. 18. Nr. 168, Der Anfang – Papst Benedikt XVI. – Joseph Ratzinger, Predigten und Ansprachen April/Mai 2005, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), 49 Stephan Goertz, »Theozentrik oder Autonomie? Zur Kritik und Hermeneutik Bonn 2005, S. 30–36, bes. S. 35. der Moral der Moderne bei Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.«, in: ETHICA, 19 (2011) 1, S. 51–83. 17 Florian Schuller, Vorwort, in: Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung, Über Vernunft und Religion, Freiburg 2011. 50 Ebd., S. 74. 18 Ansprache von Papst Benedikt XVI. im Deutschen Bundestag, in: Verlautba- 51 Joschka Fischer, Die Linke nach dem Sozialismus, Hamburg 1992, S. 191. rungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 189, Apostolische Reise Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg, 22.–25. September 2011, 52 Georg Essen (Hg.), Verfassung ohne Grund? Die Rede des Papstes im Bundestag, Predigten, Ansprachen und Grußworte, a. a. O., S. 30. Freiburg 2012. 19 Ebd., 30 f. 53 Rudolf Langthaler, »Einige Gedanken zu bestimmenden Themen in der Papst- rede im Deutschen Bundestag«, in: Georg Essen (Hg.), Verfassung ohne Grund? 20 Ebd., 31. Die Rede des Papstes im Bundestag, ebd., S. 147–178, bes. S. 167 f. 21 Ebd., 32. 54 Tine Stein, »Zur ethischen Funktion des Naturrechts – nicht nur für den Staat«, in: ebd., S. 205–216, bes. S. 206. 22 Ebd., 34. 55 Dieser Beitrag war bereits erschienen in der Schriftenreihe »Veröffentlichun- 23 Ebd., 35. gen der Joseph-Höffner-Gesellschaft«, Band 4, Paderborn 2015, S. 67–96. 24 Ebd., S. 35 f. 25 Ebd., S. 36. 26 Ebd., S. 37. 27 Ebd., S. 37 f. 28 Ebd., S. 38. 29 Benedikt XVI., Missa pro eligendo Romano Pontifice, 18. Mai 2005. 30 Ansprache des Heiligen Vaters Papst Benedikt XVI. an Herrn Walter Jürgen Schmid, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland beim Heiligen Stuhl, 13. September 2010. 31 Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 189, Apostolische Reise S einer Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg, 22.–25. Septem- ber 2011, Predigten, Ansprachen und Grußworte, a. a. O., S. 38. 32 Benedikt XVI., »Die wahre Religion«, in: Die Tagespost, 25. Oktober 2014. 33 Scott Hahn, Benjamin Wiker, Antwort auf den neuen Atheismus – Gegen Richard Dawkins’ Gottesleugnung, Illertissen 2012, S. 153 f. 34 Joachim Kardinal Meisner, in: Die Tagespost, 23. Juni 2001. Klartext I 35 Lothar Roos, »Die politische Verantwortung des Christen unter Bedingungen von Pluralismus, Laizismus und Relativismus«, in: Unitas, 2004, S. 184 f. Abgeordneter verurteilt Abtreibung: 36 Ebd., S. 185. »Nächste Woche habe ich Geburtstag, aber 37 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Präambel und Art. 1. 61 Millionen Amerikaner haben keinen.« 38 Walter Grasnick, »Ab mit Würde«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Okto- (…) Nächste Woche werde ich Geburtstag ha- ber 2003. ben, aber 61 Millionen Amerikaner haben keinen. 39 Stefan Ahrens, »Zur Legitimation demokratischer Ordnung bei Joseph Ratzin- ger/Benedikt XVI. Ein Kreuzzug gegen die politische Moderne?«, in: Die Neue Lassen Sie diesen Gedanken mal kurz auf sich Ordnung, 68. Jg., Heft 4, 2014, S. 244–255, bes. S. 249–251. einwirken, denn das ist die Bevölkerung von Ka- 18 MEDIZIN & IDEOLOGIE 01/20
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