MAGAZIN NR. 01 - WWW.SCHAUSPIEL.KOELN - HANS BLOCK CLAUDIA ORTIZ ARRAIZA - Schauspiel Köln
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MAGAZIN NR. 01 SPIELZEIT 2021 22 KORPER MIT BEITRÄGEN VON: HANS BLOCK DAVID GAITÁN SABINE KAMPMANN CLAUDIA ORTIZ ARRAIZA MORITZ RIESEWIECK MITHU M. SANYAL ANTJE SCHRUPP BENJAMIN WIHSTUTZ WWW.SCHAUSPIEL.KOELN
EDITORIAL Laut Peter Brook ist dies die Definition von Theater: Ein Mensch (bzw. ein Körper) geht durch einen leeren Raum, den wir Bühne nennen und ein anderer schaut ihm dabei zu. Das ist alles. Wenn wir uns in diesem Heft dem Thema Körper verschreiben, so geschieht dies sicherlich auch deswegen, weil wir den Körper in seiner tatsächlichen Anwesenheit auf der Bühne lange vermisst haben. Die Pandemie hat ihn in einen virtuellen Raum verbannt, wo er meist nur aus einem spre- chenden Kopf in einem Quadrat bestand und aus lauter Einsamkeit bisweilen einfror. Es ist höchste Zeit, dass das Theater wieder in seiner ursprünglichen Form stattfinden kann, also in der Hitze der Gegenwart der Körper. Apropos: In seinem SYMPOSION lässt Platon den Komödiendichter Aristophanes den Mythos der ersten Menschen erzählen. Diese besaßen einen perfekten Körper. Mit zwei Gesichtern, vier Armen und vier Beinen waren sie vollkommene Kugelwesen, die sich radschlagend in enormer Geschwin- digkeit fortbewegen konnten. Es gab damals drei Geschlechter: von der Sonne stammte das rein männliche, von der Erde das rein weibliche und vom Mond das männlich-weibliche. Diese Menschen waren sich selbst genug und hatten soviel Macht, dass Zeus ihre Konkurrenz zu fürchten begann. Um sie in ihre Schranken zu weisen, beschloss er deshalb, sie zu halbieren. Er teilte sie in der Mitte »wie man ein Ei mit einem Haar entzweischneidet«, drehte ihre Köpfe um, damit sie »ihre Zerschnittenheit« immer im Blick behielten und verlegte ihre Geschlechtsteile auf die aufgeschnit- tene Seite. Dann bedeckte er die offenen Stellen mit Haut. Seither, so schließt die Erzählung, seien wir (halbierten und damit unvollkommenen) Menschen- körper auf der Suche nach unserer anderen Hälfte und gleichgültig, ob sich nun zwei Hälften unter- schiedlichen oder gleichen Geschlechtes wiederfänden, gewännen wir im Akt der sexuellen Vermählung eine Erinnerung an unsere einstige Vollkommenheit. Liebes Publikum, wenn ich nun auf die Analogie des von Peter Brook beschriebenen Theatergebil- des aus einer agierenden und einer rezipierenden Seite und den von Aristophanes beschriebenen Hälften der entzweigeschnittenen Kugelwesen hinweise, möchte ich ihre Toleranz gegenüber hin- kenden Vergleichen keinesfalls überstrapazieren. Die einen wurden ja schließlich von einer Pande- mie getrennt und die anderen von einem Gott. Selbst wenn es im letzten Jahr einen eklatanten Mangel an Live-Begegnungen zwischen Ihnen und uns gegeben hat, will ich deshalb keineswegs behaupten, die Sehnsucht hätte auf beiden Seiten zu aufgestautem Begehren geführt. Auch liegt mir nichts ferner als der Gedanke, wir könnten uns angetrieben von diesem Begehren zur neuen Spielzeit im Taumel der Leidenschaft aufeinander stürzen. Und auf keinen Fall möchte ich hier andeuten, Theaterbesuche hätten unter diesen Voraussetzungen etwas von ekstatischem Sex. Das wäre völlig absurd. Was ich sagen will, ist eigentlich nur dies: Schön, dass es wieder losgeht! IHR STEFAN BACHMANN 02
NR 1. 2021 22 – KÖRPER 04 DIE NEUEN PREMIEREN DER SPIELZEIT 2021 22 ES GIBT KEINE STABILE IDENTITÄT 06 EIN GESPRÄCH MIT MITHU M. SANYAL DIVERSE KÖRPER AUF DER BÜHNE (UND BEIM ZUSCHAUEN) 09 EIN BEITRAG VON BENJAMIN WIHSTUTZ WEITERLEBEN IN DER CLOUD 12 EIN GESPRÄCH MIT MORITZ RIESEWIECK UND HANS BLOCK 15 SCHWANGERWERDENKÖNNEN EIN ESSAY VON ANTJE SCHRUPP DER WEI E FLECK 18 EIN INTERVIEW MIT SABINE KAMPMANN THEATERBRIEF AUS MEXIKO 22 VON DAVID GAITÁN BALLETT IM UMBRUCH 24 EIN INTERVIEW MIT CLAUDIA ORTIZ ARRAIZA PREMIEREN SEP–NOV 44 ENSEMBLE 52 EINE ODE AN DEN KÖRPER. IRINGÓ DEMETER ERFORSCHT IN IHREN FOTOGRAFIEN DEN KÖRPER IN ALL SEINEN FACETTEN. INSPIRIERT EXTRAS 47 INFOS & IMPRESSUM 65 Eine Ode an den Körper. Iringó Demeter erforscht in ihren Fotografien den Körper in all seinen Facetten. Inspiriert von der Natur, prägt ihre VON DER NATUR, PRÄGT IHRE ARBEIT EIN INTIMER UND EINFÜHLSAMER BLICK AUF DIE KURIOSITÄT UND DIE SCHÖNHEIT DES KÖRPERS. Arbeit ein intimer und einfühlsamer Blick auf die Kuriosität und die Schönheit des Körpers. Mit einem Fokus auf Texturen und Formen MIT EINEM FOKUS AUF TEXTUREN UND FORMEN SCHEINT SIE DIE VIELFALT DER KÖRPER BEINAH ALS MENSCHLICHE SKULPTUREN THEATER • STADT • SCHULE 50 scheint sie die Vielfalt der Körper beinah als menschliche Skulpturen zu inszenieren. Geboren und aufgewachsen im Herzen Rumäniens lebt ZU und arbeitet IringóGEBOREN INSZENIEREN. UND AUFGEWACHSEN Demeter heute in London. EinigeIM HERZEN ihrer RUMÄNIENS Arbeiten finden SieLEBT UND Magazin. in diesem ARBEITET IRINGÓ DEMETER HEUTE IN LONDON. EINIGE IHRER ARBEITEN FINDEN SIE IN DIESEM MAGAZIN.
MIEREN 2021 22 +++ PREMIEREN 2021 22 +++ PREMIEREN 2021 TRIPLE BRUDER EICHMANN IN DER (ALL FOR ONE/METRIC DOZEN/MY GENERATION) VON HEINAR KIPPHARDT VON RICHARD SIEGAL/BALLET OF REGIE: THOMAS JONIGK STADT DIFFERENCE AM SCHAUSPIEL KÖLN PREMIERE: 23 OKT 2021 CHOREOGRAFIE: RICHARD SIEGAL PREMIERE: 11 FEB 2022 NATHAN DER WEISE DIE LÜCKE 2.0 UTOPOLIS KÖLN VON GOTTHOLD EPHRAIM LESSING FALSTAFF VON NURAN DAVID CALIS BEARBEITUNG DER INSZENIERUNG »DIE LÜCKE« (2014) VON RIMINI PROTOKOLL REGIE: STEFAN BACHMANN EIN SHAKESPEARE-PROJEKT VON JAN BOSSE (HAUG/KAEGI/WETZEL) PREMIERE: 10 SEP 2021 REGIE: JAN BOSSE REGIE: NURAN DAVID CALIS DEUTSCHE ERSTAUFFÜHRUNG: 15.09.2021 PREMIERE: 18 MÄR 2022 PREMIERE: 05 NOV 2021 ORLANDO RICHARD III. DER WILDE ENGEL IN AMERIKA NACH VIRGINIA WOOLF VON TONY KUSHNER REGIE: LUCIA BIHLER NACH WILLIAM SHAKESPEARE NACH DEM ROMAN VON GUILLERMO ARRIAGA IN EINER ÜBERSCHREIBUNG VON KATJA BRUNNER IN EINER BÜHNENFASSUNG VON DAVID GAITÁN TEIL 1: DIE JAHRHUNDERTWENDE NAHT PREMIERE: 02 OKT 2021 TEIL 2: PERESTROIKA REGIE: PINAR KARABULUT REGIE: DAVID GAITÁN AUS DEM ENGLISCHEN VON FRANK HEIBERT URAUFFÜHRUNG: 23 APR 2022 URAUFFÜHRUNG: 19 NOV 2021 REGIE: MORITZ SOSTMANN PREMIERE: MAI 2022 • OPEN AIR ATEMSCHAUKEL VON HERTA MÜLLER BALLET OF OBEDIENCE NORTH / SOUTH FESTIVAL FEAT. MADE TWO WALKING / IN EINER FASSUNG FÜR DAS THEATER VON BASTIAN KRAFT VON RICHARD SIEGAL/BALLET OF DIFFERENCE AM SCHAUSPIEL KÖLN REGIE: BASTIAN KRAFT URAUFFÜHRUNG: 22 OKT 2021 CHOREOGRAFIE: RICHARD SIEGAL PREMIERE: 20 MAI 2022 MADE ALL WALKING DIGITAL VON RICHARD SIEGAL/BALLET OF DIFFERENCE AM SCHAUSPIEL KÖLN CHOREOGRAFIE: RICHARD SIEGAL REICH DES TODES URAUFFÜHRUNG: 10 DEZ 2021 VON RAINALD GOETZ KOPRODUKTION MIT DEM DÜSSELDORFER SCHAUSPIELHAUS DEPOT 2 TOMORROW IS (FOR NOW) WUNDERSCHÖNES REGIE: STEFAN BACHMANN KÖLNER PREMIERE: 30 OKT 2021 ALWAYS HERE WELKFLEISCH VON IVA BRDAR REGIE: CHRISTINA LINDAUER EINE STÜCKENTWICKLUNG VON UND MIT DER DAS HIMMELREICH WOLLEN »OLDSCHOOL« DES SCHAUSPIEL KÖLN DIGITALE URAUFFÜHRUNG: 11 SEP 2021 FILM IN ENGLISCHER SPRACHE WIR SCHON SELBST FINDEN ODE REGIE: DAVID VOGEL URAUFFÜHRUNG: 03 FEB 2022 VON THOMAS MELLE EIN PROJEKT ÜBER DEN DOMBAU VON OLIVER FRLJIĆ REGIE: OLIVER FRLJIĆ REGIE: RAFAEL SANCHEZ URAUFFÜHRUNG DER FASSUNG 2021: HYPNOS URAUFFÜHRUNG: 17 DEZ 2021 17 SEP 2021 MÖLLN 92/22 VON WILKE WEERMANN REGIE: TRISTAN LINDER VON NURAN DAVID CALIS PREMIERE: 25 SEP 2021 • AUDIOWALK REGIE: NURAN DAVID CALIS MOLIÈRE METROPOL URAUFFÜHRUNG: 08 APR 2022 OBLOMOW REVISITED (AT) ICH BIN EIN DÄMON, FLEISCH GEWORDEN NACH DEM GLEICHNAMIGEN ROMAN VON EUGEN RUGE UND ALS MENSCH VERKLEIDET IN DER THEATERFASSUNG VON ARMIN PETRAS REGIE: FRANK CASTORF PREMIERE: 21 JAN 2022 REGIE: ARMIN PETRAS URAUFFÜHRUNG: 01 OKT 2021 SVENJA FREI NACH IWAN GONTSCHAROWS ROMAN »OBLOMOW« IN EINER ÜBERSCHREIBUNG VON NELE STUHLER EINE VISUELLE ALPTRAUMANALYSE REGIE: LUK PERCEVAL VON ANTA HELENA RECKE URAUFFÜHRUNG: HERBST 2021 REGIE: ANTA HELENA RECKE ÄNDERUNGEN VORBEHALTEN. STAND 17.08.2021 URAUFFÜHRUNG: 29 APR 2022 06 07
ES GIBT Sibylle Dudek: Machtverhältnisse haben Identitäten – beispielsweise gehe ich als lung, dass wir nicht zusammenarbeiten sich immer auch an Körpern manifes- Frau demonstrieren gegen Abtreibung, können, wenn wir nicht eins sind. Ich tiert. In der Entscheidung, welche Kör- weil ich reproduktive Rechte fordere. glaube aber, das ist ein Fehlschluss. per gewünscht, welche negativ belegt Aber gleichzeitig weiß ich, dass Identität Die andere Sache ist natürlich auch, wurden, oder wie Gewalt als Machtde- etwas Fragiles ist. Und natürlich gibt es dass wir immer gelernt haben, dass wir monstration ausgeübt wurde. Ist das sofort Ausschlussmechanismen, wenn die Diskriminierten sind – beispielswei- gegenwärtig immer noch so? ich eine klare Gruppe bestimme. Man se als Frauen. Es sind immer die ande- kann natürlich auch sagen, dass das ren, die ihre Privilegien hinterfragen Mithu M. Sanyal: Wir können Körpern Sinn macht – beispielsweise wenn wir müssen. Und dann merkst du, dass du KEINE immer noch ansehen, welcher sozialen Safe Spaces bilden – also Räume schaf- selbst ja auch welche hast. Sich über die Klasse Menschen angehören. Geld, Bil- fen, in denen unter geschützten Bedin- eigene Macht klar zu werden, kann auch dung, Gesundheit, Ernährung – all das gungen Erfahrungen ausgetauscht ein schmerzhafter Prozess sein. Die Wi- drückt sich im Körper unmittelbar aus, werden. Gleichzeitig schließt das ande- derstände betreffen nicht nur konserva- und wir können es ablesen. Wir beurtei- re Menschen aus, und damit muss man tive oder rechte Kreise, obwohl die na- len Menschen automatisch danach, und sich beschäftigen. Ich war in genug türlich speziell sind. wenn uns Körper begegnen, die nicht in Räumen für Frauen, wo diskutiert wur- unser Bild passen, irritiert uns das so- de, ob Transfrauen überhaupt einge- Beim Blick auf die Themensetzung und fort. Das ist auch im Bereich Gender so schlossen sind. Das waren schmerzhaf- die Agenda von rechten und rechtsext- STABILE – obwohl wir ja wissen, dass es mehr als te Prozesse, an denen Gruppen auch remen Parteien und Zusammenschlüs- zwei Geschlechter gibt. Ohne dass es uns teilweise zerbrochen sind. sen fällt auf, dass fast alles, was da jemand erklärt, lernen wir nonverbal, verhandelt wird, sich auf Körper be- wie wir uns als Frau oder Mann zu ver- Gleichzeitig können Gruppen gerade zieht: Gender, Geschlechtergrenzen, halten haben, was wir anziehen, wie wir durch den Zusammenschluss etwas er- Abtreibung, Sexualität, Race … Ist der performen. Der Körper ist unser erstes reichen und sich selbst ermächtigten – Körper das Schlachtfeld? Kommunikationsmittel, mit dem wir feministische Bewegungen oder die uns in der Welt verorten und somit auch Black Lives Matter-Bewegung sind Bei- Von Rechts wird Identitätspolitik stark in den Hierarchien, die es gibt. spiele dafür. Warum rufen diese recht kritisiert, gleichzeitig ständig betrieben: IDENTITÄT nachvollziehbaren Forderungen nach Wer ist »wir«? Wer ist weiß? Wer ist Über das Zusammenwirken von Körper, Sichtbarkeit und Gerechtigkeit so große deutsch? Und es gibt eine große Abwehr, Identität und Sichtbarkeit bzw. Reprä- Widerstände hervor? fast Angst vor Sexualität. Es geht gegen sentation wird momentan sehr hitzig reproduktive Rechte, auch gegen Selbst- unter dem Begriff »Identitätspolitik« In dem Moment, in dem eine Gruppe bestimmung und gegen Kunst. Marine diskutiert. Wie erleben Sie diese Debat- einfordert, wahrgenommen zu werden, Le Pen macht das noch ein bisschen ten? wird sichtbar, wer Macht hat. Dass bei- anders, sie versucht, Frauen mit ins Boot spielsweise jetzt über die sogenannten zu holen. Mit starkem Konservatismus Identitätspolitik hat es immer gegeben. »alten weißen Männer« gesprochen lassen sich viele Gruppen in der Bevöl- Könige haben ihre Köpfe auf Münzen wird, die vorher ja völlig unsichtbar kerung abholen, die sich abgehängt prägen lassen. Nationalstaaten machen waren als Gruppe, ist etwas sehr Neues fühlen. auch Identitätspolitik. Wir müssen uns für die, die da angesprochen werden. In Stigmatisierte Sexualität wird ganz das klarmachen: Wer ist dieses »Wir«? Schubladen einsortiert zu werden, ist stark mit Ekel in Verbindung gebracht. Auch um es verteidigen zu können. Aber schmerzhaft, und es ist immer falsch. Angst ist etwas, das wir lernen, ihr vor- erst mit den Emanzipationsbewegungen Gleichzeitig werden damit Selbstver- gelagert ist Ekel. Das ist eine unmittel- ab den 1960er Jahren war es so, dass ständlichkeiten infrage gestellt. Ich bare Körperreaktion. Es gibt Versuche, EIN GESPRÄCH MIT MITHU M. SANYAL marginalisierte Gruppen Identitätspoli- tik von unten gemacht haben. Dass Menschen gesagt haben: Ich als Schwar- kenne diese Widerstände aus allen Krei- sen, auch aus progressiven. Es sind schwierige Aushandlungsprozesse, die bei denen Leute in einen Raum gesetzt wurden, in den man unangenehme Gerüche leitete. Die Menschen sollten ze, ich als Frau möchte wahrgenommen aber total richtig und wichtig sind. Ich dann Multiple-Choice-Fragen zu ihren DIE KULTURWISSENSCHAFTLERIN MITHU M. SANYAL werden. Das Problem mit Identitäts- verstehe auch den Schmerz darüber, dass Einstellungen beantworten. Das Ergeb- politik ist nur, dass sie immer eine Lüge wir immer schwieriger zu einem »wir« nis war, dass die Menschen in der Kon- ist. Es gibt keine stabile Identität. Des- kommen, weil sich die Welt in immer trollgruppe, die nicht in einem Raum ERFORSCHT ALS AUTORIN UND JOURNALISTIN DAS halb mag ich die Formulierung von Judith Butler, die sagt: Es gibt politische kleinere Gruppen aufsplittet. In unserer politischen Rhetorik gibt es die Vorstel- mit unangenehmem Geruch saßen, viel weniger konservativ angekreuzt haben. SPANNUNGSFELD VON KÖRPER, MACHT UND KULTUR. IN IHREM ROMAN IDENTITTI HINTERFRAGT SIE UNKONVENTIONELL UND MIT VIEL WITZ UNSERE WIE KANN MAN WEI SEIN UMDEFINIEREN? VORSTELLUNGEN VON ZUGEHÖRIGKEIT UND IDENTITÄT. ODER MÜSSEN WIR ES GANZ NEU DENKEN? EIN GESPRÄCH ÜBER DIE VIELFÄLTIGEN KULTURELLEN PRÄGUNGEN VON KÖRPERN. 08 09
DIVERSE Ekelgefühle, die Angst vor Kontamina- Philip Roth hat vor zwanzig Jahren konstruiert. Damit erklärt werden konn- tion, lassen sich gut instrumentalisieren. DER MENSCHLICHE MAKEL ge- te, dass es überlegene und unterlegene So läuft ja auch die Rhetorik über schrieben. Ein Literaturprofessor, der »Rassen« gibt. Davor gab es kein Kon- Migration. als Afroamerikaner geboren worden ist, zept vom Weißsein. Es ist ausschließlich gibt sich als weiße Person aus – um sich im Kontext von Unterdrückung und KÖRPER AUF IDENTITTI ist der Titel Ihres ersten von seiner Vergangenheit abzugrenzen. Abgrenzung entstanden. Das ist ein Romans, der im Februar erschienen ist. Die Umkehrung in Ihrem Roman ist Problem. Es geht um Identität und Hautfarbe und deutlich provokanter. Das Schwarzsein ist zur Farbe des ob man sich einer anderen Hautfarbe Widerstandes geworden. Dadurch sind zugehörig fühlen kann als der, mit der Auf alle Fälle ist es viel stärker tabui- auch kulturelle Praktiken entstanden man auf die Welt gekommen ist. siert. In der amerikanischen Literatur und Bewegungen wie Black Is Beautiful. ist das ein häufiges Motiv, dass Men- Wenn wir in unserer Gesellschaft Kate- DER BÜHNE Der Hauptplot dreht sich um eine Pro- schen von Schwarz nach weiß »passen«. gorien von Geschlecht verändern wollen, fessorin für Postcolonial Studies, die Sie zahlen meist einen hohen Preis dafür. müssen wir Vorstellungen von Männ- vorgibt, Person of Color zu sein. Dann Ganz häufig verlieren sie am Ende ihr lichkeit umdefinieren. Analog dazu habe kommt aber raus, dass sie in Wirklich- Leben. Es sind tragische, aber irgendwie ich die offene Frage: Wie kann man keit weiß ist, was zu einem riesigen mit Sympathie und Wärme betrachtete Weißsein umdefinieren? Oder müssen Politikum wird. Fälle. Natürlich hat es das auch in der wir es ganz neu denken? Ein bisschen ist das angelehnt an einen Realität gegeben. Der Unterschied zwi- (UND BEIM prominent gewordenen Fall in Amerika schen Schwarzsein und Weißsein konn- Das Gespräch führte die Dramaturgin Sibylle von einer Frau, Rachel Dolezal, deren te der zwischen Leben und Tod sein. Dudek. Geschichte enthüllt wurde. Es gab einen Andersrum wirft das ganz viele Fragen riesengroßen Shitstorm. In diesem Zu- auf: Warum sollte jemand freiwillig die sammenhang fiel der Begriff »Transra- weniger privilegierte Position einneh- DR. MITHU M. SANYAL IST ce«, woraufhin die Empörung noch men? Wir haben bei der Transsexualität KULTURWISSENSCHAFTLERIN, größer war. Mich hat die Frage sehr ähnliche Denkweisen: Transmänner AUTORIN UND JOURNALISTIN. bewegt, ob es das gibt – dass Menschen werden weniger kritisch betrachtet als IHRE HÖRSPIELE UND ZUSCHAUEN) ihrer Identität nach die Hautfarbe wech- Transfrauen. FEATURES WURDEN MEHR- seln. Wir kennen das aus den Debatten Meine Grundthese dazu ist, dass egal, FACH AUSGEZEICHNET. AUF um Transsexualität – dass es natürlich in welche Kategorie wir uns einordnen, IHRE BEIDEN SACHBÜCHER Menschen gibt, die in den »falschen« dafür immer einen Preis bezahlen müs- VULVA. DIE ENTHÜLLUNG DES Körper hineingeboren werden. sen. Wenn ich als Frau in dieser Welt UNSICHTBAREN GESCHLECHTS Bei Race ist es anders. Und ich wollte aufwachse, habe ich einen schwereren (2009) UND VERGEWALTIGUNG das hinterfragen: Warum verhandeln Zugang zur Macht im Arbeitsleben, (2016) FOLGTE IM FEBRUAR wir das anders? Es ist ja auch bewusst gleichzeitig habe ich viel mehr Zugang IHR ERSTER ROMAN IDENTITTI. kein Sachbuch, sondern ein Roman. dazu, meine Gefühle ausdrücken zu Und ich habe unterschiedliche Stimmen dürfen. Das wird aber gar nicht wahr- zu Wort kommen lassen. Es vergeht im genommen, weil wir es als nicht so wich- EIN BEITRAG VON BENJAMIN WIHSTUTZ Buch Zeit – und auch die Debatten und tig betrachten. Sichtweisen verändern sich. Um den transatlantischen Sklavenhan- del zu legitimieren, wurden »Rassen« DAS THEMA DIVERSITÄT IST GESELLSCHAFTLICH UND KULTURPOLITISCH IN DEN LETZTEN JAHREN ZU EINEM IDENTITÄTSPOLITIK DER HAUPTTHEMEN GEWORDEN. AUCH DAS DEUTSCHE STADTTHEATER KOMMT UM DAS THEMA NICHT HERUM HAT ES UND SO ÄNDERN SICH HIER DIE STRUKTUREN: SPIELPLÄNE, TEAMS UND ENSEMBLES WERDEN SCHRITTWEISE DIVERSER GESTALTET. ÜBER DIE VORHERRSCHENDE VORSTELLUNG IMMER GEGEBEN. DIVERSER KÖRPER AUF DER BÜHNE UND DEREN WANDEL SOWIE DIE PERSPEKTIVEN DER ZUSCHAUENDEN IN DEN VERGANGENEN JAHREN SCHREIBT DER THEATERWISSENSCHAFTLER BENJAMIN WIHSTUTZ. 10 11
Im November 2020 starb der Publizist so ähnlich geht es andererseits vielen pers, die in den Disability Studies von Fünf Jahre nach der Blackface-Debat- Rede von der Freiheit schauspielerischer nichtbehinderten Einheitszuschauers und Schauspieler Peter Radtke, der in Schauspieler*innen, Tänzer*innen und Carrie Sandahl als »Tyrannei des Neu- te brachte die Regisseurin Anta Helena Verwandlung, jeder dürfe und könne verabschieden. seiner Karriere unter anderem Erfolge Performer*innen mit Behinderung bis tralen« beschrieben wurde, ist es, welche Recke eine »Schwarz-Kopie« an den doch alles spielen, dass jene prinzipielle am Wiener Burgtheater gefeiert hatte. heute. Entweder sie werden nicht ernst die Akzeptanz diverser Körper auf der Münchner Kammerspielen auf die Büh- Unmarkiertheit des semiotischen Kör- Geht man jedoch davon aus, dass das Als Mann mit Glasknochen und einer genommen und ignoriert, oder sie gelten Bühne erschwert und oftmals verhin- ne: Sie inszenierte mit MITTELREICH pers auf der Bühne für sie gerade keine Publikum divers ist, müssen auch be- der ersten körperbehinderten Schau- als provokanter Regie-Einfall mit sym- dert. ein originalgetreues Reenactment der Gültigkeit besitzt. Mehmet Atesci, Un- stimmte Vorannahmen über das Zu- spieler auf deutschen Bühnen über- bolischer Bedeutung. Im besten Fall ein Jahr älteren Musiktheaterinszenie- terzeichner des #ActOut-Manifests schauen überdacht werden. So haben haupt, hatte Radtke zeitlebens um seine noch werden sie aufgrund ihrer Behin- Szenenwechsel: Im Januar 2012 protes- rung von Anna-Sophie Mahler, indem bringt es im SZ-Magazin auf den Punkt: Künstler*innen der Disability Arts wie Anerkennung von Theaterkritik und derung als inspirierende Ausnahmeer- tierten Aktivist*innen an Berliner Büh- sie das ausnahmslos weiße Ensemble »Im Prinzip sollte jeder alles spielen Kaite O’Reilly, Claire Cunningham, -publikum gekämpft. Als er 1985 in scheinung gefeiert – eine neutrale Wahr- nen gegen die Praxis des »Blackface« mit neun Schauspielenden of Color aus- dürfen. Es sollte keine Grenzen geben. Nina Mühlemann, Jess Thom oder Jana George Taboris »M« an den Münchener nehmung eines Schauspielers jedoch, und lösten damit eine Debatte über tauschte. Anstatt die institutionskriti- Es ist bloß gerade so, dass heterosexuell, Zöll in den letzten Jahren begonnen, Kammerspielen seine erste große Rolle der sich in eine beliebige dramatische rassistische Strukturen und Darstel- sche Inszenierung zum Anlass zu neh- weiß, cis und ohne Behinderung alles Theater und Tanz barrierearmer zu ge- spielte, hielt der Kritiker Gerhard Figur verwandeln kann, bleibt ihnen in lungspraktiken am Theater aus. Un- men, sich Gedanken über diskriminie- spielen darf, und der Rest darf meistens stalten. Dies betrifft nicht allein die Ein- Stadelmaier seinen Auftritt noch für der Regel verwehrt. Der Literatur- und mittelbar von der Kritik betroffen, recht- rende und exkludierende Strukturen nur sich selber spielen.« Wenn daher richtung von Rollstuhlplätzen, sondern derart skandalös, dass er nicht einmal Kulturwissenschaftler Tobin Siebers hat fertigte der Intendant des Schlosspark- an deutschen Stadttheatern zu machen, ausnahmsweise mal diverse Rollen im ebenso die Bereitstellung verschiedener den vollständigen Namen in der Stutt- dieses Problem einmal mit dem Begriff theaters, Dieter Hallervorden, das kommentierte die Kritikerin Eva- Theater zu vergeben sind, so sollten Sitz- und Liegemöglichkeiten, den Ein- garter Zeitung erwähnte. Stattdessen der Hypersichtbarkeit umschrieben – Schwarzschminken des Schauspielers Elisabeth Fischer in der Süddeutschen doch wenigstens diese auch mit diversen satz von Untertiteln, Gebärdensprache schrieb er: »Ursula Höpfner und Arnulf gerade weil eine sichtbare Behinderung Joachim Bliese derzeit mit der Aussage, Zeitung das Reenactment mit den Wor- Körpern besetzt werden. und Audio-Deskription oder die Mög- Schumacher sind rezensierbar. P. R., bereits im Alltag die betroffene Person man hätte eben keinen schwarzen ten: »So schwarz sind sie dann ja auch lichkeit für Zuschauende, bei Bedarf welcher den Sohn spielt, ist es nicht. Er zu einer Art Schauspielerin auf einer Schauspieler für die Rolle gefunden. Die wieder nicht.« Der Denkfehler von Menschen, die den Saal jeder Zeit verlassen und wie- befindet sich außerhalb jeder Theater- Bühne macht – ständig gibt es Schau- Tyrannei des Neutralen führt zu einer »Blackfacing«, »Cripping Up« oder derkommen zu dürfen. Im Idealfall kritik.« Stadelmaier weigerte sich, das lustige um sie herum – wird diese auf Betriebsblindheit im Theater, die sogar Ein letztes Beispiel: Anfang Februar auch diskriminierende Begriffe für gestaltet sich dieser Anspruch von Bar- Schauspiel Radtkes zu beurteilen, offen- einer Theaterbühne nicht mehr als die Fortsetzung diskriminierender Dar- dieses Jahres publizierte das Magazin Schokoküsse und Schnitzelsoßen weiter- rierefreiheit im Theater auf eine Weise, bar, weil dessen Körper nicht ins Schema Schauspielerin wahrgenommen – zu- stellungstraditionen in Kauf nimmt. Es der Süddeutschen Zeitung ein Manifest hin verteidigen, beruht auf ihrer Schwie- die weniger Zuschauende ausschließt passte, weil ein kleinwüchsiger, sichtbar mindest nicht mit der gleichen Gabe der gibt keine Diversität im Ensemble, wenn und gemeinsames Coming Out von 185 rigkeit, sich überhaupt vorstellen zu und Nichtbehinderte den Unterschied behinderter Darsteller in der Rolle von Verwandlung in eine beliebige dramati- man sie nicht braucht. Umgekehrt wer- lesbischen, schwulen, bisexuellen, quee- können, dass diese Begriffe und Dar- kaum bemerken oder diesen sogar als Medeas Sohn aus seiner Sicht nicht ernst sche Figur. Allerdings betrifft das Pro- den jedoch Schauspieler*innen of Color ren, nicht-binären und trans* Schau- stellungsweisen auch anders wahrge- ästhetischen Gewinn erfahren lässt. Im genommen, sondern lediglich als Zur- blem nicht allein die soziale Kategorie bei Bewerbungen an Stadttheatern bis- spieler*innen, die sich mit dem Hashtag nommen werden könnten. Die vollkom- schlechtesten Fall kommen jene »acces- schaustellung eines »Freaks« betrachtet Behinderung. Weicht ein Körper auf der weilen immer noch mit rassistischen #ActOut für die Anerkennung ihrer men neue Erfahrung, die eigene norma- sibility tools« im Mainstream des Schau- werden konnte. »Theater darf vieles,« Bühne, in welcher Weise auch immer, Aussagen konfrontiert, man brauche Identitäten im Schauspiel und für mehr tive Perspektive könne ausnahmsweise spiel- und Tanztheaters nie an, sondern schrieb er, »das darf es nicht.« von der Norm des weißen, nichtbehin- eigentlich nur eine Ausländerin im En- Diversität der Rollen in Theater, Film einmal irrelevant sein, führt so zum bleiben allenfalls Experimente für ein derten und heteronormativen Schau- semble und sie hätten ja bereits jeman- und Fernsehen einsetzten. Sandra Ke- krampfhaften Festhalten an alten Ge- inklusives Spezialpublikum. Darstellen So sehr sich einerseits die Situation für spielers ab, gilt er bereits nicht mehr als den, der Rollen wie Othello oder den gel, Leiterin des FAZ-Feuilletons ließ wohnheiten. »Haben wir doch immer so und Zuschauen, so ließe sich die Quint- behinderte Künstler*innen seit den neutrales, unbeschriebenes Blatt. Die Dealer aus Neukölln glaubhaft verkör- sich daraufhin zu der abschätzigen Be- gemacht.« Die strukturellen Probleme essenz meiner Überlegungen hier zu- 1980er Jahren spürbar verbessert hat, Norm des unmarkierten Schauspielkör- pern kann. merkung hinreißen, im Vergleich zum in Kunst und Kultur liegen also nicht sammenfassen, können nicht umhin, legendären feministischen Aufmacher allein auf Seiten der Produktion, son- Normen und Stereotypen von Körpern des Sterns WIR HABEN ABGETRIE- dern auch auf Seiten der Rezeption: und Identitäten vorauszusetzen – es BEN (1971) sei dieses Coming Out mit »Blackfacing« geht als Praxis ebenso kommt aber darauf an, diese Normen dem Titel »Wir sind schon da!« doch selbstverständlich von einem weißen infrage zu stellen und sie zu verän- IMMER WIEDER WIRD gar nicht lebensgefährlich. Offenbar Blick des Publikums aus, wie die Dar- dern. gehe es hier, so Kegel, eher um ein iden- stellung einer Behinderung durch einen titätspolitisches Kalkül zur Beschleuni- nichtbehinderten Schauspieler (»Crip- UNTERSTELLT, ES GÄBE DOCH gung der eigenen Schauspiel-Karrieren. ping Up«) ein nichtbehindertes Zu- schauen impliziert. Und auch das Miss- JUN.-PROF. DR. BENJAMIN WIHSTUTZ Die Forderung nach mehr Diversität im verständnis, bei einem schwarzen Ham- IST JUNIORPROFESSOR FÜR GAR KEIN PROBLEM, DIE Schauspiel erfährt also auch heute noch let oder einem Faust im Rollstuhl könne THEATERWISSENSCHAFT merklichen Gegenwind. Immer wieder es sich nur um einen radikalen Re- AN DER JOHANNES GUTEN- wird unterstellt, es gäbe doch gar kein gie-Einfall handeln, der »uns« etwas vor BERG-UNIVERSITÄT MAINZ. Problem, die Betroffenen wollten sich Augen führen soll, resultiert direkt aus BETROFFENEN WOLLTEN SICH SEINE FORSCHUNGSSCHWER- lediglich in den Vordergrund spielen der Konstruktion eines »Wir« im Pub- PUNKTE SIND POLITISCHES oder sich einen Vorteil verschaffen. likum, das die Norm des weißen nicht- GEGENWARTSTHEATER, PER- Stünde dann tatsächlich mal ein behinderten Zuschauers voraussetzt. Es LEDIGLICH IN DEN VORDERGRUND FORMANCE UND BEHINDERUNG »schwarzer« Hamlet oder eine »Trans- gibt aber nicht »eine« Art und Weise des SOWIE DIE GESCHICHTE DES Schauspielerin« als Käthchen von Heil- Zuschauens, denn »der Zuschauer« THEATERPUBLIKUMS. PUBLI- bronn auf der Bühne, wären es wieder- existiert nicht. Vielmehr sollten die Kör- KATIONEN U. A.: THEATER DER SPIELEN ODER SICH EINEN um dieselben konservativen Stimmen, per eines Publikums ebenso selbstver- EINBILDUNG (THEATER DER ZEIT, die nach dem Sinn einer »solch provo- ständlich als divers angenommen wer- 2007), DER ANDERE RAUM kanten Besetzung durch den Regisseur« den wie die Körper des Schauspielen- (DIAPHANES, 2012) SOWIE VORTEIL VERSCHAFFEN. fragen würden. Hier zeigt sich deutlich, sembles. Mit der sogenannten »Cancel ZULETZT ERSCHIENEN: NEUE was den spürbaren Unterschied für Culture« hat diese Forderung wenig zu METHODEN DER THEATERWISSEN- Schauspieler*innen ausmacht, deren tun. Vielmehr ändern sich die Theater- SCHAFT (TRANSCRIPT, 2020). Körper den dominanten Vorstellungen texte, Darstellungspraktiken und Witze von Normalität widerspricht: Immer auf der Bühne ganz von allein, wenn wieder müssen sie erfahren, dass die wir uns von der Vorstellung des weißen, 12 13
WEITER- HANS BLOCK UND MORITZ RIESEWIECK ZWEI JAHRE LANG WELTWEIT AUF DIE SUCHE NACH DEM NEUEN HEILSVERSPRECHEN GEMACHT. Lea Goebel: Wie erklären Sie Menschen, tiert. Der Vater war mittlerweile schwer Millionen Menschen weltweit auf You- die Ihr Buch nicht gelesen haben, was gezeichnet, saß in der Ecke des Wohn- Tube gesehen. Die Mutter steht in einem sich hinter der Versprechung einer »di- zimmers und sah mit an, wie seine Frau Studio vor dem Green-Screen, trägt gitalen Unsterblichkeit« verbirgt? mit diesem digitalen Wiedergänger Handschuhe und eine VR-Brille und scherzte, Anekdoten aus der kleinen versucht irgendetwas mit ihren Händen LEBEN Hans Block: Es geistert ein neuer My- netten Taverne in Griechenland erzähl- zu greifen, fasst aber ins Leere. Parallel thos um die Welt: Anhand der Daten, te und in diesem Gespräch förmlich dazu kann man verfolgen, was die Mut- die wir täglich online hinterlassen, soll versank. Er verlor die Hoheit über die ter durch die VR-Brille sieht: ihre le- es durch algorithmische Analyse mög- eigene Lebensgeschichte, gab die Identi- bensechte Tochter als Avatar. Ihre Klei- lich sein, unsere Persönlichkeit auszu- tät an ein Wesen ab, das jetzt anstatt dung, ihre Lieblingstasche, ihr Ausse- weisen. 2015 gab es eine Studie der seiner mit seiner Frau sprach. Kurz hen, ihre Stimme: »Mama, wo bist du Cambridge University, die besagte, dass darauf starb der Vater und der Chatbot gewesen?« fragt sie. Das Experiment ist aufgrund unseres Verhaltens auf Face- konnte der Familie tatsächlich eine gan- stark kritisiert worden. Niemand weiß, book, den Likes und den Seiten, die wir ze Menge Trost spenden. Als wir sie er- was das langfristig mit der Psyche eines IN DER anklicken, geprüft werden kann, welche neut besuchten, fragte die Mutter den Menschen macht, was für eine Ver- Persönlichkeit hinter den Profilen steckt. Bot »Sag mal, liebst du mich noch?« und wechslungsgefahr besteht, vor allem für Diese Daten-Analysen könnten besser brach in Tränen aus, als die Antwort die kleinen Geschwisterkinder. Wir als Familienmitglieder einschätzen, was »Ja« war. werden in nächster Zeit immer mehr für Menschen wir sind. Diese steile The- Beispiele dazu erleben. Es gibt jetzt se haben wir zum Ausgangspunkt der Wenn Sie von Trost sprechen, wer ge- schon virtuelle Influencer*innen auf Recherche genommen: Die Firmen, die winnt dann durch den digitalen Klon, Instagram, die von der Werbeindustrie wir besucht haben, versprechen, dass die Hinterbliebenen oder die Verstorbe- genutzt werden. Lil Miquela z. B. wurde aus unseren Daten eine Art digitale*r nen? lange Zeit von ihren Fans für mensch- CLOUD Doppelgänger*in entsteht, zum Beispiel lich gehalten. Wir werden uns an das in Form eines Chatbots oder eines Ava- Hans Block: Natürlich kann die digita- gesellschaftliche Nebeneinander von tars, der*die auch nach unserem Tod le Unsterblichkeit den physischen Tod menschlichen Subjekten und virtuellen weiterleben kann. Der*die nicht nur das nicht aufhalten. Aber die Hinterbliebe- Wesen, die vorgeben, ein Subjekt zu sein, wiederholt, was wir einst gesagt haben, nen können etwas behalten, das viel- gewöhnen. Das macht allerdings etwas sondern auf Grundlage der Muster leicht eine neue digitale Erinnerungs- mit unserem Verständnis von Autono- unserer Vergangenheit unser Ich in die kultur eröffnet. Viele junge Menschen mie und der Verantwortung für das eige- Zukunft verlängert. Eine Art virtuelles haben nicht mehr das Bedürfnis, auf ne Handeln. Wesen, das mit anderen Menschen inter- einen Friedhof zu gehen. Deshalb füllen agieren und sprechen kann. viele Technologieunternehmen weltweit Jetzt haben wir über textbasierte Chat- diese Lücke mit neuen Angeboten, um bots und 3D-Avatare gesprochen, be- Das sind interessanterweise nicht nur sich auf eine neue Art und Weise zu wegen uns also hin zum Körper. Mit milliardenschwere Unternehmen im erinnern. Dennoch ist es auch für die welchen Möglichkeiten, auch Körper zu Silicon Valley, sondern auch Privatper- Sterbenden oft eine Hilfe. Da geht es konservieren oder unsterblich zu ma- sonen, richtig? Mir fällt da die sehr be- um die Angst, andere Menschen durch chen, sind Sie in Berührung gekommen? rührende Geschichte von James Vlahos den Tod zu verletzen. Zum Beispiel bei und seinem Vater ein. Schuldgefühlen junger sterbender Eltern Hans Block: Die Firma Alcor Live Ex- gegenüber ihren Kindern. tensions versucht, Menschen schockzu- EIN GESPRÄCH MIT MORITZ RIESEWIECK UND HANS BLOCK Moritz Riesewieck: Genau, ein Familien- gefrieren. Ähnlich wie man Lebensmit- vater und Journalist aus Kalifornien, Sie ziehen häufig Parallelen zu der Serie tel durch den Kühlschrank länger halt- der zunächst nur eine Reportage über BLACK MIRROR, deren Inhalte mal bar macht. In riesigen Kanistern werden die Entwickler*innen einer sprechenden Science-Fiction-Szenarios waren, doch entweder die Köpfe (für 80.000 Dollar) Barbie geschrieben hatte. Dann bekam mittlerweile teils realisierbar scheinen. oder der ganze Körper (für 200.000 Dol- DIE FRAGE »WAS PASSIERT NACH DEM TOD?« BESCHÄFTIGT DIE MENSCHEN sein Vater die Diagnose Krebs. Er über- legte, wie er die gesammelten Erfahrun- Die Serie UPLOAD geht noch einen Schritt weiter. Dort gibt es humanoide lar) unter Extrembedingungen gefrostet. Sie erhoffen sich, dass die Wissenschaft SEIT JEHER. EBENSO DER WUNSCH NACH UNSTERBLICHKEIT. DIE SCHEINT gen der Reportage nutzen könnte, um Roboter, die beides vereinen: digitale in hundert Jahren so weit ist, Menschen NUN – ZUMINDEST VIRTUELL – ZUM GREIFEN NAH, GLAUBT MAN EINEM aus seinem Vater über den biologischen Tod hinaus ein sprechendes Wesen zu Seele und physische körperliche Beschaf- fenheit. Wie steht es hier um den Sci- tatsächlich am Leben zu erhalten oder unsterblich zu machen. Dann sollen sie PATENT, DAS MICROSOFT IM JANUAR 2021 VERÖFFENTLICHTE: CHATBOTS machen, mit dem sich seine Mutter ence-Fiction-Charakter? wieder aufgetaut werden. Das macht SOLLEN AUF BASIS PERSONENBEZOGENER DATEN MENSCHEN MITTELS K.I. unterhalten könnte. Er hat mit seinem Vater dann Gespräche über sein Leben Moritz Riesewieck: Der jüngste, sehr aber eine Zweiklassengesellschaft auf. Die, die sich die Unsterblichkeit leisten »SIMULIEREN«. »SIMPLY BECOME IMMORTAL« SCHEINT DER NEUE WERBE- geführt und diese Audiodateien in einen aufsehenerregende Versuch stammt aus können und die, die es nicht können. SLOGAN EINIGER TECH-UNTERNEHMEN ZU SEIN. DOCH WELCHE ROLLE SPIELT Chatbot eingeführt. Die wenige Zeit, die seinem Vater noch blieb, hat James im Südkorea, wo eine Mutter ihre vor we- nigen Jahren verstorbene Tochter ihm Man muss dazu sagen, dass dies ein großes Spekulationsobjekt ist, eher ein DER KÖRPER BEI DIESEM DIGITALEN VERMÄCHTNIS? FÜR IHR BUCH DIE DIGITALE Grunde damit verbracht, diesen Dad- virtuellen Raum wiedergetroffen hat. kommerzielles als ein medizinisch se- SEELE. UNSTERBLICH WERDEN IM ZEITALTER KÜNSTLICHER INTELLIGENZ HABEN SICH Bot zu entwickeln. Den Prototypen hat Sie haben Geburtstag gefeiert und Ab- riöses Unterfangen. Es gibt dazu keine er dem Vater noch zu Lebzeiten präsen- schied genommen. Dieses Video haben wissenschaftlichen Evidenzen. 14 15
Während der Recherche haben wir ge- die Algorithmen der iPhone-Fotogalerie koon auch Theater. Was versteckt sich SCHWANGER merkt, dass der analoge physische Kör- oder des Facebook-Jahresrückblicks für hinter dem Projekt MADE TO MEA- per definitiv etwas ist, das die meisten uns. Damit akzeptieren wir eine ganz SURE? Unternehmen als Umweg sehen, den sie wichtige Funktion des menschlichen nicht gehen wollen. Sie glauben, die Gedächtnisses: darüber zu entscheiden, Moritz Riesewieck: Seit anderthalb Jah- meisten Teilbereiche des gesellschaftli- was ist uns wichtig und was nicht. Wir ren führen wir ein großes künstlerisches chen Lebens verlagern sich sowieso ins treten in eine neue Ära ein, wo dieser Datenexperiment durch. Wir stellen die Digitale. Die Pandemie hat uns allen kulturelle Akt, das Gegenspiel von Er- These auf, dass wir es schaffen, allein gezeigt, dass es nicht zwingend notwen- innern und Vergessen, gar nicht mehr anhand der vorab abgegebenen Daten WERDEN dig ist, physisch aufeinanderzutreffen. gilt. einer Besucherin ihre Doppelgängerin Anstatt an echter Haut, Haaren und zu kreieren. In Form einer Performerin, Reproduktion von Körperlichkeiten zu Und trotzdem steckt darin eine Chance. die ihre Wesenszüge, ihre Ängste, ihre forschen, glauben die meisten dieser Holocaust-Überlebende können ihre Er- Begehren, ihre Wünsche und Nöte ver- Unternehmen daran, den Körper virtu- fahrungen z. B. dank Hologrammen körpert. Wenn die Teilnehmerin dieses ell herzustellen: die Seele, Gedanken, weiterhin teilen. Ein so einschneidender Experiments ihrer Doppelgängerin dann Handeln, Ansichten, Sehnsüchte. Moment deutscher Geschichte, der gegenübertritt, spricht sie quasi mit sich droht vergessen oder nicht mehr gelehrt selbst. Es geht beim Theater gar nicht KÖÖNNEN Moritz Riesewieck: Obwohl sich Japan zu werden, kann in solcher Form auf- nur um das Aufführen von Geschichten, mit der starken Roboter-Tradition da rechterhalten werden. sondern, dass wir beim Schauen auch unterscheidet. Dort gibt es viele Bei- etwas über uns selbst erfahren. Was be- spiele, wo versucht wird, Haut künstlich Moritz Riesewieck: Wir haben im Buch wegt uns? Was berührt uns? Was lässt zu synthetisieren, sodass die Roboter ein Gedankenexperiment versucht: Wie uns erschaudern? Diese Beobachtung möglichst humanoid erscheinen. Hiros- wäre es, wenn ein Demenzkranker einen des Beobachters oder der Beobachterin hi Ishiguro ist ein Pionier der Entwick- digitalen Wiedergänger bekäme, der beim Beobachten. Durch das Netz lung von menschenähnlichen, oft weib- ihm helfen kann, an Erinnerung ranzu- kommt eine neue Dimension hinzu, dort lichen Robotern. Was teilweise auch kommen. Zu gesünderen Lebzeiten wäre werden wir permanent beobachtet, aus- komisch anmutet. Im Silicon Valley gibt der Bot trainiert und mit Erinnerungen gemessen, getrackt, durch Cookies et- es Unternehmen, die z. B. Sex-Roboter gespeist worden. Diese können im fort- was herausgefunden. Die permanente entwickeln, mit denen dann männliche geschrittenen Krankheitsstadium ab- Rückkopplungsschleife findet online Kunden interagieren können. Einige gerufen werden. Wo ist die Persönlich- statt. Was macht es mit uns, wenn da verwechseln das irgendwann, projizie- keit dieses Menschen jetzt anzutreffen? eine K.I.-Entität auftritt, die behauptet, ren tatsächlich das Bedürfnis nach In seinem physisch noch intakten Kör- mehr über uns zu wissen, als wir selbst? EIN ESSAY VON Liebe auf diese Roboter, wollen mit die- per oder in dem mit Erinnerungen ge- sen frauenähnlichen Gestalten zusam- speisten Bot? Man sagt gerne, wir sind Das Interview führte die Dramaturgin Lea menleben. die Geschichten, die wir von uns erzäh- Goebel. ANTJE SCHRUPP len, dass die Persönlichkeit letztlich aus Hans Block: Künstliche Intelligenz wird vielen Narrativen besteht. Umso stärker ein immer größerer Teil unserer Gesell- stellt sich die Frage: Wie sehr sind wir schaft werden. Der Markt des Affective unser Körper und wie sehr können wir HANS BLOCK, GEBOREN 1985 IN Computing, also die Entwicklung von außer-körperlich existieren? BERLIN, IST EIN DEUTSCHER emotions- und empathiebegabten THEATER- UND FILMREGIS- Maschinen, wird laut Prognosen bis zum Jahr 2024 auf bis zu 15 Milliarden Hans Block: Diese Technologie macht eine neue Diskussion auf. Es findet eine SEUR SOWIE MUSIKER. MORITZ RIESEWIECK, GEBOREN 1985 IM ALLE MENSCHEN WERDEN GEBOREN, ABER NUR DIE HÄLFTE VON IHNEN KANN SCHWANGER Dollar wachsen. Art digitales Wettrüsten statt. Wer RUHRGEBIET, IST EIN DEUT- kriegt eine Stimme? Wir müssen als Ge- SCHER THEATER- UND FILM- REGISSEUR SOWIE AUTOR. WERDEN. WELCHE POLITISCHEN UND Sind wir dafür gesellschaftlich und sellschaft entscheiden, wen lassen wir politisch gewappnet? rumtönen und wen müssen wir vielleicht ZUSAMMEN MIT COSIMA TER- RASSE BILDEN SIE DIE KÜNST- auch muten, damit die Welt Luft hat, GESELLSCHAFTLICHEN KONSEQUENZEN RESUL- Hans Block: Jetzt wäre der Zeitpunkt, sich neu zu entwickeln. Wollen wir einen LER*INNENGRUPPE LAOKOON, DIE FILME, THEATERPRODUK- sich darüber Gedanken zu machen: Was Trump, der über seinen Tod hinaus twit- TIEREN AUS DIESER TATSACHE? DIE POLITIK- TIONEN, ESSAYS, LECTURES heißt das eigentlich sozial, rechtlich, tert? Was hat es für Konsequenzen, UND HÖRSPIELE ENTWICKELT. ethisch, psychologisch? wenn plötzlich Meinungsmache viel IHR DEBÜTFILM THE CLEANERS WISSENSCHAFTLERIN ANTJE SCHRUPP HINTER- immersiver, direkter, persönlicher über ÜBER DIE SCHATTENINDUST- Moritz Riesewieck: Die Aufmerksam- Deepfakes, also realistisch wirkende RIE DER DIGITALEN ZENSUR keit wird derzeit aber falsch gelenkt, es Medieninhalte, die durch K.I.-Techniken FRAGT IN IHREM ESSAY DIE BISHERIGE IN MANILA WURDE MIT DEM wird vor der Killer-K.I. gewarnt, die uns verfälscht werden, übermitteln werden GRIMME-PREIS AUSGEZEICH- alle vernichtet oder uns die Arbeitsplät- können? Wenn Obama plötzlich eine NET. DAS THEATERPROJEKT VERTEILUNG VON RECHTEN UND PFLICHTEN UND ze nimmt. Das zielt am eigentlichen Rede hält, die er so nie gehalten hat, das MADE TO MEASURE FINDET IN Problem vorbei. Wir erleben, wie ist ein digitaler Fake. Es wird immer KOOPERATION MIT DEM PACT PLÄDIERT DAFÜR, SCHWANGERWERDENKÖNNEN K.I.-Anwendungen z. B. in Form von schwieriger für uns, zwischen Realem ZOLLVEREIN STATT UND WIRD Service-Chatbots unser Verständnis von und Fiktionalem zu unterscheiden. VON DER KULTURSTIFTUNG Kommunikation verändern. Zudem DES BUNDES GEFÖRDERT. lassen wir uns Stück für Stück das Er- innern aus der Hand nehmen. Das tun 16 Nun schreiben Sie nicht nur Bücher, sondern machen mit der Gruppe Lao- ALS MENSCHHEITSANGELEGENHEIT ZU SEHEN. 17
Wir beginnen unser Leben als Teil des in das Modell vom »Geschlecht als Spek- Schwangersein nicht als Bestandteil der schaftlicher Existenz, die aktiv gestaltet tens 22 Wochen, besser 24 Wochen lang sind bereits errungen. In einer solchen Körpers einer anderen Person. Der Zell- trum« hineinpasst. Die Gebärmutter ist menschlichen Kultur und Zivilisation und kultiviert werden muss. Die Philo- ist immer noch ein lebendiger Men- Welt wäre das Schwangerwerdenkönnen haufen, aus dem womöglich ein Mensch in der Tat ein »binäres« Organ. Man hat betrachtet, sondern als Überbleibsel sophin Luce Irigaray hat sie als »zwei schenkörper erforderlich, um einen als eine Fähigkeit anerkannt, die einen entsteht, muss sich neun Monate lang eine oder man hat keine, Eins oder Null. unserer tierischen Natur. Die schwan- in eins« beschrieben, als eine Form der Embryo zu lebensfähiger Reife zu brin- Beitrag zum Gemeinwohl leistet, der von der Materie eines lebendigen Kör- Es gibt dazu kein »männliches« Pen- gere Frau wurde als passiver Nährboden Beziehung, für die eigene moralische gen. allgemein wertgeschätzt wird, auch von pers nähren, bevor er geboren werden dant. beschrieben, in den der Mann »seinen« und ethische Kategorien entwickelt Gut möglich jedoch, dass sich das Gan- denen, die selbst nicht schwanger kann. Doch »der offenkundige Um- Die Tatsache, dass alle Menschen ge- Samen hineinpflanzt – dasselbe Narra- werden müssten. ze bald erübrigt, denn dem Feminismus werden können oder wollen. Am Ende stand, dass der Fötus, der jeder von uns boren werden müssen, aber nur die tiv, das heute noch der kommerziellen Die patriarchale Tradition hat sich mit sei Dank hat die patriarchale Ab- und des Patriarchats ist die Kulturarbeit des einmal war, körperlich mit seiner Mutter Hälfte von ihnen schwanger werden Leihmutterschaft zugrunde liegt: Das, all dem jedoch nie beschäftigt und statt- Entwertung des Schwangerseins heute Schwangerseins zentral, gefördert, verbunden ist und ohne sie nicht über- kann, zieht politischen Regelungsbedarf was in einem Uterus heranwächst, dessen alles, was mit dem Schwanger- immer weniger Legitimität. Frauen ha- diskutiert. Weil alle Menschen wissen, leben kann, spielt kaum eine Rolle im nach sich. Die Rechte und Pflichten von gehört nicht zu der betreffenden Person, werdenkönnen zusammenhängt, in ben sich schon immer dagegen gewehrt, dass sie ohne die Schwangerschaft ihrer Mainstream der philosophischen und Schwangeren und Geborenen, ihre Be- sondern unterliegt der Verfügungsge- spezielle »Frauenräume« ausgegliedert, ihr Geschlecht auf die Gebärfähigkeit Mutter nicht auf der Welt wären. naturwissenschaftlichen Debatten, die ziehungen zueinander und die damit walt anderer. so als hätte die Menschheit insgesamt reduziert zu sehen, heute wird außerdem Oder wie auch immer wir die Personen, sich mit der Frage beschäftigen, was der verbundenen sozialen Ordnungen lassen Auch die Gleichberechtigung der Frau- nichts damit zu tun. Lieber malte sie klar, dass die direkte Verbindung von die ihre Körper auf diese Weise zur Ver- Mensch ist«, wundert sich Siri Hustvedt sich nicht »aus der Natur der Sache« en hat das patriarchale Reprodukti- sich Welten aus, in denen Schwanger- Geschlecht und Uterus auch umgekehrt fügung stellen, dann in Zukunft nennen in ihrem Essay DIE ILLUSION DER herleiten. Es steht Menschen frei, dies ons-Narrativ nicht wesentlich verbes- schaften nicht mehr vorkommen, wie keinen Sinn ergibt: Schwangerwerdenk- möchten. GEWISSHEIT. so zu organisieren, wie es ihnen gefällt. sert. Emanzipierte Paare erzählen das Stanisław Lem, der in seinem Science- önnen ist keine »Frauenangelegenheit«, Vielleicht deshalb, weil die meisten Men- Wir leben heute in einer Zeit, in der die Geschehen heute gerne als Fifty- Fiction Roman LOKALTERMIN eine sondern eine Menschheitsangelegenheit. schen, die in diesem »Mainstream der klassische Lösung, das heteronormative Fifty-Teamwork: »Er zeugt das Kind, Kultur von »Entianern« beschreibt, die Nicht nur, weil »auch Männer schwan- Debatten« Gehör finden, selbst nicht Paar als alleiniges Lebensmodell der sie trägt es aus.« Aber auch das ist bio- von Vögeln abstammen und daher or- ger werden können«. Das ist zwar rich- schwanger werden können. Die Mensch- Reproduktion, von immer mehr Men- logisch falsch. Das männliche Ejakulat dentlich saubere Eier legen. Niemand tig, Männer können in Deutschland of- ANTJE SCHRUPP IST POLITIK- heit existiert ja in biologisch zwei Varian- schen abgelehnt wird. Das Patriarchat enthält kein Sperma, keinen Samen, muss dort schwanger sein, und, Gott fiziell seit 2011 schwanger werden, seit WISSENSCHAFTLERIN, ten. Und nur eine davon hat die Fähig- ließ sich ja im Kern auf die Formel brin- sondern nur Samens-Bestandteile. Erst bewahre, kleine Kinder aus einem Loch nämlich das Bundesverfassungsgericht JOURNALISTIN, REFERENTIN keit, schwanger zu werden. Der anderen gen, dass Menschen, die selbst nicht das Zusammenkommen von Spermium im Unterleib herauspressen, das prak- entschied, dass Trans*personen sich UND AKTIVE BLOGGERIN. IHRE fehlt das dazu notwendige Organ, der schwanger werden können, die Schwan- und Eizelle ergibt einen Embryo, also tisch direkt neben dem Loch liegt, aus nicht mehr sterilisieren lassen müssen, THEMEN SIND PHILOSOPHIE, Uterus. Das ist keine Marginalie. gerschaften der anderen kontrollieren einen Keim, der genährt werden und dem man kackt. bevor sie in ihrem Geschlecht anerkannt FEMINISMUS, RELIGION UND Heutige Geschlechterdiskurse nehmen und reglementieren. Zu diesem Zweck wachsen kann. Auch Feministinnen träumten von der werden können. Seither gibt es Männer WELTANSCHAUUNGEN. vor allem die Uneindeutigkeiten von wurden Neugeborene, von denen man Die reproduktive Differenz erzeugt eine Abschaffung der leiblichem Gestation. mit Gebärmutter und in der Folge auch ZULETZT IST VON IHR DAS Geschlecht im Blick. Das ist auch ver- aufgrund ihrer Genitalien annahm, dass Ungleichheit unter den Menschen, die Shulamith Firestone schlug 1970 in Männer, die schwanger werden. BUCH SCHWANGERWERDENKÖNNEN ständlich, hat doch die traditionelle sie später einmal schwanger werden keine Gleichstellungspolitik aufheben ihrem Buch THE DIALECTIC OF SEX Der eigentliche Grund, warum das ERSCHIENEN – EIN ESSAY Sichtweise einen simplen Dualismus können (womit man in über 98 Prozent kann: Während die Zeugung ein gemein- die maschinelle Auslagerung der Re- Schwangerwerdenkönnen keine Frau- ÜBER KÖRPER, GESCHLECHT gepredigt, der nicht nur soziale Identi- der Fälle richtig lag), in eine besondere schaftlicher Akt von zwei Menschen ist, produktion als Weg zur Befreiung der en-, sondern Menschheitsangelegenheit UND POLITIK. täten verkürzt darstellt, sondern auch Kategorie namens »Frauen« sortierte kann die anschließende Schwanger- Frauen vor. Auf dieselbe Idee setzen ist, liegt aber darin, dass alle Menschen die Biologie. Penis und Klitoris zum und ihnen die Rechte und Privilegien schaft nur eine von beiden übernehmen, heute Betreiber von Reproduktionskli- geboren werden. Die Schwangerschaf- Beispiel sind letztlich dasselbe Organ, der normalen Menschen alias »Männer« und zwar diejenige mit dem Uterus. Das niken wie Albert Totschilowskyj, der ten einiger ermöglichen die Existenz nur in unterschiedlichen Varianten. – in vielen Sprachen ist das dasselbe Schwangerwerden kann man nicht »ge- Betreiber des größten Reproduktions- aller. Das Ende des Patriarchats bedeu- Auch bei Geschlechtschromosomen oder Wort – vorenthielt. recht« untereinander aufteilen wie das zentrums der Ukraine BioTexCom. In tet nicht, dass Frauen jetzt »auch« Zu- Hormonen gibt es mehr als »entweder Damit einher ging die Abwertung und Badputzen oder das Einkaufen. Zumal Interviews sagt er die baldige Entwick- gang zu Privilegien haben, die früher dies – oder das«, nämlich zahlreiche Unsichtbarmachung der mit einer eine Schwangerschaft eben auch nichts lung von Inkubatoren voraus, was die nur die Männer hatten, wie Geld, Macht Zwischenformen. Schwangerschaft verbundenen Care- ist, was man passiv und untätig erleidet, fabrikmäßige Wunschkindproduktion und Formel Eins. Sondern es bedeutet, Aber es gibt eine Ausnahme, die nicht Arbeit: Schon seit Aristoteles wurde das sondern eine besondere Art von gemein- sehr vereinfachen würde, weil man die Welt so einzurichten, dass alle Men- dafür keine lebendigen Leihmütter mehr schen darin gut leben können, auch bräuchte. Menschen mit Uterus. Und auch Men- Tatsächlich sollte man die Reproduk- schen, die ihren Uterus benutzen. tionstechnologie nicht unterschätzen, Wenn Abtreibung nicht länger krimina- sie hat sich in den vergangenen Jahr- lisiert wird, wenn die Sorge für die Kin- zehnten mit rasanter Geschwindigkeit der und die damit verbundene Care- SCHWANGERSCHAFTEN entwickelt. Inzwischen kann man nicht Arbeit nicht mehr automatisch den nur Eizelle und Spermium »in vitro« zu Gebärenden zugewiesen wird, wenn sich Embryonen verschmelzen, sondern auch die Gesellschaft als Ganze für das Wohl- männliches Sperma gezielt in einzelne ergehen von Kindern verantwortlich EINIGER ERMÖGLICHEN Eizellen injizieren, was die Erfolgschan- fühlt ohne daraus andererseits gleich cen bei niedriger Spermien-Fruchtbar- wieder das Recht abzuleiten, die Freiheit keit deutlich erhöht. Es ist auch möglich, von Schwangeren und Gebärenden ein- das Genmaterial von Embryonen zu zuschränken, wenn es zum Beispiel ge- manipulieren oder Leichen noch drei nügend Kindergärten und Krabbelstu- DIE EXISTENZ ALLER. Tage nach dem Tod fruchtbares Sperma ben gibt, wenn Erwachsene, die für zu entnehmen. Selbst Gebärmutter- oder Kinder sorgen, nicht von Wohlstand, Eierstocktransplantationen sind heut- Erwerbsarbeit und Mitbestimmung zutage möglich, an künstlich hergestell- ausgeschlossen sind – dann ist das ten Gebärmüttern wird intensiv ge- Schwangerwerdenkönnen kein Fluch forscht. mehr, der auf den Frauen lastet. Die erhofften Embryo-Inkubatoren hin- Sicher, da sind wir noch nicht, aber das gegen sind noch nicht in Sicht. Mindes- Ziel steht vor Augen und erste Erfolge 18 19
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