In Krisen - VKZ 21196 Juli/August/September 2020 - Caritasverband für die Diözese ...

Die Seite wird erstellt Matthias Stolz
 
WEITER LESEN
In Krisen - VKZ 21196 Juli/August/September 2020 - Caritasverband für die Diözese ...
Nr. 3/2020       Juli/August/September   2020       ISSN 1611-7565
                                                                     VKZ 21196

                                         sk ra ft
                                  rsta nd
                              Wide
                                           is en
                                      in Kr

KREUZBUND    Selbsthilfe- und Helfergemeinschaft für Suchtkranke und Angehörige
In Krisen - VKZ 21196 Juli/August/September 2020 - Caritasverband für die Diözese ...
IMPULS

 Liebe Weggefährtinnen und Weggefährten!

Um der Bitte unserer Öffentlichkeitsre-        baren, aber übermächtigen Gegners, eng
ferentin nach einem Geistlichen Impuls         zusammendrängt und sich gegenseitig
zur Corona-Pandemie nachzukom-                 Trost und Wärme zu spenden bemüht.
men, setze ich mich am Sonntag vor
Pfingsten hin, um diese Zeilen zu                  In meinen 57 Lebensjahren habe ich
schrei­ben. Also gegen Ende der Oster-         diesen biblischen Bericht, der so eng mit
zeit, das wir mit der Erinnerung an            dem dritten großen Fest in unseren
die Sendung des Heiligen Geistes und           christlichen Kirchen verbunden ist, noch
quasi als Geburtsstunde der Kirche be-         nie so intensiv und geradezu sinnenhaft
gehen. In der Eucharistiefeier wurde           spürbar nachvollziehen können wie in
heute eine Lesung aus der Apostel­             diesem Jahr. Angesichts der Lebensum-
geschichte vorgetragen, die die Situa-         stände, die uns seit jetzt schon elf Wo-
tion der Jüngerinnen und Jünger Jesu           chen in eine weitgehende Isolation ge-
gewissermaßen am „Vorabend des                 führt haben, die uns – allenfalls noch mit    Thorsten Weßling
Pfingstfestes“ widergibt:                      Mitgliedern unserer Hausgemeinschaft –
                                               hinter verschlossenen Türen ausharren
    „Als Jesus in den Himmel aufgenom-         lassen. Und gerade die haben viele der        alles aus ist. Dass aus dem leidvollen Erle-
men worden war, kehrten die Apostel            alleinlebenden Suchtkranken noch nicht        ben um die Passion und Kreuzigung,
von dem Berg, der Ölberg genannt wird          einmal. Eine Situation, die manchen von       quasi aus der Krise heraus, auch ein Neu-
und nur einen Sabbatweg von Jerusalem          uns mit Furcht erfüllt, die Traurigkeit und   beginn, ein Aufbruch, eine Auferstehung
entfernt ist, nach Jerusalem zurück. Als sie   Depressionen auslösen kann. Das gilt für      im wahrsten Sinn des Wortes möglich ist,
in die Stadt kamen, gingen sie in das          die persönlichen, von vielen Einschrän-       der man sich im einmütigen Gebet ent-
Obergemach hinauf, wo sie nun ständig          kungen geprägten Lebensbedingungen.           gegenzustrecken vermag.
blieben: Petrus und Johannes, Jakobus
und Andreas, Philíppus und Thomas, Bar-            Spätestens mit der Verordnung des in         Wenn wir an Pfingsten von der Sen-
tholomäus und Matthäus, Jakobus, der           dieser Situation sicherlich sinnvollen        dung des Geistes hören, der wie Feuer-
Sohn des Alphäus, und Simon, der Zelót,        Mund-Nasen-Schutzes in der Öffentlich-        zungen auf die aus ihrer Lethargie geris-
sowie Judas, der Sohn des Jakobus. Sie         keit hat sich auch bei mir persönlich ein     senen und völlig verwandelten Jünger
alle verharrten dort einmütig im Gebet,        beklommenes Gefühl eingestellt. Das gilt      herabkommt, dann hört sich das in mei-
zusammen mit den Frauen und Maria,             aber auch mit Blick auf die katastrophalen    nen Ohren immer so an, als wenn da von
der Mutter Jesu, und seinen Brüdern.“          Auswirkungen der Pandemie auf die wirt-       jetzt auf gleich etwas Ungeheuerliches
(Apg 1,12-14)                                  schaftliche Situation, die für viele Men-     geschieht; ohne jede Vorbereitung, wie
                                               schen mit Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit    aus dem Nichts heraus. Ich glaube aber,
   Das Johannesevangelium ergänzt die-         und für manchen Unternehmer mit dem           dass die Situation der „in ihrer Selbstisola-
se Situation in seinem Pfingstbericht          drohenden Konkurs verbunden ist. Und          tion gefangenen“ Jünger, von denen uns
noch um den Hinweis, dass „die Jünger          mit Blick auf die vielen Kranken und mitt-    die Apostelgeschichte berichtet, unver-
aus Furcht die Türen verschlossen hat-         lerweile an den Folgen des Corona-Virus       zichtbar zum Pfingstereignis dazu gehört.
ten.“ (Joh 20,19B)                             verstorbenen Menschen. Und nicht zu-          Gewissermaßen als der Raum, in dem die
                                               letzt gilt das natürlich auch für viele       Vertrauten Jesu sich für das Geschenk des
    Mit wenigen Zeilen wird hier eine –        suchtkranke Menschen, die für einen           Gottesgeistes öffnen konnten. Und ich
auf den ersten Blick – widersprüchliche        schon so langen Zeitraum auf ihre Selbst-     glaube, dass die Krise, die wir seit einigen
Situation eingefangen. Auf der einen Sei-      hilfegruppe verzichten mussten und die        Wochen erleben und zu durchstehen ha-
te die Angst vor Verfolgung und einem          sich erst jetzt unter verstärkten Sicher-     ben, auch diese durchaus positiven Facet-
ähnlich grausamen Ende, wie Jesus es er-       heitsbedingungen wieder treffen dürfen.       ten in sich trägt: Die Entschleunigung,
fahren musste. Die Resignation, die aus                                                      die wir durch die massiven Einschränkun-
dem Erleben um den Leidensweg und                 Auf der anderen Seite können wir in        gen des öffentlichen Lebens, die Absage
Tod Jesu entstanden war – trotz der Auf-       der Situation dieser kleinen verängstigten    vieler Veranstaltungen und das Versamm-
findung des leeren Grabes und der öster-       Herde, von der uns die Apostelgeschichte      lungsverbot erdulden müssen; die Zeit
lichen Begegnungen mit dem Auferstan-          und das Johannesevangelium am „Vor-           zum Nachdenken, vielleicht auch zum
denen. Das Gefühl, allein gelassen zu          abend des Pfingstfestes“ berichten, noch      Beten – trotz des langen Zeitraums ohne
sein, nicht weiter zu wissen. Dieser kleine    etwas anderes erkennen. Da ist die zag-       gemeinsame Gottesdienste; die Wert-
Kreis wirkt wie eine verängstigte Schaf-       hafte Ahnung zu spüren, dass mit dem
herde, die sich zur Abwehr eines unsicht-      Tod und der Entrückung Jesu eben nicht                             Fortsetzung auf Seite 2
In Krisen - VKZ 21196 Juli/August/September 2020 - Caritasverband für die Diözese ...
Zu dieser                                                          Z U D I E S E R A U S G A B E / I N H A LT

Ausgabe
                      Liebe Leserin, lieber Leser,
                       da hat uns das Corona-Virus einen
                                                                Aus dem Inhalt                                      Seite
                       ordentlichen Strich durch die Rech-
                       nung gemacht und viele Pläne über
                       den Haufen geworfen! Die Pande-
                       mie stellt auch die Sucht(Selbst)hilfe   IMPULS	                                                  U2
                       vor neue Herausforderungen: Selbst-
                       hilfegruppen konnten sich nicht
                       mehr wöchentlich treffen; Suchtbe-       ZU DIESER AUSGABE                                         1
                       ratungsstellen mussten persönliche
Beratungsangebote zugunsten von Telefon- und Onlinebe-
ratung einschränken; Fachkliniken mussten Maßnahmen
ergreifen, um ihre Patientinnen und Patienten sowie Mitar-      LESERFORUM	                                               2
beitende zu schützen. Teilweise wurden Therapien ver-
schoben oder ausgesetzt.
Was bedeutet es, wenn die Kreuzbund-Gruppen und Semi-           AUS DEM BUNDESVERBAND                                    3-6
nare nicht mehr so stattfinden können, wie es heilsam ist?
Das Kontaktverbot hat uns alle dazu gezwungen, mehr als              „Achtsam leben – mithilfe der Stille“
sonst zu Hause zu bleiben. Viele Freizeitaktivitäten, die wir
als Ausgleich zum Beruf und für unser persönliches Wohl-             Bestätigung für die gute Gruppenarbeit
befinden brauchen, waren nicht mehr möglich. Ungewiss-
heit, fehlende Unterstützung, Isolation, finanzielle Unsi-
                                                                     Kreuzbund-Chat in Corona-Zeiten
cherheit und Langeweile können Suchtmittelmissbrauch
begünstigen. Die Gefahr für Suchtkranke, in alte Muster zu
verfallen, ist groß – auch für langjährig abstinente Grup-
penmitglieder.                                                  IM BLICKPUNKT:
Krisen, Belastungen und Schicksalsschläge zu meistern und       „WIDERSTANDSKRAFT IN KRISEN“                            7-21
als Herausforderung für die persönliche Entwicklung zu
nutzen, wird mit dem Begriff der „Resilienz“ zusammenge-
                                                                     Resilienz – Widerstandskraft in stürmischen
fasst. Resilienz ist kein angeborenes Persönlichkeitsmerk-
mal, sondern ein dynamischer Prozess, der über Zeit und               Zeiten
Situationen hinweg variieren kann, erklärt Marianne Holt-
haus, Suchtreferentin des Kreuzbund-Bundesverbandes, in              Selbsthilfe lebt von der Begegnung
ihrem Beitrag zum Schwerpunktthema dieser Ausgabe
„Widerstandskraft in Krisen“ (S. 7-8).                               Sucht(Selbst)hilfe ist unverzichtbar – vor allem
                                                                      in der Krise
Das Redaktionsteam hatte Anfang April alle Gruppen und
Mitglieder dazu aufgerufen, uns von ihren Erfahrungen mit
                                                                     Gruppenarbeit in Corona-Zeiten
der Corona-Krise und ihren Bewältigungsstrategien zu be-
richten. (S. 12-21) Wir sind beeindruckt, wie ideenreich
                                                                     Persönliche Blicke auf die Krise
und kreativ es viele Gruppen geschafft haben, den Kontakt
und die verbindende Nähe zwischen den Gruppenmitglie-
dern auch bei räumlichem Abstand aufrechtzuerhalten.
Dafür herzlichen Dank an dieser Stelle!                         HOBBY + FREIZEIT                                   22-23
Außerdem haben wir uns gefragt, welche Konsequenzen
wir aus der Krise ziehen können. Die Bundesvorsitzende
Andrea Stollfuß und Bundesgeschäftsführer Heinz-Josef           ZUR LETZTEN AUSGABE:
Janßen freuen sich besonders darüber, dass die Sucht-           „SEI GUT, MENSCH!”	                                24-25
Selbsthilfe als systemrelevant anerkannt worden ist. Was
das konkret bedeutet, erläutern Sie auf den Seiten 9-10.
Dr. Peter Raiser, stellvertretender Geschäftsführer der Deut-   AUS DEN DIÖZESANVERBÄNDEN                          26-27
schen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS), befürchtet,
dass in Folge der Corona-Krise viele Kommunen ihre finan-
zielle Unterstützung für die Suchthilfe reduzieren. Um das
zu verhindern, sind wir alle gefragt, die Bedeutung der         PASSIERT – NOTIERT                                 28-32
Suchthilfe auch auf der politischen Ebene immer wieder zu
unterstreichen (S. 10-11).
Viele Anregungen, trotz allem einen schönen Sommer –            TERMINVORSCHAU / IMPRESSUM                               U3
und vor allem bleiben Sie gesund
wünscht Ihnen
Ihre Gunhild Ahmann
In Krisen - VKZ 21196 Juli/August/September 2020 - Caritasverband für die Diözese ...
LESERFORUM

Fortsetzung des Impulses                       gilt auch für viele Akteure in der Sucht-        Wie sehr ähnelt das doch der eingangs
                                               Selbsthilfe, von denen ich in den vergan-    geschilderten pfingstlichen Erwartungs-
schätzung vieler Beziehungen und Le-           genen Wochen gehört habe, wie z. B.          haltung der Jüngerinnen und Jünger Jesu.
bensinhalte, deren Bedeutung uns erst          Gruppenleitungen unter Einhaltung aller      Dem einmütigen Wunsch, von den Ga-
im erzwungenen Verzicht bewusst wer-           gebotenen Sicherheitsmaßnahmen die           ben des Geistes erfüllt zu werden, mit der
den.                                           sozialen Kontakte und gegenseitige Un-       Gott seine Schöpfung zum Guten verän-
                                               terstützung der Gruppe weiterhin ermög-      dern möchte. Den Gaben des Geistes, die
   Unser Bundespräsident Frank-Walter          lichen und damit vermutlich manchen          ich uns allen im Kreuzbund und darüber
Steinmeier hat das in seiner Fernsehan-        Rückfall verhindert haben.                   hinaus wünsche, um die derzeitige Krise
sprache zum Osterfest sehr treffend zum                                                     zu überwinden und – vielleicht sogar
Ausdruck gebracht. Er stellte darin bereits       Am Schluss seiner eindrucksvollen An-     noch gestärkt – einen Neuaufbruch mit-
zum Beginn der Pandemie fest, dass viele       sprache stand die Einladung unseres Bun-     einander zu gestalten. Und in der Hoff-
Menschen in dieser Krise über sich selbst      despräsidenten: „Bitte bewahren wir uns      nung, dass wir uns bald nicht nur einan-
hinauswachsen durch Empathie und Hilfs-        diese kostbare Erfahrung. Die Solidarität,   der die Hand wieder reichen, sondern
bereitschaft, durch solidarisches Handeln,     die Sie jetzt jeden Tag beweisen, brau-      uns - wie es im Kreuzbund weit verbreitet
durch Wertschätzung dessen, was die An-        chen wir in Zukunft umso mehr! Wir wer-      ist – zur Begrüßung auch wieder umar-
gehörigen vieler Berufsgruppen zur Auf-        den nach dieser Krise eine andere Gesell-    men dürfen!
rechterhaltung der medizinischen Versor-       schaft sein. Wir wollen keine ängstliche,
gung und des Lebensunterhaltes leisten,        keine misstrauische Gesellschaft werden.        Thorsten Weßling, Geistlicher Beirat des
durch ein hohes Maß an Kreativität, mit        Aber wir können eine Gesellschaft sein                    Kreuzbund-Bundesverbandes
der viele Menschen die leidvollen Spitzen      mit mehr Vertrauen, mit mehr Rücksicht
der Pandemie zu brechen versuchen. Das         und mit mehr Zuversicht.“

                                               sem Grund ist es wichtig, den Begriff        Kirche leben und praktizieren wir. Der
Thema:                                         „Gutmensch“ neu zu definieren. Das ist       Kreuzbund hat uns zu starken Menschen
Schwerpunkt „Sei gut,                          mit der bundesweiten Caritas-Kampagne        gemacht, die die Interessen sozial be-
Mensch!“                                       gelungen.                                    nachteiligter und suchtbelasteter Men-
                                                                                            schen vertreten. Die Aktion des Deut-
Ausgabe 2/2020, S. 6-15
                                                  Wir danken Ihnen dafür und haben in       schen Caritasverbandes hilft, Klarheit und
                                               einem Brief an Caritaspräsident Dr. Peter    Öffentlichkeit zu schaffen und ermutigt
                                               Neher zum Ausdruck gebracht, wie sehr        Menschen Gutes zu tun.
Liebes Redaktionsteam,                         wir uns darüber freuen, dass sich „Gut-
                                               menschen“ mit ihren vielen helfenden             Wir bedanken uns beim Deutschen
aufmerksam und mit Freude haben wir,           Händen und ihren denkenden und nach-         Caritasverband, beim Kreuzbund und al-
die Kreuzbund-Gruppe St. Peter in Wal-         denkenden Köpfen auf der politischen         len Selbsthilfe-Organisationen, dass sie
trop, die letzte Ausgabe des WEGGE-            Ebene für menschenwürdige Lösungen           für die guten Menschen eintreten. Allen,
FÄHRTE gelesen. Auch wir sind über-            einsetzen. Die Kampagne „Sei gut,            die in karitativen Einrichtungen arbeiten,
zeugt, dass unsere demokratische Gesell-       Mensch!“ ist in unserer Gruppe auf offe-     allen Weggefährtinnen und Weggefähr-
schaft Bürgerinnen und Bürger braucht,         ne Herzen gestoßen. Auch wir wehren          ten, die sich für andere Menschen einset-
die sich für andere einsetzen und sich         uns dagegen „das helfen und solidarisch      zen, und allen, die zum Wohl unserer Ge-
ehrenamtlich z.B. in der Altenhilfe, in Bür-   sein zum Vorwurf wird.“                      sellschaft politische Verantwortung über-
gerinitiativen oder in der Selbsthilfe en-                                                  nehmen, gilt unser Dank.
gagieren.                                         Der Kreuzbund hat uns zu einer zufrie-
                                               denen abstinenten Lebensweise geführt.          Wir bedanken uns auch beim Redakti-
   Es tut gut zu lesen, dass der WEGGE-        Wir leben wieder aktiv in unserer Gesell-    onsteam um Gunhild Ahmann, das in
FÄHRTE die Jahreskampagne des Deut-            schaft und stehen Menschen bei, die un-      hervorragender Weise die Kampagne „Sei
schen Caritasverbandes (DCV) unter-            sere Unterstützung brauchen. Wir haben       gut, Mensch!“ positiv kommuniziert hat.
stützt und begleitet. Viele von unseren        ein neues Selbstbewusstsein gefunden,        Unsere Zeitschrift, der WEGGEFÄHRTE, ist
Weggefährtinnen und Weggefährten be-           das uns befähigt, Probleme konkret anzu-     ein starkes Stück gelebte Solidarität.
weisen jeden Tag mit ihrem ehrenamtli-         gehen. Die Werte des Kreuzbundes, Of-
chen Einsatz für andere Menschen, dass         fenheit und Ehrlichkeit, die Werte des        Das Leitungsteam der Kreuzbund-Gruppe
sie gute Menschen sind. Genau aus die-         Grundgesetzes und die der christlichen                               St. Peter Waltrop

2	                                                                                                        WEGGEFÄHRTE          3/2020
In Krisen - VKZ 21196 Juli/August/September 2020 - Caritasverband für die Diözese ...
AUS DEM BUNDESVERBAND

„Achtsam leben – mithilfe der Stille“

D   ass das Seminar vom 13. bis 15. März
    2020 im Haus Ohrbeck in Georgsma-
rienhütte stattfand, obwohl sich die Co-
                                              der Gruppe, das Sitzen, Atmen und
                                              Nichtdenken. Die Einführung in die Me-
                                              ditationsübung im Stil des Zens struktu-
                                                                                           Uns geht es gut, wir tun, was wir können,
                                                                                           um gesund zu bleiben. Die wertvollen Er-
                                                                                           fahrungen durch meditieren, sitzen, at-
rona-Pandemie bereits abzeichnete, ver-       rierte das ganze Wochenende - am An-         men, nicht-denken sind mir ein gutes
stand sich nicht von selbst. Doch das Se-     fang und Ende des Vormittags, am An-         Hilfsmittel geworden. Ich praktiziere die
minarthema „achtsam leben“ sprach 16          fang und Ende des Nachmittags – und          Meditation nun dreimal die Woche ganz
Suchtkranke und Angehörige (siehe Foto        wer noch konnte und wollte am Abend.         bewusst und mit großer Wirkung. Ich
unten) auch deshalb an, weil es „in der       Jeder und jede erlebte die Übungen an-       meditiere montags, mittwochs und frei-
Luft“ lag: Wir werden achtsamer mit uns       ders, weil das Still-werden in sich selber   tags direkt nach dem Aufstehen. Nüch-
selbst und anderen leben müssen, weil         und zugleich auch in der Gruppe unter-       tern schaffe ich es, meine Achtsamkeit zu
wir uns – neben der Suchterkrankung –         schiedlich empfunden wurde.                  stärken. Ich hätte nie gedacht, dass das
auf das Virus einzustellen haben.                                                          etwas für mich ist.
                                                 Einige Wochen nach dem Seminar
   Wir einigten uns darauf: Wir sind mu-      habe ich die Teilnehmenden um ein Wort          Auch wenn die Bedrohung durch das
tig, aber hoffentlich nicht leichtsinnig,     des Rückblicks gebeten, davon eine klei-     Corona-Virus nicht zu Ende ist, brauchen
dass wir doch noch zu diesem Achtsam-         ne Auswahl: „Gerade noch vor der Kon-        wir uns nicht einsam fühlen. Alles, was
keits-Seminar      zusammengekommen           taktsperre war es das richtige Seminar für   räumlichen Abstand erfordert, kann auch
sind. Gott sei Dank zeigte sich: Niemand      diese außergewöhnliche Corona-Zeit.          soziale Nähe bedeuten. Unsere Haltung
hatte sich mit dem Virus infiziert. Ab-
stands- und Hygieneregeln wurden ein-
gehalten, auch wenn uns allen immer
wieder deutlich wurde: Abstand nehmen,
Abstand halten - das müssen wir noch
üben!

    Im bewährten Stuhlkreis und in kleine-
ren Gesprächsgruppen stellten wir uns
diesen Themen und Fragen: Stille – wie
erfahre ich sie, wie gestalte ich sie, wel-
che Bedeutung hat sie in meinem Leben?
Achtsamkeitsbasierte Stressminderung –
dieser Behandlungsansatz spielt seit lan-
gem in der Suchtbehandlung und Rück-
fallvorbeugung eine große Rolle.

  Aber viel wichtiger als der Austausch
mit Worten war das Ein-Üben der Stille in

WEGGEFÄHRTE         3/2020	                                                                                                      3
In Krisen - VKZ 21196 Juli/August/September 2020 - Caritasverband für die Diözese ...
AUS DEM BUNDESVERBAND

muss sein, diese Übung des Abstandhal-        Schnelllebigkeit verfallen, sondern aufei-    de bestätigt. Die Corona-Situation hat
tens nicht zu bewerten! Ja, es ist auch die   nander zugehen und achtsam und wert-          uns zum Abstandnehmen angehalten,
Chance für einen neuen Blick und eine         schätzend zueinander sind. Es kann ein        aber wir waren doch in der Gruppe mit-
andere Wahrnehmung, für etwas ganz            Neubeginn für uns alle sein.“                 einander verbunden. Die speziellen Me-
Anderes und Neues.“                                                                         ditationsübungen haben dazu beigetra-
                                                 „Das Seminar hat mir gut gefallen. Die     gen, mehr in uns selbst hinein zu hor-
   „Mir hat das Seminar sehr gut gefal-       Phasen der Stille versuche ich, bei An-       chen. Die Achtsamkeit leben wir jetzt in-
len. Man konnte mal in sich hineinschau-      spannungen im Alltag in meinen Tages-         tensiver, z.B. indem wir die Mahlzeiten
en. Ich habe mir sehr viel Ruhe gegönnt.      ablauf einzubauen. Ich werde mich über        manchmal in Stille zu uns nehmen. Ich
Gern noch einmal.“                            Seminare zu dem Thema auf dem Lau-            kann mich sehr gut zurückziehen und
                                              fenden halten.“                               mich meiner Leseleidenschaft widmen.
   „Ich bin zu dem Seminar gekommen,                                                        Waltraud erlebt sich intensiv in ihren Tai-
um Ruhe zu finden und Kraft zu schöp-             „Uns hat das Wochenende unglaub-          Chi-Spielen, eine Stunde mehrmals in
fen. Der Aufenthalt im Kloster hat mir        lich gutgetan! Es hat in seiner positiven     der Woche. Für sie waren die Medita­
gutgetan, vor allem die Ruhe und Stille.      Kraft noch eine ganze Weile nachgewirkt,      tionseinheiten im Raum der Stille sehr
Die Übungen und Gespräche erden mich          und ich habe seitdem tatsächlich auch         gut. Besonders die Steigerung der Zeit-
und geben mir Kraft, meinen Alltag zu         schon ein paar Mal zu Hause meditiert.        einheiten hat dazu beigetragen, zur in-
bewältigen und mich auf das Wesentliche       Auf meinem Blog habe ich einen Bericht        neren Ruhe und Zufriedenheit zu finden,
zu konzentrieren. Es gelingt mir immer        über das Seminar verfasst. Schon wäh-         um ‚runterfahren‘ und ‚abschalten‘ zu
mehr, gut mit den Dingen und Men-             rend des Wochenendes konnte ich viele         können. Wir sind mit einem sehr guten
schen umzugehen. Trotz Corona bin ich         Parallelen zwischen Meditation und dem        Gefühl nach Hause gefahren und kom-
zuversichtlich und glaube, dass wir die       (Beginn eines) suchtfreien Leben sehen:       men gerne wieder.“
Krise meistern werden.                        https://suchtfrei-leben.de/meditation-
                                              als-anfaenger-erleben/“                          Dr. Michael Tremmel, Suchtreferent des
   Ich hoffe, dass die Menschen sich wie-                                                               Kreuzbund-Bundesverbandes
der mehr auf die eigentlichen Werte be-          „Das Wochenende war für uns sehr
sinnen und nicht wieder in Hektik und         lehrreich und hat uns in unserer Vorfreu-

Bestätigung für die gute Gruppen-
arbeit
V   erbot der Alkoholwerbung, Tempoli-
    mit 130 auf Autobahnen oder 0,0
Promille im Straßenverkehr – das sind nur
                                              die Schulen und Kitas und später auch
                                              Geschäfte und Gaststätten, Sportstudios
                                              usw. geschlossen wurden.
                                                                                            •	Der wichtigste Netzwerkpartner für uns
                                                                                               ist und bleibt das Suchthilfe-System.

                                                                                            •	
                                                                                              Das persönliche Gespräch ist und
einige Themen, die sich die Multiplikato-
                                                                                              bleibt die einfachste Form der Öffent-
ren für Öffentlichkeitsarbeit als Gegen-         Das war auch gut, denn die 18 Teil-
                                                                                              lichkeitsarbeit: Ca. 18 bis 22 Prozent
stand ihrer kurzen Überzeugungsrede           nehmenden hatten eine volle Tagesord-
                                                                                              der Umfrage-Teilnehmenden nennen
ausgesucht haben. Denn sie haben sich         nung. Gunhild Ahmann, Referentin für
                                                                                              Freunde, Bekannte und Verwandte auf
auf ihrer Arbeitstagung vom 13. bis 15.       Öffentlichkeitsarbeit, stellte zunächst die
                                                                                              die Frage, wie sie zum Kreuzbund ge-
März 2020 in München auch mit „Kom-           Ergebnisse der Online-Umfrage des Bun-
                                                                                              stoßen sind. Dieses Ergebnis bestätigt
munikation und Rhetorik“ beschäftigt.         desverbandes vor. Ziel war es herauszu-
                                                                                              die Bemühungen des Arbeitsbereichs,
Die Teilnehmenden möchten das Thema           finden, wie die Menschen zum Kreuz-
                                                                                              unter der Überschrift „Jeder macht Öf-
beim nächsten Mal weiter vertiefen, ge-       bund gekommen sind und was sie an ih-
                                                                                              fentlichkeitsarbeit“ möglichst alle
hört es doch sozusagen zu den grundle-        rer Gruppe schätzen. Wir möchten an
                                                                                              Gruppenbesucher zu Gesprächen
genden Fähigkeiten eines Beauftragten         dieser Stelle nicht die genauen Ergebnis-
                                                                                              über die Sucht-Selbsthilfe und den
für Öffentlichkeitsarbeit.                    se wiedergeben (es gingen 700 Antwor-
                                                                                              Kreuzbund in ihrem persönlichen Um-
                                              ten ein), sondern uns auf die Schlussfol-
                                                                                              feld zu ermuntern.
  Die Multiplikatoren-Arbeitstagung im        gerungen beschränken:
Gästehaus der Salesianer in München                                                         •	Die Rolle der Haus- und Fachärzte und
konnte übrigens gerade noch stattfinden,      •	Der Kreuzbund erreicht nach wie vor           Gesundheitsbehörden hat offenbar
bevor wegen der Corona-Krise zunächst            nur wenige junge Suchtkranke.                 abgenommen: Von den langjährigen

4	                                                                                                        WEGGEFÄHRTE          3/2020
In Krisen - VKZ 21196 Juli/August/September 2020 - Caritasverband für die Diözese ...
AUS DEM BUNDESVERBAND

                                                                                           gress am 12./13. Juni 2021 in Hamm.
                                                                                           Geplant ist eine Kunst-Ausstellung im Ein-
                                                                                           gangsbereich: Vom 9. bis 11. April 2021
                                                                                           findet in Aachen ein Fotoseminar mit
                                                                                           Frank Hübner statt. Die Fotos vom Grün-
                                                                                           dungsort des Kreuzbundes werden dann
                                                                                           auf dem Kongress präsentiert.

                                                                                              Außerdem ist eine Fahrrad-Sternfahrt
                                                                                           zum Kongress vorgesehen, und zwar von
                                                                                           Süden (Köln oder Düsseldorf), Norden
                                                                                           (Osnabrück) und Osten (evtl. Detmold.
                                                                                           Die Teilnehmenden der Sternfahrt treffen
                                                                                           sich am Donnerstagmorgen und kom-
                                                                                           men nach zwei Etappen am Freitagabend
                                                                                           in Hamm an. Die Strecke sollte nicht län-
                                                                                           ger als insgesamt 160 Kilometer sein.
Gespräche nach dem offiziellen Teil                                                        Übernachtet wird in möglichst günstigen
                                                                                           Hotels. Am Kongress können die Radler
                                                                                           kostenlos teilnehmen. Unterwegs können
   älteren Gruppenbesuchern nannten           auf dem Kongress im Juni 2021 uraufge-       sich weitere Interessierte tageweise an-
   neun Prozent sie als Vermittler, bei den   führt werden. Die Machart des Films wird     schließen. Falls zeitlich möglich sollen auf
   unter 50-Jährigen sind es nur noch vier    ähnlich sein wie beim ersten Film, die       der Strecke themenbezogene Einrichtun-
   Prozent.                                   Umsetzung etwas moderner werden. Um          gen besucht werden. Die Teilnehmenden
                                              die Vielfalt der Selbsthilfe abzubilden,     sollten einheitliche T-Shirts oder Regen-
•	Die Rolle der eigenen Veröffentlichun-
                                              sind Einzel-Szenen mit unterschiedlichen     capes tragen. Zurzeit haben wir noch kei-
   gen und der Medien als Vermittler hat
                                              Längen eingeplant, z.B. von der Grup-        nen Überblick, wie diese Idee ankommt.
   dagegen zugenommen: Von den älte-
                                              penarbeit, von der Bundesdelegierten-        Deswegen bitten wir alle Interessenten,
   ren Umfrage-Teilnehmenden haben
                                              versammlung, von einem Seminar und           sich unverbindlich bei Gunhild Ahmann
   14 bis 15 Prozent sie genannt, von
                                              den Wanderexerzitien. Kameraführung          zu melden unter ahmann@kreuzbund.de
   denjenigen, die die Gruppe erst ein
                                              und Schnitt übernimmt Peter Kirianczyk,      .
   Jahr besuchen, sind es über 31 Pro-
                                              freier Videojournalist aus Haltern am See,
   zent, also mehr als doppelt so viel.
                                              die Redaktion liegt bei Gunhild Ahmann.         Gunhild Ahmann, Referentin für Öffent-
•	In allen Altersgruppen und unabhän-                                                           lichkeitsarbeit des Bundesverbandes
   gig von der Dauer der Gruppenzuge-            Darüber hinaus sammelten die Multi-                                 Fotos: Hans Aretz
   hörigkeit wird die Arbeit in den Grup-     plikatoren Ideen für den Kreuzbund-Kon-
   pen gelobt. Die Gruppenmitglieder
   fühlen sich verstanden und angenom-
   men, schätzen den Erfahrungsaus-
   tausch und die Gemeinschaft in der
   Gruppe. Das ist neben den statisti-
   schen Zahlen eine klare Bestätigung
   für die erfolgreiche Gruppenarbeit des
   Kreuzbundes.

  Nur acht Prozent sagen, es gab vor
•	
  Ort keine anderen Selbsthilfe-Angebo-
  te. Die Kreuzbund-Gruppe ist also kei-
  ne „Notlösung“.

•	Die Beteiligung an Freizeitaktivitäten,
   Seminaren und sonstigen Verbands-
   veranstaltungen nimmt mit der Dauer
   der Gruppenzugehörigkeit und dem
   Alter zu.

Ein weiteres Thema der Tagung war der
neue Imagefilm des Kreuzbundes. Er soll       Multiplikatoren in der Diskussion

WEGGEFÄHRTE           3/2020	                                                                                                       5
In Krisen - VKZ 21196 Juli/August/September 2020 - Caritasverband für die Diözese ...
AUS DEM BUNDESVERBAND

Kreuzbund-Chat in Corona-Zeiten
A   ls wir das Projekt „Kreuzbund-Chat“
    im vergangenen Jahr auf den Weg
brachten, war von einem Virus, das unser
Leben umpflügt, noch keine Rede. Inzwi-
schen wissen wir, dass wir den Kreuz-
bund-Chat heute anbieten können ist ein
Segen! Weggefährt*innen und mehr
noch Hilfesuchende, die bisher noch kei-
nen Kontakt zur Sucht-Selbsthilfe hatten,
nutzen die Chat-Termine: montags,
dienstags und freitags 19 bis 20 Uhr,
mittwochs 18:30 bis 20 Uhr, donnerstags
11 bis 12 Uhr sowie 19 bis 20 Uhr (Ange-
hörigen-Chat); zusätzlich gibt es weitere
spontan angebotene Chat-Termine.
                                               Was denken Moderator*innen über              „Der Kreuzbund-Chat kann und wird
    Man könnte meinen, wir seien ohne       das Kreuzbund-Chat-Angebot in Corona-       die Präsenzgruppe ergänzen und könnte
Corona als „Porsche-Angebot“ gestartet:     Zeiten? Hier kommen einige Modera-          für einige Besuchergruppen sogar die ein-
Der Datenschutz ist gewährleistet, die      tor*innen zu Wort:                          zige Möglichkeit sein, an suchtbasierten
Chats können zuverlässig angeboten und                                                  Gesprächen teilzunehmen. Dazu könnten
mit viel Erfahrung moderiert werden.            „Der Kreuzbund-Chat ist eine sichere    z.B. Leute gehören, die ihre Wohnung
Doch inzwischen sind viele Sucht-Selbst-    Möglichkeit, mit persönlichen Problemen     oder ihr Bett nicht verlassen können, Leu-
hilfegruppen auf Video-Chat-Treffen um-     nicht alleine zu bleiben und mir vor ei-    te, die auf Montage oder Dienstreise sind,
gestiegen und nutzen somit aktuellste       nem „sicheren“ Hintergrund Hilfe zu         vielleicht sogar im Ausland. Diese Leute
Kommunikationstechnik im Internet.          holen und über meine Sorgen und Nöte        haben keine Gruppe in Reichweite. Zu
Demgegenüber verfügt der Kreuzbund-         zu sprechen. Alle Fragen werden vertrau-    hundert Prozent kann der Chat die Prä-
Chat derzeit noch nicht über eine Video-    lich behandelt. Es kann helfen, diesen      senzgruppe nicht ersetzen, aber wir kön-
Funktion. Man möchte meinen, wir seien      Weg weiterzugehen und so für sich als       nen auf professionelle Anlaufstellen ver-
im Vergleich dazu mit unserem Chat nur      Betroffene*r/Angehörige*r Unterstützung     weisen. Corona nehme ich mit meiner
mit einem „Trabbi-Angebot“ auf dem          und Hilfsangebote zu erhalten die für das   Gruppe als Chance um zu sehen, wie
Sucht-Selbsthilfe-Markt unterwegs.          weitere Leben hilfreich sind.               wichtig es ist, ein solides Netzwerk zu ha-
                                                                                        ben und zu pflegen.“
   Für Gruppenmitglieder, die sich unter-       Trotz Corona: Niemand ist allein! Der
einander kennen, kann es in der Zeit, in    Chat gibt die Möglichkeit, geschützt und       „Der Chat hat durch Corona sehr
der Gruppen nicht stattfinden dürfen,       anonym miteinander zu sprechen; hierfür     schnell an Bedeutung gewonnen. Er ist
eine Bereicherung sein, sich im Video-      ist der Chat ein niedrigschwelliges Ange-   sicherlich kein Ersatz für die normale
Chat sehen und miteinander sprechen zu      bot. Corona war bisher im Angehörigen-      Gruppe. Er eröffnet aber die Möglichkeit,
können. Auch gibt es vertretbare Soft-      Chat noch kein Thema. Den Angehöri-         über das eine oder andere Problem zu
ware-Lösungen für vergleichsweise da-       gen war es wichtiger zu wissen, ob die      schreiben. Alleine das Gefühl, sich wie in
tengeschützte Video-Chat-Angebote.          Sicherheit und Anonymität des Chats ge-     der Gruppe austauschen zu können, ist
                                            währt ist.“                                 sehr wichtig. Corona hat uns alle in der
   Doch man muss genau hinschauen:                                                      Sucht-Selbsthilfe schwer getroffen. In der
Der Datenschutz ist beim Kreuzbund-             „Wir haben jetzt jeden Tag mindestens   kurzen Zeit davor war es im Chat kein
Chat gewährleistet. Die Softwarefunktio-    ein Chat-Angebot. Manchmal auch kurz-       großes Problem, den Hilfesuchenden mit
nen des Kreuzbund-Chats werden weiter-      fristig Chat-Angebote mit regionalem Be-    Informationen und Adressen weiterzuhel-
entwickelt. Irgendwann wird es auch die     zug, beispielsweise „Kreuzbund-Chat im      fen. Das hat sich natürlich geändert.
Video-Chat-Funktion geben. Die Erfah-       Raum Bingen“. Wir haben im Schnitt sie-     Trotzdem habe ich das Gefühl, dass wir
rung im Kreuzbund-Chat zeigt aber, dass     ben bis zehn Teilnehmende. Die meisten      vielen Chatbesuchern wichtige Informati-
Hilfesuchende ihre Anonymität gern          im Chat kennen die Selbsthilfe und The-     onen weitergeben konnten.“
wahren möchten und einen Video-Chat         rapie bzw. Angebote der Beratungsstellen
nicht vermissen. Sie schreiben ihr Prob-    noch nicht. Im Chat geht es um fast alle            Michael Tremmel / Elke Kostack /
lem im Chat lieber auf und bekommen         Suchtformen. Mittlerweile kommen eini-        Karl-Heinz Thimm / Hans-Jürgen Stein /
direkt eine schriftliche Antwort.           ge User*innen regelmäßig in den Chat.“                             Wolfgang Melka

6	                                                                                                    WEGGEFÄHRTE          3/2020
In Krisen - VKZ 21196 Juli/August/September 2020 - Caritasverband für die Diözese ...
Nr. 3/2020       Juli/August/September   2020        ISSN 1611-7565
                                                                        VKZ 21196

                                                                                                             W I D E R S TA N D S K R A F T I N K R I S E N

                                                                                    Resilienz –
                                                                                    Widerstandskraft in
                                     sta ndskraft                                   stürmischen Zeiten
                                Wider
                                              sen
                                        in Kri                                                                                    •	offen miteinander kommunizieren, z.B.:
                                                                                    umzugehen. Dazu gehören z.B. das Ge-
                                                                                    fühl der Selbstachtung, Eigenständigkeit,
                                                                                                                                  	
                                                                                                                                   –Probleme und Gefühle ansprechen
                                                                                    aktive Lösungssuche, Humor, Ausdauer,
                                                                                                                                     können
                                                                                    Anpassungsfähigkeit, die Fähigkeit, Be-
                                                                                    ziehungen zu pflegen sowie sich selbst        	– gemeinsame Lösungen finden
                                                                                    und das Leben akzeptieren zu können –
KREUZBUND      Selbsthilfe- und Helfergemeinschaft für Suchtkranke und Angehörige
                                                                                                                                  	– sich gegenseitig wertschätzen.
                                                                                    auch in Krisenzeiten! Wer schon früh den
                                                                                    Umgang mit Herausforderungen gelernt
                                                                                                                                  Jedes Familien- oder Gruppenmitglied
                                                                                    hat, einen aktiven Lebensstil pflegt, seine
                                                                                                                                  hat ein persönliches Ausmaß an Wider-
                                                                                    Gefühle kennt und regulieren kann, wer

            D   er Begriff „Resilienz“, seit einigen
                Jahren in der Psychologie ge-
            bräuchlich, kommt aus dem lateini-
                                                                                    über einen guten moralischen Kompass
                                                                                    verfügt und achtsam mit sich selbst, den
                                                                                                                                  standskraft. Wenn das Überstehen von
                                                                                                                                  Krisen auf mehrere Schultern verteilt
                                                                                                                                  wird, ist es leichter, daraus gewachsen
                                                                                    anderen und seiner Umwelt ist, der ist
            schen und heißt übersetzt „abprallen,                                                                                 hervorzugehen.
                                                                                                                                                                                     KT
                                                                                    recht gut gewappnet, sich auch in
            zurückspringen“. In psychosozialen
                                                                                    schwierigen Lebenssituationen zurecht

                                                                                                                                                                            ICKPUN
            Zusammenhängen ist damit die seeli-                                                                                       Selbstverständlich müssen
                                                                                    zu finden.
            sche Kraft eines Menschen gemeint,                                                                                    die Gesellschaft und das politi-
                                                                                                                                  sche System ihren Teil zur Re-
                                                                                       Heute wird die Fähigkeit zur Resilienz
            •	
              Krisen und Belastungen unbescha-
                                                                                                                                 silienz beitragen. Nur inner-
                                                                                    auch im Zusammenhang mit Gruppen,
              det zu bestehen,                                                                                                    halb menschenwürdiger Le-
                                                                                    also Familien, Arbeitsteams und Vereinen

                                                                                                                                                                          L
                                                                                                                                  bensbedingungen hat der

                                                                                                                                                                        B
            •	
              sich davon zügig zu erholen                                           sowie auch ganzen Bevölkerungsgrup-
                                                                                                                                  Mensch überhaupt die Chance,                       IM
                                                                                    pen untersucht. Widerstandsfähige Fami-
            •	
              und sie vielleicht sogar als Heraus-                                                                                Krisen gut zu bewältigen. „Nicht
                                                                                    lien wie auch Gruppen zeichnen sich
              forderung für die persönliche Ent-                                                                                  einmal großes Talent und Fleiß ge-
                                                                                    durch folgende Merkmale aus:
              wicklung nutzen zu können.                                                                                          währleisten das Besiegen von Widrigkei-
                                                                                                                                  ten, wenn die Gelegenheit fehlt“. (Zitat
                                                                                      in widrigen Lebensumständen einen
                                                                                    •	
               Früher ging man davon aus, dass eini-                                                                              eines Resilienzforschers zu den Folgen
                                                                                      Sinn finden, z.B.:
            gen Menschen das nötige Rüstzeug, um                                                                                  der Großen Depression in den Jahren
            Widrigkeiten unbeschadet zu überste-                                    	– über sich hinausdenken können und        nach 1929)
            hen, einfach in die Wiege gelegt sei –                                      übergeordnete Werte aufrechterhal-
            quasi als genetische Disposition – ande-                                    ten                                          Wenn der Umgang mit Krisen aus-
            ren hingegen nicht. Heute weiß man,                                                                                   schließlich zur Privatsache erklärt wird,
                                                                                    	
                                                                                     –optimistisch, aber realistisch einge-
            dass Resilienz ein lebenslanger und bis zu                                                                            geraten die strukturellen bzw. gesell-
                                                                                       stellt sein
            einem gewissen Grade auch veränderba-                                                                                 schaftlichen Ursachen von Krisen, z.B.
            rer, erlernbarer Prozess ist. Menschen ha-                              •	eine zweckmäßige und flexible Struk-       Armut, Arbeitslosigkeit, Gewalt, Sucht …
            ben zu unterschiedlichen Zeiten in ver-                                    tur zu haben, z.B.:                        aus dem Blick. Dann besteht die Gefahr,
            schiedenen Lebensbereichen eine unter-                                                                                dass krisenhafte Verhältnisse nicht verän-
                                                                                    	– offen für neue Erfahrungen und Lö-
            schiedliche Widerstandskraft gegenüber                                                                                dert, sondern zementiert werden.
                                                                                        sungen sein und daraus lernen kön-
            verschiedenen Belastungen.
                                                                                        nen
                                                                                                                                      Die Möglichkeiten in der Gemein-
                Noch vor wenigen Jahren hat sich die                                	
                                                                                     –sich stark verbunden und zusam-            schaft der Sucht-Selbsthilfe die individu-
            Resilienzforschung auf Einzelpersonen,                                     mengehörig fühlen (trotz Krisen ge-        elle seelische Widerstandsfähigkeit zu
            also auf Kinder, Jugendliche und Erwach-                                   meinsame Zeit und Ziele haben)             entwickeln, zu fördern und zu erproben,
            sene konzentriert. So wurde ein ganzer                                                                                sind zahlreich. Dies geschieht seit Jahr-
                                                                                    	
                                                                                     –ein gutes soziales Umfeld haben
            Blumenstrauß an verschiedenen Persön-                                                                                 zehnten in den Gruppen, Seminaren und
                                                                                       (Freundschaft, Nachbarschaft, Ge-
            lichkeitsmerkmalen, Fähigkeiten und Res-                                                                              durch die Übernahme von Verbandsver-
                                                                                       meinde...)
            sourcen beschrieben, die helfen, effektiv                                                                             antwortlichkeit in solidarischer Wegge-
            mit schwierigen Situationen und Stress                                  	– m
                                                                                         aterielle Ressourcen haben              fährtenschaft u.a..

            WEGGEFÄHRTE                       2/2020	                                                                                                                      7
In Krisen - VKZ 21196 Juli/August/September 2020 - Caritasverband für die Diözese ...
IM BLICKPUNKT

         Was aber, wenn – wie jetzt – durch die      werden wir, da alle ihre grundsätzliche       der pflegen und Neues ausprobieren. Im
      globale Krise – unser aller Bedürfnis nach     Verwundbarkeit gespürt haben, gesell-         optimalsten Fall können wir voneinander
      Sicherheit und Selbst-Bestimmtheit be-         schaftlich solidarischer sein und unseren     lernen und uns miteinander in der und
      einträchtigt sind? Wenn die Sorgen um          moralischen Kompass neu ausrichten:           durch die Krise weiterentwickeln.
      körperliche, berufliche und materielle Si-     Das Fenster, ein alternatives besseres Le-
      cherheit Oberhand nehmen und uns               ben zu wählen, steht in diesen Zeiten            Marianne Holthaus, Suchtreferentin des
      grundsätzliche Fragen umtreiben: Wem           sperrangelweit offen.                         Kreuzbund-Bundesverbandes (6. Mai 2020)
      darf ich in dieser Zeit auf welche Weise
      nahe sein? Tue ich morgen noch, was ich           Wir dürfen damit rechnen, früher oder      Literatur:
      heute tue? Was ist mir wirklich wichtig?       später wieder unbefangen in die vertrau-
                                                                                                   Brost, Marc: Zusammen – aber wie geht
                                                     ten Selbsthilfegruppen zurückzukehren. In
                                                                                                   das noch mal?
         Es gehört zum selbstverständlichen          der Zwischenzeit werden wir viele Erfah-
                                                                                                   Die Zeit. Nr. 13. 19.03.2020, S. 4
      Kern der Sucht-Selbsthilfe, in Zeiten, in      rungen mit anderen Möglichkeiten der
      denen wir uns sehr verletzlich fühlen, be-     Kontaktgestaltung erprobt haben und da-       Precht, David: Das große Erwachen. Die
      sonders füreinander da zu sein! Bildhafte      bei hoffentlich so viele Weggefährtinnen      Zeit. Nr. 15, 2.4.2020, S. 46
      Darstellungen von Solidarität in und           und Weggefährten wie möglich „mitge-
                                                                                                   https://www.institut-kommunikation-ge-
      außerhalb der Selbsthilfe zeigen häufig        nommen“, vielleicht sogar den einen oder
                                                                                                   sellschaft.de/die-psychologischen-fol-
      ineinandergreifende Hände oder Men-            die andere dazugewonnen haben.
                                                                                                   gen-der-coronakrise/
      schen, die wie Schutzschilder dicht beiei-
      nanderstehen. Die Corona-Krise fordert           Diese Ausgabe des WEGGEÄHRTE lädt
                                                                                                   https://de.wikipedia.org/wiki/Resilienz_
      Ungewohntes, Paradoxes von der Selbst-         dazu ein, über den Tellerrand zu schauen
                                                                                                   (Psychologie)
        hilfe. Nun müssen wir auf räumlichen         und zu erfahren, wie andere mit der Krise
IM          Abstand gehen – und dennoch für-         umgehen, ihre Verbundenheit zueinan-
               einander da sein! Das ist verunsi-
                chernd und wirft Fragen auf:
     BL
     ICKPUN

                 • Braucht Sucht-Selbsthilfe
                 nicht die körperliche Anwesen-
                 heit des anderen?

                • Welche Form des Miteinan-
KT
               ders können wir entwickeln,
             wenn die lebendige körperliche
          Präsenz und die wechselseitige emo-
      tionale Resonanz aufeinander nur einge-
      schränkt möglich sind?

         – Was tut sich da hinter der Gesichts-
           maske? Werde ich freundlich angelä-
           chelt oder macht er sich über mich
           lustig?

         –
          Bleiben bei den virtuellen Treffen
          nicht die Zwischentöne, das Fein-
          nervige auf der Strecke?

         Die negativen Folgen der Coronakrise
      haben ein historisches Ausmaß. Können
      wir es dennoch wagen, der Krise – allen
      Belastungen zum Trotz – einen „Sinn ab-
      zulauschen“ (Precht) und ihr sogar etwas
      Positives abgewinnen?

         Vielleicht werden wir mehr Dankbar-
      keit für vieles haben, das uns zuvor selbst-
      verständlich erschien. Vielleicht werden
      wir durch die Herausforderungen der Kri-
      senzeit unsere Selbstwirksamkeit und Wi-
      derstandskraft gestärkt haben. Vielleicht      Gedanken zur Corona-Krise am „Wunschbaum” auf dem Hörsterplatz in Münster

      8                                                                                                           WEGGEFÄHRTE       2/2020
W I D E R S TA N D S K R A F T I N K R I S E N

Selbsthilfe lebt von der Begegnung
A    m 26. Mai 2020 haben sich die
     Bundesvorsitzende Andrea Stoll-
fuß, Bundesgeschäftsführer Heinz-Jo-
                                                  Konkret ist es Aufgabe des Bundesver-
                                                  bandes, Informationen und gesetzliche
                                                  Regelungen zur Corona-Krise zu sam-
                                                                                              Hygienemaßnahmen. Auch die grund-
                                                                                              sätzlichen Voraussetzungen sind abzuklä-
                                                                                              ren, also die jeweiligen Regeln zur Kon-
sef Janßen und die Redakteurin des                meln, zu bewerten, aufzubereiten und sie    taktbeschränkung in den Bundesländern,
WEGGEFÄHRTE Gunhild Ahmann ge-                    in Empfehlungen für die Untergliederun-     die Zustimmung der Gesundheitsämter
troffen, um über den bisherigen Ver-              gen umzusetzen. Dabei geht es vorran-       vor Ort sowie der Träger der Räumlichkei-
lauf der Corona-Krise und die mögli-              gig um bundeseinheitliche Leitlinien, die   ten, in denen Gruppen sich treffen. Nach
chen Folgen für die Sucht-Selbsthilfe             am Anfang der Krise gültig waren, die       meiner Einschätzung ist das Krisenmana-
zu sprechen. Auch ging es um die Fra-             inzwischen aber von den einzelnen Bun-      gement auf allen Ebenen des Verbandes
ge, welche Konsequenzen der Kreuz-                desländern immer mehr gelockert und         gut gelaufen. Die jeweiligen Untergliede-
bund daraus ziehen kann. Möglicher-               individuell geregelt werden.                rungen sind angemessen damit umge-
weise lässt sich der Krise auch etwas                                                         gangen.
Gutes abgewinnen….?                               Der Bundesverband hat seit Beginn der
                                                  Krise im März mehrere Empfehlungen für      Wie wichtig sind die Gruppentreffen für
WEGGEFÄHRTE: Welche Aufgaben hat der              die Gruppen vor Ort herausgegeben auf       den Kreuzbund? Gibt es tatsächlich mehr
Bundesverband in der Corona-Krise? Wel-           der Grundlage der jeweiligen politischen    Rückfälle ohne regelmäßige Gruppentref-
che Verantwortung hat er?                         Vorgaben. Wie sind sie von den Unterglie-   fen?
                                                  derungen aufgenommen worden?
Heinz-Josef Janßen: Der Kreuzbund-Bun-                                                        Andrea Stollfuß: Wir haben keine
desverband hat eine Fürsorgepflicht für           Andrea Stollfuß: Wir haben durchweg         statistischen Daten zu den Rück-                 KT

                                                                                                                                      ICKPUN
seine Mitglieder. Das sind vielfach Men-          positive Rückmeldungen bekommen;            fällen, aber nach meiner Erfah-
schen, die aufgrund ihres Alters und ihrer        mehrere Diözesanverbände haben die          rung gibt es in vielen Gruppen
Vorerkrankungen zu einem besonders                Empfehlungen des Bundesverbandes di-        Mitglieder, die in den vergan-
verwundbaren Personenkreis zählen und             rekt an ihre Gruppen und Mitglieder wei-    genen Wochen rückfällig oder
die bei politischen Entscheidungsträgern          tergeleitet. Die Gruppen wurden also        massiv gefährdet waren, und

                                                                                                                                    L
meist nicht im Blick stehen. Es geht somit        nicht allein gelassen und konnten sich      zwar auch langjährig abstinen-

                                                                                                                                  B
um die Fürsorge für suchtkranke Men-              gut daran orientieren, und zwar begin-      te Mitglieder. Das bestätigen                    IM
schen und ihre Angehörigen während                nend mit der Schließung der Gruppen bis     auch die anderen Sucht-Selbsthil-
der Corona-Pandemie – also um die rea-            hin zu Bedingungen für die Wiedereröff-     feverbände. Die Krise hat also den
listische Einschätzung der Risiken und            nung. Hier wurden sehr konkrete prakti-     Wert der Selbsthilfe bestätigt. Die Grup-
nicht um Panikmache.                              sche Tipps gegeben, z.B. in Bezug auf die   pen waren oft sehr kreativ und haben an-
                                                                                              dere Möglichkeiten genutzt, sich zu tref-
                                                                                              fen, z.B. über Videochats und Whats-
                                                                                              App-Gruppen. Damit konnten die Wo-
                                                                                              chen des Lock-down ganz individuell
                                                                                              aufgefangen und überbrückt werden. Al-
                                                                                              lerdings kann das die face-to-face-Begeg-
                                                                                              nung in der Gruppe auf Dauer nicht er-
                                                                                              setzen. „Das Internet kann mich nicht in
                                                                                              den Arm nehmen“ – dieser Satz von Da-
                                                                                              niela Ruf vom Deutschen Caritasverband
                                                                                              (DCV) stimmt zweifellos. Selbsthilfe lebt
                                                                                              von der Begegnung und vom Austausch;
                                                                                              das schafft Gemeinschaft im Kreuzbund,
                                                                                              und genau dieses Zugehörigkeitsgefühl
                                                                                              zeichnet den Kreuzbund ja besonders
                                                                                              aus.

                                                                                              Also können Gruppentreffen auf Dauer
                                                                                              nicht durch Videokonferenzen ersetzt
                                                                                              werden. Wie ist das bei anderen Ver-
                                                                                              bands-Veranstaltungen?
Heinz-Josef Janßen, Bundesgeschäftsführer, und Andrea Stollfuß, Bundesvorsitzende

WEGGEFÄHRTE           2/2020	                                                                                                        9
IM BLICKPUNKT

      Heinz-Josef Janßen: Da bin ich etwas ge-       Stück unserer „Beziehungskultur“ verlo-         gewesen – das hört sich zynisch an, ist
      spalten: Wir sollten die Vorteile von Vi-      ren. Deswegen werden Bundesveranstal-           aber so.
      deokonferenzen auf jeden Fall im Auge          tungen wie Seminare, Arbeitstagungen
      behalten, denn wir sparen damit Zeit           und Organsitzungen auch wieder statt-           Könnte sich die Corona-Krise auch auf die
      und Geld und kommen schneller auf den          finden, sobald es die gesetzlichen Rah-         Mitgliederentwicklung auswirken?
      Punkt bzw. zu Ergebnissen, weil die in-        menbedingungen zulassen.
      formellen Seitengespräche wegfallen                                                            Andrea Stollfuß: Die Gruppenmitglieder
      und die Tagesordnung zügig abgearbei-          Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen        werden darüber nachdenken, wie wich-
      tet wird. Das gilt vor allem für Treffen mit   (DHS) und die fünf Sucht-Selbsthilfever-        tig ihnen die Gruppe ist. Einige kommen
      einer begrenzten Zahl von Teilnehmen-          bände haben innerhalb einer Woche               möglicherweise zu dem Schluss, dass sie
      den.                                           durchgesetzt, dass die Sucht-Selbsthilfe        in Zukunft auf die Gruppentreffen ver-
                                                     als systemrelevant eingestuft wird. Was         zichten möchten. Ich bin aber überzeugt
      Eine Lehre aus der Krise ist es also, neue     bedeutet das konkret?                           davon, dass die meisten feststellen – so
      digitale Formen von Treffen einzuüben,                                                         geht es mir persönlich auch – dass ihnen
      und zwar in den Gruppen und auch bei           Heinz-Josef Janßen: Die berufliche Sucht-       die Menschen in der Gruppe wichtig sind
      verbandlichen Sitzungen. Dabei müssen          hilfe und die Sucht-Selbsthilfe haben           und sie den persönlichen Kontakt schät-
      wir aber auch rechtliche Dinge berück-         glaubhaft die zunehmenden Rückfälle ge-         zen, vielleicht gerade nach den Wochen
      sichtigen, z.B. die Frage, ob Beschlüsse       schildert. Auch ohne eine empirische Da-        der Kontaktbeschränkungen. Selbsthilfe
      rechtsgültig sind, wenn sie auf einer Vi-      tengrundlage hat das zur Durchsetzung           ist menschliche Begegnung, und die
      deokonferenz gefasst werden.                   der Systemrelevanz geführt, d.h. die            brauchen wir alle – auch wenn wir uns
                                                     Sucht-Selbsthilfe wird als unverzichtbar        zurzeit in den Gruppen nicht umarmen
         Andererseits können digitale Formen         eingeschätzt. Das bedeutet einen großen         können.
IM         der Begegnung „normale“ Treffen           sozialpolitischen Erfolg, den wir in der Kri-
              nie ganz ersetzen, v.a. wenn es        se erreicht haben, und zwar mit Hilfe der
               um die gemeinsame Ideenent-           Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen
     BL

                wicklung geht. Die zwischen-         e.V. (DHS) und der Landesstellen für              Tipp:
     ICKPUN

                 menschliche Begegnung und           Suchtfragen. Durch ihre Unterstützung
                 der Erfahrungsaustausch am          wurde unser Anliegen eindeutig aufge-             Praktische Hinweise und Handlungs-
                 Rande von Tagungen und Se-          wertet. Das ist ein wichtiger Schritt nach        anweisungen für Gruppentreffen
                minaren haben einen unschätz-        vorn für das Ansehen der Sucht-Selbsthilfe        während der Corona-Pandemie fin-
KT
               baren Wert. Auch das hat die          im öffentlichen Bewusstsein. Ohne Coro-           den Sie auf unserer Internetseite:
            Corona-Krise bestätigt. Würden           na wäre ein solch schneller politischer Er-       www.kreuzbund.de
          wir darauf verzichten, ginge uns ein       folg wesentlich schwieriger zu erreichen

      Sucht(Selbst)hilfe ist unverzichtbar
      – vor allem in der Krise
     I n der Krise müssen die politischen
       Entscheider verletzliche Menschen
      besonders in den Blick nehmen, und
                                                     Raiser, stellvertretender Geschäftsfüh-
                                                     rer der DHS, unterhalten.
                                                                                                        Im konkreten Fall der Corona-Krise ar-
                                                                                                     beiten wir daran, dass die Angebote der
                                                                                                     Suchthilfe und der Sucht-Selbsthilfe so
      dazu gehören auch suchtkranke Men-             WEGGEFÄHRTE: Welche Aufgaben hat die            weit wie möglich aufrechterhalten wer-
      schen. Die Deutsche Hauptstelle für            DHS in der Corona-Krise? Wo sehen Sie           den können. Dafür muss auch eine Ände-
      Suchtfragen e.V. (DHS) und ihre Mit-           Ihre Verantwortung?                             rung bzw. Anpassung der jeweiligen An-
      gliedsverbände rufen dazu auf, hilfsbe-                                                        gebote an die Krisenbedingungen er-
      dürftige Menschen mit Suchterkran-             Dr. Peter Raiser: Die DHS setzt sich zusam-     möglicht werden.
      kungen gerade in der aktuellen Situati-        men mit ihren Mitgliedsverbänden auch
      on adäquat zu versorgen und die Fach-          für die Interessen suchtkranker und sucht-         Ein weiterer Punkt betrifft die Präsenz
      kräfte der Suchthilfe entsprechend             gefährdeter Menschen gegenüber den              in der Öffentlichkeit – suchtbetroffene
      auszustatten. Über die Auswirkungen            politischen Entscheidungsträgern sowie          Menschen müssen darüber informiert
      und mögliche Folgen der Corona-Krise           gegenüber Renten- und Krankenversiche-          werden, dass die Hilfeangebote weiterhin
      hat sich Gunhild Ahmann mit Dr. Peter          rungsträgern ein.                               zur Verfügung stehen und für sie erreich-

     10                                                                                                            WEGGEFÄHRTE         2/2020
W I D E R S TA N D S K R A F T I N K R I S E N

bar sind. Hinzu kommt die Information                                                     aufgefordert, alle notwendigen Maß-
der Fachkräfte der Suchthilfe.                                                            nahmen zu ergreifen und auch zu finan-
                                                                                          zieren, um ihre Angebote auch unter
Von welchen Einschränkungen waren die                                                     Krisenbedingungen aufrechterhalten zu
Suchthilfe-Einrichtungen betroffen? Gab                                                   können.
es Sorgen, dass Einrichtungen schließen
müssen?                                                                                   Welche Langzeitfolgen hat die Corona-
                                                                                          Krise auf Suchthilfe-Einrichtungen und
Es gab sehr unterschiedliche Rückmel-                                                     die Suchthilfe insgesamt?
dungen aus dem gesamten Bundesge-
biet. Vor allem in der ersten Phase der                                                   Es wird einen Schub für die Digitalisie-
Einschränkungen waren viele Suchthilfe-                                                   rung geben und damit eine Ergänzung
Einrichtungen verunsichert, ob und wie                                                    bzw. Erweiterung der bisherigen Hilfean-
sie ihr Angebot aufrechterhalten können.                                                  gebote. Allerdings wird der persönliche
Viele Einrichtungen haben es zunächst                                                     Kontakt nie vollständig durch digitale
reduziert, vereinzelt kam es auch zu einer   Dr. Peter Raiser                             Angebote ersetzt werden können. Mit
zeitweisen Einstellung. So fanden ja z.B.                                                 der Digitalisierung können allerdings
auch keine Treffen der Sucht-Selbsthilfe-                                                 auch Zielgruppen erreicht werden, die
gruppen statt.                                  tung ausgestattet werden, z.B. mit        den persönlichen Kontakt bislang nicht
                                                Mund-/Nasenschutz und Desinfekti-         in Anspruch genommen haben. Das
   Einrichtungen der Suchthilfe hatten          onsmitteln. Hier sind Kostenträger        wird nicht von heute auf morgen funkti-
die Sorge, dass Hilfesuchende bei einem         von Behandlungen gefragt, aber auch       onieren, das braucht Zeit.
reduzierten oder gar wegbrechenden              Entscheidungsträger über die Finan-
Angebot nicht mehr angemessen behan-            zierung der Suchthilfe auf der kom-           Es steht zu befürchten, dass                 KT

                                                                                                                                  ICKPUN
delt werden können.                             munalen Ebene.                            es mit einer zeitlichen Verzö-
                                                                                          gerung Einbrüche gibt bei der
                                             •	
                                               Die Mitarbeitenden der Suchthilfe
  Viele Angebote sind daher kurzfristig                                                   Finanzierung der ambulan-
                                               sollten regelmäßig auf das Corona-Vi-
um digitale Kontaktmöglichkeiten und                                                      ten Grundversorgung. Viele
                                               rus getestet werden können.
um Telefon- und Videosprechstunden er-                                                    Kommunen werden in Folge

                                                                                                                                L
gänzt worden.                                •	
                                               Die Mitarbeitenden der Suchthilfe-         der Corona-Krise voraussicht-

                                                                                                                              B
                                               Einrichtungen müssen für ihre Kinder       lich in eine dramatische Haus-                   IM
Unter welchen Bedingungen konnte und           eine Notfallbetreuung in den Kitas er-     haltslage geraten und deswegen
kann die Suchthilfe ihre Arbeit während        halten.                                    alle Leistungen kürzen, die nicht
der Corona-Krise fortsetzen? Was brau-                                                    gesetzlich geregelt sind, was viele Leis-
chen die Einrichtungen dafür?                Die professionelle Suchthilfe und die        tungen der ambulanten Grundversor-
                                             Sucht-Selbsthilfe haben sich erfolgreich     gung betrifft.
Wir haben relativ schnell eine politische    dafür eingesetzt, als systemrelevant aner-
Diskussion darüber geführt, was notwen-      kannt zu werden. Was bedeutet das kon-          In diesem Zusammenhang ist es Auf-
dig ist, um die Angebote aufrechterhal-      kret?                                        gabe der DHS und ihrer Mitgliedsver-
ten zu können, und haben folgende For-                                                    bände den politischen Entscheidungsträ-
derungen formuliert:                         Ohne die Corona-Krise wäre die Einstu-       gern klar zu machen, dass es auf längere
                                             fung der Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe    Sicht deutlich teurer wird, wenn die
•	
  Die Träger der Einrichtungen möchten
                                             als systemrelevant wahrscheinlich nicht      Kommunen ihre Zuwendungen an Ein-
  Beratungen von Hilfesuchenden nicht
                                             so schnell erfolgt. Allerdings gilt diese    richtungen der Suchthilfe kürzen. Wir
  nur persönlich, sondern auch Online
                                             Anerkennung nicht für die Bundesebene,       sollten alle zusammen klar machen, dass
  bzw. per Videokonferenz anbieten
                                             also nicht bundesweit, sondern liegt in      die Suchthilfe nicht dem Rotstift zum
  können, d.h. die dafür not­   wendige
                                             der Zuständigkeit der Landesgesund-          Opfer fallen darf.
  technische Ausstattung muss bereitge-
                                             heitsministerien. Die tatsächliche Ausge-
  stellt werden, und die Mit­arbeitenden
                                             staltung vor Ort wird dann von den kom-
  müssen entsprechend geschult wer-                                                       Weitere Informationen:
                                             munalen Gesundheitsämtern entschie-
  den. Eine komplette Umstellung auf
                                             den.                                         Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V.
  digitale Angebote ist allerdings nicht
                                                                                          (DHS)
  sinnvoll und auch nicht beabsichtigt,
                                                Gleichwohl hat es natürlich eine Be-      Westenwall 4, 59065 Hamm
  diese können persönliche Beratungen
                                             deutung, dass die Sucht(Selbst)hilfe als     Tel. 02381/9015-0, Fax 02381/9015-30
  nicht ersetzen, sondern nur ergänzen
                                             unverzichtbares Angebot anerkannt            E-Mail: info@dhs.de
•	
  Die Suchthilfe-Einrichtungen müssen        wird. Denn die Träger der jeweiligen         Internet: www.dhs.de
  mit der notwendigen Schutzausrüs-          Einrichtungen werden dadurch dazu                      www.suchthilfeverzeichnis.de

WEGGEFÄHRTE        2/2020	                                                                                                      11
IM BLICKPUNKT

      Gruppenarbeit in Corona-Zeiten
      Digitale Gruppenstunden
      Da soziale Kontakte entsprechend der
      augenblicklichen Rechtslage so weit
      wie möglich einzuschränken sind, dür-
      fen auch unsere wöchentlichen Grup-
      pentreffen bis auf weiteres nicht mehr
      stattfinden.

         Die mögliche Vereinsamung birgt für
      alkoholkranke Menschen eine hohe Ge-
      fahr rückfällig zu werden. Um deshalb
      die Gruppenarbeit aufrecht erhalten zu
      können, finden die Sitzungen der Kreuz-
      bund-Gruppe Twistringen jetzt digital
      einmal wöchentlich über das Internet
      statt. Heinz und Waltraud Siemers, die
          die Leitung der Gruppe übernom-
IM           men haben, hatten die Idee dazu
               und haben das Projekt umge-
     BL

                setzt. Nach ersten Schwierig-      Heinz und Waltraud Siemers
     ICKPUN

                 keiten haben sich jetzt immer
                 mehr Personen unserer Grup-       Dass auch der Spaßfaktor nicht zu kurz      Gemeinschaftsgefühl erhalten und der
                 pe an diese Form der Kom-         kommt und die viele Freizeit zu Hause       Wille abstinent zu bleiben, wird gestärkt.
                 munikation gewöhnt. Bis zu        sinnvoll gefüllt wird, ist ein angenehmer
KT             zwölf Weggefährten nehmen           Nebeneffekt. So bleibt auch in Zeiten der    Gustav Schindler, Kreuzbund Twistringen
              an den digitalen Sitzungen teil.     unvermeidbaren räumlichen Distanz das                                (16. April 2020)

      Und es klappt doch!
      Nachdem sich die erste Schockstarre          dazu in der Lage und musste sich erstmal       Seitdem sind wir jeden Abend um 18
      nach dem Corona-Lock-Down Mitte              mit den neuen GKV-Richtlinien herum-        Uhr immer miteinander verbunden, be-
      März langsam gelegt hatte, war Her-          schlagen. Gaby hatte technische Proble-     sprechen auch mal „dienstliche“ Angele-
      bert Rogge, Geschäftsführer des DV           me und brauchte einen „PC-Doktor“.          genheiten, aber hauptsächlich wird viel
      Mainz, der erste, der uns ermunterte                                                     gelacht, und das tut soo gut! Mittlerweile
      und aufrief, uns doch wenigstens ein-           Der erste Versuch einer Online-Zu-       schalten sich auch weitere Vorstands-
      mal vom geschäftsführenden Vorstand          sammenkunft gab den vorlauten Kriti-        und Gruppenmitglieder dazu. So ein
      online in Verbindung zu setzen. Es           kern recht und war niederschmetternd.       Online-Zusammensein ist wirklich zu
      gäbe da eine kostenlose Web-App für          Entweder       konnten     wir   eine(n)    empfehlen!
      Video-Konferenzen, die ganz einfach          Teilnehmer(in) nicht sehen oder nicht
      zu installieren sei. Sarah und Herbert       hören oder nicht hören und nicht sehen       Ursel Lux, stellvertretende Vorsitzende des
      würden sie immer für einen Online-           oder oder … Dann installierte Silvias                          DV Mainz (1. Mai 2020)
      Gottesdienst mit Freunden nutzen und         Sohn die App auf dem Handy; bei Ursel
      dann auch gemeinsam singen.                  richtete ein Bekannter die Kamera richtig   PS.: Natürlich lassen wir auch unsere Mit-
                                                   ein, und bei Gaby half der PC-Doktor.       glieder und Gruppenleitungen nicht im
         Die Reaktion hätte von einer Herde        Und dann klappte der zweite Versuch,        Regen stehen und geben seit Beginn der
      störrischer Esel nicht widerborstiger sein   zwar noch mit einigen Unterbrechun-         Corona Krise wöchentlich Mitteilungen
      können. Ursel, die wieder mal die Mail       gen, aber es funktionierte. Die Freude      mit aktuellen Informationen heraus. Dem
      nur halb gelesen hatte, war absolut nicht    war groß uns wiederzusehen. Eigentlich      Feedback nach zu urteilen werden sie
      in der Stimmung für gemeinschaftliches       war es ja ganz einfach – und Herbert        auch gern gelesen.
      Singen. Silvia war nervlich zurzeit nicht    schmunzelte!

     12                                                                                                       WEGGEFÄHRTE         2/2020
Sie können auch lesen