Jahrbuch 2020 | 2021 Umdenken und Umsteuern. Kirche und Gesellschaft im Klimawandel - Hanns-Lilje-Stiftung

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Jahrbuch 2020 | 2021 Umdenken und Umsteuern. Kirche und Gesellschaft im Klimawandel - Hanns-Lilje-Stiftung
Jahrbuch 2020 | 2021
             Umdenken und Umsteuern.
Kirche und Gesellschaft im Klimawandel
Jahrbuch 2020 | 2021 Umdenken und Umsteuern. Kirche und Gesellschaft im Klimawandel - Hanns-Lilje-Stiftung
Jahrbuch 2020 | 2021 Umdenken und Umsteuern. Kirche und Gesellschaft im Klimawandel - Hanns-Lilje-Stiftung
Editorial
Wieder ein heißer Sommer. Die Dürre in Norddeutschland     hinsichtlich des Klimawandels freigesetzt werden könnte.
lässt 2019 den Klimawandel erneut spürbar werden. Die      Doch das erfordert Einsicht in notwendige Veränderungen
Waldschäden im Harz und Solling sind offensichtlich.       und Umsicht mit Blick auf die unterschiedlich betroffenen
Viele geförderte und eigene Projekte befassen sich mit     Menschen. Auf diese Weise widmen wir uns im vorliegen-
dem Klimawandel und den Folgen. Dadurch bewegt, set-       den Jahrbuch dem Klimawandel, stellen Gelungenes vor
zen wir uns im Herbst an die Vorbereitungen für das vor-   und beschreiben anzugehende Herausforderungen.
liegende Jahrbuch. Doch im Dezember 2019 bricht in der
chinesischen Millionenstadt Wuhan die bis dahin unbe-      Den Fokus legen wir auf die Landwirtschaft, auf Klimaflucht
kannte Erkrankung Covid 19 aus. Sie entwickelt sich zur    und Asyl sowie auf den Denkmalschutz. Dabei orientieren
Pandemie. Frankreich, 15. Februar 2020: der erste Todes-    wir uns an den drei Förderschwerpunkten der Hanns-Lilje-
fall in Europa. Deutschland, 22. März: Bund und Länder     Stiftung im Dialog mit Kirche und Theologie:
einigen sich auf Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen.      – die Bedeutung von Wissenschaft, Technik
Karfreitag, Ostern: Fernsehgottesdienste und Online-          und Wirtschaft für das Leben,
Andachten ersetzen die Gottesdienste vor Ort.              – die Zukunft von Politik und Gesellschaft,
                                                           – die bildende Kraft von Kunst und Kultur.
Dranbleiben am Klima-Thema? Was für eine Frage! Die
Pandemie führt drastisch die Endlichkeit menschlichen      In den Reportagen, Interviews und Berichten kommen
Lebens vor Augen, darum geht es vielerorts auch beim       Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Forschung, Politik
Klimawandel. Ebenso ist beiden gemeinsam, dass unse-       und Gesellschaft, Kunst, Kultur und Kirche zu Wort. Darüber
re menschlichen Grenzen erfahrbar werden. Uns ist nicht    hinaus lenken wir den Blick auf die Verleihung des Hanns-
alles möglich. Und doch gilt es den Rahmen dessen auszu-   Lilje-Stiftungspreises, die Förderung der Kulturkirchen, das
loten und auszuschöpfen, was wir tun können. Umdenken      Hanns-Lilje-Forum, den Landeswettbewerb Evangelische
und umsteuern. Nicht die Hoffnung aufgeben, zuversicht-    Religion sowie auf ausgewählte Projekte aus 2018 und 2019.
lich und kreativ für eine lebensfähige Welt handeln. Die
Bekämpfung der Pandemie lässt erahnen, welche Energie      Gute Anregungen wünschen Ihnen

                                                           Dr. Thomas F. W. Schodder    Prof. Dr. Christoph Dahling-Sander
                                                           Kuratoriumsvorsitzender      Sekretär
                                                           der Hanns-Lilje-Stiftung     der Hanns-Lilje-Stiftung

                                                                                                                        1
Jahrbuch 2020 | 2021 Umdenken und Umsteuern. Kirche und Gesellschaft im Klimawandel - Hanns-Lilje-Stiftung
Jahrbuch 2020 | 2021 Umdenken und Umsteuern. Kirche und Gesellschaft im Klimawandel - Hanns-Lilje-Stiftung
Inhalt

 1   Editorial

 4   Hanns-Lilje-Stiftungspreis
     Die Zukunft von Politik und Gesellschaft

 6   Kulturkirchen
     Die Tänzerin von Auschwitz

 8   Hanns-Lilje-Forum
     In die Verlegenheit kommen,
     an Gott zu glauben?

10   Landeswettbewerb Evangelische Religion
     Wie stellst du dir deine Zukunft vor?
     Und die Welt von morgen?

12   Reportagen, Interviews, Porträts

     Landwirtschaft und Klimawandel
     Die ­Bedeutung von Wissenschaft, Technik
     und Wirtschaft für das Leben
12   Wenn der Acker Gottes blüht
14   Klimaschutz versus Landwirtschaft?

     Flucht und Klimawandel
     Die Zukunft von ­Politik und Gesellschaft
20   Klimawandel, Klimaflüchtlinge, Gerechtigkeit
21   Vertreibung durch Klimawandel
23   Kein Asyl für Klimaflüchtlinge?
24   Bleiberecht für Klimaflüchtlinge illusorisch

     Denkmalschutz und Klimawandel
     Die ­bildende Kraft von Kunst und Kultur
26   Kann Kirche Klima?
30   Die Sparbüchse auf dem Kirchendach
31   Energiesparend: Neues Slaphus in Loccum
31   Schön modern: Winterkirche in Flegessen

32   Ausgewählte Projekte 2018 | 2019

36   Spenden, stiften und im Freundeskreis
     eigene Ideen einbringen

38   Die Bilanz – Hanns-Lilje-Stiftung in Zahlen

40   Das Kuratorium

     Die Geschäftsstelle | Impressum

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Hanns-Lilje-Stiftungspreis

 Über 200 Gäste folgen anlässlich der Verleihung
 des Hanns-Lilje-Stiftungspreises Anfang Mai 2019
 der Diskussion zwischen dem ARD-Journalisten
 Arnd Henze und Landesbischof Ralf Meister in der
­hannoverschen Marktkirche.
Rechts: Die Preisträgerinnen Prof. Dr. Rebekka Klein
und Prof. Dr. Claudia Jahnel (v.l.)

                      Die Zukunft von Politik und Gesellschaft
                         Verleihung des Hanns-Lilje-Stiftungspreises Freiheit und Verantwortung

         »Kann Kirche Demokratie?« fragt der           Konstruktionen für das gesellschaftli-     dichotomisierende Erfindung dar. Den
         ARD-Journalist Arnd Henze provokant           che Zusammenleben zu hinterfragen?        Abwertungen und politischen Instru-
         zum Auftakt der Preisverleihung. Der          Und wo erliegen Theologie und Kirche       mentalisierungen des »Anderen« bzw.
         engagierte Protestant wirft seiner            selbst antidemokratischen Strömun-        »Fremden«, die sie auf die Kolonial-
         eigenen Kirche vor, die innerkirchliche       gen? Ausgezeichnet wurden in dem          zeit zurückführt, entzieht sie mit ihren
         NS-Vergangenheit nur halbherzig auf-          festlichen Rahmen die Theologin Prof.     ­Analysen den Boden. Stattdessen gelte
         gearbeitet zu haben. Anhand aktueller         Dr. Claudia Jahnel und die Theologin       es, in postkolonialen Debatten, inter-
         Studien führt er vor Augen, wie anfällig      Prof. Dr. Rebekka Klein. Beide lehren      kulturelle Lern- und Arbeitsprozesse zu
         sie für rechtspopulistische und natio-        an der Ruhr-Universität Bochum.            fördern, wie sie überraschenderweise
         nalistische Positionen ist. Landes­                                                      in afrikanischen Theologien bereits
         bischof Ralf Meister räumt Versäumnis-        Die Jury und das Kuratorium der Stif-      selbst angelegt seien.
         se ein, zeigt allerdings auch, dass die       tung würdigen, dass beide neue
         Kirche seit Jahrzehnten eine klare und        Debatten angestoßen haben, indem          Rebekka Klein reagiert in ihrer Habi­
         überzeugende Haltung zur Demokratie           sie Theologie und andere Wissenschaf-     litation auf gegenwärtige Bedrohun-
         habe. Doch im Gespräch mit Aktivistin-        ten exzellent zueinander in Beziehung     gen demokratischer Ordnungen west-
         nen der Fridays for Future-Bewegung           setzen und so das Zusammenleben           licher Prägung: In Gestalt rechtspo-
         zeigt sich, welches Potenzial gerade          in einer pluralen Gesellschaft fördern.   pulistischer und nationalistischer
         in der Zusammenarbeit von Kirche und          Verliehen wird der mit 20.000 Euro        Bewe­gungen werde eine neue starke
         zivilgesellschaftlichem Engagement            dotierte Preis in der Kategorie Wissen-   staatliche Souveränität gefordert und
         noch zu heben ist.                            schaft für herausragende Promotionen      damit eine freiheitlich-demokratische
                                                       und Habilitationen.                       Ordnung quasi von innen autoritär
         Die Zukunft von Politik und Gesell-                                                     ausgehöhlt – und das nicht selten
         schaft. Zu diesem Themenfeld war der          Im Diskurs von philosophischen und        theologisch flankiert. Ihr Fazit lautet,
         Hanns-Lilje-Stiftungspreis 2019 ausge-        theologischen Entwürfen aus afrika-       dass nicht das Ideal einer vollkom-
         schrieben. Wie lassen sich Vorurteile         nischen und europäischen Kontexten        menen Ideologiefreiheit das erklärte
         in der Wahrnehmung anderer Kulturen           deckt Claudia Jahnel in ihrer Habilita-   Ziel ideologiekritischer Studien religi-
         aufbrechen? Worin gründet sich ein            tion auf, wie sich diese wechselseitig    onsphilosophischer Arbeit sein könne.
         demokratisches Selbstverständnis,             beeinflusst haben. So stellt sich nach    Vielmehr gehe es darum, das Problem
         das von rechtspopulistischen und              Jahnel das Konstrukt »der afrikani-       der Ideologisierbarkeit wachzuhalten
         nationalistischen Bewegungen in Frage         schen Kultur« als vermeintlicher Kon-     und dieses ständig neu zu bearbeiten.
         gestellt wird? Welchen Beitrag bieten         text »afrikanischer Theologie« als eine
         Theologie und Kirche, um ideologische         zutiefst europäische Verbindung und

                                                                                                                                        5
Jahrbuch 2020 | 2021 Umdenken und Umsteuern. Kirche und Gesellschaft im Klimawandel - Hanns-Lilje-Stiftung
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Kulturkirchen

Die Geschichte von Roosje, der Tänzerin von Auschwitz,
in der Osnabrücker St. Katharinenkirche; professionell
inszeniert und mit der Gegenwart verknüpft.

                                                             Die Tänzerin von Auschwitz
           Kirchliche Kulturarbeit in Osnabrück entfaltet tiefe Wirkung in der Gesellschaft

         Am Anfang war die Idee von Pastor               »Mit der Ausstellung und dem Begleit-    kraftvoll und ermutigend für Erwach-
         Otto Weymann, die niederländische               programm wollen wir uns auch der         sene wie für Jugendliche in die Gesell-
         Ausstellung »Die Tänzerin von Ausch-            Frage stellen, wie wir als ›Zweitzeu-    schaft hineinwirkt.
         witz« in der Osnabrücker St. Kathari-           gen‹ gegensteuern, wenn Antisemi-
         nenkirche erstmals in Deutschland               tismus und Nationalismus in unserer      Die Experten-Jury und das Kuratorium
         zu präsentieren. In Zusammenarbeit              Gesellschaft wieder erschreckende        der Hanns-Lilje-Stiftung beschlossen,
         mit der Hanns-Lilje-Stiftung wurde              Ausmaße annehmen«, erläutert Pas-        dieses herausragende Projekt kirch-
         daraus 2019 ein Großprojekt, das                tor Otto Weymann. Darüber hinaus sei     licher Kulturarbeit zu fördern. Der
         schließlich als Kulturkirche gefördert          die Geschichte der Tänzerin Roosje       »Fonds Kulturarbeit in Kirchen – Kul-
         wurde und mehr als 10.000 Men-                  ein Musterbeispiel dafür, wie man in     turkirchen« unter dem Dach der Hanns-
         schen weit über Osnabrück hinaus in             scheinbar ausweglosen Situationen        Lilje-Stiftung dient dem strukturellen
         Bann gezogen hat.                               Kraftquellen für den Lebenswillen        Ausbau der Kulturarbeit in Kirchen und
                                                         mobilisieren kann. »Darin ist die Bio-   dem Aufbau signifikanter Kulturkirchen.
         »Die Tänzerin von Ausschwitz«, das ist          grafie dieser besonderen Frau auch für   Insgesamt wurden seit 2013 fast 100
         die Geschichte einer unbeugsamen                uns hochaktuell,« so Weymann.            Einzelprojekte kirchlicher Kulturarbeit
         Frau, die im Vernichtungslager Ausch-                                                    unterstützt. Als Leuchttürme wurden
         witz um ihr Leben tanzte. Beim Besuch           In Zusammenarbeit mit dem Neffen         seitdem fünf signifikante Kulturkirchen
         des Lagers stößt der Niederländer Paul          der Tänzerin, Paul Glaser, der Osna-     ausgezeichnet und substantiell, mehr-
         Glaser 2002 auf einen Koffer mit sei-           brücker Literaturszene, professionel-    jährig gefördert.
         nem Familiennamen. Damit beginnt                len Tänzerinnen und Tänzern aus der
         »die Entdeckung der verdrängten jüdi-           Tango-Szene sowie aus Tanzschulen,       Inzwischen belegen zahlreiche Analy-
         schen Wurzeln seiner Familie und der            dem Osnabrücker Felix-Nussbaum-          sen die Ausstrahlung der geförderten
         unglaublichen Überlebensgeschichte              Museum und der Jüdischen Gemeinde        Projekte in unterschiedliche Milieus
         seiner Tante Roosje, einer tempera-             Osnabrück sowie zahlreichen Schulen      hinein und die wirkungsvolle Rück-
         mentvollen und emanzipierten Tanz-              entstand ein umfangreiches Programm,     bindung an christliche Deutungen bei
         lehrerin aus Amsterdam, die ihren               das die Geschichte von Roosje leben-     existentiellen und gesellschaftlichen
         Lebensmut gegen den nationalsozia-              dig werden ließ.                         Themen. Nachzulesen sind sie u. a.
         listischen Terror verteidigt«, wie er sagt.                                              in der 2019 im Kohlhammer-Verlag
         Sie leitete eine Tanzschule, bis sie von        Darüber hinaus fragten Lesungen,         erschienenen Publikation »Kultur-
         ihrem Mann verraten wurde, untertau-            Vorträge, Diskussionen und Radio-        kirchen«. Wie in der Osnabrücker
         chen musste und schließlich inhaf-              Features nach der Relevanz für heute.    St. Katharinenkirche zeigt sich, dass
         tiert und nach Auschwitz deportiert             Woher bekommen wir Kraft, um uns         Kulturkirchen einerseits als Kirche zu
         wurde. »Mich kriegen sie nicht klein«,          etwa für Flüchtlinge zu engagieren und   einem geistlichen Laboratorium und
         sagte sie sich im Lager – und überleb-          um uns gegen Hass, Ausgrenzung und       andererseits für die Künstler/innen zu
         te Auschwitz. Aus ihren Tagebüchern             Verleumdung zu wehren? Damit gelang      einem künstlerischen Laboratorium
         und Briefen hat Glaser ihre Biografie           es, Roosjes Biografie und dem dun-       im Kirchenraum werden. In den Kultur-
         zusammengefügt. Entstanden ist ein              kelsten Kapitel deutscher Geschichte     kirchen treffen somit das Wagnis des
         authentischer und emotionaler Überle-           zu gedenken und dies zugleich mit        Glaubens und das Wagnis zeitgenös-
         bensbericht, formuliert von einem, der          zeitgenössischer Kunst und Tanzper-      sischer Kunst aufeinander.
         so zum »Zweitzeugen« geworden ist.              formances so zu aktualisieren, dass es

                                                                                                                                       7
Jahrbuch 2020 | 2021 Umdenken und Umsteuern. Kirche und Gesellschaft im Klimawandel - Hanns-Lilje-Stiftung
Hanns-Lilje-Forum

Robert Seethaler zu Gast beim Hanns-Lilje-Forum
im Mai 2019 in der voll besetzten Neustädter Hof- und
Stadtkirche in Hannover.

                                                         In die Verlegenheit kommen,
                                                                  an Gott zu glauben?
                                                                              Hanns-Lilje-Forum mit Robert Seethaler

         »Keine langen Vorgespräche, nein, das           könnten, wovon würden sie erzählen?          Das zweite Hanns-Lilje-Forum fand im
         mag ich nicht,« sagt er in der Sakristei        Darum geht es in Seethalers Roman            Kloster Mariensee bei Neustadt statt.
         vor Beginn der Abendveranstaltung,             »Das Feld« – und um die letzten Dinge:        Schon die Ortswahl zeugt davon, Frei-
         trinkt einen Schluck Wasser, zieht sein         um das, was sich nicht fassen lässt.         räume auch in architektonischer und
         Manuskript aus der Jackentasche und             Der Roman erzählt von unterschied-           geistlicher Hinsicht zu entdecken. Zu
         geht in das Kirchenschiff der Neustäd-          lichen Menschenleben, die sich im            Gast war der Wissenschaftsjournalist
         ter Hof- und Stadtkirche. Robert See­          ­Verlauf zu einem Ganzen zusammen-            Ulrich Schnabel von der ZEIT. Er trug
         thaler ist zu Gast beim Hanns-­Lilje-           fügen. Holzschnittartig führt er mit         aus seinem Buch »Zuversicht« vor. Im
         Forum 2019 in Hannover und präsen-              kargen Worten in die Abschnitte seiner       Gespräch mit dem Sekretär der Hanns-
         tiert sein Buch »Das Feld«. Seine               Lesung ein. Er trägt vor, wie er schreibt.   Lilje-Stiftung, Dr. Christoph Dahling-
         Romane »Der Trafikant« und »Ein gan-            Gefühlvoll und doch unsentimental,           Sander, warb er für schöpferische Pau-
         zes Leben« wurden bereits interna­              mal still, mal scharf, mal mit subtilem      sen und dafür, dem Zwang zur perma-
         tionale Erfolge.                                Humor lässt Seethaler die Personen           nenten Kommunikation zu entkommen.
                                                         lebendig werden.
         Doch dann lässt er sich auf ein                                                              Landesbischof Ralf Meister und der
         Gespräch vor den rund 300 Gästen               »Er war nie in die Verlegenheit gekom-        katholische Bischof Heiner Wilmer
         ein und erzählt, wie er ins Schreiben          men, an Gott zu glauben, und der              ­forcierten zum Abschluss der Reihe
         kommt, was ihn inspiriert und was              Tod macht ihm keine Angst«, schrieb           in der hannoverschen Kreuzkirche die
         ihn ablenkt. Dr. Stephanie Springer,           Seethaler in seinem vorhergehenden            Bedeutung des Sonntags als heilsa-
         Präsidentin des Landeskirchenamtes,            Roman »Ein ganzes Leben« über sei-            men und zweckfreien Ruheraum der
         entlockt ihm einiges, was sonst nicht          nen dortigen Protagonisten Andreas            Woche. Unter dem heutigen Ansturm
         zu lesen ist. Etwa, dass einzelne Kir-         Egger. An diesem Abend führt Seetha-          von Reizen, Daten und Nachrichten
         chen für ihn besonderere Orte seien,           ler mit seiner Lesung aus »Das Feld«          seien freie Zeit und Stille innere Schlüs-
         nicht nur für Lesungen. Dabei weist er         diesen Gedanken weiter und zieht die          sel zur körperlichen Balance.
         auf das große, ganz in grün gehaltene          Hörerinnen und Hörer in seinen Bann.
         Kreuzesbild an der Altarwand von Jac-                                                        Seit 1992 veranstaltet die Hanns-
         ques Gassmann hin. So etwas ziehe              »Freiräume« ist das Hanns-Lilje-Forum         Lilje-Stiftung gemeinsam mit der
         ihn in den Bann. Dies sagt er, ohne zu         2019 überschrieben. Wo gibt es in             hannoverschen Landeskirche das
         wissen, dass sich Gassmann extra zu            unserem Alltag »Zeit für Freiräume«?          Hanns-Lilje-Forum. Mit wechselnden
         diesem Hanns-Lilje-Forum aus Berlin            Wo ist der Raum, sich auf Wesent­liches       Formaten werden in dieser Vortrags-
         aufgemacht hat und sich zum Schluss            zu besinnen, Lebens- und Tagesrhyth-          und Debattenreihe Veränderungen
         von Seethaler ein Buch signieren lässt.        men zu unterbrechen und Neues zu              und Herausforderungen unserer
                                                        wagen? Was kann das für uns persön-           Gesellschaft diskutiert.
         Auch Friedhöfe berühren ihn, berich-           lich und für unsere Gesellschaft bedeu-
         tet Seethaler etwas hölzern. Wenn              ten? Darauf gibt Seethaler mit seiner
         die Toten auf ihr Leben zurückblicken          Lesung berührende Antworten.

                                                                                                                                              9
Landeswettbewerb Evangelische Religion

Umwelt- und Klimaschutz ist für junge Menschen unter
den Top-3-Themen, so die Studie des Umweltbundes­
amtes vom Januar 2020. Umwelt- und Klimaschutz ist für
die Befragten eines der wichtigsten gesellschaftlichen
Probleme: Für 45 Prozent ist es sehr wichtig und für
­weitere 33 Prozent eher wichtig. Als ähnlich wichtige
 Probleme rangieren der Zustand des Bildungswesens
 und Fragen der sozialen Gerechtigkeit.

                                  Wie stellst du dir deine Zukunft vor?
                                             Und die Welt von morgen?
                                                                     10. Landeswettbewerb Evangelische Religion

         Junge Talente entdecken, ihnen span-            sondern auch ein genuin biblisch-         Der Wettbewerb Evangelische Religi-
         nende Forschungsmöglichkeiten bie-              theologisches. Christliche Vorstel-       on ist fest in der niedersächsischen
         ten und damit das Fach Evangelische             lungen von Zukunft gehen von der          Schullandschaft etabliert und in der
         Religion attraktiv gestalten, darauf zielt      Hoffnung auf das Reich Gottes aus         Konföderation der Evangelischen Kir-
         der Landeswettbewerb Evangelische               – einem Ort und einer Zeit, in der die    chen in Niedersachsen verankert. Indi-
         Religion seit dem Schuljahr 2000/2001,          Beziehungen von Gott und Mensch           viduelle Wettbewerbsbeiträge können
         als er durch die Hanns-Lilje-Stiftung           sowie Mensch und Mensch wieder heil       seit einigen Jahren als »Besondere
         ­initiiert wurde.                               und unmittelbar sein sollen. Zugleich     Lernleistung« in das Abitur einge-
                                                         formuliert christliches Zukunftsden-      bracht werden. Das Religionspädago-
         Die Ausschreibung für das Schuljahr             ken die individuelle Hoffnung auf         gische Institut Loccum organisiert die
         2019/2020 steht unter dem Thema                 Auferstehung und das ewige Leben.         Durchführung in Zusammenarbeit mit
         »Zukunft«. Stellt man Schülerinnen              Doch verbleibt diese Hoffnung nicht       der Hanns-Lilje-Stiftung, einschließ-
         und Schülern der Jahrgänge 10-13 die            beim jenseitigen, zukünftigen Blick,      lich themenbezogener Fortbildungen
         Frage nach der Zukunft, haben ihre              sondern richtet sich gleichzeitig auf     für die Lehrkräfte. Eine Fachjury wählt
         Antworten vielleicht zunächst einen             das Hier und Jetzt, auf die Zukunft der   aus den Portfolios der bis zu 500 betei-
         persönlichen Charakter und spiegeln             Erde und der Schöpfung. Damit hat         ligten Schülerinnen und Schüler die
         individuelle Hoffnungen und Visio-              das Fragen nach Zukunft eine klare        Preisträger aus. Der Wettbewerb findet
         nen wie auch Zukunftsängste wider.              ethische Implikation.                     alle zwei Jahre zu einem theologisch,
         Gleichermaßen zeigen sie in der wei-                                                      pädagogisch und gesellschaftlich rele-
         teren Auseinandersetzung ein deutli-            Es wird spannend, wie sich Jugendliche    vanten Thema statt. »Rituale«, »Erin-
         ches Bewusstsein der ökologischen               in ihren Portfolios damit auseinander-    nerung«, »Geheiligte Räume«, »Anfang
         Gefährdung von Welt und Mensch                  setzen, sei es als Einzelperson oder      und Ende des Lebens« sind nur einige
         sowie menschlicher Gemeinschaft und             als Gruppe. Zum Portfolio gehören         Beispiele. Inzwischen ist neben der
         Solidarität. Diese Aspekte werden bei-          unterschiedliche Dokumente eigener        Hanns-Lilje-Stiftung auch die Heinrich-
         spielhaft virulent angesichts von Kli-          Wahl. Das können zum Beispiel Videos,     Dammann-Stiftung als zweiter Förderer
         maveränderung, Armut und Unrecht in             Interviews, Essays, Fotodokumentatio-     dabei. Anlässlich des Jubiläums hat
         der Verteilung dessen, was diese Erde           nen sein. In jedem Fall werden Selbst-    Kultusminister Grant Hendrik Tonne
         zu bieten hat, Flucht und Vertreibung,          ständigkeit und Kreativität, Kommu-       die Schirmherrschaft des laufenden
         Terrorbedrohung, Naturkatastrophen              nikations- und Kooperationsfähigkeit      Wettbewerbs übernommen. Doch auf-
         nicht zuletzt auch angesichts der               vorausgesetzt, und natürlich wissen-      grund der Corona-Pandemie musste
         Corona-Pandemie.                                schaftliches Arbeiten, interdiszipli­     die Preisverleihung verschoben wer-
                                                         näres Lernen und vor allem Neugierde      den – auf die nahe Zukunft.
         »Zukunft« ist nicht nur ein Thema, das          am selbst gewählten Gegenstand zum
         Jugendliche ganz persönlich angeht,             Themenfeld »Zukunft«.

                                                                                                                                        11
Landwirtschaft und Klimawandel
                                                            Die Bedeutung von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft für das Leben

                                           Wenn der Acker Gottes blüht
Die Kirchengemeinde von Pastor Dr. Wolfgang Runge in Berkenthin (Schleswig-Holstein) macht vor, wie mehr Naturschutz
auf dem Kirchenacker gelingen kann. Sie hat mit konventionell wirtschaftenden Landwirten neue Pachtverträge für ihr Land
ausgehandelt. Darin enthalten sind – als Auflage – gemeinsame ökologische Projekte. Ein Landwirt hat zwischen seinen
Getreidefeldern einen mehrere Meter breiten Blühstreifen angelegt. Dort wächst jetzt eine mehrjährige Blühmischung aus
regionalen Blumen und Sträuchern, die Insekten Nahrung bietet. Initiator des Projekts ist der langjährige Pastor der Gemeinde
Berkenthin, Dr. Wolfgang Runge. Mit der Anlage dauerhafter, ungedüngter, blütenbunter Säume auf Acker- und Grünland­
flächen will die Gemeinde etwas für die Erhaltung der Artenvielfalt tun.

Kirchengemeinden in Deutschland haben als Verpächter von landwirtschaftlichen Flächen viele Möglichkeiten, etwas für
den Klimaschutz zu tun. Allein 35.000 Hektar Acker- und Grünland sind im Besitz von Kirchengemeinden der hannoverschen
Landeskirche. Während die Gemeinden der Evangelisch-lutherischen Nordkirche, der Evangelischen Kirche in Hessen und
Nassau oder in Westfalen relativ frei sind, die landeskirchlichen Musterpachtverträge zu ergänzen und weitere ökologische
Auflagen hineinzuschreiben, ist das in der Landeskirche Hannovers derzeit nicht möglich. Ausgeschlossen wird dort standard-
mäßig die Ausbringung von Klär- oder Fäkalschlamm, der Umbruch von Grünland sowie der Anbau genveränderter Pflanzen.

                                                                                                                             13
Landwirtschaft und Klimawandel
                                                                       Die Bedeutung von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft für das Leben

Anne-Dörthe Neumann, Vorstand im 68.000 Mitglieder
starken Landfrauen-Verband in Niedersachsen.
Sie bewirtschaftet mit ihrem Mann und ihrer Tochter
­einen Milchviehbetrieb in der Nähe von Stade.

                                   Klimaschutz versus Landwirtschaft?
               Eine Landwirtin, ein Umweltschützer und ein Bischof im Gespräch über mehr
               Klimaschutz, weniger Fleischkonsum und eine enkeltaugliche Landwirtschaft

         Frau Neumann, Sie sind im Vorstand           Und der Klimaschutz?                       der Landwirtschaft, sondern insgesamt
         der Landfrauen in Niedersachsen und          Neumann: Für mich ist immer klar           in allen gesellschaftlichen Bereichen
         betreiben mit Ihrem Mann und Ihrer           gewesen, dass alle in der Gesellschaft     zu wenig getan wird, damit unser Klima
         Tochter eine Milchviehwirtschaft mit         am Klimaschutz arbeiten müssen.            für die nächsten Generationen noch
         175 Kühen. Die Europäische Union hat         Laut Landwirtschaftsministerium trägt      erträglich sein wird. Wir müssen die
         ein Programm vorgestellt, mit dem die        die Landwirtschaft zu 7,4 Prozent an       Schäden schnell begrenzen und das
         Landwirtschaft grüner werden soll. Der       den klimaschädlichen Treibhausgas-         Artensterben stoppen. Die Emissionen
         Deutsche Bauernverband spricht von           emissionen in Deutschland bei. Viele       müssen wir möglichst schnell in Rich-
         einem Generalangriff auf die Landwirte       Landwirte erzeugen selbst Strom mit        tung Netto-Null bringen und klimaneu-
         in Europa. Fühlen Sie sich angegriffen?      Photovoltaik-Anlagen. Wir bewirtschaf-     tral werden. Die Zeit drängt.
         Anne-Dörthe Neumann: Ich kann natür-         ten Wald und forsten auf. Außerdem
         lich nicht für »die« Landwirte in Euro-      pflegen wir seit jeher die Landschaft.     Herr Meister, verstehen Sie die
         pa oder Deutschland sprechen. Aus            Und allzu oft wird vergessen, dass wir     ­Ungeduld von Herrn Held einerseits
         eigener Erfahrung weiß ich, dass viele       als Landwirte selbst vom Klimawandel        und die Sorgen von Frau Neumann
         Landwirte schon heute – ohne diese           betroffen sind, und das mit Ernteaus-       andererseits?
         geplanten neuen Regeln – Probleme            fällen sofort merken. Auch wir haben        Ralf Meister: Ich habe große Sympathi-
         haben. Als Milchviehhalter haben wir         ein Interesse am Klimaschutz.               en für alle, die im Rahmen von Fridays
         bereits schwer an dem aktuell niedri-                                                    for Future für ihre Anliegen auf die Stra-
         gen Milchpreis zu tragen. Aufgrund der       Herr Held, Sie engagieren sich bei der      ße gehen. Als Kirche haben wir schöp-
         neuen Düngemittelverordnung steigen          BUND-Jugend und haben zusammen              fungstheologisch die Verantwortung für
         unsere Betriebskosten weiter. Wegen          mit Fridays for Future im Frühjahr 2019     die Erde, die Gott gehört. Dieser Ver-
         strengerer Umweltauflagen wird es            bei einer Veranstaltung der Hanns-          antwortung müssen wir Gestalt geben
         zudem Ernteeinbußen geben. Dazu              Lilje-Stiftung in der Marktkirche einen     und danach handeln. Insofern benö-
         kommt der gestiegene bürokratische           Forderungskatalog an die Landes­            tigen wir eine konstruktive Ungeduld,
         Aufwand, weil wir mehr dokumentieren         kirche überreicht, was treibt Sie um?       um den Herausforderungen zu begeg-
         müssen und mehr kontrolliert wird. Ich       Lukas Held: Für meine Generation wird       nen. Wenn wir uns auf unseren Erfol-
         würde mich nicht beschweren, wenn            die gegenwärtige Wirtschaftsweise           gen, die es zweifellos in Deutschland
         wir für die Milch, die wir produzieren,      zu einem Existenzproblem. Wir müs-          gibt, ausruhen und nichts tun, wird
         anständig bezahlt würden. Aber das ist       sen Angst vor unserer Zukunft haben.        es bald keine Welt mehr geben, in der
         derzeit nicht der Fall.                      Daher ärgert es mich, dass nicht nur in     Menschen leben können. Gleichzeitig

                                                                                                                                         15
Ralf Meister, Landesbischof der Evangelisch-
                                                                                      lutherischen Landeskirche Hannovers. Er ist
                                                                                      Mitglied der Kammer für nachhaltige Entwick-
                                                                                      lung der Evangelischen Kirche in Deutschland.

erlebe ich eine große Enttäuschung        müssen jeden Tag gefüttert und gemol-       Inwiefern?
auf Seiten der Landwirtschaft. Viele      ken werden. Sie müssen tierärztlich         Held: Auf einer Treckerdemo habe
Landwirte protestieren, weil sie Exis-    versorgt, ihre Klauen gepflegt werden.      ich den Spruch gehört: Da wollen mir
tenzängste haben. Aus Gesprächen mit      Das machen wir jeden Tag – auch sonn-       Nicht-Landwirte vorschreiben, was ich
Landwirtinnen und -wirten weiß ich,       und feiertags.                              als Landwirt zu tun habe. Natürlich ist
dass sie keinen Strukturwandel, son-                                                  die Landwirtschaft ein emissionsin-
dern einen regelrechten Strukturbruch     Sind die Ansprüche der Gesellschaft         tensiver Wirtschaftszweig. Wenn man
erleben. Vielen kleinen und mittleren     an die Landwirtschaft zu hoch? Umwelt       da jedoch tiefer hineingeht, muss man
Höfen droht in einem überschaubaren       schonen, günstige Milch produzieren,        sich dennoch fragen: Warum wirtschaf-
Zeitraum das Aus. Und das macht mir       auf das Tierwohl achten und für eine        tet ein Landwirt oder eine Landwirtin so
große Sorgen. Denn in Niedersachsen       schöne Landschaft sorgen?                   wie er oder sie wirtschaftet? Mit diesen
handelt es sich um viele Hundert, ja um   Neumann: Oft wird so getan als täten        Fragen müssen wir uns beschäftigen.
Tausende Höfe.                            wir das nicht oder hätten es nicht
                                          getan. Das machen wir Landwirte ja          Meister: Als Gesellschaft stellen wir
Frau Neumann, haben Sie Zukunfts­         schon seit jeher. Und wir machen es         einseitig Forderungen an eine über
angst?                                    gerne. Wenn wir zusätzlich all diese        Jahrhunderte unsere Kultur prägende
Neumann: Ja. Sehen Sie: In der Land-      neuen Forderungen erfüllen und wei-         und Ernährung sichernde Landwirt-
wirtschaft leben häufig mehrere Gene-     terhin unsere Leistung für die gesamte      schaft. Dabei ist es eine Verantwor-
rationen von einem Hof. Das sind zwei,    Gesellschaft erbringen sollen, können       tung, die jeden betrifft. Wir können
manchmal drei Generationen. Bei           wir das nicht zum Nulltarif tun.            aber nicht über »die« Landwirtschaft
einem Milchpreis von derzeit 27 Cent                                                  sprechen oder sagen »die« Landwir-
und womöglich bald 25 Cent pro Liter      Herr Held, haben die Umweltverbände         te sollten dies oder das. Wir alle sind
wird das für uns eng. Je weniger wir      vor lauter Klimaschutz die Landwirte        verantwortlich für die Nahrungsmittel,
erlösen, umso enger müssen wir die        vergessen?                                  ihre Herstellung und ihren Preis. Wenn
Schrauben bei uns anziehen. Am Tier       Held: Vielleicht haben wir sie nicht ver-   wir etwas verändern wollen, beginnt
spart man nicht. Zumindest nicht bei      gessen, aber viel zu oft haben wir es       es nicht mit Forderungen, sondern mit
den Bauern, die ich kenne. Milchkühe      uns zu einfach gemacht.                     eigenem Handeln.

16
Landwirtschaft und Klimawandel
                                                            Die Bedeutung von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft für das Leben

                                                                                      Lukas Held, Landesvorstand des Bundes
                                                                                      für Umwelt und Naturschutz (BUND), BUND-­
                                                                                      Jugend Niedersachsen. Der Klimaschützer
                                                                                      überreichte zusammen mit Fridays for Future
                                                                                      bei der Veranstaltung der Hanns-Lilje-Stiftung,
                                                                                      »Kann Kirche Demokratie?«, einen Forderungs-
                                                                                      katalog an die Landeskirche.

Neumann: Was mich oft stört ist, dass      Gleichzeitig ist der Fleischkonsum stark   Deutschland teurer wird – die Ver-
die Menschen mehr Umweltschutz             gestiegen. Abgesehen von den billigen      braucher zu günstigerem Fleisch aus
oder mehr Tierwohl einfordern, an          Lebensmitteln ist – aus Klimaschutz-       Südamerika greifen. Die EU hat bereits
der Ladentheke dennoch die billigen        gründen – die Fleischproduktion ein        ein Freihandelsabkommen mit den
Lebensmittel auswählen, die keinen         riesiges Problem aufgrund der Futter-      Mercosur-Staaten in Lateinamerika
hohen Standard haben. Klar, einige         mittelproduktion im Amazonasgebiet,        ausgehandelt, das uns den Autoex-
kaufen Bio. Aber das Gros nimmt lieber     wo Regenwald für Soja gerodet wird.        port erleichtert und gleichzeitig den
das günstigste Fleisch. Das ist für mich   Meister: In der Tat. Wenn man sich den     Import von Fleisch aus Brasilien oder
ein Widerspruch.                           Fleischkonsum der Weltbevölkerung          Argentinien vereinfacht. Das wollen wir
                                           anschaut und die Steigerung der ver-       Landwirte nicht.
Sind unsere Nahrungsmittel zu billig?      gangenen Jahrzehnte, getrieben durch
Held: Auf jeden Fall. Frau Neumann         das Bevölkerungswachstum und den           Meister: Das verstehe ich vollkom-
hat das ja anhand der Milch anschau-       steigenden Wohlstand, ist klar, dass       men, Frau Neumann. Der Markt wird es
lich beschrieben. Nahrungsmittel sind      sich etwas ändern muss. Würde es           nicht richten. Davon bin ich überzeugt.
einfach zu billig. Sie sollten einfach     genauso weitergehen, würde der             Der Markt berücksichtigt weder die
einen höheren Stellenwert genießen.        Niedergang der Schöpfungsvielfalt in       Umweltschäden der Fleischproduktion
Wir brauchen ein anderes Bewusst-          einer Geschwindigkeit erfolgen, die        noch das Tierwohl. Seit 20 Jahren reden
sein in der Gesellschaft für Lebens-       auch das Überleben des Menschen            wir darüber, dass Lebensmittel teurer
mittel und mehr Wertschätzung für          gefährden wird. Wir brauchen schnell       werden sollten: damit Ihrer Arbeit, Frau
die Landwirtschaft.                        einen Veränderungsprozess. Die Frage       Neumann, und den Tieren, die uns als
                                           ist nur: Wie gestalten wir gemeinsam       Nahrungsmittel dienen, wirkliche Ach-
Neumann: Früher, in den 1960er             diesen Prozess?                            tung entgegengebracht wird. Aber: Der
Jahren, mussten die Menschen in                                                       Markt reguliert das nicht.
Deutschland noch ein Drittel ihres         Reichen Appelle und freiwilliges Han-
Einkommens für Nahrungsmittel aus-         deln?                                      Was schlagen Sie vor, Herr Meister?
gegeben. Heute sind es nur noch rund       Neumann: Viele Landwirte haben             Meister: In dieser Corona-Zeit erleben
zehn Prozent.                              Angst, dass – wenn das Fleisch in          wir beides: Die Notwendigkeit staat-

                                                                                                                                  17
licher Interventionen und die hohe         Gemeinsam einigten sie sich auf ein         meiner enkeltauglichen Landwirtschaft
Eigenverantwortung von uns Bürgerin-       Eck­punktepapier, wonach Landwir-           gäbe es viele kleine Landwirtschaftsbe-
nen und Bürgern. Für eine Neuorientie-     te, die Natur-, Arten- und Gewässer-        triebe, die Kreislaufwirtschaft betrei-
rung der Landwirtschaft benötigen wir      schutz leisten, künftig dauerhaft ent-      ben, in der Ackerbau und Viehzucht
beides: Klare Vorgaben, Leitlinien und     lohnt werden sollen. Sie bekommen           nebeneinander stattfinden. Das Höfe-
Verantwortungsbewusstsein bei uns          beispielsweise einen Ausgleich, wenn        sterben wäre gestoppt, Familienbe-
Verbraucherinnen und Verbrauchern.         sie aufgrund des Gewässerschutzes           triebe könnten weiter existieren. Kein
Wir benötigen Regeln, die das Tierwohl     wirtschaftliche Nachteile erleiden.         Landwirt stünde mehr vor der schwie-
schützen, den Naturerhalt berücksich-      Ist das prinzipiell ein Weg: Der Staat      rigen Entscheidung, seinen Betrieb
tigen und die Arbeitsleistung der Land-    subventioniert den Wandel?                  massiv zu vergrößern, zulasten der
wirtschaft honorieren. Manche Regeln                                                   Umwelt und des Tierwohls, um ökono-
werden den Landwirten nicht gefallen,      Meister: Was mich zunächst sehr freut,      misch weiter wirtschaften zu können.
andere nicht den Verbrauchern. Wenn        ist, dass wir trotz massiver Proteste auf   Voraussetzung wäre, dass wir uns alle
sich etwas ändern soll, brauchen wir       beiden Seiten – von Umweltverbänden         anders und kreativer ernähren, weniger
neue Regeln – und die Bereitschaft aller   wie von Landwirten – den Gesprächs-         Lebensmittel verschwenden, viel weni-
Beteiligten, diesen Weg mitzugehen.        faden in Niedersachsen nicht haben          ger oder gar kein Fleisch essen.
                                           abreißen lassen. Wenn ich die Situ-
Held: Ich finde gut, dass wir uns in der   ation in der Landwirtschaft mit dem         Neumann: Ich greife mal Ihren Vor-
Runde einig sind, dass der Fleischkon-     Ausstieg aus der Kohle vergleiche, wo       schlag des kleinbäuerlichen Famili-
sum global und vor allem in Deutsch-       wir den Strukturwandel oder Struk-          enbetriebs auf, Herr Held. Für meine
land viel zu hoch ist. Wir benötigen       turbruch über zehn, fünfzehn Jahre in       Enkel würde ich mir wünschen, dass
mehr Wertschätzung für tierische Pro-      den betroffenen Regionen mit milliar-       sie Angestellte und dadurch mehr
dukte. Ob das jetzt die Politik machen     denschweren Subventionen puffern            Freiräume haben. Dass sie mehr als
sollte oder wir als Verbraucher, das       werden, frage ich mich, warum wir das       vier oder sieben Tage Urlaub machen
weiß ich nicht. Der Staat könnte ver-      nicht bei der Landwirtschaft gleichfalls    können im Jahr – und so am gesell-
stärkt Anreize schaffen, dass sich         tun sollten. Immerhin geht es hier nicht    schaftlichen Leben teilhaben kön-
künftig mehr Menschen vegetarisch          allein um viele Tausende Höfe in Nie-       nen. Das setzt jedoch eine gewisse
oder vegan ernähren. Damit es schnel-      dersachsen, sondern um unsere Natur,        Betriebsgröße voraus, ohne die dies
ler zu einer drastischen Reduktion des     um unser aller Ernährung.                   und auch zukünftige Investitionen
Fleischkonsums kommt und wir zu ein-                                                   nicht möglich wären.
mal Fleisch pro Woche, dem Sonntags-       Neumann: Ich hoffe sehr, dass es dabei
braten, zurückkehren.                      bleibt und wir nicht immer gegeneinan-      Meister: Meine große Hoffnung ist,
                                           der arbeiten, sondern miteinander. Als      dass wir die Trennung zwischen der
Was denken Sie, Frau Neumann?              Landfrauenverband begrüßen wir den          Landwirtschaft da und den Verbrauche-
Neumann: In der Familie haben wir          »Niedersächsischen Weg«. Wie die Kir-       rinnen und Verbrauchern hier, die sich
schon mal über einen Mindestlohn für       che, sehen wir uns da als Mittlerinnen      in den vergangenen Jahrzehnten ent-
unsere Arbeit bzw. einen Mindestpreis      zwischen den Fronten. Und das funkti-       wickelt hat, wieder auflösen. Das setzt
für Milch nachgedacht. Das ist jedoch      oniert gerade ganz gut.                     voraus, dass wieder stärker regionale
etwas, was wir eher in weiter Ferne                                                    Kreisläufe etabliert werden. Als Kirche
sehen. Wenn wir mehr Umweltaufla-          Held: Als BUND-Jugend werden wir auf        können wir helfen, den Gesprächs-
gen bekommen oder noch mehr für            jeden Fall Werbung für diese Vereinba-      faden nicht abreißen zu lassen. Für
das Tierwohl sorgen sollen, erwarte ich,   rung machen. Und wir werden genau           meine Enkel wünsche ich mir, dass sie
dass uns die Gesellschaft dafür etwas      darauf achten, dass die Vereinbarun-        an der Landwirtschaft lernen können,
zurückgibt. Zumindest aber, dass wir       gen, zu denen sich die Teilnehmer ver-      wie ein verantwortungsvoller Umgang
die Mehrausgaben oder die wirtschaft-      pflichtet haben, zu allgemeingültigen       mit der Natur aussieht, der zugleich
lichen Nachteile, die wir dadurch          Gesetzen werden. In Zukunft gemein-         wirtschaftlich ertragreich ist, um Fami-
haben, ausgleichen können. Sonst           sam nach Lösungen zu suchen, das            lienunternehmen in die Urenkelgene­
wird das für uns zu einer Existenzfrage.   wäre auch unser Wunsch.                     ration zu führen.

In Niedersachsen entstand auf Druck        Wie sieht für Sie eine zukunftsfähige,
eines angekündigten Volksbegeh-            enkeltaugliche Landwirtschaft aus?
rens für mehr Artenschutz ein runder       Held: Eine zukunftsfähige Landwirt-
Tisch mit Umweltminister, Landwirt-        schaft sorgt für unsere Lebensgrundla-
schaftsministerin, Vertretern des Nie­     ge. Sie produziert unsere Nahrungsmit-
dersächsischen Landvolks und der           tel und zwar mit der Verantwortung, die
Umwelt­verbände NABU und BUND.             Erde zu bebauen und zu bewahren. In

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Klimawandel, Klimaflüchtlinge,
                                                     Gerechtigkeit
Steigende Meeresspiegel, Dürren und Überschwemmungen lassen viele Menschen ihre Heimat verlassen. Um Klimaflucht vor-
zubeugen, müsse massiv in die Entwicklung Afrikas und anderer Länder des globalen Südens investiert werden. Das forderte
Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Franz Josef Radermacher bei einer Podiumsdiskussion der Hanns-Lilje-Stiftung und ihres Freundeskreises
vor über 200 Gästen in Hannover. Radermacher streitet für eine gerechtere Weltordnung. Er ist Mitglied des renommierten
Club of Rome und leitet das Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung in Ulm. Durch systematische
Aufforstung, Urbarmachung von Wüsten und Installation von Photovoltaikanlagen in Entwicklungsländern, so Radermacher,
ließe sich Klimaschutz mit Wohlstandsvermehrung verknüpfen.
Flucht und Klimawandel
                                                                                         Die Zukunft von Politik und Gesellschaft

                                    Vertreibung durch Klimawandel
         Obwohl in Afrika bereits 20 Millionen Menschen aufgrund des Klimawandels ihre
                             Heimat verloren haben, ist der Begriff »Klimaflüchtling« umstritten

Obwohl bereits 20 Millionen Menschen         stellte jedoch fest, dass die Klimafra-   in Deutschland und arbeitet für die
allein in Afrika aufgrund des Klimawan-      gen im Asylrecht grundsätzlich sehr       Umweltschutzorganisation Green-
dels ihre Heimat verloren haben, ist der     wohl eine Rolle spielen könnten. Das      peace. Dreiviertel der Afghanen hätten
Begriff Klimaflüchtling in Politik und      ­Menschenrechtsbüro der Vereinten          wie er und seine Familie flüchten müs-
Wissenschaft umstritten.                     Nationen bezeichnete die Entschei-        sen, weil wegen Dürren und Trocken-
                                             dung als »historisch«.                    heit keine Landwirtschaft mehr mög-
Menschen flüchten, weil in ihrer Hei-                                                  lich war oder Stürme und Überschwem-
mat Krieg herrscht. Oder sie gehen          Die Bundesregierung folgt dieser Emp-      mungen ihren Lebensraum zerstört
weg, weil sie aus politischen Gründen       fehlung aber nicht. Wer wegen der Fol-     hatten, erzählt Durrani. Klimawandel
verfolgt werden, Hunger leiden oder         gen des Klimawandels seine Heimat          sei zwar nicht die einzige Fluchtursa-
für sich selbst und ihre Familie schlicht   verlässt, kann nach ihrer Auffassung       che. »Aber er wirkt als Multiplikator in
keine Perspektive mehr sehen. Immer         weder Asyl noch Flüchtlingsschutz          Regionen, in denen das Leben wegen
häufiger flüchten Menschen aber auch        einfordern. Zwischen Klimawandel,          Krieg, Terror und Armut ohnehin schon
wegen der Folgen von anhaltender            Migration und Flucht bestehe zwar ein      schwierig geworden ist.«
Dürre, häufigen Überflutungen oder          Zusammenhang, sagte ein Sprecher
gewaltigen Stürmen. Diese Ereignis-         des Innenministeriums. Dieser sei aber     Dass Umweltkatastrophen, bedingt
se haben in einigen Teilen der Welt in      nur unzureichend untersucht. Und wei-      durch den Klimawandel, mehr gewor-
den vergangenen Jahren massiv zuge-         ter: »Die meisten Studien deuten dar-      den sind – das bestreitet die Bundesre-
nommen. Grund für diese Zunahme:            auf hin, dass Umweltveränderungen          gierung gar nicht. Bundesentwicklungs-
der Klimawandel.                            Auslöser, aber nicht alleinige Ursache     minister Gerd Müller (CSU) hat erst
                                            von Migrationsentscheidungen sind.«        Ende des vergangenen Jahres aufge-
Anfang des Jahres hat erstmals der                                                     führt, dass es circa 20 Millionen Klima-
Menschenrechtsausschuss der Ver-            Bei Fawad Durrani war genau das die        flüchtlinge allein in Afrika gebe. In frü-
einten Nationen beschieden, dass            Situation. Der 33-Jährige hat mehrfach     heren Interviews hatte Müller von 200
Klimaflüchtlingen das Recht auf Asyl        im Leben flüchten müssen. Durrani und      Millionen drohenden Klimaflüchtlingen
nicht verweigert werden dürfe, wenn         seine Familie kommen aus Afghanis-         weltweit gesprochen. Er beruft sich auf
ihr Leben in Gefahr sei. Ein Mann aus       tan. Als er fünf Jahre alt war, vertrieb   Daten des Internal Displacement Moni-
dem pazifischen Inselstaat Kiriba-          der Bürgerkrieg ihn und seine Familie      toring Centre (IDMC) in Genf, das seit
ti hatte sich über seine Ausweisung         ins Nachbarland Pakistan. Als er zehn      1998 Daten zu Flüchtlingen sammelt.
und die seiner Familie aus Neusee-          war, zerstörten Überschwemmungen           Dem IDMC zufolge ist es heute sieben-
land beklagt. Die konkrete Beschwer-        das Haus, in dem er und seine Familie      mal wahrscheinlicher, wegen Wirbel-
de lehnte der Ausschuss zwar ab.            lebten. Zum zweiten Mal hatte seine        stürmen, Dürren, Überflutungen und
Der UN-Menschenrechtsausschuss              Familie alles verloren. Heute lebt er      Waldbränden seine Heimat zu verlieren

                                                                                                                              21
Der Klimawandel schreitet langsam voran. Ansteigende Meeresspiegel und anhaltende Dürren setzen in vielen Regionen schon heute den Menschen
zu. Das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) schätzt, dass insbesondere in afrikanischen Staaten südlich der Sahara immer mehr Menschen
ihre Heimat werden verlassen müssen.

als durch Erdbeben und Vulkanausbrü-              in zunehmenden Maße ihre Heimat                   verbessert, sondern verwässert wird«,
che und auch dreimal wahrscheinlicher             verlassen werden müssen«, sagt Ben-               warnt Minninger. »Da lassen wir besser
als vor einem bewaffneten Konflikt zu             jamin Schraven, Sozialwissenschaftler             die Finger von.«
fliehen. Zwischen 2008 und 2018 hät-              am Deutschen Institut für Entwicklungs-
ten jedes Jahr fast fünf Prozent der              politik (DIE) in Bonn. Untersuchungen             Minninger plädiert stattdessen für ein
weltweiten Bevölkerung vor Unwettern              aktueller Forschungsprojekte aber hät-            zusätzliches Abkommen, das – ori-
zumindest zeitweise das Weite suchen              ten ergeben, dass die Menschen oft                entiert am Verursacher-Prinzip – die
müssen. Die Weltbank warnt, dass in               fliehen, weil sie generell unter fragilen         Industriestaaten als Umweltverschmut-
Afrika südlich der Sahara, in Südasien            Lebensumständen lebten, etwa auf-                 zer stärker in die Pflicht nimmt. Ihrer
und in Lateinamerika bis 2050 mehr                grund von Gewaltkonflikten oder dem               Ansicht nach müsste dieses Abkom-
als 140 Millionen Menschen »infolge               Fehlen staatlicher Strukturen. »Der               men einen internationalen Schutzsta-
des langsam einsetzenden Klimawan-                Zusammenhang Klimawandel, Flucht                  tus für die Betroffenen des Klimawan-
dels« ihre Heimat verlassen könnten,              und Migration ist wesentlich komplexer            dels beinhalten. Flankierende regiona-
sollte es keine umfassenden globalen              als man annimmt«, sagt Schraven.                  le und bilaterale Vereinbarungen sind
Klimaschutzmaßnahmen geben.                                                                         ebenso notwendig.
                                                  Sabine Minninger, Referentin für Klima-
Trotz dieser kaum zu bestreitenden                politik beim evangelischen Hilfswerk              Das würde bedeuten, dass die Indus-
Entwicklung im Zuge des Klimawan-                 Brot für die Welt, rät davon ab, Klima-           triestaaten für die Kosten, die den
dels ist der Begriff »Klimaflüchtling«            wandel als Fluchtursache in die Genfer            (Nachbar-)Ländern durch die Geflüch-
selbst unter Migrationsforschern und              Flüchtlingskonvention aufzunehmen.                teten entstehen, aufkommen müssten.
entwicklungspolitischen Organisatio-              »Wenn die Konvention neu verhan-                  »Die Verursacher der Klimakrise sind in
nen umstritten. »Es gibt Regionen, wo             delt werden würde, um neue Fluch-                 der Verantwortung, diesen Menschen
Menschen wegen des steigenden Mee-                tursachen aufzunehmen, bestünde                   zu helfen«, sagt Sabine Minninger von
resspiegels oder anhaltender Dürren               die Gefahr, dass die Konvention nicht             Brot für die Welt.

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Flucht und Klimawandel
                                                                                                      Die Zukunft von Politik und Gesellschaft

Dorfvorsteher Sailosi Ramatu steht auf dem Grund sei-
nes alten Dorfes Vunidogoloa auf den Fidschi-Inseln im
Pazifik. Es war das erste Dorf auf Fidschi, das aufgrund
des Meeresspiegelanstiegs umgesiedelt wurde.

                                                           Kein Asyl für Klimaflüchtlinge?
                                         Die aktuelle juristische Situation erläutert Dr. Thomas Smollich,
                                          Präsident des Niedersächsischen Staatsgerichtshofes und des
                                                             Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts.

          Die Bundesregierung ist sich sicher:              des Niedersächsischen Oberverwal-       der Regel nicht zu einer Anerkennung
          Wer wegen der Folgen des Klimawan-                tungsgerichts, Dr. Thomas Smollich,     als Flüchtling, erklärt der Richter.
          dels seine Heimat verlässt, kann in               weist allerdings darauf hin, dass das   »Denn nach der weitgehend überein-
          Deutschland weder Asyl noch Flücht-               Recht auf Asyl sowohl im Grundgesetz    stimmenden juristischen Fachliteratur
          lingsschutz einfordern.                           als auch im internationalen Recht       fällt die klimabedingte Abwanderung
                                                            garantiert ist. »Jeder Schutzsuchen-    grundsätzlich nicht unter die Genfer
          Doch so ganz eindeutig ist das nicht.             de in Deutschland kann einen Antrag     Flüchtlingskonvention«, so Smollich
          In der Genfer Flüchtlingskonvention               stellen und alle Fluchtgründe geltend   weiter. Dementsprechend sind bisher
          ist Klimawandel zwar nicht explizit               machen, die sein Leben gefährden«,      auch keine Urteile bekannt, in denen
          als Flüchtlingsgrund aufgeführt. Und              sagt Smollich. Dazu gehörten auch       eine klimabedingte Abwanderung als
          juristisch gibt es den Begriff »Klima-            klimabedingte Gründe. Jedoch führt      Fluchtgrund anerkannt wurde.
          flüchtling« auch nicht. Der Präsident             dieser Vortrag vor Gericht derzeit in

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Antje Niewisch-Lennartz, 67, Ministerin a. D.,
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                                                                                    ­Kirchenparlament der Ev.-luth. Landeskirche
                                                                                     Hannovers. Von 2013 bis 2017 war die ehe­
                                                                                     malige Verwaltungsrichterin und Mediatorin
                                                                                     niedersächsische Justizministerin in der rot-
                                                                                     grünen Regierungskoalition.

 Bleiberecht für Klimaflüchtlinge illusorisch
       Interview mit Antje Niewisch-Lennartz, Synodale der Ev.-luth. Landeskirche
                         Hannovers und frühere niedersächsische Justizministerin
Frau Niewisch-Lennartz, ein UN-M­en­      der dafür geltenden Genfer Flüchtlings-   lingskonvention ist ein Vertrag zwi-
schenrechtsausschuss hat Anfang           konvention werden nicht erfüllt. Wer      schen Staaten. Es ist illusorisch dar-
des Jahres gefordert, dass Klima­         aufgrund der Klimakrise in der Heimat     auf zu setzen, dass sich die Vertrags-
flüchtlingen das Recht auf Asyl nicht     keine Lebensgrundlage mehr hat, wird      staaten durch eine entsprechende
verweigert werden dürfe, wenn ihr         sich aber trotzdem aufmachen. Für die     Änderung verpflichten, jedem einen
Leben in Gefahr ist. Sollte Deutschland   Betroffenen ist das ein genauso zwin-     Anspruch auf Aufnahme bei sich zu
dieser Forderung folgen?                  gender Fluchtgrund, wie die in der Kon-   verschaffen, den die Folgen der Klima-
Antje Niewisch-Lennartz: Das Recht        vention genannten Gründe.                 krise aus der Heimat vertreiben. Ich
auf Asyl besteht nur für den Fall einer                                             halte das angesichts der Tragweite der
politischen Verfolgung. Ein Klima-        In der Genfer Flüchtlingskonvention       vor uns liegenden dramatischen Ent-
flüchtling kann sich auf diesen Schutz    ist der Status eines Klimaflüchtlings     wicklungen und der Zahl der Betroffe-
nicht berufen. Auch den Status eines      nicht definiert.                          nen für keine realistische Perspektive.
Flüchtlings kann er gegenwärtig nicht     Niewisch-Lennartz: Ja, und ich meine,     Wenn ich sehe, wie viele Menschen in
beanspruchen. Die Voraussetzungen         das wird auch so bleiben. Die Flücht-     Afrika, Südasien oder den Inselstaa-

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Flucht und Klimawandel
                                                                                                   Die Zukunft von Politik und Gesellschaft

Die Erderwärmung sorgt auf Tuvalu, einem Inselstaat im Südwesten des pazifischen Ozeans, für häufige Überschwemmungen. Dadurch wird das einst
trinkbare Grundwasser versalzen und die Küsten erodieren.

ten in ihrer sozialen Existenz schon            ten und zu verhindern, dass ganze               Für welche Lösung plädieren Sie, wenn
jetzt von klimabedingten Naturkatast-           Landstriche unbewohnbar werden.                 Menschen etwa wegen Dürre ihr Land
rophen betroffen sind, wird es für alle         Das wird ohne spürbare Veränderun-              verlassen müssen?
ein Bleiberecht hier nicht geben. Auch          gen am Status Quo hier nicht möglich            Tut mir leid, dass ich da so beharre.
wenn mir das politisch, moralisch               sein. Lebensweise und Industrien                Aber wir müssen alles daransetzen,
und emotional nahe ist: Es wird nicht           müssen sich ändern. Nur so können               dass sie wegen der Dürre das Land
funktionieren. Rechte sollte man nur            wir dafür sorgen, dass die Menschen             nicht verlassen müssen. Das umfasst
dann formulieren, wenn man zu deren             in ihrer Heimat bleiben können.                 auch die Unterstützung etwa für kli-
Umsetzung bereit ist. Angesichts der                                                            maangepasste Landwirtschaft vor Ort.
gegenwärtigen Entwicklungen, weg von            Halten Sie den Begriff Klimaflüchtling          Daneben wird es meines Erachtens nur
multilateralen Vereinbarungen hin zu            für falsch?                                     politische Entscheidungen für Katas­
Nationalegoismen, halte ich ein Anfas-          Nein, gar nicht. Der Klimaflüchtling ist        trophenfälle geben, wie zum Beispiel
sen der Flüchtlingskonvention sogar für         eine Form des »Wirtschaftsflüchtlings«.         international ausgehandelte oder von
gefährlich. Ein Kampf um den Flücht-            Diese Bezeichnung wird als Sammel-              einzelnen Ländern gewährte Quoten,
lingsstatus wird keine Lösung bringen.          bezeichnung verwendet für diejenigen,           über die einige der Betroffenen, die
                                                die aus dem Raster der Genfer Flücht-           als besonders schutzbedürftig gelten,
Warum?                                          lingskonvention fallen. Der Begriff hat         aufgenommen werden. Da läuft dann
Antje Niewisch-Lennartz: Weil man               unausgesprochen die ungute Konnota-             – wenn es gut geht – die Maschinerie
ihn dann allen Betroffenen gewäh-               tion erhalten, diese Flüchtlinge kämen          an, es werden Geberkonferenzen orga-
ren muss. Man kann ein globales                 ohne Not, um von unserem sozialen               nisiert und finanzielle Mittel, die das
Problem nicht durch einen individu-             Sicherheitsnetz zu profitieren. Wel-            Schlimmste verhindern sollen. Das
ellen Schutzanspruch lösen, der nur             che Gründe in der Heimat sogenannte              wird nur ein Tropfen auf den heißen
einigen Wenigen gewährt wird. Nach              »Wirtschaftsflüchtlinge« zum Aufbruch           Stein sein. Wenige werden es schaffen,
welchen Kriterien sollte man da vor-            treiben, bleibt aus dem Fokus. Mit der          sich nach Europa durchzuschlagen
gehen? Das wären reine Symbolent-               Bezeichnung »Klimaflüchtling« kommt             und hier versuchen, ein Bleiberecht
scheidungen, die im schlimmsten                 man aus dieser Falle. Der Begriff stellt        zu erreichen. Eine echte Perspektive
Fall als Legitimation genutzt würden,           klar: Diese Menschen kommen, weil               daraus zu entwickeln, ist aber selbst
beim CO2-Ausstoß auf konsequen-                 die blanke Not sie hertreibt. Und diese         für die, die es hierher geschafft haben,
te Veränderungen zu verzichten. Wir             Not haben wir durch unsere Lebens-              schwierig. Die besteht ausschließlich
müssen stattdessen alles daranset-              und Produktionsweise in den Industrie­          in einem konsequenten Kampf gegen
zen, die Klimakatastrophe aufzuhal-             ländern zu verantworten!                        die Erderwärmung.

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Kann Kirche Klima?
             Ein Gespräch mit Werner Lemke, leitender Baudirektor der Evangelisch-
             lutherischen Landeskirche Hannovers, über graue Energie, körpernahe
                                               Heizungen und Neubauten aus Holz.

Herr Lemke, die hannoversche Lan-       bestand. Das ist – für sich genommen      Wie will die Kirche trotz der vielen
deskirche besitzt rund 8.000 Gebäude.   – viel. In Relation zu den 66 Millionen   alten Kirchengebäude das Klima
Darunter sind rund 1.660 Kirchen und    Tonnen Emissionen, die Niedersachsen      schützen?
Kapellen, die vermutlich keine gute     insgesamt abgibt, ist der Kirchenanteil   Lemke: Wir bemühen uns, die Emis-
Energiebilanz aufweisen. Wissen Sie,    gering. Dennoch können und wollen         sionen, die Kirchen verursachen, zu
wie viel CO2-Emissionen die Kirche       wir einen wertvollen Beitrag zur Redu-   verringern und mit gutem Beispiel vor-
jährlich verursacht?                    zierung des CO2-Ausstoßes leisten.        anzugehen. Auf diese Weise können
Werner Lemke: Das sind rund hundert-    Schnelles Handeln ist nötig, um mög-      wir andere gesellschaftliche Akteu-
tausend Tonnen CO2 im Jahr – allein     liche »Kipp-Punkte« beim Erdklima hin     re motivieren, ebenfalls zu handeln.
78.000 Tonnen aus unserem Gebäude-      zu einem Heißklima zu verhindern.         Jedoch sind unsere finanziellen Mittel

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