Journal - Kassenärztliche Vereinigung Hamburg

 
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Journal - Kassenärztliche Vereinigung Hamburg
Rundschreiben des Vorstandes der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg   ISSN 2568-9517   9/ 2021

                                                                         journal

                 TOXISCHER
                WETTBEWERB
                       Die Kommerzialisierung
             der Versorgung bringt Ärztinnen und Ärzte
                     in berufsethische Konflikte.

    ELEKTRONISCHE AU                                      STURZRISIKO-ASSESSMENT
Welche Voraussetzungen sind nötig?                      Ritual oder wissenschaftlich begründet?
Journal - Kassenärztliche Vereinigung Hamburg
IMPRESSUM

Das KVH-Journal enthält Informationen für den Praxisalltag, die für das
gesamte Team relevant sind. Bitte ermöglichen Sie auch den nichtärztlichen
Praxismitarbeiterinnen und -mitarbeitern Einblick in dieses Heft.

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KVH-Journal
der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg
für ihre Mitglieder und deren Mitarbeiter
ISSN (Print) 2568-972X
ISSN (Online) 2568-9517
Erscheinungsweise monatlich
Abdruck nur mit Genehmigung des Herausgebers
Namentlich gezeichnete Artikel geben die
Meinung des Autors und nicht unbedingt
die des Herausgebers wieder.
VISDP: Walter Plassmann
Redaktion: Abt. Politik und Öffentlichkeitsarbeit
Martin Niggeschmidt, Dr. Jochen Kriens
Kassenärztliche Vereinigung Hamburg,
Humboldtstraße 56, 22083 Hamburg
Tel: 040 / 22802 - 655
E-Mail: redaktion@kvhh.de
Titelillustration: Sebastian Haslauer
Layout und Infografik: Sandra Kaiser
www.BueroSandraKaiser.de
Ausgabe 9/2021 (September 2021)

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Journal - Kassenärztliche Vereinigung Hamburg
EDITORIAL

                              Liebe Leserin, lieber Leser!
                              In dieser Ausgabe des KVH-Journals greifen wir das Thema des 3. Hamburger
                              Versorgungsforschungstags am 1. September 2021 auf: die Ökonomisierung der
                              Medizin. Investoren und Gesundheitskonzerne dringen aktuell immer weiter
                              in die ambulante Versorgung vor. Gefährdet sind damit die leistungsstarken,
                              inhabergeführten Praxen, die wir dringend in unserem ambulanten System
                              brauchen. Sie halten nämlich Tag für Tag höchste Qualität aufrecht.
                                 Diese Praxen arbeiten nach völlig anderen Regeln als investorengeführte
                              MVZ-Ketten. Auch Ärztinnen und Ärzte und Psychotherapeutinnen und Psycho-
                              therapeuten haben nichts dagegen, gutes Geld zu verdienen. Aber in Hamburg
                              leben und arbeiten Menschen in diesen Praxen, die ihr Berufsethos hochhalten.
                              Es geht ihnen zuallererst um Medizin und Therapie, nicht um Wertschöpfung
                              und Gewinnmaximierung.
                                 Mit der Zunahme der Investoren-MVZ nimmt auch die Zahl der Angestellten zu.
                              Und damit wandelt sich auch die Mitgliedschaft in den Gremien der Ärztlichen
                              Selbstverwaltung. All diese angestellten Ärztinnen und Ärzte und Psychothera-
                              peutinnnen und Psychotherapeuten sind uns herzlich willkommen. Wir freuen
                              uns auf ihre Mitarbeit. Doch wir werden das Engagement aller Beteiligten in
                              der Selbstverwaltung benötigen, um den Edelstein ambulante Versorgung am
                              Funkeln zu halten.
                                 In dieser Ausgabe des KVH-Journals lege ich Ihnen besonders das Interview
                              mit Prof. Dr. Marcus Siebolds ans Herz, der unter anderem analysiert, warum
                              die an das Sozialsystem gebundene KV-Praxis ein Handlungsraum ist, in dem
                              Ärztinnen und Ärzte und Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten verhält-
                              nismäßig große Freiheiten haben, ihre Professionalität zu interpretieren (siehe
                              Seite 8). Ärztliche Selbstverwaltung und selbstständige Praxen gehören zusammen.
                              Der KV fällt die Aufgabe zu, sich für die Unabhängigkeit der Praxen stark zu
                              machen – unter anderem, indem sie versucht, die Öffentlichkeit durch Veranstal-
                              tungen wie den Versorgungsforschungstag für das Problem zu sensibilisieren.

                              Ihre Caroline Roos,
                              stellvertretende Vorsitzende der KV Hamburg

KO N TA K T
Wir freuen uns über Reaktionen auf unsere Artikel, über Themenvorschläge und Meinungsäußerungen.
Tel: 22802-655, Fax: 22802-420, E-Mail: redaktion@kvhh.de
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I N H A LT

              Rundschreiben des Vorstandes der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg   ISSN 2568-972X   9/ 2021

                                                                                 journal

                                                                                                                 SCHWERPUNKT
                         TOXISCHER
                        WETTBEWERB                                                                               06_ Nachgefragt: Warum das
                              Die Kommerzialisierung
                    der Versorgung bringt Ärztinnen und Ärzte
                            in berufsethische Konflikte.
                                                                                                                     Vordringen von Investoren in die
                                                                                                                     ambulante Versorgung
                                                                                                                     problematisch ist
                                                                                                                 08_ Interview: Prof. Marcus Siebolds
                                                                                                                     über das pan-industrielle Paradigma,
                                                                                                                     die Entstehung toxischer
                                                                                                                     Gesundheitsmärkte und
                                                                                                                     die Vorteile der Niederlassung
            ELEKTRONISCHE AU                                      STURZRISIKO-ASSESSMENT
        Welche Voraussetzungen sind nötig?                      Ritual oder wissenschaftlich begründet?
                                                                                                                 AU S D E R P R A X I S F Ü R D I E P R A X I S

                                                                                                                 12_ Fragen und Antworten
                                                                                                                 14_ Elektronische AU ab Oktober
                                                                                                                 16_ Neue Angebote für
                                                                                                                     Gruppen-Psychotherapie
                                                                                                                 17_ Finanzielle Förderung für den Abbau
                                                                                                                     von Barrieren

    WEITERLESEN IM NETZ: WWW.KVHH.DE
    Auf unserer Internetseite finden Sie Informationen rund um den Praxisalltag – unter anderem zu Honorar, Abrechnung, Phar-
    makotherapie und Qualitätssicherung. Es gibt alphabetisch sortierte Glossare, in denen Sie Formulare/Anträge und Verträge
    herunterladen können. Sie haben Zugriff auf Patientenflyer, Pressemitteilungen, Telegramme und Periodika der KV Hamburg.

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Journal - Kassenärztliche Vereinigung Hamburg
9/2021

FORUM
                                           N E TZ W E R K
                                           EV I D E N Z B A S I E RT E M E D I Z I N
24_ Flutkatastrophe: Unterstützung für
                                           18_Sturzrisiko-Assessment
    betroffene Praxen                         bei älteren Menschen –
                                              Ritual oder wissen-
S E L B S T V E R WA LT U N G                 schaftlich begründet?

25_ Steckbrief: Dr. Karin Wallenczus
26_ "Frauenförderungskommission"           RUBRIKEN
    der KV Hamburg:                        02_Impressum
    engagierte Frauen gesucht!             03_Editorial

                                           KO L U M N E
VERSORGUNG
                                           22_Zwischenruf
                                              von Dr. Bernd Hontschik
27_ Endspurt im Impfzentrum
28_ KV-Notfallpraxis am Bundeswehr-        FORUM
    krankenhaus ersetzt Notfallpraxis      23_Leserbriefe
    Farmsen                                TERMINKALENDER
29_ Übersicht: Notfallpraxen in            30_Termine und geplante
    Hamburg                                   Veranstaltungen

                                         BI LDNACHWEIS
                                         Titelillustration: Sebastian Haslauer
                                         Seite 7: UPD Patientenberatung; Seite 9: Manfred
                                         Daams / Werbefotografie Köln; Seite 13: Fleur
                                         Priess; Seite 22: Barbara Klemm; Seite 24: picture
                                         alliance / Geisler Fotopress; Seite 27: Jasper
                                         Ramm / Ramp 106; Seite 28: Marco Grundt; Seite
                                         29: Michael Zapf, Bundeswehrkrankenhaus Ham-
                                         burg; Seite 30: Michael Zapf; Melanie Vollmert
                                         auf Grundlage von Lesniewski / Fotolia; Icons:
                                         iStockfoto

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NACHG EFRAGT

IN KOOPERATION
MIT DEM DRITTEN HAMBURGER VERSORGUNGS-
FORSCHUNGSTAG DER KV HAMBURG AM 1.9.2021

Investoren in der
Gesundheitsversorgung:
Wo liegt das Problem?

                                    Mangelnde Transparenz der
                                    Besitzverhältnisse
                                    Die Zahl der Käufe         gibt es weder die Pflicht, Besitzverhältnisse noch Konzern-
                                    von Praxen und MVZ         zusammenhänge vollständig offenzulegen, folglich auch
                                    durch Private-Equity-      eine mangelnde Transparenz über Gewinnabflüsse.
Rainer Bobsin                       Fonds ist in den letzten       Auf Praxen und MVZ bezogen existiert ein »bunter
Fachautor Private Equity            Jahren stark gestiegen     Flickenteppich« recherchierbarer und nicht zu ermit-
im Gesundheitswesen                 – mit einem vorläu-        telnder Abhängigkeiten zwischen folgenden Ebenen:
                                    figen Höhepunkt            1. Private-Equity-Gesellschaft und ihre Fonds, 2. MVZ-
2020. Private-Equity-Gesellschaften erzielen ihre Rendite      Konzern, 3. Träger im Sinne von § 95 SGB V (meist ein
überwiegend aus dem Gewinn beim späteren Weiter-               Krankenhaus), 4. zugelassene MVZ-Trägergesellschaf-
verkauf der übernommenen Unternehmen, weniger aus              ten, 5. einzelne Praxen.
laufenden Erträgen. Durchschnittlich vergehen nur etwa             Das deutsche Handelsregister ist bei den oft anzu-
fünf Jahre zwischen dem Kauf und dem Verkauf von Ge-           treffenden kettenförmig angeordneten Besitzgesell-
sundheits- und Pflegeeinrichtungen. Für die Versorgungs-       schaften im In- und Ausland, vor allem wenn es sich
sicherheit, eine langfristige Planung und die Beschäftigten    um Steueroasen handelt, keine ausreichende Informati-
kann die daraus resultierende Unruhe zum Problem               onsgrundlage.
werden: Jeder Eigentumswechsel bedeutet Neustrukturie-             Damit fehlt gesundheitspolitisch Verantwortlichen
rungen, die in einzelnen Fällen bereits Praxisschließungen     eine wesentliche Basis, um im Sinne eines gesamtgesell-
zur Folge hatten. Obwohl es sich beim Gesundheitswesen         schaftlichen Interessenausgleichs seriös entscheiden zu
um einen Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge handelt,        können.

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NACHG EFRAGT

                                   Konflikt zwischen Patientenwohl
                                   und ökonomischen Interessen
                                     Die Befürchtung, dass    sondern potenziell schädlich sind. Aus Patientensicht
                                     beim Arztbesuch das      gibt es die Angst, dass noch systematischer und effizien-
                                     Patientenwohl mit        ter „geigelt“ werden würde, wenn große Unternehmen
Dr. Johannes Schenkel                den ökonomischen         und Investoren die Spielregeln in der ambulanten
ärztlicher Leiter der UPD Patienten­ Interessen der medizi-   Versorgung bestimmen würden. Eine stärkere Gewinn­
beratung Deutschland                 nischen Einrichtung      orientierung könnte auch dazu führen, dass keine Zeit
                                     in Konflikt kommen       mehr vorhanden ist für das Arzt-Patienten-Gespräch
könnte, ist ein großes Thema in unserer Patientenbera-        oder für gemeinsame, strukturierte Entscheidungspro-
tung. Dabei geht es vor allem um zwei Bereiche: indivi-       zesse (Shared Decision Making). Solche Gespräche kosten
duelle Gesundheitsleistungen (IGel) und Zeitmangel in         Zeit, die nicht bezahlt wird. Menschen, die medizinische
der Sprechstunde. Patientinnen und Patienten äußern           Versorgung benötigen, wünschen sich eine zugewandte,
immer wieder den Verdacht, dass ihnen unnötige                patientenorientierte Medizin – keine Versorgung durch
Leistungen aufgedrängt werden sollen – und manchmal           Leistungserbringer, denen kaufmännische Leiter und
stellen wir fest, dass diese Leistungen nicht nur unnötig,    Investoren im Nacken sitzen.

                                   Normale Niederlassung
                                   wird schwieriger
                                   Der deutsche Gesund-       nachrückenden Ärztegeneration zunehmend schwieri-
                                   heitsmarkt ist für         ger, sich gerade in den beschriebenen Fachdisziplinen
                                   internationale Finan-      niederzulassen. Die hier gezahlten Übernahmepreise
Daniel Zehnich                      zinvestoren attraktiv,    an die abgebenden Ärztinnen und Ärzte überschreiten
Leiter Bereich Gesundheitsmärkte    gerade die ambulante      häufig die Investitionsbereitschaft und auch -fähigkeit
und Gesundheitspolitik der          Versorgung mit ihrer      potenzieller Existenzgründerinnen und Existenzgrün-
Dt. Apotheker- und Ärztebank
                                    stark fragmentierten      der. Fakt ist: Investoren haben inzwischen sowohl in
                                    Struktur steht zuneh-     die stationäre als auch in die ambulante Versorgung
mend im Fokus. Die Größe und die damit verbundene             Einzug gehalten. Grundsätzlich haben sie ein Interesse,
Kapitalstärke erleichtert es ihnen, in geräte- und damit      Skaleneffekte auszunutzen und hohe Renditen zu
häufig auch kapitalintensive Fachrichtungen zu inves-         erzielen. Generell herrscht jedoch zu wenig Transpa-
tieren, wie zum Beispiel Labor, Nephrologie, Radiologie       renz darüber, welche Investoren sich in welchem
und Augenheilkunde. Dort ist ein Eintritt dieser Player       Ausmaß im Gesundheitsmarkt engagieren. Es sollte
schon seit längerer Zeit zu verzeichnen. Perspektivisch       auch hinterfragt werden, inwieweit hier Chancen-
werden sicherlich auch weitere Facharztrichtungen             gleichheit für alle Akteure besteht. Insgesamt gilt es
betroffen sein, insbesondere die mit hohen Selbstzah-         aber vor allem sicherzustellen, dass ökonomische Inter-
lerleistungen, wie etwa die Dermatologie. Der Aufkauf         essen nicht vor die medizinische Unabhängigkeit
von Praxen durch private Investoren macht es der              gestellt werden.

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                                                   MEDIZINETHIK

                        »Historischer
                          Fehler«
                                  Die Kommerzialisierung der Versorgung bringt
                                 Ärztinnen und Ärzte in berufsethische Konflikte.
                                 INTERVIEW mit PROF. DR. MARCUS SIEBOLDS
                               über den Siegeszug des pan-industriellen Paradigmas,
                                die Entstehung toxischer Gesundheitsmärkte und
                                          die Vorteile der Niederlassung.

Die Gewährleistung der Gesund-            dermaßen beschrieben: Es bildet sich     Markt. Wer hier investiert, hat eine
heitsversorgung ist eine öffent-          ein „esoterischer Kreis“ aus Experten.   Finanzierungsgarantie, denn das
liche Aufgabe. Weshalb hat die            Diese vertreten mit Nachdruck eine       Geld für die Leistungen wird über
Politik diesen Bereich für Unter-         Überzeugung, die trotz fehlender         ein gesetzlich geregeltes Solidar-
nehmen und Investoren geöffnet?           Empirie irgendwann als Tatsache          system aufgebracht. Die Finan-
SIEBOLDS: Unter Experten und in           wahrgenommen wird. Der „exote-           zierungsgarantie hatte allerdings
weiten Teilen der Politik hat sich        rische Kreis“ – also verantwortliche     ursprünglich einen ganz anderen
die Vorstellung durchgesetzt, dass        Politiker, öffentliche Verwaltung,       Sinn: nämlich den Bürgerinnen und
die Bewältigung gesellschaftlicher        Krankenhausträger – übernehmen           Bürgern zu garantieren, dass sie
Aufgaben nur nach einer industriell-      diese Überzeugung und übersetzen         die von der Gesellschaft zugesagte
betrieblichen Logik funktioniert:         sie in Organisationsstrukturen. Das      Solidarität wirklich empfangen. Es
Wettbewerb, Kosteneinsparung,             große Problem ist: Das pan-industri-     gibt also einen gesellschaftlichen
Effizienzsteigerung. Dieses pan-          elle Paradigma wird überhaupt nicht      Grundwiderspruch zwischen garan-
industrielle Paradigma ist ein            mehr hinterfragt, es wird als alterna-   tierter Solidarität und erlaubter
Ordnungsprinzip und Denkstil der          tivlos dahingestellt.                    Wertschöpfung. Diesen Wider-
Gesellschaft geworden – nicht nur                                                  spruch konnte die Gesellschaft
in der Krankenversorgung, sondern         Weshalb interessieren sich profit­       historisch an frei-gemeinnützige,
auch in anderen Bereichen der             orientierte Unternehmen überhaupt        kommunale Träger im Kranken-
Daseinssicherung. Die Verbreitung         für die medizinische Versorgung?         hausbereich und an Kassenärztli-
eines solchen Denkstils hat der Arzt      SIEBOLDS: Die Gesundheitswirt-           che Vereinigungen im Bereich der
und Philosoph Ludwig Fleck folgen-        schaft ist ein äußerst attraktiver       ambulanten Versorgung abgeben,

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                 Prof. Dr. Marcus Siebolds ist Internist und ärztlicher Psychotherapeut.
                 Er hat die Professur für Medizinmanagement an der Katholischen Hochschule
                 Nordrhein-Westfalen, Fachbereich Gesundheitswesen, inne.

wobei es immer eine unbedingte         diesen gesellschaftlichen Grund-         heit und mit den Ängsten, die das
Gemeinwesenbindung gab mit             widersprüchen umzugehen. Der             Vorhandensein einer Krankheit aus-
einem Verbot von Wertschöpfung         Markt kennt nur eine einzige Größe,      löst. Die Irrationalität wächst mit
außerhalb regulierter Grenzen. Das     nämlich die Maximierung der Wert-        der existenziellen Bedrohung. Die
pan-industrielle Paradigma entlässt    schöpfung. Anders darf ein Unter-        Patienten geraten in eine abhängige
den Staat nun aber aus der Notwen-     nehmen sich nicht verstehen. Die         Situation und sind darauf angewie-
digkeit, diese Spannung zwischen       Geschäftsführung ist auf dieses Ziel     sen, sich den Ärztinnen und Ärzten
garantierter Solidarität und erlaub-   verpflichtet – wenn sie es missach-      anzuvertrauen. Bei der gemeinsa-
ter Gewinnmaximierung auszuta-         tet, betreibt sie Missmanagement.        men Entscheidungsfindung stehen
rieren. Experten und Politiker sind    Der Patient wird als Kunde wahr-         die Wertepräferenz der Patienten
der Ansicht: „Der wettbewerbliche      genommen, und die Versorgung als         und die Vorgaben des SGB V oft
Markt mit einem politisch instal-      personennahe Dienstleistung. Die-        in einem zentralen Widerspruch,
lierten Nebeneinander von gemein-      ses Anbieter-Kunden-Konzept geht         zwischen dem die Ärzte vermit-
nützigen, öffentlichen und investo-    von vernünftigen, voll beherrschba-      teln und einen Kompromiss finden
rengetragenen Leistungsanbietern       ren Prozessen aus. Doch die medizi-      müssen. Ein Krankenhaus oder ein
wird es richten.“ Ich halte das für    nische Versorgung ist geprägt von        Versorgungszentrum, das sich als
einen historischen Fehler.             den irrationalen Potenzialen der         Wirtschaftsunternehmen versteht,
                                       Krankheit. Wer in der medizinischen      muss versuchen, irrationale Poten-
Weshalb?                               Versorgung arbeitet, muss umgehen        ziale möglichst gering zu halten.
SIEBOLDS: Gewinnorientierte Un-        mit den Ängsten der Patienten –          Es muss sich auf Patientinnen und
ternehmen sind nicht dazu da, mit      mit den Ängsten vor einer Krank-         Patienten konzentrieren, an denen

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man DRG oder EBM Klassifizierun-           rerseits sind sie normativ gebunden      gleichzeitig einerseits Geschäftsfüh-
gen pro­blemlos durchdeklinieren           durch das Heilberuferecht: Sie dürfen    rer einer GBR (ihrer Praxis) und an-
kann: neue Hüfte, neues Knie, Stent,       die Interessen Dritter nicht über die    dererseits professionelle Ärzte, die
technische Diagnostik – möglichst          Interessen ihrer Patientinnen und        dem Wohl ihrer Patienten, gemäß
schnell, möglichst viel, möglichst         Patienten stellen – auch nicht die       ihrer Berufsordnung, verpflichtet
kostengünstig.                             Interessen ihres Arbeitgebers. In ei-    sind. Der regulatorische Rahmen der
                                           nem profitorientierten Unternehmen       Kassenärztlichen Vereinigung lässt
Das gilt für privatisierte Kranken-        interessiert dieser Teil des Heilberu-   im Spannungsfeld dieser beiden
häuser. Aber muss ein gemeinnüt-           ferechts niemanden mehr. Wichtig         Rollen einen gewissen Gestaltungs-
ziges Krankenhaus dieser Logik             ist nur, dass keine Straftatbestände     spielraum zu. Der Praxisinhaber
folgen?                                    oder zivilrechtlichen Schadensfälle      kann die Praxis sehr sozial ausrich-
SIEBOLDS: Sobald es Versorgungs-           auftreten und dass die messbaren         ten, dann wird die Wertschöpfung
einheiten gibt, die als Wirtschafts-       Qualitäts-Standards eingehalten wer-     zwar geringer ausfallen, doch er
unternehmen agieren und auf                den. Das professionelle Ethos und die    kann davon leben. Er kann seine
Investoren-Interessen ausgerichtet         Kontrolle der irrationalen Potenziale    Praxis auch auf maximale Wert-
sind, entsteht ein toxischer Markt.        werden abgeschoben in den Privat-        schöpfung ausrichten und deutlich
Krankenhäuser, die am Ende nur die         bereich der Ärztinnen und Ärzte oder     mehr verdienen, doch die Rendi-
ertrags-unattraktiven, mit irratio-        Psychotherapeutinnen und Psycho-         temöglichkeiten sind begrenzt.
nalem Potenzial behafteten Fälle           therapeuten. Das nenne ich einen         Weil beide Rollen in einer Person
bekommen, werden unwirtschaft-             Rollenmissbrauch – und das ist mei-      integriert sind, muss der Inhaber
lich. Renditesteigerung lässt sich         nes Erachtens ein wichtiger Grund        diese Balance für sich selbst finden.
                                                                                    Das KV-System ist eine der großen
                                                                                    Hinterlassenschaften der Bonner
     "Ärztliche Ethik? Für profitorientierte                                        Republik, weil es Handlungsräu-
     Unternehmen ist das nur die Privatsache                                        me schafft, in denen Ärzte und
     der angestellten Ärztinnen und Ärzte."                                         Psychotherapeuten frei über die
                                                                                    Interpretation ihrer Professionalität
                                                                                    im Rahmen ihrer KV Mitgliedschaft
in meinem Verständnis nur durch            für die Frustra­tion der Krankenhaus-    entscheiden können.
Risikoselektion und eine maximale          Angestellten. Früher konnten auch
Ausnutzung der Arbeitskraft von            angestellte Ärzte die beiden Rollen      Sind Vertragsärzte und Vertrags-
Ärzten und Psychotherapeutinnen            einigermaßen adäquat ausüben.            psychotherapeutinnen dem Ge-
realisieren.                               Es gab eine ärztliche Leitung, die       meinwohl verpflichtet?
                                           zusammen mit ihren Mitarbeitenden        SIEBOLDS: Ja, selbstverständlich.
Was bedeutet die Kommerzialisie-           zugesehen hat, dass der Laden läuft –    Sie sind Teil des Solidarsystems. Die
rung der Medizin für die angestell-        aber in ihren ärztlich-professionellen   Selbstverwaltung vergibt Versor-
ten Ärztinnen und Psychothera-             Entscheidungen unantastbar war.          gungsaufträge an Ärztinnen und
peuten?                                    Diese Unantastbarkeit ist in Kranken-    Psychotherapeuten, die damit auch
SIEBOLDS: Die angestellten Ärzte           häusern oder Versorgungszentren,         das Mandat übernehmen, in jedem
und Psychotherapeutinnen geraten           die sich als Wirtschaftsunternehmen      Einzelfall die durch das Solidarsys-
in eine Doppelrolle. Einerseits sind sie   verstehen, verloren gegangen.            tem vorgegebene Kostenkontrolle
Angestellte. Gemäß ihrem Arbeitsver-                                                gegen die Erwartungen der Patien-
trag müssen sie sich loyal gegenüber       Und wie ist die Situation in den         ten abzuwägen und pragmatische
dem Arbeitgeber verhalten und ihre         Praxen?                                  Kompromisse zu finden. Die KV
Leistung auf dessen legitimes Profit-      SIEBOLDS: Die Inhaber einer klassi-      schützt die Professionalität ihrer
maximierungsziel ausrichten. Ande-         schen vertragsärztlichen Praxis sind     Mitglieder vor der Bedrohung

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durch einen toxischen Markt –            pflichtet sind. Es besteht die Gefahr,   Debatte haben wir die berufspoliti-
und garantiert ihnen gleichzeitig        dass die KV durch die Interessen         sche Aufgabe, nachfolgende Genera-
eine relativ große wirtschaftliche       von Unternehmen und Investoren           tionen für die Freiberuflichkeit in
Sicherheit und Gestaltungsspiel-         kontaminiert wird. Das ist meiner        Selbstständigkeit zu gewinnen.
räume.                                   Ansicht nach verfassungsrechtlich        Trotz allem Ärger über Bürokratie
                                         problematisch. Unternehmen und           und Reglementierung weisen die
Funktioniert diese Übereinkunft          Investoren dürfen sich nicht in eine     Vertragsärztinnen und Vertragspsy-
auch in ärztlich geleiteten MVZ?         Körperschaft des öffentlichen Rechts     chotherapeuten eine vergleichswei-
SIEBOLDS: Ja. Wenn ein Vertrags-
arztärztin oder ein Vertragsarzt
die Leitung des MVZ innehat, ist            "Die KV schützt die Professionalität
sie oder er ebenfalls dem regu-
latorischen Rahmen der KV und
                                            ihrer Mitglieder vor der Bedrohung
der normativen Bindung durch                durch einen toxischen Markt."
das Kammerrecht unterworfen.
Doch sobald das MVZ eine nicht-
ärztliche Leitung erhält, können         einkaufen und dort mitbestimmen,         se hohe Berufszufriedenheit auf. Sie
die angestellten Ärzte in dasselbe       da diese eben nicht ad personam an       haben ein dauerhaft sicheres
Dilemma kommen wie die Kolle-            die entsprechenden Berufsordnun-         Einkommen und den Freiraum,
gen im Krankenhaus. Das ärztliche        gen gebunden sind.                       eine gemeinwohlgebundene
Ethos gerät unter Druck und wird                                                  medizinische Versorgungseinheit
zur Privatsache.                         Wie müsste die Gesellschaft auf          in gewissen Grenzen nach ihren
                                         die zunehmende Industrialisie-           Vorstellungen zu gestalten. Sie
Darf die KV zulassen, dass Unter-        rung der Gesundheitsversorgung           können ihren Beruf familien-
nehmen oder Investoren in die            reagieren?                               freundlich und nach eigenen
ambulante Versorgung vordrin-            SIEBOLDS: Die Krankenhäuser sind         Bedürfnissen interpretieren, ohne
gen?                                     bereits zu einem Drittel privatisiert.   mit dem ärztlichen Ethos in unlös-
SIEBOLDS: Die KV ist die Wächterin       Wir sollten kritisch darüber disku-      bare Konflikte zu geraten. Sie haben
der Gemeinwohlbindung der medi-          tieren, wie man den Respekt vor          die Möglichkeit, in ihren Praxen
zinischen Versorgung im ambulan-         dem Eigentum der Unternehmen             Menschlichkeit und die intellektuel-
ten Versorgungssektor. Die an der        und Investoren abwägt gegen den          len Herausforderungen des wissen-
vertragsärztlichen oder vertrags-        Respekt vor dem berechtigten             schaftsbasierten Arbeitens zusam-
psychotherapeutischen Versorgung         Interesse der Bürger, von Ärzten und     menzubringen. Und sie erleben
Teilnehmenden sind Zwangsmitglie-        Psychothera­peutinnen behandelt zu       Selbstwirksamkeit, Sinnhaftigkeit
der der KV, weshalb sich alle Interes-   werden, die professionell unabhän-       und die Inspiration, die von der
sengruppen in der Selbstverwaltung       gig arbeiten können. Und wir             professionellen Begegnung mit den
auf Kompromisse einigen müssen.          müssen darüber diskutieren, ob wir       Kranken ausgeht. Das ist doch
Es gibt einen demokratischen             auch die ambulanten Versorgungs-         großartig. Wer hat das schon?
politischen Diskurs im öffentlich-       einheiten einem toxischen Wettbe-
rechtlichen Rahmen, bei dem die          werb aussetzen wollen, in dem            Interview: Martin Niggeschmidt
Solidaritätszusage in Verteilungs-       profitorientierte Unternehmen den
und Versorgungsentscheidungen            Takt angeben. Krankenversorgung           IN KOOPERATION
übersetzt wird. Doch nun kommen          lässt sich eben nicht unendlich           MIT DEM DRITTEN HAMBURGER
Angestellte von renditeorientierten      rationalisieren, optimieren und           VERSORGUNGSFORSCHUNGSTAG
Versorgungseinheiten in die KV-Gre-      industrialisieren. Neben der Beteili-     DER KV HAMBURG AM 1.9.2021
mien, die ihren Arbeitgebern ver-        gung an einer gesellschaftlichen

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AU S D E R P R A X I S F Ü R D I E P R A X I S

Fragen und Antworten
In dieser Rubrik greifen wir Fragen des Praxisalltags auf, die unserem Infocenter
gestellt wurden. Wenn Sie selbst Fragen haben, rufen Sie bitte an.
Infocenter Tel: 22802-900

                       TELEMATIKINFRASTRUKTUR                            KREBSFRÜHERKENNUNGSPROGRAMME
                       Mein PVS-Anbieter hat mir das Up-                 Wann läuft die Frist für die elektro-
                       date der elektronischen Patienten-                nische Übermittlung der Dokumen-
                       akte (ePA) installiert. Wie kann ich              tationsdaten für die organisierte
                       die Erstattungskosten gegenüber                   Darm- und Zervixkarzinom-Früh­
                       der KV Hamburg geltend machen?                    erkennungsprogramme ab?
                       Für die Kosten der Installierung der Komponen-    Trotz der Verlängerung der Lieferfristen sind
                       ten zur ePA hat die KV Hamburg einen unbüro-      alle Praxen auch weiterhin grundsätzlich ver-
                       kratischen Auszahlungsprozess vorbereitet, bei    pflichtet, ihre Dokumentationen für die oKFE-
                       dem automatisch durch das PVS in der einge-       Programme regelmäßig quartalsweise an die
                       reichten Abrechnungsdatei die Anspruchsbe-        zuständige Datenannahmestelle zu übermit-
                       rechtigung durch Kennzeichnung eines ent-         teln, sofern innerhalb ihres Praxisverwaltungs-
                       sprechenden KVDT-Feldes nachgewiesen wird.        systems keine technischen Umsetzungspro-
                       Es ist daher nicht notwendig, eine Pseudoziffer   bleme bei der Erfassung und Übertragung der
                       anzusetzen oder eine Rechnung einzureichen.       Dokumentationen bestehen. Nur für den Fall,
                                                                         dass eine fristgerechte Datenübermittlung für
                       TERMINSERVICESTELLE                               die Quartale eins bis vier 2021 aus technischen
                       Wurde die Nummer der Terminser-                   Gründen nicht möglich ist, kann eine Übermitt-
                       vicestelle für dringende Termine                  lung bis spätestens 28. Februar 2022 erfolgen.
                       geändert?                                         Bitte beachten Sie, dass die Dokumentations-
                                                                         verpflichtung weiterhin bestehen bleibt und
                       Ja. Zum 1. Januar 2020 wurde die alte Nummer      die Sonderregelung befristet vom 1. Oktober
                       der Terminservicestelle durch die bundesweite     2020 bis 31. Dezember 2021 gilt.
                       Telefonnummer 116117 ersetzt. Hier erreichen
                       Patienten nicht nur den Bereitschaftsdienst,      ARBEITSUNFÄHIGKEITSBESCHEINIGUNG
                       sondern auch die Terminservicestelle. Diese hat   Ich bin Frauenärztin. Meine Patien-
                       Montag bis Freitag von 8-18 Uhr Sprechzeiten.     tin befindet sich derzeitig im Mut-
                       Die neuen Flyer können Sie über die Homepage      terschutz. Darf ich sie krankschrei-
                       der KV Hamburg beziehen: https://www.kvhh.        ben?
                       net/de/praxis/infomaterialbestellung.html
                                                                         Nein. Nach der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie
                                                                         §3 Absatz 2 kann keine Arbeitsunfähigkeits-
                                                                         bescheinigung ausgestellt werden, da für die
                                                                         Dauer der Mutterschutzfristen das Arbeitsver-
                                                                         hältnis ruht. Dasselbe gilt für die Elternzeit.

12   |   KV H - J O U R N A L                                                                                     9/2021
AU S D E R P R A X I S F Ü R D I E P R A X I S

DATENSCHUTZ                                           CORONAIMPFUNG
Kann mein Patient eine Löschung                       Meine Praxis wird urlaubsbedingt
von Behandlungsdokumentationen                        für zwei Wochen schließen. Können
trotz Aufbewahrungsfrist verlan-                      wir die Zweitimpfungen dann ver-
gen?                                                  schieben? Oder müssen die Abstän-
                                                      de zwischen Erst- und Zweitimp-
Nein. Die gesetzlichen Aufbewahrungsfristen
                                                      fung eingehalten werden?
müssen beachtet werden. Innerhalb dieser
Fristen kann Ihr Patient die Löschung von Be-         Die von der STIKO empfohlenen zeitlichen
handlungsdokumentationen nicht verlangen.             Abstände zwischen Erst- und Zweitimpfung er-
Ärztliche Unterlagen sind grundsätzlich für           lauben eine flexible Terminplanung: BionTech/
die Dauer von zehn Jahren nach Abschluss der          Pfizer 3-6 Wochen, Moderna 4-6 Wochen, Ast-
Behandlung aufzubewahren, soweit nicht nach           raZeneca (homolog) 9-12 Wochen, AstraZeneca
anderen gesetzlichen Vorschriften längere oder        & mRNA-Impfstoff (heterolog) ab 4 Wochen.
kürzere Aufbewahrungsfristen bestehen (vgl.           Sollte der empfohlene maximale Abstand zwi-
§ 10 Abs. 3 BO der ÄK, § 57 Abs. 2 BMV-Ä und ­        schen der ersten und zweiten Impfstoffdosis
§ 630f Abs. 3 BGB).                                   dennoch überschritten worden sein, kann die
                                                      Impfserie fortgesetzt werden und muss nicht
PSYCHOTHERAPIE                                        neu begonnen werden. Es besteht aber auch
Ich bin Psychotherapeutin. Muss                       die Möglichkeit, die Zweitimpfungen von der
ich eine Rezidivprophylaxe am                         Vertreterpraxis durchführen zu lassen.
Ende einer Therapie noch einmal
gesondert von der Krankenkasse                         Infocenter Tel: 22802-900
genehmigen lassen?
Nein, eine Rezidivprophylaxe kann nicht isoliert
beantragt werden, da der Antrag in der Lang-
zeittherapie anzugeben ist. Dafür ist es wichtig,
                                                  Ihre Ansprechpartner im Infocenter der KV Hamburg
dass Sie bei der Frage „Soll nach Abschluss der   (v.l.n.r.): Monique Laloire, Petra Timmann, Katja Egbers,
Behandlung eine Rezidivprophylaxe durchge-        Robin Schmidt, Christine Pöpke
führt werden?“ auf dem PTV 2 beim letzten
Antrag einer Langzeittherapie „ja“ oder „noch
nicht absehbar“ ankreuzen. Nur dann ist eine
Rezidivprophylaxe nach Therapieende möglich.

9/2021                                                                                                KV H - J O U R N A L   |   13
AU S D E R P R A X I S F Ü R D I E P R A X I S

Start der elektronischen AU
Ab 1. Oktober müssen Praxen die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen elektronisch an die
Krankenkassen verschicken. Bitte bestellen Sie jetzt die dafür notwendigen Komponenten!

                       Mit Beginn des vierten Quartals ändert sich das Prozedere bei
                       der Ausfertigung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU).        Schritt für Schritt
                       Von diesem Stichtag an sind Arztpraxen dazu verpflichtet, die       Neuer Arbeitsablauf bei der
                       Daten der AU elektronisch an die Krankenkassen zu übermitteln.      Ausstellung einer AU ab
                                                                                           1. Oktober 2021
                       Die Bescheinigungen für Arbeitgeber und Versicherte werden
                       aber weiterhin in Papierform ausgegeben. Vertragsärztinnen          ● AU im PVS aufrufen und
                                                                                           befüllen
                       und Vertragsärzte drucken sie aus dem Praxisverwaltungssys-         ● Daten elektronisch signieren
                       tem aus, unterschreiben sie und geben sie den Patienten mit. (Ab    (mit eHBA)
                       Anfang 2022 soll auch die Bescheinigung für den Arbeitgeber         ● "Drucken und Versenden"
                                                                                           auswählen und anklicken.
                       elektronisch übermittelt werden. Diese Aufgabe werden dann die
                                                                                           ● im neuen Fenster "Bestäti-
                       Krankenkassen übernehmen.)                                          gen" anklicken
                                                                                           ● PVS startet elektronische
                       VORAUSSETZUNGEN                                                     Übermittlung via KIM an die
                                                                                           Krankenkasse.
                       Um die AU elektronisch an die Krankenkassen verschicken zu          ● Ausdrucke für Arbeitgeber
                       können, benötigen die Praxen folgende Komponenten:                  und Patienten unterschreiben
                       ● KIM („Kommunikation im Medizinwesen“): Dieser E-                  und dem Patienten mitgeben
                       Mail-Dienst wird für den sicheren Versand von Dokumenten
                       benötigt. Es gibt mehrere Anbieter von KIM-Diensten, alle sind
                       untereinander kompatibel. Mit „kv.dox“ ist auch ein KIM-Dienst     ÜBERGANGSREGELUNG
                       der KBV verfügbar (siehe rechte Seite). Falls Sie noch keinen      Praxen, die bis zum Stichtag
                       KIM-Dienst haben, sollten Sie ihn so bald wie möglich bestellen.   noch nicht über die nötigen
                       Bestellung kv.dox: www.kvdox.kbv.de                                technischen Voraussetzungen
                       Übersicht andere Anbieter: https://fachportal.gematik.de/zulas­    verfügen, können übergangs-
                       sungs-bestaetigungsuebersichten (unter „Produkttyp“ bitte          weise bis zum 31. Dezember
                       „Anbieter sVÜmD_KOM-LE“ auswählen)                                 2021 das alte Verfahren
                       ● eHBA (elektronischer Heilberufsausweis): Für die elektro-        anwenden. Bis dahin ist auch
                       nische Signatur der AU-Bescheinigungen benötigen Sie einen         noch die Nutzung des „gelben
                       eHBA der zweiten Generation. Wer am 1. Oktober noch keinen         Scheins“ (Muster 1) möglich.
                       eHBA hat, kann übergangsweise die SMC-B-Karte zum Unter-
                       schreiben nutzen. Eine SMC-B-Karte haben alle an die TI ange-      Video der KBV zur eAU:
                       schlossenen Praxen.                                                https://bit.ly/3xkElpS
                       ● Praxisverwaltungssystem-Update für eAU: Bitte fragen Sie
                       Ihren IT-Dienstleister, wann er das eAU-Modul zur Verfügung        Ansprechpartner: KV Hamburg
                                                                                          Online-Services,
                       stellen kann.                                                      E-Mail: online-services@kvhh.de
                       ● Update des TI-Konnektors mindestens auf eHealth-Konnek-          Tel: 22802 -588 / -554 / -539
                       tor (PTV3-Konnektor) – besser aber auf ePA-Konnektor (PTV4-
                       Konnektor)
                       ● eventuell zusätzliche Kartenterminals in Sprechzimmern..

14   |   KV H - J O U R N A L                                                                                      9/2021
Mit Sicherheit                                                                Warum kv.dox als KIM-Dienst?
medizinisch vernetzt:
kv.dox, der KIM-Dienst
der Kassenärztlichen
Bundesvereinigung
                                                                              DER KIM-DIENST VON                EINE KIM-ADRESSE,
Arztbriefe, Befunde oder AU-Bescheinigungen sicher                            ÄRZTEN FÜR ÄRZTE:                 EIN PREIS:
und dennoch so einfach versenden wie eine E-Mail                              Als Interessensvertretung         Sie zahlen 6,55 €* zzgl.
                                                                              der Vertragsärzte und Ver-        MwSt. monatlich – egal,
an die Freundin oder den Freund: Mit kv.dox geht das.                         tragspsychotherapeuten            wie viele Nachrichten Sie
kv.dox ist der Dienst für Kommunikation in der Medi-                          bietet die KBV ein pass-          versenden. Es fallen keine
zin (KIM), den die KBV für Vertragsärzte und Vertrags-                        genaues Angebot.                  Einrichtungsgebühren an.
psychotherapeuten bereitstellt. Mit kv.dox können
Sie Dokumente innerhalb der Telematikinfrastruktur
(TI) direkt aus Ihrem Praxisverwaltungssystem (PVS)
sicher und einfach verschicken – an die ärztliche
Kollegin genauso wie an den Apotheker, das Kranken-
haus, Pflegeheim oder Ihre Kassenärztliche Vereini-
gung. kv.dox passt zu allen Praxisverwaltungssyste-
men und allen E-Health-Konnektoren.
                                                                              UNBEGRENZTE ANZAHL                HOHE FLEXIBILITÄT
                                                                              AN NACHRICHTEN:                   UND BESTER SERVICE:
                                                                              Mit kv.dox können Sie so          kv.dox passt zu jedem
                                                                              viele Nachrichten, Arzt-          PVS und ist monatlich
  kv.dox: nur für KV-Mitglieder                                               briefe oder AU-Bescheini-         kündbar. Das Serviceteam
                                                                              gungen digital versenden,         von kv.dox steht Ihnen
                                                                              wie Sie möchten.                  kostenfrei zur Verfügung.

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                                                                            Über das Portal www.kvdox.kbv.de können Sie kv.dox ganz
    eine unbegrenzte Anzahl von Nachrichten
                                                                            einfach online bestellen und installieren. So geht’s:
    die Bereitstellung KIM (inklusive Clientmodul)**
    der technische Support                                                  1 KIM-Adresse bestellen und Registrierungscode erhalten

  Für die Finanzierung eines KIM-Dienstes                                   2 kv.dox-Clientmodul installieren
  erhält jede Praxis folgende Förderung:
    einmalig: 100 € für die Einrichtung des Dienstes                        3 KIM-Mailadresse im zentralen Verzeichnisdienst registrieren
    monatlich: 7,80 € für die laufenden Betriebskosten
                                                                            4 kv.dox in das Praxisverwaltungssystem einbinden lassen
  * plus 3,03 € Rechnungspauschale zzgl. MwSt. pro Quartal
  ** das KIM Clientmodul wird vom Kunden selbst installiert und betrieben
                                                                            5 Nachrichten sicher online versenden
AU S D E R P R A X I S F Ü R D I E P R A X I S

Neue Regelungen für
Psychotherapie in Gruppen ab Oktober

Z    ur Förderung von Grup-
     pentherapien hat der
Gemeinsame Bundesaus-
                                    Minuten durchgeführt werden
                                    (oder achtmal 50 Minuten).
                                    Um den niedrigschwelligen
                                                                     50-Minuten-Schritten durch-
                                                                     geführt werden können.

schuss neue Angebote in die         Zugang abzusichern, gibt es      Vereinfachungen im Gutach-
vertragspsychotherapeutische        kein Anzeige- oder Antragsver-   terverfahren
Versorgung aufgenommen              fahren bei der Krankenkasse.     Gruppentherapie und Kom-
und die Gruppentherapie                                              binationsbehandlung mit
insgesamt flexibler ausgestal-      Probatorik im                    überwiegend Gruppentherapie
tet. Die Neuerungen gelten ab       Gruppensetting                   werden nicht mehr regelhaft
1. Oktober. Ziel ist es, dass die   Eine weitere Neuerung ist,       begutachtet. In Einzelfällen
Gruppentherapie insgesamt           dass probatorische Sitzungen     sind Begutachtungen weiter-
einen höheren Stellenwert           auch in der Gruppe erfolgen      hin möglich, zum Beispiel bei
erhält.                             können. Bisher waren proba-      Überschreitung der Kontin-
                                    torische Sitzungen ausschließ-   gentgrenzen.
Gruppenpsychothera-                 lich im Einzelsetting möglich.
peutische Grundversorgung           Gruppentherapie-Patienten        Gruppentherapie kann außer-
Gänzlich neu ist die Grup-          und Gruppen-Probatorik-Pa-       halb der Praxis stattfinden
penpsychotherapeutische             tienten können gleichzeitig in   Gruppenpsychotherapeutische
Grundversorgung. Dieses             gemischten Gruppensitzungen      Grundversorgung, Gruppen-
niedrigschwellige Angebot soll      behandelt werden                 therapie und Probatorik im
Patientinnen und Patienten                                           Gruppensetting darf auch
die Möglichkeit geben, vor ei-      Gruppentherapie zu zweit         außerhalb der eigenen Praxis-
ner Richtlinien-Psychotherapie      leiten                           räume in anderen geeigneten
für sich selbst zu prüfen, ob       Künftig können Richtlinien-      Räumlichkeiten stattfinden.
eine Gruppentherapie für sie        Gruppentherapien ab sechs
infrage kommt. Außerdem             Teilnehmern auch zu zweit        Übersicht zu den neuen GOP
kann hier an einer ersten Sym-      geleitet werden. Einer von       und zur Vergütung:
ptomlinderung gearbeitet wer-       beiden ist dabei für jedes       www.kbv.de/
den. Die Gruppenpsychothe-          Gruppenmitglied „hauptver-       html/1150_53605.php
rapeutische Grundversorgung         antwortlich“. Die gemeinsame
kann im Anschluss an die            Durchführung kann pra-           Ansprechpartner:
Sprechstunde bis zu viermal je      xisübergreifend organisiert      Team der Abrechnung
                                                                     Tel. 22802-411
Krankheitsfall mit jeweils 100      werden.

                                    Gruppentherapie zeitlich
                                    flexibler
                                    Zu den weiteren Neuerungen
                                    gehört, dass Gruppensitzun-
                                    gen nicht mehr standardmä-
                                    ßig 100 Minuten umfassen
                                    müssen, sondern auch in

16   |   KV H - J O U R N A L                                                                        9/2021
AU S D E R P R A X I S F Ü R D I E P R A X I S

Finanzielle Förderung für den Abbau
von Barrieren
„Aktion Mensch“ unterstützt konkrete Projekte mit bis zu 5000 Euro

            P    raxen können bis zu 5000
                 Euro Förderung von der
            „Aktion Mensch“ erhalten,
                                              men, also beispielsweise einer
                                              Arztpraxis. Die gemeinnützige
                                              Patienten-Initiative e.V., die mit
                                                                                     Informationen zum
                                                                                     Förderprogramm „Eine Barriere
                                                                                     weniger“ der Aktion Mensch:
            wenn sie konkrete Maßnah-         der KV Hamburg eine Koopera-           https://www.aktion-mensch.de/
            men zum Abbau von Barrieren       tion für die Beratung von              foerderung/foerderprogramme/
            ergreifen. Mit diesem Geld        Praxen zur Barrierefreiheit            1barriereweniger
            könnten zum Beispiel eine         unterhält (siehe unten), bietet
            Rampe, eine Patienteninfo in      sich als Tandempartnerin an.
            Leichter Sprache, Haltegriffe     „Wenn eine Praxis eine Idee
            für das WC, ein Hebelifter zum    zum Abbau von Barrieren hat,
            Umsetzen auf eine Untersu-        kann sie sich gerne bei uns
            chungsliege oder der barrie-      melden“, sagt Karen Müller von
            refreie Ausbau einer Website      der Patienten-Initiative e.V. „Wir
            finanziert werden.                beraten und bringen zeitnah            Die Antragstellung übernimmt
               Das Besondere ist, dass zwei   einen Antrag auf den Weg.“ Die         die Patienteninitiative e.V.
                                                                                     Kontakt:
            Partner die Förderung beantra-    finanzielle Förderung kann ein         Kerstin Hagemann /
            gen: Ein gemeinnütziger Träger    Anreiz für Praxen sein, ein            Patienten-Initiative e.V.
            stellt den Antrag zusammen        Projekt zum Abbau von Barrie-          Tel: 23 54 64 98
                                                                                     info@patienteninitiative.de
            mit einem privaten Unterneh-      ren in Angriff zu nehmen.              www.patienteninitiative.de

                                                                          v

 SCHRITT FÜR SCHRITT                                                          Rund 126.000 Menschen in Hamburg haben
                                                                                eine Behinderung. Kommen Sie diesen

IN EINE BARRIEREFREIE
                                                                               Menschen entgegen - Schritt für Schritt.

                                                                                   Mit wenig Aufwand lassen sich
        PRAXIS                 Ansprechpartnerinnen:
                                                                                       große Effekte erzielen.
                                                                                Wir beraten Sie gern und kostenlos.
                                                                               Wir machen Ihre Pluspunkte sichtbar!

                                                                                              Alle Infos auch auf
                                                                                           kvhh.de/Barrierefreiheit

         Wie
     barrierefrei                                                                                                        IEREFR
                                                                                                                       BARR
                                                                                                                                                   EI
                    ?
   ist Ihre Praxis                                                                                                     WIR SIND DABEI.
                   ie
   Wir beraten S                                                                                                              Patienten-Initiative e.V.

      kostenlos  !
                                                                              Die Beratung ist ein gemeinsamer Service der Patienten-Initiative e.V.
                                                                                        und der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg.
N ETZWERK

                                AUS DEM NETZWERK EVIDENZBASIERTE MEDIZIN

                                Sturzrisiko-Assessment
                                 bei älteren Menschen
                                 Ritual oder wissenschaftlich begründet?

D
VON PROF. DR. PHIL. GABRIELE MEYER IM AUFTRAG DES NETZWERKS EVIDENZBASIERTE MEDIZIN E. V.
                                 (WWW.EBM-NETZWERK.DE)

                                                            geringer Sturzgefährdung unterscheiden. Dem positi-
                                                            ven Screeningbefund würde das Angebot einer sturz-
                                                            präventiven Maßnahme folgen mit dem Ziel, das
                                                            Risiko für Stürze und sturzbedingte Verletzungen zu
                                                            reduzieren. Im Umkehrschluss würde einem negati-
                                                            ven Screeningbefund kein Angebot sturzpräventiver
                                                            Maßnahmen folgen.
                                                              Im DMP Osteoporose allerdings soll allen Osteo-
                                                            porose-Patienten körperliche Aktivität (Bewegung
                                                            im Alltag sowie körperliches Training) empfohlen
                                                            werden. Denjenigen mit erhöhtem Sturzrisiko soll
                                                            das körperliche Training „insbesondere“ empfohlen
                                                            werden (4). Der Unterschied liegt scheinbar nur im
Die Erhebung des Sturzrisikos älterer Menschen wird         Nachdruck, mit dem die sturzpräventive Maßnahme
weit verbreitet empfohlen. Performanz-orientierte
Sturzrisiko-Assessments wie der Timed Up and Go
(siehe Kasten rechts), der Chair Rising Test oder der        STURZRISIKO-ASSESSMENT
Tandemstand Test sind Bestandteil des geriatrischen          Der Timed Up and Go (TUG) ist wahrscheinlich der am
Basis-Assessments und finden sich nun auch im neuen          häufigsten angewandte Mobilitätstest in der Geriatrie.
                                                             Der Test will Muskelkraft, Gelenkfunktion und Gleichge-
Disease-Management-Programm (DMP) Osteoporose
                                                             wicht beurteilen und Rückschlüsse auf eine Sturzgefahr
(4). Laut DMP Osteoporose sollen Patientinnen und            zulassen. Zur Illustration der Durchführung: Die betrof-
Patienten, die als besonders sturzgefährdet identifiziert    fene Person sitzt auf einem Stuhl mit Armlehne und wird
werden, erhöhte Aufmerksamkeit erhalten. Insbesonde-         aufgefordert aufzustehen, drei Meter zu gehen, umzukeh-
                                                             ren und sich wieder zu setzen. Hilfsmittel wie Gehhilfen
re körperliches Training sowie weitere Maßnahmen zur         sind dabei erlaubt, Hilfe von anderen Personen nicht.
Reduktion von Sturzrisiken sollen angeraten werden.          Währenddessen wird die Zeit gemessen (7).
Zudem soll die Indikation von sturzfördernden Medika-        Neben den Performanz-orientierten Sturzrisiko-Assess-
menten regelmäßig überprüft werden (4).                      ments liegen zahlreiche andere vor, die auf Selbstein-
                                                             schätzung des Sturzrisikos oder auf Fremdeinschätzung
                                                             beruhen anhand klinischer Information, wie vorangegan-
ZIEL EINES STURZRISIKO-ASSESSMENTS
                                                             gene Stürze, Gangunsicherheit, Einnahme bestimmter
Das Sturzrisiko-Assessment entspricht einem Scree-           Medikamente (12).
ning und will zwischen Personen mit hoher und

18   |   KV H - J O U R N A L                                                                                  9/2021
N ETZWERK

                                                               STUDIENLAGE
                                                               In einer narrativen Übersicht haben wir 18 systematische
                                                               Übersichtsarbeiten analysiert und festgestellt, wie unre-
                                                               flektiert hier mit dem methodischen Verzerrungspotenzial
                                                               (Bias) diagnostischer Genauigkeitsstudien umgegangen
empfohlen werden soll. Der Sinn der Durchführung               wird (11).
eines Performanz-orientierten Sturzrisiko-Assess-
                                                               Mehrheitlich werden die Assessments lediglich in pro-
ments erschließt sich somit nicht.                             spektiven Beobachtungsstudien auf ihre Aussagekraft
   Alle Seniorinnen und Senioren – ob im oder außer-           hin untersucht. Das heißt: Nach der Durchführung des
halb des DMP Osteoporose – haben Anspruch darauf,              Sturzrisiko-Assessments werden die Personen über einen
vor dem Sturzrisiko-Assessment zu erfahren, wel-               definierten Zeitraum nachbeobachtet. Die Genauigkeit
                                                               des Assessments wird anhand der am Ende der Beobach-
che Aussagekraft das Testergebnis hat und welche               tungszeit zu verzeichnenden Sturzereignisse bestimmt.
Konsequenzen sich ergeben können. Wirksame und
                                                               Nicht beachtet bleibt in den Studien und ihren Über-
sichere Präventionsmaßnahmen müssen verfügbar                  sichtsarbeiten ein Bias durch den natürlichen Verlauf,
sein. Der Nutzen des Assessments in Verbindung mit             der das Sturzrisiko beeinflussen kann. Zudem kann ein
dem Präventionsangebot müsste in kontrollierten                Behandlungsparadox eintreten, wenn in der Zeit zwischen
                                                               Sturzrisiko-Assessment und Bestimmung des eingetrete-
Studien belegt sein (14).                                      nen Endpunkts (Sturzereignis) Maßnahmen zur Sturzprä-
   Aus der Perspektive der evidenzbasierten Medizin            vention eingeleitet wurden (11). Verzerrungen wie diese
stellt sich somit nicht nur die Frage, ob das Assess-          können nur durch randomisierte kontrollierte Studien
                                                               (RCT) verhindert werden. In einer solchen RCT würde eine
ment eine angemessene diagnostische Genauigkeit
                                                               Gruppe von Personen mit einem Sturzrisiko-Assessment
hat, also zwischen Personen mit hohem und niedri-              eingeschätzt und mit einer Gruppe von Personen vergli-
gem Sturzrisiko zu unterscheiden vermag. Es stellt             chen, die kein Sturzrisiko-Assessment erhielte.
sich insbesondere die Frage, ob die Kombination aus            Die Einschätzung wäre die Grundlage des Angebots von
Assessment und sturzpräventiver Maßnahme zur                   Maßnahmen zur Sturzprävention. Das Ziel wäre die Re-
Vermeidung von Stürzen führt und – noch bedeut-                duktion von Stürzen und sturzbedingten Verletzungen wie
                                                               Knochenbrüche.
samer – zur Senkung des Risikos für sturzbedingte
Verletzungen und Knochenbrüche.

DIAGNOSTISCHE GENAUIGKEIT UND KLINI-                         Personen zu unterscheiden (1, 3, 9, 12). Die Gründe sind
SCHER NUTZEN VON STURZRISIKO-ASSESSMENT                      vielfältig; sie sind einerseits in der Komplexität des Phä-
Für Performanz-orientierte und andere Sturzrisiko-           nomens „Sturzgefährdung“ begründet, andererseits in
Assessment-Instrumente (siehe Kasten rechts), die            der Unzulänglichkeit der Instrumente, diese abzubilden.
sich an Populationen älterer Menschen richten, wird in       Zudem erscheinen die üblicherweise angewandten Me-
zahlreichen Übersichtsarbeiten wiederholt festgestellt,      thoden zur Evaluation dieser geriatrischen Testverfahren
dass diese nicht ausreichend in der Lage sind, zuverlässig   (Info-Box 2) den wissenschaftlichen Anforderungen der
zwischen sturzgefährdeten und wenig sturzgefährdeten         evidenzbasierten Medizin nicht angemessen.                ➞

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N ETZWERK

➞      Eine systematische Übersichtsarbeit der Cochrane        ärzte für Geriatrie, u. a. zur Medikation und Sehstärke
    Library zur Sturzprävention im Setting Pflegeeinrich-      und zum Schuhwerk und Wohnumfeld). Der primäre
    tungen und Krankenhaus (2) schließt nur eine einzige       Erfolgsparameter waren Knochenbrüche im Zeit-
    Studie, nämlich unsere eigene, bereits im Jahr 2009 pu-    raum von 18 Monaten Beobachtungszeit; sekundäre
    blizierte RCT ein. Wir haben in dieser Studie in Hambur-   Erfolgsparameter waren Stürze, gesundheitsbezogene
    ger Pflegeheimen die Wirksamkeit und Sicherheit eines      Lebensqualität, Gebrechlichkeit und ökonomische
    Sturzrisiko-Assessments im Vergleich zur pflegerischen     Effekte.
    Einschätzung untersucht (10). Wir konnten keine Über-         Das Ergebnis dieser aufwändigen Interventionsstu-
    legenheit des Testinstruments nachweisen. Die Auto-        die ist enttäuschend. Die Strategie der englischen Stu-
    rinnen und Autoren des Cochrane Reviews stellen fest,      die – Sturzrisiko-Assessment und Intervention – führt
    dass Sturzrisiko-Assessments weltweit benutzt werden,      nicht zu einer Verminderung von Knochenbrüchen (8).
    jedoch ein absoluter Mangel an Studien zu ihrer Wirk-
    samkeit besteht (2).                                       STURZPRÄVENTION AUCH OHNE
                                                               STURZRISIKO-ASSESSMENT
    AUSSAGEKRÄFTIGE STUDIEN SIND                               Auch wenn die Sturzrisiko-Assessments keine ausrei-
    DURCHFÜHRBAR                                               chende Differenzierung zwischen Hoch- und Niedri-
    Dass solche komplexen Studien machbar sind, auch           grisikogruppen zulassen, so stellt sich doch die Frage,
    im hausärztlichen Bereich, zeigt eine kürzlich im          ob präventive Maßnahmen zur Sturzrisikoreduktion
    renommierten New England Journal of Medicine               nicht allgemein für ältere Menschen empfohlen
    publizierte pragmatische RCT (8). Fast 10.000 zu Hause     werden könnten. Zur Wirksamkeit und Sicherheit von
    lebende Menschen im Alter von mindestens 70 Jahren         Sturzprävention bei Seniorinnen und Senioren gibt es
    aus 63 Arztpraxen in England waren eingeschlossen.         neuere Evidenzsynthesen in der Cochrane Library und
    Drei Gruppen wurden miteinander verglichen: Alle           von der US Preventive Services Task Force. Demnach
    Gruppen erhielten schriftliche Hinweise zur Sturz-         können Angebote körperlichen Trainings und multi-
    prävention; bei Gruppe 1 blieb dies die einzige Inter-     faktorielle Interventionen das Risiko für Stürze bei zu
    vention; Gruppe 2 und 3 führten eine strukturierte         Hause lebenden Seniorinnen und Senioren reduzie-
    Selbsteinschätzung des Sturzrisikos durch. Die als         ren. Der Effekt auf sturzbedingte Knochenbrüche und
    sturzgefährdet eingestuften Personen erhielten in der      Verletzungen bleibt hingegen ungesichert (5, 6, 13).
    Gruppe 2 das Angebot eines evaluierten Trainings-
    programms und in der Gruppe 3 das Angebot einer            FAZIT
    multifaktoriellen Intervention (Assessment und Maß-        Der Stellenwert des Sturzrisiko-Assessments innerhalb
    nahmen durch Pflegende, Hausärztinnen und Fach-            und außerhalb des DMP Osteoporose bleibt unklar. Die

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N ETZWERK

entsprechende Empfehlung im DMP Osteoporose ist                                     PROF. DR. GABRIELE MEYER
wissenschaftlich nicht begründet. Anstatt der Differen-                             Leiterin des Instituts
zierung des Grades der Sturzgefährdung sollte die                                   für Gesundheits- und Pflegewissenschaft,
Evidenz zur Sturzprävention in Form von Entschei-                                   Medizinische Fakultät der
dungshilfen zur allgemeinen Nutzung für Seniorinnen                                 Martin-Luther-Universität
und Senioren bereitgestellt werden.                                                 Halle-Wittenberg

                                                                                    Referenzen
           1) Barry E, Galvin R, Keogh C, Horgan F, Fahey T. Is the Timed Up and Go test a useful predictor of risk of falls in community dwelling older adults:
                                                      a systematic review and meta-analysis. BMC Geriatr 2014; 14: 14
  2) Cameron ID, Dyer SM, Panagoda CE, Murray GR, Hill KD, Cumming RG, Kerse N. Interventions for preventing falls in older people in care facilities and hospitals.
                                                              Cochrane Database Syst Rev 2018; 9 (9): CD005465
  3) Gates S, Smith LA, Fisher JD, Lamb SE. Systematic review of accuracy of screening instruments for predicting fall risk among independently living older adults.
                                                                   J Rehabil Res Dev 2008; 45 (8): 1105-1116
    4) Gemeinsamer Bundesausschuss. Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die 20. Änderung der DMP-Anforderungen-Richtlinie (DMP-A-RL):
                        Änderung der Anlage 2, Ergänzung der Anlage 19 (DMP Osteoporose) und der Anlage 20 (Osteoporose – Dokumentation).
                         https://www.g-ba.de/downloads/39-261-4149/2020-01-16_DMP-A-RL_Osteoporose_BAnz.pdf, Zugriff am 27.07.2021
                5) Guirguis-Blake JM, Michael YL, Perdue LA, Coppola EL, Beil TL. Interventions to Prevent Falls in Older Adults: Updated Evidence Report
                                    and Systematic Review for the US Preventive Services Task Force. JAMA 2018; 319 (16): 1705-1716
         6) Hopewell S, Adedire O, Copsey BJ, Boniface GJ, Sherrington C, Clemson L, Close JC, Lamb SE. Multifactorial and multiple component interventions
                             for preventing falls in older people living in the community. Cochrane Database Syst Rev 2018; 7 (7): CD012221
                                                     7) Kompetenz-Centrum Geriatrie beim Medizinischen Dienst Nord.
                         https://kcgeriatrie.de/Assessments_in_der_Geriatrie/Seiten/Bereich_-_Mobilit%C3%A4t.aspx, Zugriff am 27.07.2021
                    8) Lamb SE, Bruce J, Hossain A, Ji C, Longo R, Lall R, Bojke C, Hulme C, Withers E, Finnegan S, Sheridan R, Willett K, Underwood M;
                           Prevention of Fall Injury Trial Study Group. Screening and Intervention to Prevent Falls and Fractures in Older People.
                                                                    N Engl J Med 2020; 383 (19): 1848-1859
                 9) Lusardi MM, Fritz S, Middleton A, Allison L, Wingood M, Phillips E, Criss M, Verma S, Osborne J, Chui KK. Determining Risk of Falls in
                                  Community Dwelling Older Adults: A Systematic Review and Meta-analysis Using Posttest Probability.
                                                                      J Geriatr Phys Ther 2017; 40 (1): 1-36
                            10) Meyer G, Köpke S, Haastert B, Mühlhauser I. Comparison of a fall risk assessment tool with nurses' judgement
                                               alone: a cluster-randomised controlled trial. Age Ageing 2009; 38 (4): 417-423
       11) Meyer G, Möhler R, Köpke S. Reducing waste in evaluation studies on fall risk assessment tools for older people. J Clin Epidemiol 2018; 102: 139-143
                   12) Park SH. Tools for assessing fall risk in the elderly: a systematic review and meta-analysis. Aging Clin Exp Res 2018; 30 (1): 1-16
                    13) Sherrington C, Fairhall NJ, Wallbank GK, Tiedemann A, Michaleff ZA, Howard K, Clemson L, Hopewell S, Lamb SE. Exercise for
                               preventing falls in older people living in the community. Cochrane Database Syst Rev 2019; 1 (1): CD012424
                          14) WHO-Regionalbüro für Europa. Vorsorgeuntersuchung und Screening: ein kurzer Leitfaden. Wirksamkeit erhöhen,
                                     Nutzen maximieren und Schaden minimieren. Kopenhagen, 2020, Lizenz: CC BY-NC-SA 3.0 IGO

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KO L U M N E

Allein unter Nachbarn
Kolumne von Dr. Bernd Hontschik, Chirurg in Frankfurt/Main

L   aut einer Bertelsmann-Studie
    könnten die gesetzlichen Kran-
kenkassen neun Milliarden Euro
                                       nach dem Einkommen und werden
                                       zur Hälfte von Arbeitnehmern und
                                       Arbeitgebern getragen. Familienmit-
                                                                                Eigenbeteiligungen bis zu 25 Pro-
                                                                                zent, weswegen die meisten Fran-
                                                                                zosen private Zusatzversicherungen
mehr einnehmen und den allge-          glieder sind überwiegend kostenlos       abschließen.
meinen Beitragssatz um 0,7 Prozent     mitversichert. Die Leistungen aller         Auch in den Niederlanden besteht
senken, wenn alle Bundesbürgerin-      Kassen sind gleich, Konkurrenz zwi-      Krankenversicherungspflicht. Das
nen und -bürger gesetzlich kranken-    schen Krankenkassen gibt es nicht.       System ist rein privatwirtschaftlich,
versichert wären. In Deutschland       Es existieren vielfältige Möglichkei-    aber die Leistungen der etwa 40 pri-
sind aber etwa zehn Prozent privat     ten der privaten Zusatzversicherung.     vaten Krankenkassen sind gesetzlich
versichert. Diese 8,7 Millionen           Auch in der Schweiz besteht           genau festgelegt, sodass darüber
verdienen im Durchschnitt über         Krankenversicherungspflicht für alle.    keine Konkurrenz aufkommen kann.
fünfzig Prozent mehr als die 73        Die Beiträge sind unabhängig vom         Kinder sind kostenlos mitversichert,
Millionen gesetzlich Versicherten      Einkommen pro Kopf gleich hoch,          Partner hingegen nicht. Alle Versi-
und sind im Vergleich gesünder. Es     eine kostenlose Mitversicherung von      cherten zahlen einen gleich hohen
heißt, sie würden eine privilegierte   Familienmitgliedern gibt es nicht.       Beitrag, der gesetzlich festgelegt ist.
medizinische Behandlung erhalten,      Die etwa neunzig privaten Kranken-       Wegen hoher Selbstbeteiligungen
man spricht von einer Zwei-Klassen-    kassen des Landes müssen alle eine       sind private Zusatzversicherungen
Medizin. Die Besserverdienenden,       gleiche, gesetzlich festgelegte Grund-   weit verbreitet.
die außerdem auch noch Gesünde-        sicherung anbieten, konkurrieren            Auch in Dänemark ist das Ge-
ren haben sich aus unserem Solidar-    aber um Mitglieder durch möglichst       sundheitssystem für alle Bürger
system verabschiedet. Wie ist das      niedrige Tarife. Alle Versicherer bie-   verbindlich. Hier ist es rein staatlich,
eigentlich in unseren Nachbarlän-      ten Zusatzversicherungen an.             die Finanzierung geschieht aus
dern geregelt? Die entscheidenden         Auch in Frankreich ist die Kran-      Steuergeldern. Wer in Dänemark
Fragen sind: Müssen dort alle an       kenversicherung Pflicht für alle. Die    wohnt oder steuerpflichtig ist, ist
                                                                                automatisch krankenversichert.
                                                                                Medizinische Behandlungen und
Nur bei uns können sich Besserverdie­nende                                      häusliche Pflege sind für alle Versi-
aus dem Solidarsystem verabschieden.                                            cherten kostenlos. Private Vollversi-
                                                                                cherungen gibt es nicht, nur Zusatz-
                                                                                versicherungen zur Abdeckung der
einem Solidarsystem teilnehmen?        Krankenkassenbeiträge werden von         Eigenbeteiligungen.
Wie wird es finanziert? Wie sind die   Arbeitnehmern und Arbeitgebern              Auch in Italien ist das Gesund-
Leistungen?                            anteilig bezahlt, Defizite werden mit    heitssystem für alle in staatlicher
   In Österreich besteht für aus-      Steuermitteln ausgeglichen. Versi-       Hand. Es wird aus Steuermitteln
nahmslos alle Bürgerinnen und          cherte zahlen ihre Arztrechnungen        und Arbeitgeberbeiträgen finan-
Bürger eine Krankenversicherungs-      zunächst selbst und reichen sie an-      ziert. Die medizinische Grund-
pflicht in regionalen Gebietskran-     schließend bei ihrer Krankenkasse        versorgung ist für alle kostenlos.
kenkassen. Die Beiträge richten sich   zur Erstattung ein. Dabei bestehen       Private Krankenversicherungen

chirurg@hontschik.de, www.medizinHuman.de
Zuerst abgedruckt in der Frankfurter Rundschau – Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors
In dieser Rubrik drucken wir abwechselnd Texte von Dr. Bernd Hontschik und Dr. Matthias Soyka.

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