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Jüdische Illustrierte verlagsbeilage der hochschule für jüdische studien heidelberg BERLIN, DEN 17. MAI 2018 3. SIWAN 5778 73. JAHRGANG NR. 20 Happy Shavuot!
2| Jüdische Illustrierte Zusammenarbeit EDITORIAL Fakultätsübergreifende Kooperationen sind die große Stärke der HfJS Foto: Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg/flohagena unterrichtet. Zusammen saßen da Lehramts- Miteinander von Zentralrat, Zentralwohlfahrts- studierende der Geschichte von der Universität stelle und Hochschule fand im Februar in Heidel- und Studierende der Hochschule: die einen ver- berg das Fortbildungsseminar für Religions- und siert in der Geschichte Habsburgs, Preußens oder HebräischlehrerInnen statt. Die rundweg positi- auch von Kurmainz, die anderen in den sozialen ven Eindrücke schlagen sich auch in Ergebnissen und politischen Bedingungen kleiner und gro- nieder: In enger Zusammenarbeit sollen Lehrbü- ßer Gemeinden und ihren Lebenswelten, mit der cher für jüdische Geschichte und zum Bereich Is- Haskala, und ebenso mit Moses Mendelssohn, rael/Naher Osten auf den Weg gebracht werden. Abraham Geiger oder Adolf Jellinek. Einmal ab- In Vorbereitung befindet sich ferner die gemein- gesehen davon, dass es allein in Heidelberg mög- same Ausrichtung des bislang an der Fachhoch- lich ist, dass künftige GeschichtslehrerInnen jü- schule Erfurt angesiedelten Studiengangs Jüdi- dische Geschichte nicht als randständig, sondern sche Sozialarbeit. als Teil des Ganzen verstehen, hat mir dieses Das Wesen der Heidelberger Hochschule – an- Seminar selbst große Freude gemacht. Denn das dere würden sagen: den »Markenkern« – macht von johannes heil gemeinsame Lernen war intensiv, anregend und aber etwas anderes aus: In Verbindung miteinan- Z überaus fruchtbar. Vor allem zog niemand sich der stehen hier schon an der Basis kulturwissen- usammen wird seit ehedem zu Schawu- auf »seinen« Teil zurück; stets standen der Aus- schaftliche und religiöse Zugänge, konkret heißt ot eine Nacht lang gelernt (Tikkun Leil tausch und die Übergänge im Vordergrund. das Jüdische Studien und Jüdische Theologie. Schawuot) – auch dieses Jahr an der Gemeinsam gestaltet wird vieles in Heidelberg. Wir verstehen unter Jüdischer Theologie das be- Hochschule für Jüdische Studien Heidel- Mit der Universität in der Lehre, denn die meis- gründete und nach außen wissenschaftlich ver- berg mit Rabbiner Shaul Friberg. Als Pilgerfest ten Studiengänge sehen ein Zweitfach vor; dazu antwortete Nachdenken über das (Jüdinnen und ist Schawuot ein gemeinschaftsstiftendes Fest. kommen zwei Kooperationsstudiengänge: der Juden eigene!) religiöse Erbe. Die Gegenstände Beim stehenden Anhören der Aseret ha-Dibberot, Heidelberger Mittelalter-Master und der Master sind (überwiegend) gemeinsam, die Lesarten der zehn Worte, im Wochenabschnitt in Erinne- in Vergleichender Literaturwissenschaft. Ab dem und Zielsetzungen verschieden. Daraus folgt eine rung an den Moment, als das Volk auf dem Sinai Wintersemester 18/19 wird als dritter der Master diskursive Situation, die beidem zuträglich ist, die Tora entgegennahm, drückt sich das Gemein- in Nahoststudien hinzukommen. Kooperativ mit zumal wenn Religionslehre und/oder Theologie schaftliche noch einmal besonders aus. der Universität Heidelberg übt die Hochschule nicht in Bindung an eine einzelne Strömung oder Zusammen gehören auch an der HfJS das (re- auch das Promotionsrecht in Jüdischen Studien »Konfession« im Judentum vermittelt werden, ligiöse) Lernen und (wissenschaftliche) Lehren aus. Verbunden ist man mit der Universität Hei- sondern übergreifend vor den verschiedenen De- und Forschen. Im Bau der Hochschule, mit dem delberg besonders in der Forschung, etwa im nominationen ansetzen. vor zehn Jahren begonnen wurde, stehen sich der Sonderforschungsbereich »Materiale Textkultu- Gemeinsam werden wir dann auch im Jahr Beit Midrasch und die Bibliothek Albert Einstein ren«, ferner mit Mainz und Frankfurt im Gradu- 2019 die anstehenden Feierlichkeiten begehen: korrespondierend, nicht einander ausschließend iertenkolleg »Theologie als Wissenschaft«. mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland das gegenüber. Erst im Miteinander werden die Jü- Diese Kooperationen haben auch die Grundla- 40-jährige Bestehen unserer Hochschule, und mit dischen Studien vollständig. Schawuot ist dann, ge dafür geschaffen, dass 2018 mit dem Corpus der Universität und dem Verband der Judaisten liebe Leserinnen und Leser, ein günstiger Mo- Masoreticum am Lehrstuhl Bibel und Jüdische in Deutschland das 200-jährige Gründungsjubi- ment, die ganz unterschiedlichen Schnittstellen Bibelauslegung erstmals ein Langzeitprojekt der läum unserer Disziplin, der Wissenschaft des Ju- zu betrachten, die die Heidelberger Hochschule Deutschen Forschungsgemeinschaft eingewor- dentums. zu einem besonderen Ort machen. ben werden konnte. Dass besonders der Nach- Ich habe im vergangenen Semester ein Semi- wuchs im Fach davon profitieren wird, ist nur g Der Autor ist Rektor der Hochschule für Jüdi- nar über »Europäische Wege der Emanzipation« eine unter einer Vielzahl positiver Folgen. Im sche Studien Heidelberg. IMPRESSUM Inhalt Jüdische Illustrierte Chefredakteur: Detlef David Kauschke Redaktion: Susanne Mohn, Ingo Way, Ralf Balke Gründerzeit in Nahost 04 Iudaei latini? 12 Artdirektor: Marco Limberg Grafik: Anita Ackermann Lektorat: Bettina Piper Warum Israel im Unterschied zu anderen Zur vorrabbinischen jüdischen Lebenswelt im Druck: BVZ Berliner Zeitungsdruck GmbH Minderheitenstaaten in der Region Erfolg hatte westlichen Mittelmeerraum 06 13 Herausgeber: Zentralrat der Juden in Deutschland K.d.ö.R. Die Rabbanit von Worms Ulpan, Lernen, Schabbat Gründer: Karl Marx sel. A. Was wäre, wenn Belette 1196 nicht ermordet Studierende und der Hochschulrabbiner erzählen, Geschäftsführer: RA Daniel Botmann worden wäre? worauf sie sich im Sommersemester freuen Verlagsleiterin: Korinna v. Richthofen Religion oder Abstammung? 08 Drei Alumni, drei Fragen 14 Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg Rektor Prof. Dr. Johannes Heil Warum sich das Oberste Gericht Israels mit der Absolventen der HfJS berichten, was aus ihnen Landfriedstraße 12 69117 Heidelberg Frage beschäftigt, wer Jude ist geworden ist Telefon 06221 / 54 19 200, Fax 06221 / 54 19 209 Erzählen, um zu überleben 10 Vom Elsass bis nach Basel 15 E-Mail: info@hfjs.eu Eine Verwertung der urheberrechtlich geschützten Zeitungsbeiträge, Abbildun- Sprachliche Formen von Erinnerungsbewältigung Die Neue Gallia-Germania Judaica – digitale gen, Anzeigen etc. ist unzulässig. in den biblischen Literaturen Neubearbeitung der jüdischen Geschichte vor 1300
Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg |3 Jüdische Identität stärken Grußwort von Alle Disziplinen ÜBERSICHT Eine Auswahl aus unserem Kursangebot Barbara Traub M An Schawuot erinnern wir uns daran, dass uns it zehn Lehrstühlen bietet die Hoch- seinerzeit am Berg Sinai die Tora geschenkt wur- schule ein Lehrangebot in allen de. Und damit erhielt unser Volk gewissermaßen Disziplinen der Jüdischen Studien, auch seine Seele und seine Identität. Am ersten sodass philologische, theologische Abend des Schawuotfestes entspricht es daher und kulturwissenschaftliche Fragestellungen den Traditionen, die Tora ausführlich zu studie- und Methoden neben einer Grundausbildung ren. Aber nicht nur die Tora wird gelernt, sondern in Bibelwissenschaft und rabbinischer Literatur das gesamte jüdische Wissen und die rabbinische den Studierenden vermittelt werden. Die religi- Literatur werden herangezogen, um im Lernen onspraktischen Kurse zu Gebet und Gottesdienst die Tora als Gabe an unser Volk zu preisen. unterrichten Hochschulrabbiner Shaul Friberg Das ist eine Tradition, wie wir sie an der Hoch- sowie zahlreiche Professorinnen und Professo- schule für Jüdische Studien Heidelberg (HfJS) ren. Eine breit gefächerte Sprachausbildung von in besonderer Weise pflegen. Auch bei uns ste- biblischem Hebräisch bis zu Jiddisch befähigt zu hen Tora und Judentum im Zentrum, gilt es, das einem kundigen Dialog über kanonische Texte Wissen über das Judentum zu mehren und so und historische Quellen. auch die jüdische Identität zu stärken. So trägt Der folgende Überblick zum aktuellen Lehr- die HfJS aufgrund der Vielfalt ihrer eigenen angebot der Hochschule für Jüdische Studien akademischen Inhalte und der Verflechtung mit zeigt eine kleine exemplarische Auswahl aus anderen Lehrstühlen an der Ruprecht-Karls-Uni- dem Fächerkanon. Einige Veranstaltungen dieser versität Heidelberg, der ältesten Universität Hochschule werden gemeinsam mit Professorin- Deutschlands, zu einem unglaublich vielschich- nen und Professoren der Universität Heidelberg tigen und facettenreichen Angebot für unsere unterrichtet, sodass Studentinnen und Studenten Studierenden und Dozenten bei. Kontakte mit von der interdisziplinären Zusammenarbeit am Universitäten in Israel und ganz Europa runden Universitätsstandort Heidelberg durchaus profi- die ohnehin breite Palette ab. tieren. Kurse in englischer Sprache sind für alle Nicht nur als europäisches Kompetenzzentrum Studierenden aus dem englischsprachigen »Mas- für Jüdische Studien, sondern auch als Hoch- ter of Arts Jewish Civilizations«-Programm sowie schule mit einer jüdischen Seele hat die HfJS ein für andere »Master of Arts«-Programme offen. einzigartiges Lern- und Arbeitsklima zu bieten. An Schawuot essen wir Milchprodukte, um zum Bibel und Jüdische Bibelauslegung Foto: Marco Limberg Ausdruck zu bringen, dass uns Juden die Tora wie Grundkurs: Einführung in die Hebräische Bibel Milch ist, die der Säugling begierig aufsaugt, die Oberseminar: Die Bibel als Literatur von ihn nährt und gedeihen lässt. Ganz so ist auch die Überlebenden Atmosphäre durch das vertrauensvolle Miteinan- der von Professoren und Studierenden in einem Talmud, Codices und Rabbinische Literatur familiären Umfeld in besonderer Weise geeignet, Oberseminar: Wer ist Jude? Der rabbinische Dis- mit Leidenschaft zum Judentum zu forschen, zu kurs um jüdische Identität Jüdische Kunst lernen und neues Wissen zu erschließen. Seminar: Judentum und Demokratie im Spiegel Seminar: Überblick über die Synagogenarchi- In diesem Sinne lade ich Sie herzlich ein, sich der aktuellen Debatte um die gesellschaftliche tektur in Europa: Sachstand und Forschungs- auf den kommenden Seiten selbst ein Bild von und kulturelle Gestaltung des Staates Israel geschichte der Vielfalt der an der HfJS angebotenen Stu- Oberseminar: Landjudentum und Sachkultur: diengänge, Lehr- und Lernangebote zu machen. Geschichte des Jüdischen Volkes Ausdruck von Rück- oder Eigenständigkeit? Oder nutzen Sie einfach Ihren nächsten Besuch Vorlesung: Ausgrenzung, Verfolgung, Selbstbe- in Heidelberg, um auch in der Landfriedstraße hauptung – Jüdische Geschichte 1933–1948 Jüdische Religionslehre, -pädagogik und -di- vorbeizuschauen, in unsere Bibliothek hineinzu- Oberseminar: Joseph Süß Oppenheimer (»Jud daktik schnuppern oder einen der interessanten Vorträ- Süß«) im innerjüdischen Kontext betrachtet Proseminar: Jiddische Gedenkliteratur im Kon- ge zu besuchen, die sich auch an ein breiteres Pu- text deutsch-, französisch- und englischsprachi- blikum richten. Ihnen und Ihren Familien sowie Jüdische Literaturen ger Erinnerungstexte allen Studierenden und Professoren an der HfJS Vorlesung: The History and Story of Modern nunmehr ein herzliches Schawuot Sameach! Hebrew Literature Israel- und Nahoststudien Oberseminar: Text und Bild: Die autobiografi- Seminar: Nationsbildung und Staatlichkeit im g Die Autorin ist Vorsitzende des Kuratoriums schen Werke Chagalls aus kunsthistorischer, jid- Vorderen Orient der HfJS. distischer und literaturwissenschaftlicher Sicht Jüdische Musik Hebräische Sprachwissenschaft Oberseminar: Kultur und Identität: Musik der Oberseminar: Palästinische Vokalisierungstradi- Mizrachim in Israel tion des Hebräischen Seminar: The art of music isn’t hard to master ...?! Übung: Das Buch Diqduqe ha-teamim von The 19th Century and the Jewish Musician Mosche ben Ascher und verwandte gramm. Ab- handlungen Praktische Religionslehre Übung: Siddur Foto: Philipp Rothe Jüdische Philosophie und Geistesgeschichte Übung: Limmud Vorlesung: Was ist jüdische Philosophie? Eine Einführung in Themen, Werke und Denktradi- g Das digitale Vorlesungsverzeichnis ist auf dem tionen Webportal der Hochschule www.hfjs.eu öffentlich Oberseminar: Kabbalah und Moderne zugänglich.
4| Jüdische Illustrierte Gründerzeit in Nahost ZIONISMUS Warum Israel im Unterschied zu anderen Minderheitenstaaten in der Region Erfolg hatte David Ben Gurion rief 1948 den Staat Israel aus. Derzeit wird der 70. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung ausgiebig gefeiert. Foto: GPO von johannes becke Polizei einigen können – von einer Fahne oder Gebet und der Hoffnung, in sein Land zurückzu- E einer Nationalhymne ganz zu schweigen. kehren und dort seine politische Freiheit zu er- igentlich war der bewaffnete Konflikt, neuern.« der im Mai 1948 unmittelbar nach der NARRATIV Im Kontext des Nahostkonflikts war Vielleicht kann die »Mamlachtiyut«, die Staats- Gründung des Staates Israel mit seinen die Unabhängigkeitserklärung also nicht unbe- zentriertheit, die in der Unabhängigkeitserklä- arabischen Nachbarn ausbrach, alles an dingt ein Wendepunkt, für das zionistische Pro- rung gleichfalls zum Ausdruck kommt, nur vor dere als eine Überraschung. Denn als vor genau jekt hingegen sehr wohl. Aus dem »Medina Sche- dem Hintergrund der langen jüdischen Geschich- 70 Jahren die Unabhängigkeit des jüdischen baderech«, dem Staat im Aufbruch, wurde quasi te der Staatslosigkeit richtig verstanden werden. Staates ausgerufen wurde, befanden sich Juden über Nacht ein Nationalstaat, und aus dem Vor- Zudem war im Nahen Osten das zionistische Auf- und Araber bereits längst im Kampf um die Vor- sitzenden des Exekutivrats der Jewish Agency, bauwerk alles andere als ein Einzelfall. Denn in herrschaft über das bis dahin britische Mandats- David Ben Gurion, der Premierminister und der der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen sowie gebiet Palästina. Und auch, wenn die regulären Verteidigungsminister der kommissarischen Re- unmittelbar nach 1945 gab es gleich mehrere Armeen Ägyptens, Jordaniens und Syriens erst gierung. In der Unabhängigkeitserklärung begeg- Staatsprojekte, die von Minderheiten ohne eine am Tag darauf offiziell in den Krieg eingriffen, so net uns deshalb auch das klassische zionistische Geschichte der staatlichen Selbstbestimmung in- gab es in dem Land zwischen Mittelmeer und Jor- Narrativ von der Vision und ihrer Erfüllung, das itiiert worden waren. dan bereits seit 1947 blutige Auseinandersetzun- diesen Moment prägte. »Im Land Israel entstand So setzte sich bei der Pariser Friedenskonfe- gen zwischen jüdischen und arabischen Milizen, das jüdische Volk. Hier wurde sein geistiges, reli- renz von 1919 eine Delegation assyrisch-chal- wobei es zu Massakern und Vertreibungen kam. giöses und politisches Wesen geformt. Hier lebte däischer Christen – wenn auch vergeblich – für Damit war genau das Realität geworden, was sich es in staatlicher Unabhängigkeit, hier schuf es na- einen assyrischen Nationalstaat im Norden des spätestens mit dem arabischen Aufstand zwi- tionale und universelle Kulturgüter und schenkte heutigen Irak ein. Ihr Argument: Ein solcher kön- schen 1936 und 1939 in Konturen abzuzeichnen der gesamten Welt das ewige Buch der Bücher. ne auch für die zahlreichen Nichtchristen auf sei- begann: Die Einstaatenlösung war politisch nicht Nachdem das Volk mit Gewalt aus seinem Land nem Territorium wirtschaftliche Vorteile mit sich durchsetzbar. Nie hätte man sich auf ein gemein- vertrieben wurde, hielt es ihm in allen Ländern bringen, und mithilfe einer den Assyrern wohl- sames Parlament, eine Regierung oder vielleicht der Zerstreuung die Treue und ließ nicht ab vom gesonnenen Mandatsmacht ließe sich gewiss in
Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg |5 spätestens 25 Jahren das Ziel der Eigenstaatlich- keit erreichen. GEMEINWESEN Im Norden des heutigen Ma- rokko, im Rif-Gebirge, waren es die Berber, die nach Unabhängigkeit strebten. Abdelkarim al- Khattabi, einer ihrer Anführer, hatte zum Wider- stand gegen die europäische Fremdherrschaft aufgerufen und 1921 die Rif-Republik gegründet, der aber 1926 spanische und französische Kolo- nialtruppen wieder den Garaus bereiteten. In ih- rer Unabhängigkeitserklärung hatten die Berber auf die Eigenständigkeit ihrer Sprache, Kultur und Geschichte verwiesen und deshalb erklärt, »von der Grenze Marokkos bis zum Mittelmeer und vom Fluss Moulouya bis zum Atlantischen Ozean« ein Gemeinwesen gründen zu wollen. Auch die Kurden pochten auf Eigenstaatlich- keit. Nach der kurzlebigen Ararat-Republik, aus- Foto: „State of Israel 10th Anniversary – Celebration For the Minorities In Haifa“, Rafael Mohar, via the Palestine Poster Project Archives gerufen 1927 von Rebellen im Osten der Türkei, unternahmen sie 1946 mit der Gründung der Mahabad-Republik auf dem Gebiet des Iran ei- nen zweiten Anlauf. Die Demokratische Partei Kurdistans, die treibende Kraft hinter dem Vor- haben, beklagte in ihrem Gründungsaufruf die kurdische Verfolgungsgeschichte und sprach von »Kugeln, Bomben, Gefängnis, Vertreibung und Exekution«. Zugleich forderte man ein Recht auf nationale Selbstbestimmung. »Wa- rum dürfen unsere Kinder nicht auf Kurdisch erzogen werden? Warum sollen wir unser Haus nicht verwalten, wie es uns gefällt?« Das Ziel war die »Rettung der kurdischen Nation vor der Vernichtung« sowie »die Bewahrung ihres Reichtums, ihrer Frauen und ihres Rufs als Na- tion«. Keiner dieser Minderheitenstaaten war von Bestand – weder die Rif-Republik noch die kur- dische Mahabad-Republik. Die kurze Phase der Gründerzeit von Minderheitenstaaten im Nahen Osten hörte auf, als alle diese Ansätze von Eigen- staatlichkeit wahlweise vom arabischen, türki- schen oder iranischen Nationalismus von der Landkarte gefegt wurden. Allein das zionistische Projekt entwickelte sich in bemerkenswert kur- zer Zeit zu einem funktionierenden und blühen- den Gemeinwesen – nicht zuletzt dank des ra- schen Aufbaus funktionierender demokratischer und militärischer Strukturen, der Solidarität der Diaspora und der Fokussierung auf Forschung und Wissenschaft. ERBLÜHEN Nach 70 Jahren ist es durchaus legi- tim, einige Aspekte der israelischen Unabhängig- keitserklärung einer kritischen Überprüfung zu Der jüdische Staat entwickelte sich zum einzigen Erfolgsmodell in der Region. unterziehen. So wird die Wiederbelebung der hebräischen Sprache betont. Dabei wird aber Geschichte werden verkürzt auf Zionssehnsucht abhängig in seinem Land lebt«, und dem »jü- vergessen, mit wie viel politischem Druck die und Verfolgung, fast so, als hätte es wichtige Pha- dischen Volk in der gesamten Diaspora«, aber Hebraisierung der vielsprachigen Einwanderer- sen der jüdischen Geistes-, Religions- und Natio- die Selbstverpflichtung auf »jüdische Einwan- gesellschaft einherging. Und wer sich eben noch nalgeschichte außerhalb von Eretz Israel nie ge- derung und Sammlung der Zerstreuten« deu- selbst mühsam sein Jiddisch abgewöhnt hatte, geben. ten an, dass sich hier ein hebräisch-israelischer um endlich zum muskelbepackten Hebräer zu Nationalstaat konstituiert, der sich als politische werden, zwang nun seinen aus Nordafrika oder DEMOKRATIE Zudem fällt bei kritischer Lek- Vertretung des gesamten jüdischen Volkes posi- dem Irak eingewanderten Nachbarn, das Arabi- türe der Unabhängigkeitserklärung auf: Die tioniert. sche aufzugeben. Auch ist in der Unabhängig- Staatsform wird nicht genannt. Auch das Wort Um all diese Fragen näher zu beleuchten, ver- keitserklärung von den zionistischen Pionieren Demokratie taucht kein einziges Mal auf. Und anstaltet die Bildungsabteilung im Zentralrat zu lesen, die die Wüste zum Blühen gebracht hat- selbst wenn man sich für Religionsfreiheit und der Juden in Deutschland vom 6. bis 8. Juni eine ten – dabei gehörte das Land seit Urzeiten zum die rechtliche Gleichstellung aller Bürger un- Tagung unter dem Titel »Wie alles begann – die Fruchtbaren Halbmond, der Stadtkulturen wie abhängig von ihrer ethnischen oder religiösen Staatsgründung Israels im Fokus der Geschichte« die von Jerusalem, Beirut und Damaskus über- Herkunft verbürgt, so fehlt doch jeder Verweis in Frankfurt. Als ReferentInnen sind unter ande- haupt erst möglich gemacht hatte. auf eine Trennung von Staat und Religion. Die rem Tom Segev, Fania Oz-Salzberger, Motti Gola- Aber nicht nur die arabische Geschichte des Grenzen des Staates bleiben unbestimmt, und ni und Adel Manna eingeladen. Landes wird zwischen all dem Gerede von Pionie- auch die Konturen der Staatsnation scheinen ren der hebräischen Arbeit und der hebräischen zu verschwimmen. Zwar unterscheidet der Text g Der Autor ist Juniorprofessor für Israel- und Sprache ausgeblendet. Auch 2000 Jahre jüdischer zwischen dem »hebräischen Volk, welches un- Nahoststudien.
6| Jüdische Illustrierte Die Rabbanit von Worms GESCHICHTE Was wäre, wenn Belette 1196 nicht ermordet, sondern spirituelle »Meisterin« ihrer Foto: TU Darmstadt emeinde geworden wäre? G Pessach-Haggada, geschrieben von Israel ben Meir von Heidelberg, ca. 1430 von birgit e. klein weitgehend Szenarien für die jüdische Geschich- Diesem Klagelied verdanken wir wie keinem W te vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. anderen Text unser Wissen über eine jüdische as wäre, wenn« zu fragen, hat ei- Frau im Mittelalter: Dolza lehrte die Wormser ne lange jüdische Geschichte: KLAGELIED Daher werde ich im Folgenden eine Frauen und lebte im Rhythmus der Gebetszei- Eines der beliebtesten Lieder der alternative Frage zur Frauen- und Geschlechter- ten. Zum Gemeindegebet ging sie frühmorgens Pessach-Haggada ist »Dajjenu« – geschichte des Mittelalters stellen: »Was wäre, und spätabends in die Wormser Synagoge, die »Es hätte uns genügt«, zum Beispiel »Hätte Er wenn Belette 1196 nicht ermordet, sondern spi- 1174/75 das 1034 gebaute Gebäude ersetzt hatte. uns die Tora gegeben, ohne uns in das Land Is- rituelle Meisterin – Rabbanit – der Wormser Ge- Und das zu einer Zeit, als es nur einen einzigen rael zu führen – es hätte uns genügt!« So wird meinde geworden wäre?« Um den Unterschied Synagogenraum gab, denn die »Weiberschul« die Gabe der Tora, die an Schawuot gefeiert wird, zwischen Fakten und Fiktion klar erkennbar wurde erst 1212/13 an die Synagoge angebaut, dem Einzug in das verheißene Land vorgezogen, zu machen, werde ich zunächst die bekannten um fortan die betenden Frauen von den Männern ein weitreichendes »Was wäre, wenn«-Szenario. Fakten darstellen und diese dann alternativ fort- zu trennen. Mit der Mutter Dolza hatten wohl Diesen Ansatz hat ein von Gavriel D. Rosen- schreiben. auch die Töchter Belette (geboren um 1183) und feld herausgegebener Sammelband aufgegriffen: Von Belette wissen wir aus sehr tragischem Hanna (geboren um 1190) in der den Männern What Ifs of Jewish History. From Abraham to Zio- Grund: Nachdem sie am 22. Kislev 4957 / 26. No- und Frauen gemeinsamen Synagoge gesessen: nism (Cambridge 2016). Die hier versammelten vember 1196 gemeinsam mit ihrer Mutter Dolza 16 Beiträge renommierter Gelehrter beantworten (auch Dolce u.ä.) und ihrer jüngeren Schwester »Ich will die Taten von Belette, meiner großen faszinierende Fragen, wie jüdische Geschichte Hanna ermordet worden war, betrauerte ihr Va- Tochter, erzählen, auch anders hätte verlaufen können, von »Was, ter, Rabbi Elasar ben Jehuda von Worms (circa dreizehn Jahre war sie alt, züchtig wie eine Braut. wenn sich der Exodus niemals ereignet hätte?« 1160 – circa 1230), ihre Ermordung in einem sehr Sie hatte alle Gebete und Gesänge von ihrer Mut- (Steven Weitzman) über »Was, wenn König Fer- anrührenden Klagelied, das zunächst Dolza als ter gelernt, dinand und Königin Isabella die Juden Spaniens eschet chajil, »tüchtige Frau«, unter Anspielung züchtig und fromm, lieblich und weise, 1492 nicht vertrieben hätten?« (Jonathan Ray) auf Mischle/Sprüche 31, 10–31 beschreibt: war im Tun ihrer Mutter gefolgt – schön war die und »Was, wenn die Weimarer Republik über- Jungfrau … lebt hätte? Ein Kapitel aus Walther Rathenaus »Eine tüchtige Frau, wer findet sie (10a), die Krone Flink im Haus war Belette, nur Wahrheit spre- Erinnerungen« (Michael Brenner) bis hin zu ihres Gatten, die Tochter Edler, chend, dienend ihrem Schöpfer … »Was, wenn der Holocaust abgewendet worden eine Frau, gottesfürchtig und gepriesen durch ihre Unermüdlich wie ihre Mutter, in ihrer Liebe zu wäre?« (Jeffrey S. Gurock). Im Wintersemester guten Taten? ihrem Bildner ohne jeden Makel. 2017/18 haben wir in einer Übung der HfJS die Ihr vertraute das Herz ihres Gatten (11a), den sie Ihr Sinn auf den Himmel gerichtet, saß sie, mir kreativen und anregenden Antworten der Auto- speiste und ehrenvoll kleidete … nahe, um Tora zu hören. ren diskutiert und analysiert. Sie sind als fiktive Sie sang Lieder und Gebet und sprach Bittgebete Doch erschlagen ward sie, mit ihrer Mutter und Erzählung formuliert oder als Darstellung, die … ihrer Schwester. sich zunächst auf bekannte Fakten stützt und die- In allen Städten lehrte sie die Frauen und stimmte In der Nacht des 22. Kislev, als ich friedlich an se dann kontrafaktisch fortschreibt. Dabei haben Gesänge, meinem Tisch saß, wir auch drei Desiderate festgestellt: Nur ein Bei- die Ordnungen des Gebets am Morgen und am kamen zwei Verabscheuungswürdige, erschlugen trag stammt von einer Frau; kein Alternativsze- Abend ordnete sie, sie vor meinen Augen nario behandelt einen Aspekt der Frauen- oder und zur Synagoge stand sie früh auf und blieb und verwundeten mich, meine Schüler und auch Geschlechtergeschichte, und schließlich fehlen spät …« meinen Sohn.«
Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg |7 Fotos: Michael Brocke Pfeiler mit hebräischer Inschrift (M.) und dem Relief einer Palme (l.) und eines Lebensbaumes (r.) aus der Wormser Synagoge Nach seinem Hauptberuf auch ha-rokeach (der nachgewiesen und nur auf zwei Inschriften des en – auch viele Männer wollten nicht mehr auf Salbenmischer) genannt, war der Gatte und Va- Wormser Friedhofs in den Jahren 1220 und 1238 Belettes weise Toraauslegungen verzichten. Sie ter Elasar ben Jehuda von Worms ein Schüler des genannt. Die Palme repräsentiere Belette: »Dein nannten sie ihre Rabbanit, »Rabbinerin«, und »frommen« Rabbi Jehuda ben Samuel he-chassid Wuchs gleicht einer Palme …« (Hohelied 7,8a), meinten hiermit nicht nur die Gattin eines Rab- gewesen, dem maßgeblichen Lehrer der »From- sie auf diese Weise mit Deborah vergleichend, die bis, wörtlich »mein Meister«, sondern ihre ge- men von Aschkenas«, Chasside Aschkenas, und als Richterin unter einer Palme saß (Richter 4,5). lehrte »Meisterin«. Warum sollte man die Frauen einer ihrer prominentesten Vertreter geworden. Schließlich könnten die jungen Frauen, alamot, dann nicht auch vorbeten lassen, sie an der To- Zweifelsohne hatte er maßgeblich die hohe auf die jungen Frauen im Hohelied anspielen: ralesung beteiligen und ihnen partnerschaftlich Frömmigkeit und religiöse Bildung seiner Frau »deshalb lieben dich alamot« (Hld 1,3), was der einen eigenen Frauenminjan, die Zahl der zehn und Töchter gefördert. bekannte antike Gelehrte Rabbi Akiwa in einem religionsmündigen Personen einräumen, die zur fiktiven Dialog zwischen Israel und den Völkern Abhaltung des Gemeinschaftsgebets in allen sei- INSCHRIFT Was wäre, wenn Belette nicht er- deutete als: »Sie lieben dich al mot: Sie lieben nen Teilen erforderlich ist? mordet, sondern ihrer Mutter folgend die spiri- dich bis in den Tod.« All dies könnte also an die In der Wormser Lernnacht an Schawuot des tuelle »Meisterin« der Wormser Frauen gewor- so jung ermordete Belette, die vornehme Tochter Jahres 1239 (4999 nach jüdischer Zeitrechnung) den wäre? Vielleicht stellten sich bereits Belettes des berühmten Gelehrten, »über ihren Tod hin- studierten Männer und Frauen gemeinsam die Zeitgenossen diese Frage, noch ganz geprägt vom aus« erinnern. Tora unter der Leitung der inzwischen 56 Jah- Eindruck ihres gewaltsamen, viel zu frühen To- re alten Belette und teilten ihre Hoffnungen für des. WEIBERSCHUL Einzig der Umstand, dass Belette das Jahr 5000, mit dem viele messianische Hoff- Denn im Schutt der 1938/42 völlig zerstörten nur 13 Jahre alt geworden ist, passt nicht ganz nungen verbanden. Da stand Belette auf und Synagoge fand sich auch ein zierlicher, teilweise zur »Frau« und »Gebieterin« der Inschrift. Eben verkündete ihre Vision: »Und wieder stehen wir beschädigter Pfeiler mit einer hebräischen In- dies soll hier wiederum den Anstoß zur fiktiven am Sinai: Als einst unsere Väter und Mütter die schrift auf der Vorderseite, liebevoll verziert mit Gegengeschichte geben: Was wäre, wenn Belette Gabe der Tora am Sinai hörten, waren alle noch dem Relief einer Palme darunter, auf der rechten nicht ermordet, sondern zur »Gebieterin unter ungeborenen Seelen präsent; daher hat jede Seite mit einem Lebensbaum, der anscheinend den jungen Frauen« und Männern (provokativ Seele jeweils den ihr eigenen, besonderen Anteil 13 lilienähnliche Blüten trägt, und auf der linken gefragt) herangewachsen wäre? an der Tora, den nur diese Seele jeweils verste- Seite mit einem Doppelflechtband. Der noch er- Nehmen wir also an, der Pfeiler stand in der hen kann. Im kommenden sechsten Jahrtausend haltene Teil der Inschrift lautet: gemeinsamen Synagoge der Frauen und Männer werden wir alle unseren Anteil beitragen, damit מאושרת \ מרת \ בלט \ הגברת \ לטובה \ נזכרת \ במספר \ העלמות von 1174/75 und markierte den Bereich der Frau- die Gabe der Tora vollendet werden kann.« Be- » …/ glücklich / Frau/ Belette / die Gebieterin / en, dort, wo Belette zeitlebens gestanden hatte, lette konnte nicht ahnen, dass es erst in knapp gedacht / zum Guten / in der Zahl / der jungen um das Gebet der Frauen zu leiten und sie zu sieben Jahrhunderten mit Regina Jonas wieder Frauen.« unterrichten. Doch auch Männer lauschten der eine Rabbinerin geben würde, nach deren Er- Jüngst hat Michael Brocke den Pfeiler, seine In- Weisheit der Tochter des berühmten Gelehrten. mordung in Auschwitz 1944 jüdische Frauen schrift und seine Verzierungen ausführlich be- Als einige Männer Anfang 1210 vorschlugen, noch weitere Jahrzehnte warten mussten, bis sie schrieben und viele gute Gründe dafür ange- eine abgetrennte »Weiberschul« zu bauen, da endlich ihren Anteil zur Gabe der Tora beitragen führt, dass hier der ermordeten Belette, Tochter sie sich angeblich wegen des Anblicks der Frau- konnten. des Elasar ben Jehuda, gedacht wird. Denn Belet- en und des »erotisch-anzüglichen« Klangs ihrer te, französisch für »Wiesel«, hier die wieselflin- Stimmen nicht mehr auf ihre Gebete konzent- g Die Autorin ist Rabbinerin und Inhaberin des ke Tochter, sei als Name sehr selten in Worms rieren konnten, protestierten nicht nur die Frau- Lehrstuhls für Geschichte des Jüdischen Volkes.
8| Jüdische Illustrierte Religion oder Abstammung? ISRAEL Warum sich das Oberste Gericht mit der Frage beschäftigt, wer Jude ist von ronen reichman überhaupt unter diese Kategorie fallen sollte. Die- dor Herzl vehement gegen jede Vermischung von D ses exklusiv Juden vorbehaltene Recht, das allen- Religion und Staat ausgesprochen. Er wollte kei- er hybride Charakter des Kollektivs falls aufgrund einer kriminellen Vergangenheit, nen jüdischen Staat, sondern einen Staat der Ju- namens Judentum ist wohl der Grund, der Beteiligung an Handlungen gegen das jüdi- den, wie er es im September 1897 in einem Brief warum die Frage »Wer ist Jude?« vor al- sche Volk oder der Gefährdung der öffentlichen an Max Bodenheimer formuliert hatte. Deshalb lem bei den sogenannten »Problemfäl- Gesundheit verweigert werden konnte, impli- befürwortete Herzl auch die Ablehnung des An- len« so intensiv diskutiert wird. Denn bei kaum ziert, dass Juden unmittelbar nach ihrer Einreise trags des zum Christentum konvertierten Juristen einer anderen Gruppe dürften die religiöse und in Israel einen entsprechenden Ausweis erhalten und Journalisten Moritz de Jonge um Aufnahme die ethnisch-nationale Dimension derart mitein- und uneingeschränktes Aufenthaltsrecht genie- in einen der zionistischen Vereine. ander verschränkt sein wie bei Juden. Daher ist ßen. Daraufhin können sie auch ohne Einschrän- Die zionistische Argumentation verweist ein- es spannend, den Verlauf dieser Diskurse über kungen die Staatsbürgerschaft erhalten. deutig auf den Aspekt der historischen Konti- Generationen hinweg zu verfolgen, unter ande- Voraussetzung für die Annahme des Ausweises nuität. Die daraus abgeleitete Norm verlangt die rem auch deshalb, weil Fragen nach der Identität ist der Eintrag in das Bevölkerungsregister. Dafür Bindung an die Vergangenheit der Juden. Darin nie ihre Aktualität eingebüßt haben. waren damals zwei getrennte Angaben über die ist die mittelalterliche Judenverfolgung durch die Im Sommersemester 2018 wird deshalb an der Zugehörigkeit zur Nation und zur Religion not- Christen genauso in Erinnerung zu behalten wie HfJS im Fach Talmud ein Seminar zu genau die- wendig. Jüdische Staatsbürger Israels hätten im die Tatsache, dass Nation und Religion im Begriff sem Themenkomplex angeboten. Auf Basis rab- Regelfall also zweimal »Jude« eintragen lassen, des Judentums immer vereint waren. Jeder Ver- binischer Quellen sollen die entsprechenden Po- einmal in dem Feld für die Angaben zur Nation, such einer Trennung dieser beiden Aspekte sei sitionen einer näheren Analyse unterzogen und ein weiteres Mal in dem für Religion. daher zu unterbinden. in den historischen Kontext eingebunden werden Für Rufeisen war die Anerkennung seiner jüdi- – schließlich standen Debatten über Identität so- schen Identität aus einer nationalen Perspektive INTERPRETATION Richter Chaim Cohen, der für wie ihre unterschiedlichen Anwendungsformen von großer Bedeutung. Er wollte auf jeden Fall die Annahme des Petitionsantrags von Rufeisen bereits seit der Spätantike im Raum. seine Zugehörigkeit zur jüdischen Nation vom gestimmt hatte, vertrat eine andere Meinung. Staat Israel anerkennen lassen, indem er mit dem Die Linie seiner Argumentation folgte weniger PROBLEMFÄLLE Zu den am häufigsten disku- Verweis auf das Rückkehrgesetz um die Ausstel- der Frage nach der Interpretation des Rückkehr- tierten Fällen dieser Art gehören der Status von lung einer Urkunde für Einwanderer bat und be- gesetzes als vielmehr der der Interpretation der Kindern aus einer Ehe von zwei Partnern mit un- antragte, in seinem Personalausweis in dem Feld Regeln zur Eintragung in das Bevölkerungsregis- terschiedlicher Religionszugehörigkeit sowie das zur Angabe der Nation »Jude« eintragen zu lassen. ter. Dabei sei zu beachten, dass die Beamten in Problem einer rückwirkend geltenden rabbini- der entsprechenden Behörde in keinerlei Weise schen Aberkennung des Jüdischseins eines Kon- PETITION Genau das aber wurde abgelehnt, wes- autorisiert sind, die Angaben, die ihnen vorgelegt vertiten, der nach seiner Konversion nicht mehr halb Rufeisen seine Petition vor dem Obersten werden, auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Die Ein- oder gar nicht als Jude lebt. Aber auch Kontrover- Gericht einbrachte. Sein Argument: »Der Begriff tragung in das Einwohnerregister habe lediglich sen darüber, wie mit Personen umgegangen wer- Nation ist mit dem Begriff Religion nicht iden- eine statistische Funktion. Zudem würden aus den soll, die als Juden geboren, jedoch aufgrund tisch. Ein Jude nach seiner Nationalität muss nicht der Nennung der Nations- und Religionszugehö- einer nachlassenden religiösen Bindung von der ein Jude nach seiner Religion sein.« Die daraufhin rigkeit keine Rechte erwachsen. All dies spreche jüdischen Gemeinschaft nicht mehr als solche an- einsetzende Diskussion drehte sich vor allem um für eine Orientierung am Willen des Einwohners. erkannt werden, gab es oft. Und es waren nicht die Frage, wie der Begriff Jude im Heimkehrgesetz Dem Ganzen liege ein subjektiver Maßstab zu- nur Rabbiner, die sich darüber Gedanken mach- auszulegen sei. Sie wurde aus zwei Blickwinkeln grunde, den Richter Cohen auch im Fall der ge- ten. Auch im Staat Israel selbst befassten sich betrachtet. Zunächst galt es zu unterstreichen, wie setzlichen Regelung des Rückkehrgesetzes gelten Politiker und Juristen mit solchen Fragen. die Frage nicht beantwortet werden sollte. Gemäß lassen wollte. Hier sei an zwei besonders bekannte »Prob- der Halacha, so wurde argumentiert, bleibt ein Der Prozess wurde im Dezember 1962 ent- lemfälle« erinnert, mit denen sich das Obers- Jude immer Jude. Die vorherrschende Meinung schieden. Mit vier zu eins lehnten die Richter den te Gericht in Israel auseinandersetzen musste. im jüdischen Recht besagte, dass Konvertiten Petitionsantrag ab. Trotzdem erhielt Pater Daniel, Die juristische Debatte über die Frage »Wer ist grundsätzlich als Juden betrachtet werden. Genau wie Rufeisen sich nun nannte, im September Jude?« begann 1959 mit dem Petitionsantrag von an diesem Punkt wollte man ein Exempel statu- 1963 die Einbürgerungsbestätigung – nur blieb Shmuel Oswald Rufeisen, einem 1922 in Polen ieren. Der halachische Maßstab sei für die Fest- das Feld »Nation« im Bevölkerungsregister sowie geborenen Juden, der 1942 zum Christentum legung des Begriffs Jude im Rückkehrgesetz in im Personalausweis leer. konvertiert und 1959 als Karmelitermönch nach keiner Weise verbindlich, erklärten die Richter. Wirkung sollte die Deutung Richter Cohens Israel eingewandert war. Die rechtsstaatlich demokratische Verpflichtung über den Sinn der Eintragung in das Bevölke- Trotz seiner Konversion zum Katholizismus, zur Trennung von Staat und Religion verbiete rungsregister und die daraus sich ergebenden die während der deutschen Besatzung Polens eine automatische Übertragung der halachischen Konsequenzen erst in der nächsten Runde der stattgefunden hatte, weshalb er auch in einem Kriterien auf den besagten Fall. Debatte haben, nämlich bei der Verhandlung des Kloster als Zufluchtsort überleben konnte, ver- Zur Erörterung des Begriffs Jude orientierten Petitionsantrags von Benjamin Shalit. Dieser war stand sich Rufeisen weiterhin als der jüdischen sich die Richter zunächst am gesellschaftlichen ein 1935 in Palästina geborener Jude, der hin- Nation zugehörig. Als Jugendlicher war er sogar Konsens, nämlich an der Art und Weise, wie der sichtlich seiner jüdischen Identität ebenso wie in der zionistischen Jugendbewegung Akiva ak- Begriff Jude für gewöhnlich im Alltag verwendet Rufeisen die Zugehörigkeit zum jüdischen Kol- tiv gewesen. Dem Karmeliterorden hatte er sich wird. Juden im Allgemeinen und Israelis, darun- lektiv nur im nationalen Sinn verstand und auf 1945 unter dem Namen Daniel Maria auch des- ter auch die nichtjüdischen, nehmen den zu einer solche Trennung Wert legte. Er heiratete 1958 wegen angeschlossen, weil dieser in Haifa ein anderen Religion übergetretenen Juden als einen während seines Studiums in Schottland Anne Kloster als Mutterhaus besaß, wo er dann auf sei- Menschen wahr, der, so argumentierte Richter Zvi Geddes, Tochter eines Schotten und einer Franzö- nen Wunsch hin tatsächlich auch lebte und 1952 Berinson, »nicht nur aus der jüdischen Religion, sin sowie Nichtjüdin. Das Paar ließ sich in Haifa zum Priester geweiht wurde. sondern auch aus der jüdischen Nation ausgetre- nieder und war voll in die israelische Kultur in- Zum Zeitpunkt seines Petitionsantrags galt das ten ist«. Maßgeblich sei ferner eine Interpretation tegriert. Als ihre Kinder Oren und Galia auf die Rückkehrgesetz von 1950. »Jeder Jude ist berech- des Rückkehrgesetzes im Kontext seiner Entste- Welt kamen, wollte Shalit, der sich ebenso wie tigt, in das Land einzuwandern«, heißt es darin. hung sowie vor dem Selbstverständnis des Zionis- seine Frau als konfessionslos verstand, beide als Was aber fehlte, war eine Definition dessen, wer mus als politischer Bewegung. So hatte sich Theo- Angehörige der jüdischen Nation und konfessi-
Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg |9 onslos ins Bevölkerungsregister eintragen lassen. bindliche Definition darüber enthält, wer Jude ist, Sein Anliegen wurde jedoch abgelehnt. mit dem Gesetz über die Eintragung in das Be- Daraufhin ging der Fall gleichfalls an das völkerungsregister von 1965 verknüpft. Wer nun Oberste Gericht und wurde von neun Richtern also als Jude nach Israel einwandern will und verhandelt. Fünf davon gaben dem Berufungs- sich unter den Kategorien Religion und Nation antrag statt, vier stimmten dagegen. Der Fall, der auch als solcher registrieren lassen möchte, muss von 1968 bis 1970 verhandelt wurde, stieß in entweder eine jüdische Mutter haben oder zum der Öffentlichkeit auf großes Interesse. In dieser Judentum konvertiert sein. Angehörigen einer Zeit appellierten die Richter an die Regierung anderer Religion ist dieser Schritt nicht möglich. und forderten sie auf, zur Verhinderung solcher Diese gesetzgeberische, politische Antwort auf ideologisch aufgeladener Debatten ganz auf die das liberale Urteil im Fall Shalit setzt eine ver- Eintragung der nationalen Zugehörigkeit im Be- bindliche Interpretation des Begriffs »Jude« völkerungsregister zu verzichten. Die Regierung fest, die die Komponenten Nation und Religion wies ihr Anliegen jedoch zurück. untrennbar miteinander verknüpft. Bei der No- vellierung wurde der halachische Maßstab auf- ANERKENNUNG Im Grunde schrieb die Mei- gegriffen und die Einschränkung »... und nicht nung des Obersten Gerichts im Fall Shalit die Angehöriger einer anderen Religion« hinzuge- im Rufeisen-Urteil bereits vorgetragenen Argu- fügt, die auf das Urteil im Fall Rufeisen zurück- mente von Richter Cohen fort. Es zeichnete sich geht. Sie beinhaltete zudem auch einen weiteren, bei der Mehrheit von ihnen die Tendenz ab, die liberalen sowie praktisch orientierten Paragra- Fragestellung zu entideologisieren. Im Sinne der fen, wonach die Staatsbürgerschaft auch den subjektivistischen Auffassung von Cohen wurde nichtjüdischen Verwandten eines Juden zusteht das Ganze als eine verwaltungsrechtliche Ange- – beispielsweise Ehepartnern, Kindern und En- legenheit beurteilt und der Regelungszweck sol- keln. Dieser Paragraf sichert im Sinne der Fami- cher Eintragungen betont. Diese würden ledig- lienzusammenführung vor allem das Recht auf lich statistischen Zwecken dienen. Die Frage war Einwanderung von Paaren mit unterschiedlicher also, erklärte Richter Joel Sussmann, nicht die all- Religionszugehörigkeit. gemeine, wer Jude sei, sondern lediglich die, ob die entsprechende Behörde dazu verpflichtet sei KONNOTATION Betrachtet man den ersten Teil oder nicht, Kinder als konfessionslose Angehöri- der Novellierung, so zeigt die eindeutige parlamen- ge der jüdischen Nation ins Bevölkerungsregister tarische Reaktion auf das Shalit-Urteil, wie schwer einzutragen. die Einheitsthese von der Untrennbarkeit von Na- Es gehe dabei nicht um die Anerkennung der tion und Religion im Begriff des Judentums wiegt. Kinder als Juden. Die Eintragung in das Einwoh- Gemäß der neuen Definition wird vor allem auf- nerregister selbst stelle keine Grundlage für eine grund der Einschränkung »und nicht Angehöriger Anerkennung als solche dar. Auch sei die Ver- einer anderen Religion«, die die Halacha nicht an- pflichtung dazu nicht von der Richtigkeit der erkennt, der religiöse Aspekt im Begriff des Juden- gemachten Angaben abhängig, und auch die Tat- tums formal hervorgehoben. In seiner Mitteilung sache, dass sie eingetragen werden, würde nicht über die nationale Zugehörigkeit ist der jüdische automatisch bedeuten, sie seien korrekt. Gerade Bürger insofern gezwungen, den religiös besetzten solche Details wie Angaben über die Zugehörig- Sinn im Begriff Jude in Kauf zu nehmen. keit zu Nation und Religion gelten im Gesetz Kein Wunder, dass die neue gesetzliche Rege- nicht als »Prima-Facie-Beweise«, auch Anscheins- lung unmittelbar nach ihrer Inkraftsetzung einen beweise genannt. Nur in ganz extremen Fällen, Georg Rafael Tamrin veranlasste, eine Beschwer- wenn beispielsweise ein Erwachsener bei der An- de vor dem Obersten Gericht einzureichen. Nun gabe seines Alters das eines Kindes nennt, sei der wurde im Kontext der Nationszugehörigkeit das Beamte befugt und verpflichtet, die Erklärung israelische gegen das jüdische Bewusstsein aus- nicht zu akzeptieren. Der subjektive Maßstab er- gespielt. Tamrin nahm Anstoß daran, dass der wächst aus dem Geist des Gesetzes über die Ein- Begriff »Jude« seiner Meinung nach nun eine tragung im Bevölkerungsregister und setzt den zu starke national-religiöse Konnotation erhal- Beamten deutliche Grenzen in ihrem Beurtei- ten habe, und wollte den Eintrag »Jude« durch lungsspielraum. »Israeli« im Personalausweis ersetzt wissen. Sein Antrag wurde zwar abgelehnt, doch traf er damit CHARAKTER Der Vergleich der Fälle Rufeisen durchaus den durch die zahlreichen Kulturkämp- und Shalit zeigt: Beide Antragsteller beanspruch- fe sensibilisierten Nerv vieler Israelis. ten die Eintragung »jüdisch« unter der Rubrik Eine weitere Wendung in diesem Diskurs war »Nation«. Aber was dem geborenen Juden Ruf- die richterliche Entscheidung aus dem Jahr 2011, eisen nicht gewährt wurde, bekamen die nach als dem Gesuch des atheistischen Schriftstellers halachischer Sicht nichtjüdischen Kinder von Yoram Kaniuk stattgegeben wurde. Er hatte da- Shalit zugesprochen. Diese auf den ersten Blick rauf bestanden, dass seine im Personalausweis paradoxe Vorgehensweise hat man mit dem Hin- genannte religiöse Zugehörigkeit verschwinden weis auf den gemeinsamen säkularen Charakter soll. Dieser Präzedenzfall verleiht der Konfes- beider Gerichtsurteile zu erklären versucht. Denn sionsfreiheit israelischer Bürger, die ethnisch Fotos: Flash 90 in beiden Fällen wurde ein dem halachischen gesehen dem jüdischen Volk angehören, eine Maßstab entgegengesetztes Urteil gefällt. Zudem staatliche Anerkennung. Im globalen Kontext ist Folgendes zu beachten: Im Fall Rufeisen ori- erblickt man in all dem die Sonderstellung der entierte sich die herrschende Meinung an einer Gesellschaft im Staat Israel. Es ist vermutlich objektivistischen Deutung des Begriffs »Jude«. das einzige Land auf der Welt, wo Sensibilitäten Diese Hermeneutik hat sich im Fall Shalit gewan- man dabei auch von einem breiten Konsens in für den eigenen Personenbegriff den politischen delt. Hier hat sich eindeutig die subjektivistische der israelischen Bevölkerung ausgehen. und gesellschaftlichen Diskurs um die Zukunft Orientierung durchgesetzt. Zudem kündigte sich Unmittelbar nach Bekanntgabe der Entschei- des Landes nicht nur widerspiegeln, sondern zu- darin die Tendenz an, die Frage der Eintragung dung zugunsten von Shalit erfolgte die parlamen- gleich auch vorantreiben können. abseits von ihrem ideologischen Gehalt im kon- tarische Gegenreaktion. Auf Druck der religiösen kreten Kontext des fraglichen Regelungsbereichs Parteien wurde das Rückkehrgesetz novelliert g Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Tal- zu behandeln. Anders als im Fall Rufeisen konnte und der entsprechende Paragraf, der eine ver- mud, Codices und Rabbinische Literatur.
10 | Jüdische Illustrierte Erzählen, um zu überleben TANACH Sprachliche Formen von Erinnerungsbewältigung in den biblischen Literaturen von hanna liss D ie Hebräische Bibel ist ein Dokument, in dem sich nicht nur Spuren kollekti- ver Traumatisierungen finden lassen, sondern zugleich auch sehr gelungene Versuche, genau diese zu überwinden. Vor allem, wenn wir in den Vorderen und Hinteren Prophe- tenbüchern von der Staatenbildung der beiden Reiche Israel und Juda, aber auch von ihren kur- zen Phasen der Blüte und dem grausamen Ende, das ihnen die Assyrer und Babylonier zwischen dem 10. und 6. Jahrhundert v.d.Z. bereiteten, er- fahren, dann geht es zumeist um die Beziehung zwischen Gott und Israel. Betont wird dabei, dass es Israel war, das den göttlichen Zorn auf sich ge- zogen hat und damit die Verantwortung für seine nationalen Katastrophen selbst trägt. Da mag man sich schnell folgende Fragen stel- len: Wie kann es sein, dass Israel in der eigenen Nationalliteratur für seinen Untergang an den Pranger gestellt wird? Hängt es vielleicht damit zusammen, dass theologische und historische Einschätzung nicht ganz deckungsgleich sind? Betrachten wir nämlich die politische Situation dieser Zeit, so ergibt sich folgendes Bild: Die Jah- re unter der assyrischen Oberherrschaft, der Un- tergang des Staatsgebietes Israels 732 v.d.Z., die Belagerung Jerusalems 701 v.d.Z. und schließlich die Zerstörung der Stadt durch Nebukadnezar im Jahr 586 v.d.Z. lassen unmissverständlich er- kennen, dass eine politische oder militärische Ka- tastrophe die nächste jagte, und dass weder die Nordreich-Könige noch die davidischen Reprä- sentanten unter den historischen Rahmenbedin- Foto: dpa gungen eine Politik betreiben konnten, die den politischen Zusammenbruch des kleinen Staates Juda trotz seiner im Vergleich mit den syro-paläs- »Nebukadnezar zerstört Jerusalem«: kolorierte Kreidelithografie von Roland Weibezahl, 1832 tinischen Kleinstaaten relativen Stärke auf Dauer hätte verhindern können. zieht sich daher gerade das Motiv von »Scham daran, dass Räume und Grenzen nicht respektiert und Verachtung« – auf Hebräisch: buscha und ke- oder vonseiten des Täters seinem Opfer erst gar SCHAM Landverlust, Vertreibung und die eige- limma – durch die Erzählungen und Berichte zu- nicht mehr zugestanden werden. Scham ist also ne militärische Schwäche waren seinerzeit die nächst der Hebräischen Bibel (Ez 7,18; Jer 51,51; von Heimatlosigkeit und dem Verlust des eigenen schlimmsten Erfahrungen, die ein Volk machen Ovad 1,10; Mi 7,10; Ps 69,8; 89,46; 109,29), dann Raumes geprägt. Strategien der Schamabwehr konnte. All das galt als sehr schamvoll. Aber statt aber auch der späteren rabbinischen Quellen des müssten danach dergestalt entwickelt werden, diese politischen Gegebenheiten hervorzuheben, Judentums bis in die Liturgie hinein. dass der Beschämte seine Handlungsfähigkeit wird Israel in einem religiösen Kontext verhan- Noch heute beten wir beim Segen für den Neu- vor sich selbst und dem anderen – in unserem delt und als Schuldiger für das eigene Versagen mond (Birkhot ha-Chodesh) für ein »Leben ohne Falle müsste man zusätzlich wohl auch vor Gott überführt. Die Bibel ist deshalb auch ein Doku- Scham und Schande«. Gerade in den Klagelie- sagen – wiedergewinnt. Die positive Verarbei- ment der kollektiven Schamerfahrungen. dern (Ekha) als nationaler Klage über die Verwüs- tung bestünde mithin in der Wiedergewinnung Wir müssen uns dabei stets vor Augen führen, tung des Tempels und dem Leiden der judäischen des Raumes und der eigenen Verfügungsgewalt. dass das politisch-militärische Ausgeliefertsein Bevölkerung wird dies eindrucksvoll geschildert. Für Israel bestand diese positive Verarbeitung im an andere Nationen im Denken der damaligen Und Jean-Paul Sartre beobachtete in seinem gedeuteten Aufschreiben der Ereignisse durch Gesellschaften in erster Linie als Schwäche des Hauptwerk Das Sein und das Nichts einmal sehr die geistige und kultische Elite: die Priester und eigenen Gottes oder gar als Preisgabe durch den treffend, dass der Beschämte beziehungsweise die Propheten. Reichs- oder Stadtgott gedeutet wurde und daher der sich Schämende zum Objekt für andere wird: So kam es in Israel in der schmerzhaften Aus- in höchstem Maße ein schamvolles Erlebnis war. »Die reine Scham ist nicht das Gefühl, dieser oder einandersetzung mit den Verfolgungen durch In ihrem Buch Shame and the Search for Iden- jener tadelnswerte Gegenstand zu sein, sondern andere zur Überführung des traumatischen Er- tity schreibt die Autorin Helen Lynd, dass zum überhaupt ein Gegenstand zu sein, das heißt, lebnisses der Heimatlosigkeit und Nacktheit Erleben von Scham immer der »Verlust von Ver- mich in jenem degradierten, abhängigen und in einen Raum der Schuld, und zwar: in einen trauen, Bloßstellung, Scheitern, das Gefühl der starr gewordenen Gegenstand, der ich für andere Text-Raum. Aus der ahistorischen, traumatischen Heimatlosigkeit« gehört. geworden bin, wiederzuerkennen.« – in der Sprache der modernen Psychotraumato- Auch für Israel war dies offensichtlich eine Traumatische Erfahrungen, die bei den Opfern logie: dissoziativen – Erinnerung in ihren einzel- ganz zentrale Erfahrung. Wie ein roter Faden ein Schamerleben hervorrufen, zeigen sich also nen Fetzen wurde eine sinngestiftete, assoziative
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