Jüdische Illustrierte - Happy Shavuot! - verlagsbeilage der hochschule für jüdische studien heidelberg - Hochschule für Jüdische Studien ...

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Jüdische Illustrierte - Happy Shavuot! - verlagsbeilage der hochschule für jüdische studien heidelberg - Hochschule für Jüdische Studien ...
Jüdische Illustrierte
 verlagsbeilage der hochschule für jüdische studien heidelberg
BERLIN, DEN 17. MAI 2018   3. SIWAN 5778        73. JAHRGANG   NR.   20

                                      Happy
                                     Shavuot!
Jüdische Illustrierte - Happy Shavuot! - verlagsbeilage der hochschule für jüdische studien heidelberg - Hochschule für Jüdische Studien ...
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                                                                                                                 Zusammenarbeit
                                                                                                                 EDITORIAL Fakultätsübergreifende Kooperationen
                                                                                                                                     sind die große Stärke der HfJS

                                                   Foto: Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg/flohagena
                                                                                                                unterrichtet. Zusammen saßen da Lehramts-           Miteinander von Zentralrat, Zentralwohlfahrts-
                                                                                                                studierende der Geschichte von der Universität      stelle und Hochschule fand im Februar in Heidel-
                                                                                                                und Studierende der Hochschule: die einen ver-      berg das Fortbildungsseminar für Religions- und
                                                                                                                siert in der Geschichte Habsburgs, Preußens oder    HebräischlehrerInnen statt. Die rundweg positi-
                                                                                                                auch von Kurmainz, die anderen in den sozialen      ven Eindrücke schlagen sich auch in Ergebnissen
                                                                                                                und politischen Bedingungen kleiner und gro-        nieder: In enger Zusammenarbeit sollen Lehrbü-
                                                                                                                ßer Gemeinden und ihren Lebenswelten, mit der       cher für jüdische Geschichte und zum Bereich Is-
                                                                                                                Haskala, und ebenso mit Moses Mendelssohn,          rael/Naher Osten auf den Weg gebracht werden.
                                                                                                                Abraham Geiger oder Adolf Jellinek. Einmal ab-      In Vorbereitung befindet sich ferner die gemein-
                                                                                                                gesehen davon, dass es allein in Heidelberg mög-    same Ausrichtung des bislang an der Fachhoch-
                                                                                                                lich ist, dass künftige GeschichtslehrerInnen jü-   schule Erfurt angesiedelten Studiengangs Jüdi-
                                                                                                                dische Geschichte nicht als randständig, sondern    sche Sozialarbeit.
                                                                                                                als Teil des Ganzen verstehen, hat mir dieses         Das Wesen der Heidelberger Hochschule – an-
                                                                                                                Seminar selbst große Freude gemacht. Denn das       dere würden sagen: den »Markenkern« – macht
            von johannes heil                                                                                   gemeinsame Lernen war intensiv, anregend und        aber etwas anderes aus: In Verbindung miteinan-

Z
                                                                                                                überaus fruchtbar. Vor allem zog niemand sich       der stehen hier schon an der Basis kulturwissen-
         usammen wird seit ehedem zu Schawu-                                                                    auf »seinen« Teil zurück; stets standen der Aus-    schaftliche und religiöse Zugänge, konkret heißt
         ot eine Nacht lang gelernt (Tikkun Leil                                                                tausch und die Übergänge im Vordergrund.            das Jüdische Studien und Jüdische Theologie.
         Schawuot) – auch dieses Jahr an der                                                                       Gemeinsam gestaltet wird vieles in Heidelberg.   Wir verstehen unter Jüdischer Theologie das be-
         Hochschule für Jüdische Studien Heidel-                                                                Mit der Universität in der Lehre, denn die meis-    gründete und nach außen wissenschaftlich ver-
berg mit Rabbiner Shaul Friberg. Als Pilgerfest                                                                 ten Studiengänge sehen ein Zweitfach vor; dazu      antwortete Nachdenken über das (Jüdinnen und
ist Schawuot ein gemeinschaftsstiftendes Fest.                                                                  kommen zwei Kooperationsstudiengänge: der           Juden eigene!) religiöse Erbe. Die Gegenstände
Beim stehenden Anhören der Aseret ha-Dibberot,                                                                  Heidelberger Mittelalter-Master und der Master      sind (überwiegend) gemeinsam, die Lesarten
der zehn Worte, im Wochenabschnitt in Erinne-                                                                   in Vergleichender Literaturwissenschaft. Ab dem     und Zielsetzungen verschieden. Daraus folgt eine
rung an den Moment, als das Volk auf dem Sinai                                                                  Wintersemester 18/19 wird als dritter der Master    diskursive Situation, die beidem zuträglich ist,
die Tora entgegennahm, drückt sich das Gemein-                                                                  in Nahoststudien hinzukommen. Kooperativ mit        zumal wenn Religionslehre und/oder Theologie
schaftliche noch einmal besonders aus.                                                                          der Universität Heidelberg übt die Hochschule       nicht in Bindung an eine einzelne Strömung oder
   Zusammen gehören auch an der HfJS das (re-                                                                   auch das Promotionsrecht in Jüdischen Studien       »Konfession« im Judentum vermittelt werden,
ligiöse) Lernen und (wissenschaftliche) Lehren                                                                  aus. Verbunden ist man mit der Universität Hei-     sondern übergreifend vor den verschiedenen De-
und Forschen. Im Bau der Hochschule, mit dem                                                                    delberg besonders in der Forschung, etwa im         nominationen ansetzen.
vor zehn Jahren begonnen wurde, stehen sich der                                                                 Sonderforschungsbereich »Materiale Textkultu-         Gemeinsam werden wir dann auch im Jahr
Beit Midrasch und die Bibliothek Albert Einstein                                                                ren«, ferner mit Mainz und Frankfurt im Gradu-      2019 die anstehenden Feierlichkeiten begehen:
korrespondierend, nicht einander ausschließend                                                                  iertenkolleg »Theologie als Wissenschaft«.          mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland das
gegenüber. Erst im Miteinander werden die Jü-                                                                      Diese Kooperationen haben auch die Grundla-      40-jährige Bestehen unserer Hochschule, und mit
dischen Studien vollständig. Schawuot ist dann,                                                                 ge dafür geschaffen, dass 2018 mit dem Corpus       der Universität und dem Verband der Judaisten
liebe Leserinnen und Leser, ein günstiger Mo-                                                                   Masoreticum am Lehrstuhl Bibel und Jüdische         in Deutschland das 200-jährige Gründungsjubi-
ment, die ganz unterschiedlichen Schnittstellen                                                                 Bibelauslegung erstmals ein Langzeitprojekt der     läum unserer Disziplin, der Wissenschaft des Ju-
zu betrachten, die die Heidelberger Hochschule                                                                  Deutschen Forschungsgemeinschaft eingewor-          dentums.
zu einem besonderen Ort machen.                                                                                 ben werden konnte. Dass besonders der Nach-
   Ich habe im vergangenen Semester ein Semi-                                                                   wuchs im Fach davon profitieren wird, ist nur       g Der Autor ist Rektor der Hochschule für Jüdi-
nar über »Europäische Wege der Emanzipation«                                                                    eine unter einer Vielzahl positiver Folgen. Im      sche Studien Heidelberg.

                                                                                                                                                                             IMPRESSUM
Inhalt                                                                                                                                                                   Jüdische Illustrierte
                                                                                                                                                                                      Chefredakteur: Detlef David Kauschke
                                                                                                                                                                                  Redaktion: Susanne Mohn, Ingo Way, Ralf Balke

Gründerzeit in Nahost                     04                                                                    Iudaei latini? 				                         12                             Artdirektor: Marco Limberg
                                                                                                                                                                                             Grafik: Anita Ackermann
                                                                                                                                                                                              Lektorat: Bettina Piper
Warum Israel im Unterschied zu anderen                                                                          Zur vorrabbinischen jüdischen Lebenswelt im
                                                                                                                                                                                     Druck: BVZ Berliner Zeitungsdruck GmbH
Minderheitenstaaten in der Region Erfolg hatte                                                                  westlichen Mittelmeerraum

                                          06                                                                                                                13
                                                                                                                                                                                                    Herausgeber:
                                                                                                                                                                                    Zentralrat der Juden in Deutschland K.d.ö.R.
Die Rabbanit von Worms                                                                                          Ulpan, Lernen, Schabbat 			                                                  Gründer: Karl Marx sel. A.
Was wäre, wenn Belette 1196 nicht ermordet                                                                      Studierende und der Hochschulrabbiner erzählen,
                                                                                                                                                                                        Geschäftsführer: RA Daniel Botmann
worden wäre?                                                                                                    worauf sie sich im Sommersemester freuen                                Verlagsleiterin: Korinna v. Richthofen

Religion oder Abstammung?                 08                                                                    Drei Alumni, drei Fragen                    14                      Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg
                                                                                                                                                                                          Rektor Prof. Dr. Johannes Heil
Warum sich das Oberste Gericht Israels mit der                                                                  Absolventen der HfJS berichten, was aus ihnen                                   Landfriedstraße 12
                                                                                                                                                                                                 69117 Heidelberg
Frage beschäftigt, wer Jude ist                                                                                 geworden ist
                                                                                                                                                                                  Telefon 06221 / 54 19 200, Fax 06221 / 54 19 209

Erzählen, um zu überleben                  10                                                                   Vom Elsass bis nach Basel 		                15                                 E-Mail: info@hfjs.eu

                                                                                                                                                                    Eine Verwertung der urheberrechtlich geschützten Zeitungsbeiträge, Abbildun-
Sprachliche Formen von Erinnerungsbewältigung                                                                   Die Neue Gallia-Germania Judaica – digitale                               gen, Anzeigen etc. ist unzulässig.
in den biblischen Literaturen                                                                                   Neubearbeitung der jüdischen Geschichte vor 1300
Jüdische Illustrierte - Happy Shavuot! - verlagsbeilage der hochschule für jüdische studien heidelberg - Hochschule für Jüdische Studien ...
Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg                                                                                                                                                          |3

  Jüdische Identität
       stärken
            Grußwort von
                                                                                Alle Disziplinen
                                                                            ÜBERSICHT Eine Auswahl aus unserem Kursangebot
            Barbara Traub

                                                                            M
An Schawuot erinnern wir uns daran, dass uns                                              it zehn Lehrstühlen bietet die Hoch-
seinerzeit am Berg Sinai die Tora geschenkt wur-                                          schule ein Lehrangebot in allen
de. Und damit erhielt unser Volk gewissermaßen                                            Disziplinen der Jüdischen Studien,
auch seine Seele und seine Identität. Am ersten                                           sodass philologische, theologische
Abend des Schawuotfestes entspricht es daher                                und kulturwissenschaftliche Fragestellungen
den Traditionen, die Tora ausführlich zu studie-                            und Methoden neben einer Grundausbildung
ren. Aber nicht nur die Tora wird gelernt, sondern                          in Bibelwissenschaft und rabbinischer Literatur
das gesamte jüdische Wissen und die rabbinische                             den Studierenden vermittelt werden. Die religi-
Literatur werden herangezogen, um im Lernen                                 onspraktischen Kurse zu Gebet und Gottesdienst
die Tora als Gabe an unser Volk zu preisen.                                 unterrichten Hochschulrabbiner Shaul Friberg
   Das ist eine Tradition, wie wir sie an der Hoch-                         sowie zahlreiche Professorinnen und Professo-
schule für Jüdische Studien Heidelberg (HfJS)                               ren. Eine breit gefächerte Sprachausbildung von
in besonderer Weise pflegen. Auch bei uns ste-                              biblischem Hebräisch bis zu Jiddisch befähigt zu
hen Tora und Judentum im Zentrum, gilt es, das                              einem kundigen Dialog über kanonische Texte
Wissen über das Judentum zu mehren und so                                   und historische Quellen.
auch die jüdische Identität zu stärken. So trägt                               Der folgende Überblick zum aktuellen Lehr-
die HfJS aufgrund der Vielfalt ihrer eigenen                                angebot der Hochschule für Jüdische Studien
akademischen Inhalte und der Verflechtung mit                               zeigt eine kleine exemplarische Auswahl aus
anderen Lehrstühlen an der Ruprecht-Karls-Uni-                              dem Fächerkanon. Einige Veranstaltungen dieser
versität Heidelberg, der ältesten Universität                               Hochschule werden gemeinsam mit Professorin-
Deutschlands, zu einem unglaublich vielschich-                              nen und Professoren der Universität Heidelberg
tigen und facettenreichen Angebot für unsere                                unterrichtet, sodass Studentinnen und Studenten
Studierenden und Dozenten bei. Kontakte mit                                 von der interdisziplinären Zusammenarbeit am
Universitäten in Israel und ganz Europa runden                              Universitätsstandort Heidelberg durchaus profi-
die ohnehin breite Palette ab.                                              tieren. Kurse in englischer Sprache sind für alle
   Nicht nur als europäisches Kompetenzzentrum                              Studierenden aus dem englischsprachigen »Mas-
für Jüdische Studien, sondern auch als Hoch-                                ter of Arts Jewish Civilizations«-Programm sowie
schule mit einer jüdischen Seele hat die HfJS ein                           für andere »Master of Arts«-Programme offen.
einzigartiges Lern- und Arbeitsklima zu bieten.
An Schawuot essen wir Milchprodukte, um zum                                 Bibel und Jüdische Bibelauslegung
                                                                                                                                 Foto: Marco Limberg

Ausdruck zu bringen, dass uns Juden die Tora wie                            Grundkurs: Einführung in die Hebräische Bibel
Milch ist, die der Säugling begierig aufsaugt, die                          Oberseminar: Die Bibel als Literatur von
ihn nährt und gedeihen lässt. Ganz so ist auch die                          Überlebenden
Atmosphäre durch das vertrauensvolle Miteinan-
der von Professoren und Studierenden in einem                               Talmud, Codices und Rabbinische Literatur
familiären Umfeld in besonderer Weise geeignet,                             Oberseminar: Wer ist Jude? Der rabbinische Dis-
mit Leidenschaft zum Judentum zu forschen, zu                               kurs um jüdische Identität                                                 Jüdische Kunst
lernen und neues Wissen zu erschließen.                                     Seminar: Judentum und Demokratie im Spiegel                                Seminar: Überblick über die Synagogenarchi-
   In diesem Sinne lade ich Sie herzlich ein, sich                          der aktuellen Debatte um die gesellschaftliche                             tektur in Europa: Sachstand und Forschungs-
auf den kommenden Seiten selbst ein Bild von                                und kulturelle Gestaltung des Staates Israel                               geschichte
der Vielfalt der an der HfJS angebotenen Stu-                                                                                                          Oberseminar: Landjudentum und Sachkultur:
diengänge, Lehr- und Lernangebote zu machen.                                Geschichte des Jüdischen Volkes                                            Ausdruck von Rück- oder Eigenständigkeit?
Oder nutzen Sie einfach Ihren nächsten Besuch                               Vorlesung: Ausgrenzung, Verfolgung, Selbstbe-
in Heidelberg, um auch in der Landfriedstraße                               hauptung – Jüdische Geschichte 1933–1948                                   Jüdische Religionslehre, -pädagogik und -di-
vorbeizuschauen, in unsere Bibliothek hineinzu-                             Oberseminar: Joseph Süß Oppenheimer (»Jud                                  daktik
schnuppern oder einen der interessanten Vorträ-                             Süß«) im innerjüdischen Kontext betrachtet                                 Proseminar: Jiddische Gedenkliteratur im Kon-
ge zu besuchen, die sich auch an ein breiteres Pu-                                                                                                     text deutsch-, französisch- und englischsprachi-
blikum richten. Ihnen und Ihren Familien sowie                              Jüdische Literaturen                                                       ger Erinnerungstexte
allen Studierenden und Professoren an der HfJS                              Vorlesung: The History and Story of Modern
nunmehr ein herzliches Schawuot Sameach!                                    Hebrew Literature                                                          Israel- und Nahoststudien
                                                                            Oberseminar: Text und Bild: Die autobiografi-                              Seminar: Nationsbildung und Staatlichkeit im
g Die Autorin ist Vorsitzende des Kuratoriums                               schen Werke Chagalls aus kunsthistorischer, jid-                           Vorderen Orient
der HfJS.                                                                   distischer und literaturwissenschaftlicher Sicht
                                                                                                                                                       Jüdische Musik
                                                                            Hebräische Sprachwissenschaft                                              Oberseminar: Kultur und Identität: Musik der
                                                                            Oberseminar: Palästinische Vokalisierungstradi-                            Mizrachim in Israel
                                                                            tion des Hebräischen                                                       Seminar: The art of music isn’t hard to master ...?!
                                                                            Übung: Das Buch Diqduqe ha-teamim von                                      The 19th Century and the Jewish Musician
                                                                            Mosche ben Ascher und verwandte gramm. Ab-
                                                                            handlungen                                                                 Praktische Religionslehre
                                                                                                                                                       Übung: Siddur
                                                      Foto: Philipp Rothe

                                                                            Jüdische Philosophie und Geistesgeschichte                                 Übung: Limmud
                                                                            Vorlesung: Was ist jüdische Philosophie? Eine
                                                                            Einführung in Themen, Werke und Denktradi-                                 g Das digitale Vorlesungsverzeichnis ist auf dem
                                                                            tionen                                                                     Webportal der Hochschule www.hfjs.eu öffentlich
                                                                            Oberseminar: Kabbalah und Moderne                                          zugänglich.
Jüdische Illustrierte - Happy Shavuot! - verlagsbeilage der hochschule für jüdische studien heidelberg - Hochschule für Jüdische Studien ...
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             Gründerzeit in Nahost
   ZIONISMUS Warum Israel im Unterschied zu anderen Minderheitenstaaten
                                                         in der Region Erfolg hatte

David Ben Gurion rief 1948 den Staat Israel aus. Derzeit wird der 70. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung ausgiebig gefeiert.                              Foto: GPO

            von johannes becke                            Polizei einigen können – von einer Fahne oder             Gebet und der Hoffnung, in sein Land zurückzu-

E
                                                          einer Nationalhymne ganz zu schweigen.                    kehren und dort seine politische Freiheit zu er-
         igentlich war der bewaffnete Konflikt,                                                                     neuern.«
         der im Mai 1948 unmittelbar nach der             NARRATIV Im Kontext des Nahostkonflikts war                  Vielleicht kann die »Mamlachtiyut«, die Staats-
         Gründung des Staates Israel mit seinen           die Unabhängigkeitserklärung also nicht unbe-             zentriertheit, die in der Unabhängigkeitserklä-
         arabischen Nachbarn ausbrach, alles an­          dingt ein Wendepunkt, für das zionistische Pro-           rung gleichfalls zum Ausdruck kommt, nur vor
dere als eine Überraschung. Denn als vor genau            jekt hingegen sehr wohl. Aus dem »Medina Sche-            dem Hintergrund der langen jüdischen Geschich-
70 Jahren die Unabhängigkeit des jüdischen                baderech«, dem Staat im Aufbruch, wurde quasi             te der Staatslosigkeit richtig verstanden werden.
Staates ausgerufen wurde, befanden sich Juden             über Nacht ein Nationalstaat, und aus dem Vor-            Zudem war im Nahen Osten das zionistische Auf-
und Araber bereits längst im Kampf um die Vor-            sitzenden des Exekutivrats der Jewish Agency,             bauwerk alles andere als ein Einzelfall. Denn in
herrschaft über das bis dahin britische Mandats-          David Ben Gurion, der Premierminister und der             der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen sowie
gebiet Palästina. Und auch, wenn die regulären            Verteidigungsminister der kommissarischen Re-             unmittelbar nach 1945 gab es gleich mehrere
Armeen Ägyptens, Jordaniens und Syriens erst              gierung. In der Unabhängigkeitserklärung begeg-           Staatsprojekte, die von Minderheiten ohne eine
am Tag darauf offiziell in den Krieg eingriffen, so       net uns deshalb auch das klassische zionistische          Geschichte der staatlichen Selbstbestimmung in-
gab es in dem Land zwischen Mittelmeer und Jor-           Narrativ von der Vision und ihrer Erfüllung, das          itiiert worden waren.
dan bereits seit 1947 blutige Auseinandersetzun-          diesen Moment prägte. »Im Land Israel entstand               So setzte sich bei der Pariser Friedenskonfe-
gen zwischen jüdischen und arabischen Milizen,            das jüdische Volk. Hier wurde sein geistiges, reli-       renz von 1919 eine Delegation assyrisch-chal-
wobei es zu Massakern und Vertreibungen kam.              giöses und politisches Wesen geformt. Hier lebte          däischer Christen – wenn auch vergeblich – für
Damit war genau das Realität geworden, was sich           es in staatlicher Unabhängigkeit, hier schuf es na-       einen assyrischen Nationalstaat im Norden des
spätestens mit dem arabischen Aufstand zwi-               tionale und universelle Kulturgüter und schenkte          heutigen Irak ein. Ihr Argument: Ein solcher kön-
schen 1936 und 1939 in Konturen abzuzeichnen              der gesamten Welt das ewige Buch der Bücher.              ne auch für die zahlreichen Nichtchristen auf sei-
begann: Die Einstaatenlösung war politisch nicht          Nachdem das Volk mit Gewalt aus seinem Land               nem Territorium wirtschaftliche Vorteile mit sich
durchsetzbar. Nie hätte man sich auf ein gemein-          vertrieben wurde, hielt es ihm in allen Ländern           bringen, und mithilfe einer den Assyrern wohl-
sames Parlament, eine Regierung oder vielleicht           der Zerstreuung die Treue und ließ nicht ab vom           gesonnenen Mandatsmacht ließe sich gewiss in
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Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg                                                                                                                                                                                                                                                              |5

spätestens 25 Jahren das Ziel der Eigenstaatlich-
keit erreichen.

GEMEINWESEN Im Norden des heutigen Ma-
rokko, im Rif-Gebirge, waren es die Berber, die
nach Unabhängigkeit strebten. Abdelkarim al-
Khattabi, einer ihrer Anführer, hatte zum Wider-
stand gegen die europäische Fremdherrschaft
aufgerufen und 1921 die Rif-Republik gegründet,
der aber 1926 spanische und französische Kolo-
nialtruppen wieder den Garaus bereiteten. In ih-
rer Unabhängigkeitserklärung hatten die Berber
auf die Eigenständigkeit ihrer Sprache, Kultur
und Geschichte verwiesen und deshalb erklärt,
»von der Grenze Marokkos bis zum Mittelmeer
und vom Fluss Moulouya bis zum Atlantischen
Ozean« ein Gemeinwesen gründen zu wollen.
  Auch die Kurden pochten auf Eigenstaatlich-
keit. Nach der kurzlebigen Ararat-Republik, aus-
                                                     Foto: „State of Israel 10th Anniversary – Celebration For the Minorities In Haifa“, Rafael Mohar, via the Palestine Poster Project Archives

gerufen 1927 von Rebellen im Osten der Türkei,
unternahmen sie 1946 mit der Grün­dung der
Mahabad-Republik auf dem Gebiet des Iran ei-
nen zweiten Anlauf. Die Demokratische Partei
Kurdistans, die treibende Kraft hinter dem Vor-
haben, beklagte in ihrem Gründungsaufruf die
kurdische Verfolgungsgeschichte und sprach
von »Kugeln, Bomben, Gefängnis, Vertreibung
und Exekution«. Zugleich forderte man ein
Recht auf nationale Selbstbestimmung. »Wa-
rum dürfen unsere Kinder nicht auf Kurdisch
erzogen werden? Warum sollen wir unser Haus
nicht verwalten, wie es uns gefällt?« Das Ziel
war die »Rettung der kurdischen Nation vor
der Vernichtung« sowie »die Bewahrung ihres
Reichtums, ihrer Frauen und ihres Rufs als Na-
tion«.
  Keiner dieser Minderheitenstaaten war von
Bestand – weder die Rif-Republik noch die kur-
dische Mahabad-Republik. Die kurze Phase der
Gründerzeit von Minderheitenstaaten im Nahen
Osten hörte auf, als alle diese Ansätze von Eigen-
staatlichkeit wahlweise vom arabischen, türki-
schen oder iranischen Nationalismus von der
Landkarte gefegt wurden. Allein das zionistische
Projekt entwickelte sich in bemerkenswert kur-
zer Zeit zu einem funktionierenden und blühen-
den Gemeinwesen – nicht zuletzt dank des ra-
schen Aufbaus funktionierender demokratischer
und militärischer Strukturen, der Solidarität der
Diaspora und der Fokussierung auf Forschung
und Wissenschaft.

ERBLÜHEN Nach 70 Jahren ist es durchaus legi-
tim, einige Aspekte der israelischen Unabhängig-
keitserklärung einer kritischen Überprüfung zu                                                                                                                                                     Der jüdische Staat entwickelte sich zum einzigen Erfolgsmodell in der Region.
unterziehen. So wird die Wiederbelebung der
hebräischen Sprache betont. Dabei wird aber                                                                                                                                                        Geschichte werden verkürzt auf Zionssehnsucht            abhängig in seinem Land lebt«, und dem »jü-
vergessen, mit wie viel politischem Druck die                                                                                                                                                      und Verfolgung, fast so, als hätte es wichtige Pha-      dischen Volk in der gesamten Diaspora«, aber
Hebraisierung der vielsprachigen Einwanderer-                                                                                                                                                      sen der jüdischen Geistes-, Religions- und Natio-        die Selbstverpflichtung auf »jüdische Einwan-
gesellschaft einherging. Und wer sich eben noch                                                                                                                                                    nalgeschichte außerhalb von Eretz Israel nie ge-         derung und Sammlung der Zerstreuten« deu-
selbst mühsam sein Jiddisch abgewöhnt hatte,                                                                                                                                                       geben.                                                   ten an, dass sich hier ein hebräisch-israelischer
um endlich zum muskelbepackten Hebräer zu                                                                                                                                                                                                                   Nationalstaat konstituiert, der sich als politische
werden, zwang nun seinen aus Nordafrika oder                                                                                                                                                       DEMOKRATIE Zudem fällt bei kritischer Lek-               Vertretung des gesamten jüdischen Volkes posi-
dem Irak eingewanderten Nachbarn, das Arabi-                                                                                                                                                       türe der Unabhängigkeitserklärung auf: Die               tioniert.
sche aufzugeben. Auch ist in der Unabhängig-                                                                                                                                                       Staatsform wird nicht genannt. Auch das Wort               Um all diese Fragen näher zu beleuchten, ver-
keitserklärung von den zionistischen Pionieren                                                                                                                                                     Demokratie taucht kein einziges Mal auf. Und             anstaltet die Bildungsabteilung im Zentralrat
zu lesen, die die Wüste zum Blühen gebracht hat-                                                                                                                                                   selbst wenn man sich für Religionsfreiheit und           der Juden in Deutschland vom 6. bis 8. Juni eine
ten – dabei gehörte das Land seit Urzeiten zum                                                                                                                                                     die rechtliche Gleichstellung aller Bürger un-           Tagung unter dem Titel »Wie alles begann – die
Fruchtbaren Halbmond, der Stadtkulturen wie                                                                                                                                                        abhängig von ihrer ethnischen oder religiösen            Staatsgründung Israels im Fokus der Geschichte«
die von Jerusalem, Beirut und Damaskus über-                                                                                                                                                       Herkunft verbürgt, so fehlt doch jeder Verweis           in Frankfurt. Als ReferentInnen sind unter ande-
haupt erst möglich gemacht hatte.                                                                                                                                                                  auf eine Trennung von Staat und Religion. Die            rem Tom Segev, Fania Oz-Salzberger, Motti Gola-
  Aber nicht nur die arabische Geschichte des                                                                                                                                                      Grenzen des Staates bleiben unbestimmt, und              ni und Adel Manna eingeladen.
Landes wird zwischen all dem Gerede von Pionie-                                                                                                                                                    auch die Konturen der Staatsnation scheinen
ren der hebräischen Arbeit und der hebräischen                                                                                                                                                     zu verschwimmen. Zwar unterscheidet der Text             g Der Autor ist Juniorprofessor für Israel- und
Sprache ausgeblendet. Auch 2000 Jahre jüdischer                                                                                                                                                    zwischen dem »hebräischen Volk, welches un-              Nahoststudien.
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     Die
   Rabbanit
     von
    Worms
                GESCHICHTE
     Was wäre, wenn ­Belette
      1196 nicht ermordet,
       ­sondern spirituelle
         »Meisterin« ihrer

                                                                                                                                                   Foto: TU Darmstadt
   ­ emeinde geworden wäre?
   G
                                                                       Pessach-Haggada, geschrieben von Israel ben Meir von Heidelberg, ca. 1430

             von birgit e. klein                      weitgehend Szenarien für die jüdische Geschich-          Diesem Klagelied verdanken wir wie keinem

W
                                                      te vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert.            anderen Text unser Wissen über eine jüdische
                as wäre, wenn« zu fragen, hat ei-                                                            Frau im Mittelalter: Dolza lehrte die Wormser
                ne lange jüdische Geschichte:         KLAGELIED Daher werde ich im Folgenden eine            Frauen und lebte im Rhythmus der Gebetszei-
                Eines der beliebtesten Lieder der     alternative Frage zur Frauen- und Geschlechter-        ten. Zum Gemeindegebet ging sie frühmorgens
                Pessach-Haggada ist »Dajjenu« –       geschichte des Mittelalters stellen: »Was wäre,        und spätabends in die Wormser Synagoge, die
»Es hätte uns genügt«, zum Beispiel »Hätte Er         wenn Belette 1196 nicht ermordet, sondern spi-         1174/75 das 1034 gebaute Gebäude ersetzt hatte.
uns die Tora gegeben, ohne uns in das Land Is-        rituelle Meisterin – Rabbanit – der Wormser Ge-        Und das zu einer Zeit, als es nur einen einzigen
rael zu führen – es hätte uns genügt!« So wird        meinde geworden wäre?« Um den Unterschied              Synagogenraum gab, denn die »Weiberschul«
die Gabe der Tora, die an Schawuot gefeiert wird,     zwischen Fakten und Fiktion klar erkennbar             wurde erst 1212/13 an die Synagoge angebaut,
dem Einzug in das verheißene Land vorgezogen,         zu machen, werde ich zunächst die bekannten            um fortan die betenden Frauen von den Männern
ein weitreichendes »Was wäre, wenn«-Szenario.         Fakten darstellen und diese dann alternativ fort-      zu trennen. Mit der Mutter Dolza hatten wohl
  Diesen Ansatz hat ein von Gavriel D. Rosen-         schreiben.                                             auch die Töchter Belette (geboren um 1183) und
feld herausgegebener Sammelband aufgegriffen:            Von Belette wissen wir aus sehr tragischem          Hanna (geboren um 1190) in der den Männern
What Ifs of Jewish History. From Abraham to Zio-      Grund: Nachdem sie am 22. Kislev 4957 / 26. No-        und Frauen gemeinsamen Synagoge gesessen:
nism (Cambridge 2016). Die hier versammelten          vember 1196 gemeinsam mit ihrer Mutter Dolza
16 Beiträge renommierter Gelehrter beantworten        (auch Dolce u.ä.) und ihrer jüngeren Schwester         »Ich will die Taten von Belette, meiner großen
faszinierende Fragen, wie jüdische Geschichte         Hanna ermordet worden war, betrauerte ihr Va-          Tochter, erzählen,
auch anders hätte verlaufen können, von »Was,         ter, Rabbi Elasar ben Jehuda von Worms (circa          dreizehn Jahre war sie alt, züchtig wie eine Braut.
wenn sich der Exodus niemals ereignet hätte?«         1160 – circa 1230), ihre Ermordung in einem sehr       Sie hatte alle Gebete und Gesänge von ihrer Mut-
(Steven Weitzman) über »Was, wenn König Fer-          anrührenden Klagelied, das zunächst Dolza als          ter gelernt,
dinand und Königin Isabella die Juden Spaniens        eschet chajil, »tüchtige Frau«, unter Anspielung       züchtig und fromm, lieblich und weise,
1492 nicht vertrieben hätten?« (Jonathan Ray)         auf Mischle/Sprüche 31, 10–31 beschreibt:              war im Tun ihrer Mutter gefolgt – schön war die
und »Was, wenn die Weimarer Republik über-                                                                   Jungfrau …
lebt hätte? Ein Kapitel aus Walther Rathenaus         »Eine tüchtige Frau, wer findet sie (10a), die Krone   Flink im Haus war Belette, nur Wahrheit spre-
Erinnerungen« (Michael Brenner) bis hin zu            ihres Gatten, die Tochter Edler,                       chend, dienend ihrem Schöpfer …
»Was, wenn der Holocaust abgewendet worden            eine Frau, gottesfürchtig und gepriesen durch ihre     Unermüdlich wie ihre Mutter, in ihrer Liebe zu
wäre?« (Jeffrey S. Gurock). Im Wintersemester         guten Taten?                                           ihrem Bildner ohne jeden Makel.
2017/18 haben wir in einer Übung der HfJS die         Ihr vertraute das Herz ihres Gatten (11a), den sie     Ihr Sinn auf den Himmel gerichtet, saß sie, mir
kreativen und anregenden Antworten der Auto-          speiste und ehrenvoll kleidete …                       nahe, um Tora zu hören.
ren diskutiert und analysiert. Sie sind als fiktive   Sie sang Lieder und Gebet und sprach Bittgebete        Doch erschlagen ward sie, mit ihrer Mutter und
Erzählung formuliert oder als Darstellung, die        …                                                      ihrer Schwester.
sich zunächst auf bekannte Fakten stützt und die-     In allen Städten lehrte sie die Frauen und stimmte     In der Nacht des 22. Kislev, als ich friedlich an
se dann kontrafaktisch fortschreibt. Dabei haben      Gesänge,                                               meinem Tisch saß,
wir auch drei Desiderate festgestellt: Nur ein Bei-   die Ordnungen des Gebets am Morgen und am              kamen zwei Verabscheuungswürdige, erschlugen
trag stammt von einer Frau; kein Alternativsze-       Abend ordnete sie,                                     sie vor meinen Augen
nario behandelt einen Aspekt der Frauen- oder         und zur Synagoge stand sie früh auf und blieb          und verwundeten mich, meine Schüler und auch
Geschlechtergeschichte, und schließlich fehlen        spät …«                                                meinen Sohn.«
Jüdische Illustrierte - Happy Shavuot! - verlagsbeilage der hochschule für jüdische studien heidelberg - Hochschule für Jüdische Studien ...
Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg                                                                                                                                              |7

                                                                                                                     Fotos: Michael Brocke

                         Pfeiler mit hebräischer Inschrift (M.) und dem Relief einer Palme (l.) und eines Lebensbaumes (r.) aus der Wormser Synagoge

  Nach seinem Hauptberuf auch ha-rokeach (der                   nachgewiesen und nur auf zwei Inschriften des                                en – auch viele Männer wollten nicht mehr auf
Salbenmischer) genannt, war der Gatte und Va-                   Wormser Friedhofs in den Jahren 1220 und 1238                                Belettes weise Toraauslegungen verzichten. Sie
ter Elasar ben Jehuda von Worms ein Schüler des                 genannt. Die Palme repräsentiere Belette: »Dein                              nannten sie ihre Rabbanit, »Rabbinerin«, und
»frommen« Rabbi Jehuda ben Samuel he-chassid                    Wuchs gleicht einer Palme …« (Hohelied 7,8a),                                meinten hiermit nicht nur die Gattin eines Rab-
gewesen, dem maßgeblichen Lehrer der »From-                     sie auf diese Weise mit Deborah vergleichend, die                            bis, wörtlich »mein Meister«, sondern ihre ge-
men von Aschkenas«, Chasside Aschkenas, und                     als Richterin unter einer Palme saß (Richter 4,5).                           lehrte »Meisterin«. Warum sollte man die Frauen
einer ihrer prominentesten Vertreter geworden.                  Schließlich könnten die jungen Frauen, alamot,                               dann nicht auch vorbeten lassen, sie an der To-
Zweifelsohne hatte er maßgeblich die hohe                       auf die jungen Frauen im Hohelied anspielen:                                 ralesung beteiligen und ihnen partnerschaftlich
Frömmigkeit und religiöse Bildung seiner Frau                   »deshalb lieben dich alamot« (Hld 1,3), was der                              einen eigenen Frauenminjan, die Zahl der zehn
und Töchter gefördert.                                          bekannte antike Gelehrte Rabbi Akiwa in einem                                religionsmündigen Personen einräumen, die zur
                                                                fiktiven Dialog zwischen Israel und den Völkern                              Abhaltung des Gemeinschaftsgebets in allen sei-
INSCHRIFT Was wäre, wenn Belette nicht er-                      deutete als: »Sie lieben dich al mot: Sie lieben                             nen Teilen erforderlich ist?
mordet, sondern ihrer Mutter folgend die spiri-                 dich bis in den Tod.« All dies könnte also an die                              In der Wormser Lernnacht an Schawuot des
tuelle »Meisterin« der Wormser Frauen gewor-                    so jung ermordete Belette, die vornehme Tochter                              Jahres 1239 (4999 nach jüdischer Zeitrechnung)
den wäre? Vielleicht stellten sich bereits Belettes             des berühmten Gelehrten, »über ihren Tod hin-                                studierten Männer und Frauen gemeinsam die
Zeitgenossen diese Frage, noch ganz geprägt vom                 aus« erinnern.                                                               Tora unter der Leitung der inzwischen 56 Jah-
Eindruck ih­res gewaltsamen, viel zu frühen To-                                                                                              re alten Belette und teilten ihre Hoffnungen für
des.                                                            WEIBERSCHUL Einzig der Umstand, dass Belette                                 das Jahr 5000, mit dem viele messianische Hoff-
  Denn im Schutt der 1938/42 völlig zerstörten                  nur 13 Jahre alt geworden ist, passt nicht ganz                              nungen verbanden. Da stand Belette auf und
Synagoge fand sich auch ein zierlicher, teilweise               zur »Frau« und »Gebieterin« der Inschrift. Eben                              verkündete ihre Vision: »Und wieder stehen wir
beschädigter Pfeiler mit einer hebräischen In-                  dies soll hier wiederum den Anstoß zur fiktiven                              am Sinai: Als einst unsere Väter und Mütter die
schrift auf der Vorderseite, liebevoll verziert mit             Gegengeschichte geben: Was wäre, wenn Belette                                Gabe der Tora am Sinai hörten, waren alle noch
dem Relief einer Palme darunter, auf der rechten                nicht ermordet, sondern zur »Gebieterin unter                                ungeborenen Seelen präsent; daher hat jede
Seite mit einem Lebensbaum, der anscheinend                     den jungen Frauen« und Männern (provokativ                                   Seele jeweils den ihr eigenen, besonderen Anteil
13 lilienähnliche Blüten trägt, und auf der linken              gefragt) herangewachsen wäre?                                                an der Tora, den nur diese Seele jeweils verste-
Seite mit einem Doppelflechtband. Der noch er-                    Nehmen wir also an, der Pfeiler stand in der                               hen kann. Im kommenden sechsten Jahrtausend
haltene Teil der Inschrift lautet:                              gemeinsamen Synagoge der Frauen und Männer                                   werden wir alle unseren Anteil beitragen, damit
  ‫מאושרת \ מרת \ בלט \ הגברת \ לטובה \ נזכרת \ במספר \ העלמות‬   von 1174/75 und markierte den Bereich der Frau-                              die Gabe der Tora vollendet werden kann.« Be-
» …/ glücklich / Frau/ Belette / die Gebieterin /               en, dort, wo Belette zeitlebens gestanden hatte,                             lette konnte nicht ahnen, dass es erst in knapp
gedacht / zum Guten / in der Zahl / der jungen                  um das Gebet der Frauen zu leiten und sie zu                                 sieben Jahrhunderten mit Regina Jonas wieder
Frauen.«                                                        unterrichten. Doch auch Männer lauschten der                                 eine Rabbinerin geben würde, nach deren Er-
  Jüngst hat Michael Brocke den Pfeiler, seine In-              Weisheit der Tochter des berühmten Gelehrten.                                mordung in Auschwitz 1944 jüdische Frauen
schrift und seine Verzierungen ausführlich be-                  Als einige Männer Anfang 1210 vorschlugen,                                   noch weitere Jahrzehnte warten mussten, bis sie
schrieben und viele gute Gründe dafür ange-                     eine abgetrennte »Weiberschul« zu bauen, da                                  endlich ihren Anteil zur Gabe der Tora beitragen
führt, dass hier der ermordeten Belette, Tochter                sie sich angeblich wegen des Anblicks der Frau-                              konnten.
des Elasar ben Jehuda, gedacht wird. Denn Belet-                en und des »erotisch-anzüglichen« Klangs ihrer
te, französisch für »Wiesel«, hier die wieselflin-              Stimmen nicht mehr auf ihre Gebete konzent-                                  g Die Autorin ist Rabbinerin und Inhaberin des
ke Tochter, sei als Name sehr selten in Worms                   rieren konnten, protestierten nicht nur die Frau-                            Lehrstuhls für Geschichte des Jüdischen Volkes.
Jüdische Illustrierte - Happy Shavuot! - verlagsbeilage der hochschule für jüdische studien heidelberg - Hochschule für Jüdische Studien ...
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Religion oder Abstammung?
ISRAEL Warum sich das Oberste Gericht mit der Frage beschäftigt, wer Jude ist
           von ronen reichman                        überhaupt unter diese Kategorie fallen sollte. Die-   dor Herzl vehement gegen jede Vermischung von

D
                                                     ses exklusiv Juden vorbehaltene Recht, das allen-     Religion und Staat ausgesprochen. Er wollte kei-
          er hybride Charakter des Kollektivs        falls aufgrund einer kriminellen Vergangenheit,       nen jüdischen Staat, sondern einen Staat der Ju-
          namens Judentum ist wohl der Grund,        der Beteiligung an Handlungen gegen das jüdi-         den, wie er es im September 1897 in einem Brief
          warum die Frage »Wer ist Jude?« vor al-    sche Volk oder der Gefährdung der öffentlichen        an Max Bodenheimer formuliert hatte. Deshalb
          lem bei den sogenannten »Problemfäl-       Gesundheit verweigert werden konnte, impli-           befürwortete Herzl auch die Ablehnung des An-
len« so intensiv diskutiert wird. Denn bei kaum      ziert, dass Juden unmittelbar nach ihrer Einreise     trags des zum Christentum konvertierten Juristen
einer anderen Gruppe dürften die religiöse und       in Israel einen entsprechenden Ausweis erhalten       und Journalisten Moritz de Jonge um Aufnahme
die ethnisch-nationale Dimension derart mitein-      und uneingeschränktes Aufenthaltsrecht genie-         in einen der zionistischen Vereine.
ander verschränkt sein wie bei Juden. Daher ist      ßen. Daraufhin können sie auch ohne Einschrän-           Die zionistische Argumentation verweist ein-
es spannend, den Verlauf dieser Diskurse über        kungen die Staatsbürgerschaft erhalten.               deutig auf den Aspekt der historischen Konti-
Generationen hinweg zu verfolgen, unter ande-           Voraussetzung für die Annahme des Ausweises        nuität. Die daraus abgeleitete Norm verlangt die
rem auch deshalb, weil Fragen nach der Identität     ist der Eintrag in das Bevölkerungsregister. Dafür    Bindung an die Vergangenheit der Juden. Darin
nie ihre Aktualität eingebüßt haben.                 waren damals zwei getrennte Angaben über die          ist die mittelalterliche Judenverfolgung durch die
   Im Sommersemester 2018 wird deshalb an der        Zugehörigkeit zur Nation und zur Religion not-        Christen genauso in Erinnerung zu behalten wie
HfJS im Fach Talmud ein Seminar zu genau die-        wendig. Jüdische Staatsbürger Israels hätten im       die Tatsache, dass Nation und Religion im Begriff
sem Themenkomplex angeboten. Auf Basis rab-          Regelfall also zweimal »Jude« eintragen lassen,       des Judentums immer vereint waren. Jeder Ver-
binischer Quellen sollen die entsprechenden Po-      einmal in dem Feld für die Angaben zur Nation,        such einer Trennung dieser beiden Aspekte sei
sitionen einer näheren Analyse unterzogen und        ein weiteres Mal in dem für Religion.                 daher zu unterbinden.
in den historischen Kontext eingebunden werden          Für Rufeisen war die Anerkennung seiner jüdi-
– schließlich standen Debatten über Identität so-    schen Identität aus einer nationalen Perspektive      INTERPRETATION Richter Chaim Cohen, der für
wie ihre unterschiedlichen Anwendungsformen          von großer Bedeutung. Er wollte auf jeden Fall        die Annahme des Petitionsantrags von Rufeisen
bereits seit der Spätantike im Raum.                 seine Zugehörigkeit zur jüdischen Nation vom          gestimmt hatte, vertrat eine andere Meinung.
                                                     Staat Israel anerkennen lassen, indem er mit dem      Die Linie seiner Argumentation folgte weniger
PROBLEMFÄLLE Zu den am häufigsten disku-             Verweis auf das Rückkehrgesetz um die Ausstel-        der Frage nach der Interpretation des Rückkehr-
tierten Fällen dieser Art gehören der Status von     lung einer Urkunde für Einwanderer bat und be-        gesetzes als vielmehr der der Interpretation der
Kindern aus einer Ehe von zwei Partnern mit un-      antragte, in seinem Personalausweis in dem Feld       Regeln zur Eintragung in das Bevölkerungsregis-
terschiedlicher Religionszugehörigkeit sowie das     zur Angabe der Nation »Jude« eintragen zu lassen.     ter. Dabei sei zu beachten, dass die Beamten in
Problem einer rückwirkend geltenden rabbini-                                                               der entsprechenden Behörde in keinerlei Weise
schen Aberkennung des Jüdischseins eines Kon-        PETITION Genau das aber wurde abgelehnt, wes-         autorisiert sind, die Angaben, die ihnen vorgelegt
vertiten, der nach seiner Konversion nicht mehr      halb Rufeisen seine Petition vor dem Obersten         werden, auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Die Ein-
oder gar nicht als Jude lebt. Aber auch Kontrover-   Gericht einbrachte. Sein Argument: »Der Begriff       tragung in das Einwohnerregister habe lediglich
sen darüber, wie mit Personen umgegangen wer-        Nation ist mit dem Begriff Religion nicht iden-       eine statistische Funktion. Zudem würden aus
den soll, die als Juden geboren, jedoch aufgrund     tisch. Ein Jude nach seiner Nationalität muss nicht   der Nennung der Nations- und Religionszugehö-
einer nachlassenden religiösen Bindung von der       ein Jude nach seiner Religion sein.« Die daraufhin    rigkeit keine Rechte erwachsen. All dies spreche
jüdischen Gemeinschaft nicht mehr als solche an-     einsetzende Diskussion drehte sich vor allem um       für eine Orientierung am Willen des Einwohners.
erkannt werden, gab es oft. Und es waren nicht       die Frage, wie der Begriff Jude im Heimkehrgesetz     Dem Ganzen liege ein subjektiver Maßstab zu-
nur Rabbiner, die sich darüber Gedanken mach-        auszulegen sei. Sie wurde aus zwei Blickwinkeln       grunde, den Richter Cohen auch im Fall der ge-
ten. Auch im Staat Israel selbst befassten sich      betrachtet. Zunächst galt es zu unterstreichen, wie   setzlichen Regelung des Rückkehrgesetzes gelten
Politiker und Juristen mit solchen Fragen.           die Frage nicht beantwortet werden sollte. Gemäß      lassen wollte.
   Hier sei an zwei besonders bekannte »Prob-        der Halacha, so wurde argumentiert, bleibt ein          Der Prozess wurde im Dezember 1962 ent-
lemfälle« erinnert, mit denen sich das Obers-        Jude immer Jude. Die vorherrschende Meinung           schieden. Mit vier zu eins lehnten die Richter den
te Gericht in Israel auseinandersetzen musste.       im jüdischen Recht besagte, dass Konvertiten          Petitionsantrag ab. Trotzdem erhielt Pater Daniel,
Die juristische Debatte über die Frage »Wer ist      grundsätzlich als Juden betrachtet werden. Genau      wie Rufeisen sich nun nannte, im September
Jude?« begann 1959 mit dem Petitionsantrag von       an diesem Punkt wollte man ein Exempel statu-         1963 die Einbürgerungsbestätigung – nur blieb
Shmuel Oswald Rufeisen, einem 1922 in Polen          ieren. Der halachische Maßstab sei für die Fest-      das Feld »Nation« im Bevölkerungsregister sowie
geborenen Juden, der 1942 zum Christentum            legung des Begriffs Jude im Rückkehrgesetz in         im Personalausweis leer.
konvertiert und 1959 als Karmelitermönch nach        keiner Weise verbindlich, erklärten die Richter.        Wirkung sollte die Deutung Richter Cohens
Israel eingewandert war.                             Die rechtsstaatlich demokratische Verpflichtung       über den Sinn der Eintragung in das Bevölke-
   Trotz seiner Konversion zum Katholizismus,        zur Trennung von Staat und Religion verbiete          rungsregister und die daraus sich ergebenden
die während der deutschen Besatzung Polens           eine automatische Übertragung der halachischen        Konsequenzen erst in der nächsten Runde der
stattgefunden hatte, weshalb er auch in einem        Kriterien auf den besagten Fall.                      Debatte haben, nämlich bei der Verhandlung des
Kloster als Zufluchtsort überleben konnte, ver-         Zur Erörterung des Begriffs Jude orientierten      Petitionsantrags von Benjamin Shalit. Dieser war
stand sich Rufeisen weiterhin als der jüdischen      sich die Richter zunächst am gesellschaftlichen       ein 1935 in Palästina geborener Jude, der hin-
Nation zugehörig. Als Jugendlicher war er sogar      Konsens, nämlich an der Art und Weise, wie der        sichtlich seiner jüdischen Identität ebenso wie
in der zionistischen Jugendbewegung Akiva ak-        Begriff Jude für gewöhnlich im Alltag verwendet       Rufeisen die Zugehörigkeit zum jüdischen Kol-
tiv gewesen. Dem Karmeliterorden hatte er sich       wird. Juden im Allgemeinen und Israelis, darun-       lektiv nur im nationalen Sinn verstand und auf
1945 unter dem Namen Daniel Maria auch des-          ter auch die nichtjüdischen, nehmen den zu einer      solche Trennung Wert legte. Er heiratete 1958
wegen angeschlossen, weil dieser in Haifa ein        anderen Religion übergetretenen Juden als einen       während seines Studiums in Schottland Anne
Kloster als Mutterhaus besaß, wo er dann auf sei-    Menschen wahr, der, so argumentierte Richter Zvi      Geddes, Tochter eines Schotten und einer Franzö-
nen Wunsch hin tatsächlich auch lebte und 1952       Berinson, »nicht nur aus der jüdischen Religion,      sin sowie Nichtjüdin. Das Paar ließ sich in Haifa
zum Priester geweiht wurde.                          sondern auch aus der jüdischen Nation ausgetre-       nieder und war voll in die israelische Kultur in-
   Zum Zeitpunkt seines Petitionsantrags galt das    ten ist«. Maßgeblich sei ferner eine Interpretation   tegriert. Als ihre Kinder Oren und Galia auf die
Rückkehrgesetz von 1950. »Jeder Jude ist berech-     des Rückkehrgesetzes im Kontext seiner Entste-        Welt kamen, wollte Shalit, der sich ebenso wie
tigt, in das Land einzuwandern«, heißt es darin.     hung sowie vor dem Selbstverständnis des Zionis-      seine Frau als konfessionslos verstand, beide als
Was aber fehlte, war eine Definition dessen, wer     mus als politischer Bewegung. So hatte sich Theo-     Angehörige der jüdischen Nation und konfessi-
Jüdische Illustrierte - Happy Shavuot! - verlagsbeilage der hochschule für jüdische studien heidelberg - Hochschule für Jüdische Studien ...
Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg                                                                                                                         |9

onslos ins Bevölkerungsregister eintragen lassen.                                                                      bindliche Definition darüber enthält, wer Jude ist,
Sein Anliegen wurde jedoch abgelehnt.                                                                                  mit dem Gesetz über die Eintragung in das Be-
  Daraufhin ging der Fall gleichfalls an das                                                                           völkerungsregister von 1965 verknüpft. Wer nun
Oberste Gericht und wurde von neun Richtern                                                                            also als Jude nach Israel einwandern will und
verhandelt. Fünf davon gaben dem Berufungs-                                                                            sich unter den Kategorien Religion und Nation
antrag statt, vier stimmten dagegen. Der Fall, der                                                                     auch als solcher registrieren lassen möchte, muss
von 1968 bis 1970 verhandelt wurde, stieß in                                                                           entweder eine jüdische Mutter haben oder zum
der Öffentlichkeit auf großes Interesse. In dieser                                                                     Judentum konvertiert sein. Angehörigen einer
Zeit appellierten die Richter an die Regierung                                                                         anderer Religion ist dieser Schritt nicht möglich.
und forderten sie auf, zur Verhinderung solcher                                                                           Diese gesetzgeberische, politische Antwort auf
ideologisch aufgeladener Debatten ganz auf die                                                                         das liberale Urteil im Fall Shalit setzt eine ver-
Eintragung der nationalen Zugehörigkeit im Be-                                                                         bindliche Interpretation des Begriffs »Jude«
völkerungsregister zu verzichten. Die Regierung                                                                        fest, die die Komponenten Nation und Religion
wies ihr Anliegen jedoch zurück.                                                                                       untrennbar miteinander verknüpft. Bei der No-
                                                                                                                       vellierung wurde der halachische Maßstab auf-
ANERKENNUNG Im Grunde schrieb die Mei-                                                                                 gegriffen und die Einschränkung »... und nicht
nung des Obersten Gerichts im Fall Shalit die                                                                          Angehöriger einer anderen Religion« hinzuge-
im Rufeisen-Urteil bereits vorgetragenen Argu-                                                                         fügt, die auf das Urteil im Fall Rufeisen zurück-
mente von Richter Cohen fort. Es zeichnete sich                                                                        geht. Sie beinhaltete zudem auch einen weiteren,
bei der Mehrheit von ihnen die Tendenz ab, die                                                                         liberalen sowie praktisch orientierten Paragra-
Fragestellung zu entideologisieren. Im Sinne der                                                                       fen, wonach die Staatsbürgerschaft auch den
subjektivistischen Auffassung von Cohen wurde                                                                          nichtjüdischen Verwandten eines Juden zusteht
das Ganze als eine verwaltungsrechtliche Ange-                                                                         – beispielsweise Ehepartnern, Kindern und En-
legenheit beurteilt und der Regelungszweck sol-                                                                        keln. Dieser Paragraf sichert im Sinne der Fami-
cher Eintragungen betont. Diese würden ledig-                                                                          lienzusammenführung vor allem das Recht auf
lich statistischen Zwecken dienen. Die Frage war                                                                       Einwanderung von Paaren mit unterschiedlicher
also, erklärte Richter Joel Sussmann, nicht die all-                                                                   Religionszugehörigkeit.
gemeine, wer Jude sei, sondern lediglich die, ob
die entsprechende Behörde dazu verpflichtet sei                                                                        KONNOTATION Betrachtet man den ersten Teil
oder nicht, Kinder als konfessionslose Angehöri-                                                                       der Novellierung, so zeigt die eindeutige parlamen-
ge der jüdischen Nation ins Bevölkerungsregister                                                                       tarische Reaktion auf das Shalit-Urteil, wie schwer
einzutragen.                                                                                                           die Einheitsthese von der Untrennbarkeit von Na-
   Es gehe dabei nicht um die Anerkennung der                                                                          tion und Religion im Begriff des Judentums wiegt.
Kinder als Juden. Die Eintragung in das Einwoh-                                                                        Gemäß der neuen Definition wird vor allem auf-
nerregister selbst stelle keine Grundlage für eine                                                                     grund der Einschränkung »und nicht Angehöriger
Anerkennung als solche dar. Auch sei die Ver-                                                                          einer anderen Religion«, die die Halacha nicht an-
pflichtung dazu nicht von der Richtigkeit der                                                                          erkennt, der religiöse Aspekt im Begriff des Juden-
gemachten Angaben abhängig, und auch die Tat-                                                                          tums formal hervorgehoben. In seiner Mitteilung
sache, dass sie eingetragen werden, würde nicht                                                                        über die nationale Zugehörigkeit ist der jüdische
automatisch bedeuten, sie seien korrekt. Gerade                                                                        Bürger insofern gezwungen, den religiös besetzten
solche Details wie Angaben über die Zugehörig-                                                                         Sinn im Begriff Jude in Kauf zu nehmen.
keit zu Nation und Religion gelten im Gesetz                                                                              Kein Wunder, dass die neue gesetzliche Rege-
nicht als »Prima-Facie-Beweise«, auch Anscheins-                                                                       lung unmittelbar nach ihrer Inkraftsetzung einen
beweise genannt. Nur in ganz extremen Fällen,                                                                          Georg Rafael Tamrin veranlasste, eine Beschwer-
wenn beispielsweise ein Erwachsener bei der An-                                                                        de vor dem Obersten Gericht einzureichen. Nun
gabe seines Alters das eines Kindes nennt, sei der                                                                     wurde im Kontext der Nationszugehörigkeit das
Beamte befugt und verpflichtet, die Erklärung                                                                          israelische gegen das jüdische Bewusstsein aus-
nicht zu akzeptieren. Der subjektive Maßstab er-                                                                       gespielt. Tamrin nahm Anstoß daran, dass der
wächst aus dem Geist des Gesetzes über die Ein-                                                                        Begriff »Jude« seiner Meinung nach nun eine
tragung im Bevölkerungsregister und setzt den                                                                          zu starke national-religiöse Konnotation erhal-
Beamten deutliche Grenzen in ihrem Beurtei-                                                                            ten habe, und wollte den Eintrag »Jude« durch
lungsspielraum.                                                                                                        »Israeli« im Personalausweis ersetzt wissen. Sein
                                                                                                                       Antrag wurde zwar abgelehnt, doch traf er damit
CHARAKTER Der Vergleich der Fälle Rufeisen                                                                             durchaus den durch die zahlreichen Kulturkämp-
und Shalit zeigt: Beide Antragsteller beanspruch-                                                                      fe sensibilisierten Nerv vieler Israelis.
ten die Eintragung »jüdisch« unter der Rubrik                                                                             Eine weitere Wendung in diesem Diskurs war
»Nation«. Aber was dem geborenen Juden Ruf-                                                                            die richterliche Entscheidung aus dem Jahr 2011,
eisen nicht gewährt wurde, bekamen die nach                                                                            als dem Gesuch des atheistischen Schriftstellers
halachischer Sicht nichtjüdischen Kinder von                                                                           Yoram Kaniuk stattgegeben wurde. Er hatte da-
Shalit zugesprochen. Diese auf den ersten Blick                                                                        rauf bestanden, dass seine im Personalausweis
paradoxe Vorgehensweise hat man mit dem Hin-                                                                           genannte religiöse Zugehörigkeit verschwinden
weis auf den gemeinsamen säkularen Charakter                                                                           soll. Dieser Präzedenzfall verleiht der Konfes-
beider Gerichtsurteile zu erklären versucht. Denn                                                                      sionsfreiheit israelischer Bürger, die ethnisch
                                                                                                     Fotos: Flash 90

in beiden Fällen wurde ein dem halachischen                                                                            gesehen dem jüdischen Volk angehören, eine
Maßstab entgegengesetztes Urteil gefällt. Zudem                                                                        staatliche Anerkennung. Im globalen Kontext
ist Folgendes zu beachten: Im Fall Rufeisen ori-                                                                       erblickt man in all dem die Sonderstellung der
entierte sich die herrschende Meinung an einer                                                                         Gesellschaft im Staat Israel. Es ist vermutlich
objektivistischen Deutung des Begriffs »Jude«.                                                                         das einzige Land auf der Welt, wo Sensibilitäten
Diese Hermeneutik hat sich im Fall Shalit gewan-       man dabei auch von einem breiten Konsens in                     für den eigenen Personenbegriff den politischen
delt. Hier hat sich eindeutig die subjektivistische    der israelischen Bevölkerung ausgehen.                          und gesellschaftlichen Diskurs um die Zukunft
Orientierung durchgesetzt. Zudem kündigte sich           Unmittelbar nach Bekanntgabe der Entschei-                    des Landes nicht nur widerspiegeln, sondern zu-
darin die Tendenz an, die Frage der Eintragung         dung zugunsten von Shalit erfolgte die parlamen-                gleich auch vorantreiben können.
abseits von ihrem ideologischen Gehalt im kon-         tarische Gegenreaktion. Auf Druck der religiösen
kreten Kontext des fraglichen Regelungsbereichs        Parteien wurde das Rückkehrgesetz novelliert                    g Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Tal-
zu behandeln. Anders als im Fall Rufeisen konnte       und der entsprechende Paragraf, der eine ver-                   mud, Codices und Rabbinische Literatur.
Jüdische Illustrierte - Happy Shavuot! - verlagsbeilage der hochschule für jüdische studien heidelberg - Hochschule für Jüdische Studien ...
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 Erzählen, um zu überleben
                     TANACH Sprachliche Formen von Erinnerungsbewältigung
                                                       in den biblischen Literaturen
                von hanna liss

D
           ie Hebräische Bibel ist ein Dokument,
           in dem sich nicht nur Spuren kollekti-
           ver Traumatisierungen finden lassen,
           sondern zugleich auch sehr gelungene
Versuche, genau diese zu überwinden. Vor allem,
wenn wir in den Vorderen und Hinteren Prophe-
tenbüchern von der Staatenbildung der beiden
Reiche Israel und Juda, aber auch von ihren kur-
zen Phasen der Blüte und dem grausamen Ende,
das ihnen die Assyrer und Babylonier zwischen
dem 10. und 6. Jahrhundert v.d.Z. bereiteten, er-
fahren, dann geht es zumeist um die Beziehung
zwischen Gott und Israel. Betont wird dabei, dass
es Israel war, das den göttlichen Zorn auf sich ge-
zogen hat und damit die Verantwortung für seine
nationalen Katastrophen selbst trägt.
  Da mag man sich schnell folgende Fragen stel-
len: Wie kann es sein, dass Israel in der eigenen
Nationalliteratur für seinen Untergang an den
Pranger gestellt wird? Hängt es vielleicht damit
zusammen, dass theologische und historische
Einschätzung nicht ganz deckungsgleich sind?
Betrachten wir nämlich die politische Situation
dieser Zeit, so ergibt sich folgendes Bild: Die Jah-
re unter der assyrischen Oberherrschaft, der Un-
tergang des Staatsgebietes Israels 732 v.d.Z., die
Belagerung Jerusalems 701 v.d.Z. und schließlich
die Zerstörung der Stadt durch Nebukadnezar
im Jahr 586 v.d.Z. lassen unmissverständlich er-
kennen, dass eine politische oder militärische Ka-
tastrophe die nächste jagte, und dass weder die
Nordreich-Könige noch die davidischen Reprä-
sentanten unter den historischen Rahmenbedin-

                                                                                                                                                              Foto: dpa
gungen eine Politik betreiben konnten, die den
politischen Zusammenbruch des kleinen Staates
Juda trotz seiner im Vergleich mit den syro-paläs-               »Nebukadnezar zerstört Jerusalem«: kolorierte Kreidelithografie von Roland Weibezahl, 1832
tinischen Kleinstaaten relativen Stärke auf Dauer
hätte verhindern können.                                zieht sich daher gerade das Motiv von »Scham            daran, dass Räume und Grenzen nicht respektiert
                                                        und Verachtung« – auf Hebräisch: buscha und ke-         oder vonseiten des Täters seinem Opfer erst gar
SCHAM Landverlust, Vertreibung und die eige-            limma – durch die Erzählungen und Berichte zu-          nicht mehr zugestanden werden. Scham ist also
ne militärische Schwäche waren seinerzeit die           nächst der Hebräischen Bibel (Ez 7,18; Jer 51,51;       von Heimatlosigkeit und dem Verlust des eigenen
schlimmsten Erfahrungen, die ein Volk machen            Ovad 1,10; Mi 7,10; Ps 69,8; 89,46; 109,29), dann       Raumes geprägt. Strategien der Schamabwehr
konnte. All das galt als sehr schamvoll. Aber statt     aber auch der späteren rabbinischen Quellen des         müssten danach dergestalt entwickelt werden,
diese politischen Gegebenheiten hervorzuheben,          Judentums bis in die Liturgie hinein.                   dass der Beschämte seine Handlungsfähigkeit
wird Israel in einem religiösen Kontext verhan-           Noch heute beten wir beim Segen für den Neu-          vor sich selbst und dem anderen – in unserem
delt und als Schuldiger für das eigene Versagen         mond (Birkhot ha-Chodesh) für ein »Leben ohne           Falle müsste man zusätzlich wohl auch vor Gott
überführt. Die Bibel ist deshalb auch ein Doku-         Scham und Schande«. Gerade in den Klagelie-             sagen – wiedergewinnt. Die positive Verarbei-
ment der kollektiven Schamerfahrungen.                  dern (Ekha) als nationaler Klage über die Verwüs-       tung bestünde mithin in der Wiedergewinnung
   Wir müssen uns dabei stets vor Augen führen,         tung des Tempels und dem Leiden der judäischen          des Raumes und der eigenen Verfügungsgewalt.
dass das politisch-militärische Ausgeliefertsein        Bevölkerung wird dies eindrucksvoll geschildert.        Für Israel bestand diese positive Verarbeitung im
an andere Nationen im Denken der damaligen              Und Jean-Paul Sartre beobachtete in seinem              gedeuteten Aufschreiben der Ereignisse durch
Gesellschaften in erster Linie als Schwäche des         Hauptwerk Das Sein und das Nichts einmal sehr           die geistige und kultische Elite: die Priester und
eigenen Gottes oder gar als Preisgabe durch den         treffend, dass der Beschämte beziehungsweise            die Propheten.
Reichs- oder Stadtgott gedeutet wurde und daher         der sich Schämende zum Objekt für andere wird:            So kam es in Israel in der schmerzhaften Aus-
in höchstem Maße ein schamvolles Erlebnis war.          »Die reine Scham ist nicht das Gefühl, dieser oder      einandersetzung mit den Verfolgungen durch
In ihrem Buch Shame and the Search for Iden-            jener tadelnswerte Gegenstand zu sein, sondern          andere zur Überführung des traumatischen Er-
tity schreibt die Autorin Helen Lynd, dass zum          überhaupt ein Gegenstand zu sein, das heißt,            lebnisses der Heimatlosigkeit und Nacktheit
Erleben von Scham immer der »Verlust von Ver-           mich in jenem degradierten, abhängigen und              in einen Raum der Schuld, und zwar: in einen
trauen, Bloßstellung, Scheitern, das Gefühl der         starr gewordenen Gegenstand, der ich für andere         Text-Raum. Aus der ahistorischen, traumatischen
Heimatlosigkeit« gehört.                                geworden bin, wiederzuerkennen.«                        – in der Sprache der modernen Psychotraumato-
   Auch für Israel war dies offensichtlich eine           Traumatische Erfahrungen, die bei den Opfern          logie: dissoziativen – Erinnerung in ihren einzel-
ganz zentrale Erfahrung. Wie ein roter Faden            ein Schamerleben hervorrufen, zeigen sich also          nen Fetzen wurde eine sinngestiftete, assoziative
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