AMNESTY - KONZERNE MÜSSEN VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN
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AMNESTY Nr. 103 August 2020 MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE KONZERNE MÜSSEN VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN JA AM 29. NOVEMBER LATEINAMERIKA RASSISMUS Gemeinsam gewinnen wir die Abstimmung Wenn es nur Corona wäre «Schweigen hilft nicht»
SEXUELLE SELBSTBESTIMMUNG SCHÜTZEN Mehr als 130 Persönlichkeiten und 55 Organisationen haben einen Appell für ein zeitgemässes Sexualstrafrecht lanciert. Lesen und teilen unter www.stopp-sexuelle-gewalt.ch © Vic Josh / shutterstock.com EINSATZ FÜR DIE MENSCHENRECHTE: JETZT ERST RECHT! Unterstützen Sie Amnesty International mit einer regelmässigen Spende. WWW.AMNESTY.CH Jetzt mit TWINT spenden! QR-Code mit der TWINT-App scannen. Betrag eingeben und Spende bestätigen.
Titelbild INHALT_AUGUST 2020 Durch die Glencore-Kupfermine und -Verarbeitungsanlage in Kankoyo (Sambia) kam es zu Schäden an Häusern durch unterirdische Explosionen und zu einer Gesundheitsgefährdung durch freigesetztes Schwefeldioxid. © Kadir van Lohuizen / Noor / Keystone THEMA 22 Lateinamerika Wenn es nur das Virus wäre AKTUELL 4 Good News 6 Aktuell im Bild 7 Nachrichten 9 Brennpunkt Lateinamerika ist Die unendliche Farce ein Epizentrum der Corona-Pandemie. DOSSIER 25 Libyen Konzerne müssen Verantwortung Krieg und Corona übernehmen 28 Schweiz «Schweigen hilft uns nicht» 30 Marokko Gegen das Stigma angehen KULTUR 32 Buch Die Geschichte der Bombe 33 Film Papicha 10 Schmutzige Geschäfte stoppen 34 Buch 12 Eine Selbstverständlichkeit Jetzt gehts rund Unternehmen müssen für Menschenrechtsverletzungen geradestehen. 14 «Die Schweiz tut nicht genug» CARTE BLANCHE Die Schweiz ist eine Drehscheibe im Rohstoffhandel. 35 Sarah Akanji 16 Warum es die Initiative braucht Hinschauen Beispiele, die aufzeigen, wie Schweizer Konzerne Menschenrechte verletzen und die Umwelt schädigen. 18 «Die Prozesse im Griff haben» Der Unternehmer Samuel Schweizer setzt sich für IN ACTION die Konzernverantwortungsinitiative ein. 37 Abstimmung am 29. November 20 Nachzügler aufs Spielfeld bringen Gemeinsam gewinnen wir an der Urne John G. Ruggie über die Uno-Leitprinzipien für Wirtschaft 39 Saudi-Arabien und Menschenrechte. Maulkorb für kritische Stimmen Impressum: «AMNESTY», Magazin der Menschenrechte, Nr. 103, August 2020. Redaktion: Carole Scheidegger (cas, verantw.), Manuela Reimann Graf (mre). MitarbeiterInnen dieser Nummer: Sarah Akanji, Nadia Boehlen, Boris Bögli, Alain Bovard, Fabio Brugger, Anina Dalbert, Danièle Gosteli Hauser, Emilie Mathys, Bettina Rühl, Maik Söhler, Wolf-Dieter Vogel, Patrick Walder. Korrektorat: Doris Yannick Héritier, Bern. Gestaltung: www.muellerluetolf.ch. Druck: Stämpfli AG, Bern. Auf nachhaltig produziertem Papier gedruckt, Schutzhülle überwiegend aus nachwachsenden Rohstoffabfällen hergestellt. Die Mitglieder- zeitschrift «AMNESTY» erscheint viermal jährlich in Deutsch und Französisch. Sie kann als E-Paper unter issuu.com/magazin-amnesty-schweiz gelesen werden. Redaktionsschluss der nächsten Nummer: 16. Oktober 2020. Distribution: «AMNESTY, Magazin der Menschenrechte» erhalten alle, die die Schweizer Sektion von Amnesty International mit mindestens 30 Franken jährlich unterstützen. Über die Ver- öffentlichung von Fremdbeiträgen entscheidet die Redaktion. Alle Rechte vorbehalten. © Amnesty International, Schweizer Sektion. Spendenkonto: Amnesty International, Schweizer Sektion, 3001 Bern (PC 30-3417-8). Redaktionsadresse: Magazin «AMNESTY», Redaktion, Postfach, 3001 Bern. Tel.: 031 307 22 22, E-Mail: info@amnesty.ch. Auflage: 82 000 (dt.). www.amnesty.ch facebook.com/amnesty.schweiz twitter.com/amnesty_schweiz www.instagram.com/amnesty_switzerland International: www.amnesty.org 3
A K T U E L L _ EN DA IC THORRI ICAHLT E N Globale Geschäfte müssen mit GOO © Keystone / AP / Rene' Rossignaud globaler Verantwortung ein- hergehen: Das ist kein neues Anliegen. Nach ewigem Hin und Her im Parlament ist die Konzernverantwortungs initiative endlich auf der Ziel- geraden. Am 29. November stimmen wir darüber ab. Die Vorlage fordert eine Selbstverständlichkeit: Wenn Schweizer Konzerne von Kinderarbeit profitieren, wenn sie Menschenrechtsverletzungen durch ihre Tochterunternehmen billigen oder wenn ihre Minen Mehr als 400 MigrantInnen mussten mehrere Wochen an Bord von Passagier fähren ausharren. die Umwelt verschmutzen, dann sollen sie für den Geflüchtete konnten an Land gehen entstandenen Schaden geradestehen. Weil freiwillige MALTA – In der Nacht vom 6. auf den 7. Juni liessen die maltesischen Massnahmen nicht ausreichen, braucht es gesetz Behörden endlich 425 geflüchtete Menschen an Land gehen, die auf vier Schiffen vor den Hoheitsgewässern des Landes festgehalten wor- liche Regeln. den waren. Die Geflüchteten waren im zentralen Mittelmeer aus See- Die Initiative setzt Anreize, damit Unternehmen ver- not gerettet und anschliessend auf die Fährschiffe gebracht worden. antwortlich handeln. Begehen Konzerne dennoch Wegen der Corona-Pandemie hatte Malta wochenlang seine Häfen für Asylsuchende geschlossen. Mit der Ausschiffung endete die willkürli- Menschenrechtsverletzungen, dann können die Ge- che und anfänglich zeitlich unbegrenzte Inhaftierung auf See, die für schädigten endlich Gerechtigkeit einfordern – sofern einige der Menschen mehr als einen Monat gedauert hatte. die Initiative angenommen wird. Das ist in unser aller Umfassende Gleichstellung © private Interesse und stärkt auch die vielen Unternehmen, SCHWEIZ − Der Nationalrat hat die sauber wirtschaften. sich für die «Ehe für alle» ent- schieden und für eine umfassen- de Gleichstellung ausgesprochen: Carole Scheidegger, verantwortliche Redaktorin Gleichgeschlechtliche Paare sol- len die gleichen Rechte haben, PS: Lesen Sie unser Magazin schon länger? Dann auch dann, wenn es um den Zu- gang zur Samenspende für les können Sie sich vielleicht an zwei frühere Ausgaben bische Paare und die Eltern- zum Thema erinnern. Diese Hefte und weitere schaftsanerkennung ab Geburt Informationen AMNESTY AMNESTY MYANMAR Nr. 69 März 2012 UGANDA Nr. 82 Juni 2015 geht. In der Herbstsession ist der Bei der Verhaftung fast noch ein Kind: Zwischen Zuversicht und Zweifel Das Gefängnis der Kinder BOB DYLAN INDIEN Ständerat am Zug. Im Juni hat MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE zur kommenden Coversongs für Amnesty International Verbotene Liebe Ebrahim Ahmed Radi al-Moqdad wurde sich der Ständerat als Erstrat für Abstimmung 2012 festgenommen und verurteilt. die vereinfachte Personenstands- finden Sie unter änderung von trans Menschen Als Jugendliche inhaftiert – www.amnesty.ch. entschieden und einen bundes- jetzt endlich frei DIE DRECKIGE WÄSCHE DER MULTIS GLOBALE GESCHÄFTE, rätlichen Vorschlag akzeptiert, der BAHRAIN − Am 23. Mai wurde GLOBALE VERANTWORTUNG weitgehend auf dem Prinzip der Ebrahim Ahmed Radi al-Moqdad KLARE REGELN FÜR KONZERNE SCHWEIZER KONZERNE IN DER PFLICHT Selbstbestimmung beruht. aus dem Gefängnis entlassen. 4 AMNESTY August 2020
AKTUELL_GOOD NEWS D NEWS Jehad Sadeq Aziz Salman, der im selben Fall verurteilt worden war, kam bereits am 18. März frei, als 1486 Inhaftierte angesichts der Covid-19-Pandemie freigelassen wurden. 901 Personen wurden Aus Umerziehungslager entlassen CHINA − Nach mehr als zwei Jahren wurde die Uigurin Guligeina Tashmimaimaiti endlich aus einem der sogenannten Erziehungslager in China entlassen. Die Doktorandin an der Technischen Universität Malaysia wollte am 26. Dezember 2017 in ihre Heimatstadt im Be- zirk Ili der Uiguri- IN KÜRZE CHINA – Li Qiaochu, eine Verteidi- gerin von Frauen- und Arbeits- rechten, wurde gegen Kaution freigelassen und konnte am © private aus «humanitären Gründen» schen Autonomen 19. Juni 2020 nach Hause zu- durch den König begnadigt, wäh- Region Xinjiang zu- rückkehren. Li Qiaochu war am rend die Strafen der verbleiben- rückreisen. Sie woll- 16. Februar von der Polizei abge- den 585 Gefangenen, darunter te ihre Eltern besu- führt worden, erst zwei Monate Jehad Sadeq Aziz Salman, in chen, die sie seit später bestätigte die Polizei, dass Alternativen zum Freiheitsentzug ihrem letzten Be- sie in Gewahrsam sei. Es kommt umgewandelt wurden. Die beiden such im Februar selten vor, dass chinesische Men- Jugendlichen waren am 23. Juli 2017 nicht mehr schenrechtsverteidigerInnen nach 2012 im Alter von 15 beziehungs- hatte kontaktieren so kurzer Zeit freigelassen wer- weise 16 Jahren bei einer regie- können; Tashmimai- den; es wird angenommen, dass rungskritischen Demonstration maiti kam aber nicht es bei Li Qiaochu ein Ergebnis festgenommen worden. Sie wur- zu Hause an und der globalen Mobilisierung war. den beinahe 48 Stunden lang wurde seitdem ver- ohne Zugang zu ihren Familien misst. und Rechtsbeiständen festge KOLUMBIEN – Die Staatsanwalt- halten und ohne rechtlichen Bei- schaft lässt die Angriffe gegen stand verhört. Danach wurden sie die indigene Gemeinschaft Wurde in ein «Erziehungs- ASEINPOME endlich unter in einem unfairen Gerichtsverfah- lager» gesteckt: Guligeina ren schuldig gesprochen und zu suchen. Diese wird seit Jahren Tashmimaimaiti ist zehn Jahren Haft verurteilt. endlich frei. bedroht und attackiert. 2019 hatte das Innenministerium Menschenrechtlerin erhält besseren Schutz die Bestätigung verweigert, MEXIKO – Clemencia Adelaida Salas Salazar setzt sich im mexikanischen Bundesstaat Yucatán für die dass auf dem Gebiet indigene Frauenrechte ein. Sie engagiert sich für die zivilgesellschaftliche Nationale Beobachtungsstelle für Femi- Gemeinschaften lebten, und ein zide, die sämtliche Femizide im Land dokumentiert. Drei Jahre lang stand sie unter Polizeischutz. Ende Ölförderungsprojekt von einem März wurde dieser abgezogen mit der Begründung, dass die Beamten für andere Aufgaben im Rahmen multinationalen Unternehmen der Eindämmungsmassnahmen gegen die Corona-Pandemie gebraucht würden. Amnesty International genehmigt. startete daraufhin eine © CDMX, Mexico / shutterstock.com Urgent Action, worauf die BAHRAIN – Der Menschenrechts- Angriffe gegen Salas Sala- aktivist Nabeel Rajab wurde zar aufhörten. Schliesslich 2016 inhaftiert und unter an leiteten die Behörden wie- derem wegen «Verbreitung ge- der umfassende Schutz- fälschter Nachrichten» zu fünf massnahmen für die Jahren Gefängnis verurteilt. Er Frauenrechtlerin ein. hatte die Regierung und die An- wendung der Folter in den sozia- len Medien kritisiert. Nun wurde er freigelassen und kann den Rest seiner Strafe ohne Haft ver- Jeden Tag werden in Mexiko zehn Frauen ermordet. Am büssen – wie diese «alternative» 8. März demonstrierten Zehn Strafe aussehen soll, ist noch tausende Frauen in Mexiko nicht klar. Stadt dagegen. 5 AMNESTY August 2020
AKTUELL_IM BILD © KEYSTONE / XINHUA JEMEN – Als wären der Krieg, der Hunger und neue Ausbrüche von Cholera nicht genug. Im kriegsversehrten Land ist nun auch das Coronavirus angekommen. Wie viele Menschen bereits erkrankt oder gestorben sind, weiss niemand. Es gibt zu wenig Tests, das Gesundheitswesen liegt darnieder. Weder die Koalitionsregierung noch die Huthi-Rebellen haben Massnahmen getroffen, um die Bevölkerung zu schützen. Im Gegen- teil: Der Konflikt geht unvermindert weiter. 6 AMNESTY August 2020
AKTUELL_NACHRICHTEN Wegen Lachens angeklagt nesty International geht davon © Isaac Yeung / shutterstock.com TANSANIA – Der bekannte Come aus, dass die Anklage politisch dian Idris Sultan hat eine Anklage motiviert ist. am Hals. Offiziell wegen des © zvg «Versäumnisses, eine SIM-Karte zu registrieren, die zuvor im Be- sitz einer anderen Person war», und des «Versäumnisses, den Wechsel des Eigentümers einer SIM-Karte zu melden». Die An- klage wurde erhoben, nachdem Idris Sultan in sozialen Medien ein Video veröffentlicht hatte, in dem er über ein altes Foto von Präsident John Magufuli in einem Der Comedian Idris Sultan war eine Tränengas wird immer wieder gegen friedlich demonstrierende Menschen übergrossen Anzug lachte. Am- Woche in Untersuchungshaft. eingesetzt. Nicht harmlos Gesetzwidrige Polizeigewalt WELTWEIT – Tränengas wird häufig missbräuchlich eingesetzt. Der un- USA – 125 Fälle von Polizeigewalt innert weniger als zwei Wochen: So durchsichtige und kaum regulierte globale Handel mit diesem Reizgas viele Übergriffe gegen Teilnehmende von «Black Lives Matter»-Kund- begünstigt Menschenrechtsverletzungen der Polizei gegenüber friedli- gebungen hat Amnesty International zwischen dem 26. Mai und dem chen Demonstrierenden. Das zeigt ein neuer Amnesty-Bericht, für den 5. Juni 2020 dokumentiert. Nach dem Tod von George Floyd demons- rund 500 Videos aus 22 Ländern und Gebieten analysiert wurden. trierten Hunderttausende in den USA und in anderen Ländern gegen «Wir haben den Einsatz von Tränengas durch Polizeikräfte in Fällen Rassismus und Polizeigewalt. Die rechtswidrige Gewaltanwendung sei- dokumentiert, für die er nie vorgesehen war. Dabei wurden häufig tens der Polizei umfasste Schläge, die missbräuchliche Anwendung grosse Mengen gegen friedlich Protestierende eingesetzt oder Projekti- von Tränengas und Pfefferspray sowie den unangemessenen Einsatz le direkt auf Menschen geschossen, was zu Verletzungen und Todes- von Hartschaum- und Gummigeschossen. fällen führte», sagt Sam Dubberley, Leiter des Evidence Lab im Krisen- © AI team von Amnesty International. Problematische men selbst gegen 12-jährige Antiterror-Gesetze Kinder vor. Abgelehnt hat der SCHWEIZ – Trotz Warnungen von Nationalrat einzig die Einführung Menschenrechtsorganisationen einer Präventivhaft, die im ekla- und internationalen Institutionen tanten Widerspruch zur Europäi- hat der Nationalrat in der Som- schen Menschenrechtskonvention mersession zwei Antiterror- gestanden wäre. Die grosse Kam- Vorlagen verabschiedet. Das mer hat ausserdem die Vorlage «Bundesgesetz über polizeiliche «Terrorismus und organisierte Kri- Massnahmen zur Bekämpfung minalität» angenommen und da- von Terrorismus» (PMT) verbindet bei einzig eine Verbesserung für extrem vage Definitionen mit weit- humanitäre Organisationen wie gehenden Kompetenzen für die das IKRK gutgeheissen. Bei bei- Polizei, die einschneidende Mass- den Vorlagen müssen noch die nahmen gegen potenziell gefährli- Differenzen zwischen dem Natio- che Personen verfügen könnte – nal- und dem Ständerat bereinigt ohne richterliche Prüfung und werden, bevor die Gesetze voraus- ohne ausreichenden Rechts- sichtlich in der Herbstsession ver- schutz. Es sieht Zwangsmassnah- abschiedet werden. Die Karte dokumentiert Übergriffe der Polizei. 7 AMNESTY August 2020
AKTUELL_NACHRICHTEN NGO-Gesetz verstösst gegen EU-Recht © Jimmy Lam @everydayaphoto UNGARN – Im Juni 2017 trat in Ungarn ein Gesetz nach russischem Vorbild in Kraft: Nichtregierungsorganisationen (NGO), die jährlich mehr als 24 000 Euro aus dem Ausland erhalten, müssen sich als «auslandsfinanzierte zivilgesellschaftliche Organisation» registrieren lassen. Die EU-Kommission hat wegen des Gesetzes den Europä ischen Gerichtshof (EuGH) angerufen und Klage gegen Ungarn einge- reicht. Der EuGH hat nun entschieden, dass das NGO-Gesetz gegen EU-Recht verstösst. «Die bahnbrechende Entscheidung sendet eine sehr klare Botschaft an die ungarische Regierung: Sie muss jeden Versuch der Stigmatisierung und Diskreditierung kritischer zivilgesell- schaftlicher Organisationen unterbinden», sagt Dávid Vig, Leiter von Amnesty International in Ungarn. «Das ungarische Verfassungsgericht muss jetzt dieses repressive Gesetz aufheben.» © AI Echte Freiheit rückt in Hongkong immer weiter in die Ferne. Es droht der Polizeistaat HONGKONG – Der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses in China hat am 30. Juni das sogenannte Sicherheitsgesetz für Hong- kong gebilligt. Es erteilt der chinesischen Zentralregierung und der Hongkonger Regierung die Befugnis, in der Sonderverwaltungszone ein «Büro für nationale Sicherheit» einzurichten. Auf dem Festland werden MenschenrechtsverteidigerInnen und Andersdenkende von Ein riesiges Herz machte 2018 in Budapest auf die Gefahren neuer Gesetze für solchen «Sicherheits-Büros» systematisch überwacht, drangsaliert, die Zivilgesellschaft aufmerksam. eingeschüchtert, unter Geheimhaltung inhaftiert, gefoltert und miss- handelt. Das Gesetz könnte deshalb auch in Hongkong ein Freipass zur Unter- JETZT ONLINE drückung friedlicher Kritikerinnen und Kritiker werden. Es droht die Ein neuer Appell – Das Schweizer Recht muss Sonderverwaltungszone in eine Art Polizeistaat zu verwandeln. Am- endlich die sexuelle Selbstbestimmung besser schützen! nesty fordert, dass die Behörden in Hongkong nun ihre eigenen Men- 130 Persönlichkeiten und 55 Organisationen haben einen schenrechtsverpflichtungen strikt und überprüfbar einhalten. Appell für ein zeitgemässes Sexualstrafrecht lanciert. Erfahren Sie, wer den Appell unterzeichnet hat und was Drei Waffentypen als Kriegsverbrechen unter Strafe sich ändern muss. SCHWEIZ – Der Internationale Römer Statuts ratifiziert, das die Kurse gehen weiter – Der Kursplan von Amnesty Strafgerichtshof (ICC) soll den vertragliche Grundlage für den Schweiz musste im Frühling Corona-bedingt umgekrem- Einsatz von biologischen Waffen, ICC bildet. Mit der Ratifizierung pelt werden. Die Kurse im Herbst werden voraussichtlich blind machenden Laserwaffen stärkt die Schweiz die internatio- wie geplant stattfinden. Abonnieren Sie den Bildungs- und gewissen Splitterwaffen nale Strafjustiz, trägt zur Präven- Newsletter für aktuelle Informationen. als Kriegsverbrechen ahnden tion von Kriegsverbrechen bei können: Die Schweiz hat die und stärkt den Schutz von Zivil- Jetzt online unter www.amnesty.ch/magazin-august20 entsprechende Änderung des personen. 8 AMNESTY August 2020
AKTUELL_BRENNPUNKT DIE UNENDLICHE FARCE während sie an einen Work- Polizei vollumfänglich entlastet. © Amnesty International shop teilnahmen. Taner Kılıç, Zwei Polizeiberichte waren – der damalige Präsident von wie vier unabhängige forensi- Amnesty Türkei, war bereits sche Untersuchungen zuvor – zuvor verhaftet worden. zum Ergebnis gekommen, dass es keinerlei Hinweise dafür Doch dann, am 3. Juli 2020, gibt, dass die App auf dem der Schock. Das erstinstanzli- Smartphone von Taner Kılıç che Gericht fällte sein Urteil installiert war. und verurteilte Taner Kılıç we- gen «Mitgliedschaft in der Ter- Die Behörden hatten die Ge- rororganisation Fethullah Gülen richtsverhandlungen immer FETÖ» zu einer Freiheitsstrafe wieder hinausgezögert. Mit die- von sechs Jahren und drei Mo- ser nervenaufreibenden Taktik naten; die ehemalige Direktorin sollen unschuldige Menschen- von Amnesty Türkei İdil Eser rechtsverteidiger und -verteidi- und die Menschenrechtsvertei- gerinnen mürbe gemacht wer- Weltweit engagieren sich seit 2017 Zehntausende AktivistInnen für die diger Günal Kurşun und Özlem den. «Dies war von Anfang an angeklagten MenschenrechtsverteidigerInnen in der Türkei. Dalkıran wurden wegen «wis- ein politisch motivierter Pro- sentlicher und vorsätzlicher zess, genau wie so viele weitere Unterstützung der FETÖ» zu je gegen andere Menschenrechts- S ie hofften, endlich Gerech- tigkeit zu erhalten. Die 11 in der Türkei angeklagten Men- 25 Monaten Haft verurteilt. Die übrigen sieben Menschen- rechtsverteidigerInnen wurden verteidiger, Journalistinnen, Anwältinnen, Akademiker und Aktivistinnen», sagte İdil Eser. schenrechtsverteidigerInnen freigesprochen. «Diese Anklagen haben zum hatten guten Grund, daran zu Ziel, Aktivisten und Aktivistin- glauben, endlich von den un- Dabei hatte sich an der Aus- nen auf der Anklagebank zum haltbaren Vorwürfen gegen sie gangslage nichts geändert, und Schweigen zu bringen. Sie sen- freigesprochen zu werden. Fast diese hätte eigentlich nur in den gleichzeitig eine Botschaft drei Jahre hatten sie gegen die einem kompletten Freispruch an den Rest der Gesellschaft: Vorwürfe, ein Terrornetzwerk für alle resultieren dürfen, denn Wer sich für die Menschen- unterstützt zu haben, ange- für die Anschuldigungen gab es rechte einsetzt, tut das auf kämpft. Sie hatten lange in keinerlei stichhaltige Beweise. eigene Gefahr.» Untersuchungshaft gesessen, «Während 12 Gerichtsverhand- Verhandlung um Verhandlung lungen wurde jede einzelne Die Verurteilten geben nicht durchgestanden und dabei im- Anschuldigung umfassend als auf und gehen in die Berufung, mer wieder die unbewiesenen, grundlose Verunglimpfung ent- bis dahin bleiben sie auf freiem fadenscheinigen Vorwürfe der larvt», sagte Andrew Gardner, Fuss. Günal Kurşun, einer der Staatsanwaltschaft anhören Türkei-Experte bei Amnesty In- Verurteilten, ein ehemaliges müssen. Nun hoffte man auf ternational, vor Prozessbeginn. Vorstandsmitglied von Amnesty einen Abschluss des sogenann- Taner Kılıç, dem vorgeworfen Türkei, sagte: «Was auch im- ten Büyükada-Falls, benannt wurde, eine App zu verwenden, mer das Urteil sein wird, ich nach der Insel, auf der zehn die ihn mit «FETÖ» in Verbin- bleibe ein Menschenrechts der Menschenrechtsverteidige- dung brachte, wurde selbst verteidiger.» rInnen 2017 verhaftet wurden, durch die Untersuchungen der Manuela Reimann Graf 9 AMNESTY August 2020
Schmutzige Geschäfte stoppen U nternehmen mit Sitz in der Schweiz sollen keine Flüsse vergiften, Landschaf- ten zerstören oder Kinderarbeit tolerieren. Auch nicht bei ihrer Tätigkeit im Ausland. Wenn sie es doch tun, muss es Konsequen- zen haben. Das klingt logisch, oder? Trotz- dem ist seit Jahren ein Seilziehen um die Konzernverantwortungsinitiative im Gang. Im November stimmen wir endlich darüber ab. In diesem Dossier zeigen wir nochmals auf, worum es geht. 11 AMNESTY August 2020
DOSSIER_ KONZERN-INITIATIVE Eine Selbstverständlichkeit Endlich ist es klar: Im November stimmen wir nach langem Hin und Her über die Konzern- verantwortungsinitiative ab. Unternehmen, die Menschenrechte verletzen und die Um- welt zerstören, sollen dafür gerade stehen müssen. Danièle Gosteli Hauser, Verantwortliche für Wirtschaft und Menschenrechte bei Amnesty Schweiz, erklärt die Hintergründe. D ie «Unrechts-AG»: So lautet der deutsche Titel eines Be- richts von Amnesty International aus dem Jahr 2014. Diese Recherche beschrieb schon damals die zahlreichen Hindernisse, die lokalen Gemeinschaften im Weg stehen, wenn sie nach einer Verletzung ihrer Rechte durch multina- tionale Konzerne Gerechtigkeit wollen. Ob auf internationa- ler Ebene oder in der Schweiz: Die Missbräuche gewisser Verantwortung auch für Auslandstätigkeit Unternehmen machen seither weiterhin regelmässig Schlag- Die Konzernverantwortungsinitiative fordert eigentlich etwas zeilen in den Medien. Selbstverständliches: Unternehmen mit Sitz in der Schweiz Dem Baustoffhersteller LafargeHolcim wurde Mittäter- müssen dafür sorgen, dass sie die Menschenrechte und die schaft bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgewor- Umweltstandards respektieren – auch bei ihrer Geschäftstä- fen, weil er dschihadistische Gruppierungen in Syrien finan- tigkeit im Ausland. Dies wird seit 2011 in den Uno-Leitprinzi- ziert hat. 2017 erlitten Hunderte von Bauern und Bäuerinnen pien für Wirtschaft und Menschenrechte so festgehalten. im indischen Distrikt Yavatmal Vergiftungen, nachdem sie Wenn diese Verpflichtung im Gesetz verankert wird, müssen ein Pestizidgemisch auf Felder ausgebracht hatten. Darunter sich alle multinationalen Firmen daran halten. Sie können war das Produkt «Polo», das vom Agrochemie-Riesen Syn- nicht mehr einfach wegschauen, wenn ihre Aktivitäten im genta verkauft wird. Dieses Pestizid wurde 2009 in der Ausland gegen die Menschenrechte verstossen oder zu Um- Schweiz verboten, weil es gesundheitsgefährdend ist, wie die weltschäden führen. Skrupellose Unternehmen würden nun Organisation Public Eye feststellte. Die Organisation RAID zur Rechenschaft gezogen. ihrerseits prangert den Rohstoffmulti Glencore wegen einer Bei Missbräuchen könnten mit Annahme der Initiative Katastrophe an, die sich 2018 im Tschad ereignete. Nach hef- Betroffene in der Schweiz vor einem Zivilgericht auf Scha- tigen Regenfällen brach das Auffangbecken für das toxische denersatz klagen und eine finanzielle Kompensation für den Wasser eines Ölfeldes von PetroChad Mangara (PCM) ein; erlittenen Schaden einfordern. Der Initiativtext lehnt sich PCM gehört zu hundert Prozent dem Schweizer Unterneh- hier an die Geschäftsherrenhaftung im Obligationenrecht an men Glencore. Das Auffangbecken war aus Erde und konnte (Art. 55): Im Zivilverfahren liegt die Beweislast bei der der Wassermasse nicht standhalten. Das Abwasser kontami- geschädigten Person. Sie muss beweisen, dass sie einen nierte den Fluss, der von der Landbevölkerung und ihren Tie- Schaden erlitten hat, der unter gesetzwidrigen Umständen ren benutzt wird. DorfbewohnerInnen erlitten ernsthafte entstand (Verletzung von Menschenrechten und Umwelt- Gesundheitsprobleme. Ihr Vieh starb. standards). Die geschädigte Partei muss auch einen ange- Bis heute können sich multinationale Unternehmen bei messenen kausalen Zusammenhang zwischen dem Ereignis solchen Fällen aus der Verantwortung ziehen mit dem Argu- und dem entstandenen Schaden belegen können; ausserdem ment, die tragischen Ereignisse seien nicht in dem Land ge- muss erwiesen sein, dass die Muttergesellschaft das beklagte schehen, in dem der Firmensitz liege. Darum liege die Ver- Unternehmen kontrolliert. antwortlichkeit bei der Tochterfirma in dem betreffenden Wenn ein multinationales Unternehmen wie Glencore Land. Die Konzernverantwortungsinitiative will genau dies nachweisen kann, dass es im Tschad alle angemessenen ändern. Massnahmen getroffen hatte, dass die Tochtergesellschaft 12 AMNESTY August 2020
Damit soll es vorbei sein: Durch die Verwendung von hierzulande verbotenen Pestiziden ohne entsprechende Schutzkleidung wird die Gesundheit vieler Feldarbeiten- den in Indien geschädigt. © CRS PHOTO / shutterstock.com korrekt instruiert wurde und die nötigen Kontrollen durchgeführt niger umfassend als die Initiative, aber er behielt die Sorgfaltsprü- wurden, dann kann es sich aus der Haftung befreien. Es muss fungspflicht für die Unternehmen und einen Haftungsmechanis- zudem bedacht werden, dass sich die RichterInnen nicht vor Ort mus bei. Anders als Economiesuisse und Swissholdings waren begeben werden, um Beweise zu sammeln; es geht nicht um ein grosse Teile der Wirtschaft für diesen indirekten Gegenvorschlag, Strafverfahren. Es bleibt Sache des Opfers, die notwendigen Be- zum Beispiel der Verband Groupement des Entreprises Multinati- weise vorzubringen. onales, Migros, Coop, Denner, Ikea, Swiss Textiles, die Fédération Der Umfang der zivilrechtlichen Haftung, wie er in der Initiati- des Entreprises Romandes und die Föderation der Schweizerischen ve vorgesehen ist, gleicht laut mehreren Studien den juristischen Nahrungsmittel-Industrien. Systemen, die in Frankreich, den Niederlanden, Grossbritannien und Deutschland schon in Kraft sind. Wichtig in diesem Zusam- Störmanöver Der Ständerat wollte dem Beispiel des Natio- menhang ist auch, was sich auf europäischer Ebene tut: Im vergan- nalrats nicht folgen. Im Juni brachte er seinen eigenen Gegenvor- genen April versprach der EU-Justizkommissar, Didier Reynders, schlag, der von einem Vorschlag von Bundesrätin Karin Keller-Sut- für 2021 eine Gesetzesinitiative über eine Sorgfaltsprüfungspflicht ter inspiriert war, durch beide Parlamentskammern. in den Lieferketten. Sie sieht einen Mechanismus zur Rechen- Dieser Vorschlag entspricht aber nicht den Forderungen der Ini schaftspflicht vor, der Rechtsmittel für die Opfer im Fall von Miss- tiative. Er würde nicht ausreichen, um Menschenrechtsverletzun- brauch einschliesst. Die Schweiz wäre also bei Weitem nicht die gen und Umweltschäden ein Ende zu setzen, denn er beschränkt einsame Vorreiterin, wie manchmal behauptet wird. sich darauf, dass die Konzerne einmal jährlich einen Nachhaltig- keitsbericht publizieren sollen. Die Unternehmen können darin Ungenügender Gegenvorschlag Die Initiative zielt sogar festhalten, dass sie in diesem Bereich nichts tun. Ausserdem vor allem auf die rund 1500 multinationalen Konzerne ab, die in sieht der Gegenvorschlag keinerlei Haftungsklausel bei Missbräu- der Schweiz ansässig sind. Die kleinen und mittleren Unterneh- chen vor. men (KMU) mit bis zu 250 Angestellten sind von der Initiative Mit diesem Manöver des Ständerats sollte der Bevölkerung nicht betroffen – ausser wenn sie in einem Hochrisikobereich tätig vorgegaukelt werden, dass nun eine pragmatische Antwort auf sind wie dem Gold- oder Diamantenhandel. Die Mehrheit der etwa die Initiative auf dem Tisch liege. Aber der Gegenvorschlag, den 580 000 KMU, wie Bäckereien oder Coiffeursalons, wird nicht un- die InitiantInnen als «Alibi-Vorschlag» ansehen, ist unwirksam. ter das Gesetz fallen. Die Multis produzieren noch so gerne Nachhaltigkeits-Broschü- Der Bundesrat wies die Initiative 2017 ohne Gegenvorschlag zu- ren; aber sie werden erst nachhaltig wirtschaften, wenn Men- rück und empfahl dem Parlament, es ihm gleichzutun. Der Natio- schenrechtsverletzungen Konsequenzen haben und sie bei Miss- nalrat hingegen erkannte den Handlungsbedarf und nahm 2018 ständen zur Rechenschaft gezogen werden. Es ist nun am einen indirekten Gegenvorschlag an. Dieser war zwar deutlich we- Stimmvolk zu entscheiden. 13 AMNESTY August 2020
DOSSIER_ KONZERN-INITIATIVE «Die Schweiz tut nicht genug» Die Schweiz, eine der wichtigsten Drehscheiben für den weltweiten Rohstoffhandel, kennt ausgerechnet für diesen Markt keine Regulierung. Insbesondere fehlt es an Transparenz, wie Adrià Budry Carbó von Public Eye schildert. Interview: Emilie Mathys E AMNESTY: Wie konnte ein Land, das selbst so arm an schiedenen Einheiten mit Niederlassungen in Amsterdam, natürlichen Ressourcen ist, ausgerechnet zu einem Singapur... Ganz zu schweigen von den Briefkastenfirmen. wichtigen Handelsplatz für Rohstoffe aller Art werden? Dass sie wenig Rechenschaft ablegen müssen, nutzen einige F Adrià Budry Carbó: Tatsächlich hat sich die Schweiz in den Unternehmen aus, um Geschäfte mit manchmal dubiosen vergangenen Jahren zu einem führenden Handelsplatz für Zwischenhändlern zu machen. Trotz zaghafter Anstrengun- Rohöl, Gold, Getreide, Kaffee und Zucker entwickelt. Mit der gen für mehr Transparenz erschweren die zunehmend kom- Zuger Firma Glencore hat ausserdem das grösste sich in Pri- plexeren Strukturen und die unterschiedlichen Rechtspre- vatbesitz befindende Unternehmen, das Kobaltminen be- chungen in den verschiedenen Ländern die Recherche. Wir treibt, seinen Sitz in der Schweiz. sind in hohem Masse von internen Informanten abhängig. Diese dominante Stellung der Schweiz ist auf eine Kombina- Und es ist klar, dass diese Undurchsichtigkeit missbräuchli- tion von Faktoren zurückzuführen. Mit der Ansiedlung gros- che Praktiken begünstigt. ser internationaler Unternehmen wurde Genf nach und nach zu einer Drehscheibe; diese Firmen profitierten von einem E Wie profitiert die Schweiz von dieser mangelnden speziellen Status, durch den sie tiefe Steuern zahlen konn- Transparenz? ten. Schliesslich spielten auch die starken Finanzplätze Genf F Zunächst einmal sind es die multinationalen Unterneh- und Zürich eine Rolle – hier gibt es Banken, die bereit sind, men selbst, die den grössten Nutzen haben. Das Reputations- Neueinsteiger im Rohstoffhandel zu finanzieren und deren risiko für die Schweiz ist jedoch hoch, wie insbesondere das Risiken zu tragen. unter internationalem Druck endlich abgeschaffte Bankge- Hinzu kommt das völlige Fehlen einer spezifischen Regulie- heimnis für Steuerhinterzieher beweist. Obwohl der Bundes- rung für Rohstoffe in der Schweiz – etwas, das auf anderen rat das Problem anerkennt, vertraut er weiterhin auf eine in- Finanzplätzen anders ist. Der Bund hat auf regulatorischer direkte Aufsicht der Rohstoffhändler durch die Banken Ebene immer eine sehr abwartende Haltung eingenommen selbst. Diese sind jedoch nicht verpflichtet, sich dafür zu inte- und argumentiert, dass die Unternehmen die Schweiz verlas- ressieren, mit wem ihre Kunden Geschäfte machen – wohin sen würden, wenn die Kontrollen verschärft würden. ihr Geld also letztendlich geht. Der Regierung scheint das auszureichen. In ihren Augen be- E Die Intransparenz in diesem Sektor wird regelmässig steht keine Notwendigkeit für ein Rohstoffgesetz oder eine angeprangert… spezielle Aufsichtsbehörde. Trotz Bericht um Bericht, Skan- F Diese multinationalen Unternehmen dal um Skandal tut die Schweiz nicht genug. haben zwar ihren Sitz in der Schweiz, © Marion Nitsch operieren aber in einer Vielzahl von E Im Februar untersuchten Sie die Arbeitsbedingungen Ländern. Es ist daher sehr kompliziert, von Orangenpflückern in Brasilien – Orangen sind ein sie zu belangen. Einige Handelsunter- Agrar-Rohstoff, der ebenfalls in der Schweiz gehandelt wird. nehmen verwalten Dutzende von ver- Was haben Sie dort beobachtet? F Die Louis Dreyfus Company, eines der drei grössten Verar- beitungsunternehmen für Orangensaft, hat einen Sitz in Genf. Brasilien liefert seinerseits die Hälfte des weltweit kon- Adrià Budry Carbó ist Rohstoff-Experte sumierten Orangensafts. Es ist bekannt, dass die Arbeits bei der NGO Public Eye. gesetze durch die letzten brasilianischen Regierungen ge- 14 AMNESTY August 2020
DOSSIER_ KONZERN-INITIATIVE schwächt wurden. Per Definition ist das Pflücken von E Wie kann sichergestellt werden, dass die lokale Bevölkerung Orangen eine prekäre Arbeit. Die Kontaktaufnahme mit den direkt von den Gewinnen der Rohstoffförderung profitiert? Arbeiterinnen und Arbeitern war kompliziert, da die Oran- F Das Hauptproblem ist die Wirtschaftskriminalität. Wenn genhaine eingezäunt sind. Während dieser zweiwöchigen man Korruptionsfälle untersucht, stösst man rasch auf Men- Untersuchung beobachteten wir Schwarzarbeit, die Unter- schenrechtsverletzungen. Es müssen Mittel gegen den soge- schreitung des Mindestlohns durch die Zulieferer, prekäre nannten Rohstoff-Fluch gefunden werden – damit ist gemeint, Wohnverhältnisse und von der Leistung abhängige Löhne... dass die Menschen in rohstoffreichen Ländern nur sehr wenig Kurz gesagt: Verletzungen des Rechts auf gerechte Entlöh- von diesen Ressourcen profitieren. Es muss eine Reihe von nung und menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Mit der rechtlichen Strukturen oder Rechtswegen eingeführt werden, Coronavirus-Pandemie sind die Preise für Orangensaft auf z.B. Transparenz über die Geldflüsse von Unternehmen an den Finanzmärkten gestiegen, nicht aber die Löhne der Pflü- staatliche Stellen. Der Händler veröffentlicht den für den Er- cker und Pflückerinnen, die übrigens gezwungen waren, werb der Rohstoffe gezahlten Betrag, und andererseits veröf- trotz der Pandemie weiterzuarbeiten. fentlicht das staatliche Unternehmen, vertreten durch die Re- gierung, die dafür erhaltene Summe. Es geht darum, der E Wie betrifft die Konzernverantwortungsinitiative die Zivilgesellschaft Instrumente zu geben, damit sie die Regie- Firmen, die im multinationalen Rohstoffhandel tätig sind? rung zur Rechenschaft ziehen kann. In einigen Ländern, in Oder sind diese davon ausgenommen? denen diese Transparenz im Bereich der Rohstoffförderung F Nein, auch Handelsunternehmen müssen für die Art und eingeführt wurde, z.B. in Nigeria, wird über die gerechte Zutei- Weise, wie die Rohstoffe gewonnen werden, zur Rechen- lung der Ressourcen debattiert. Die grossen ölproduzierenden schaft gezogen werden können. Ohnehin sind viele von ih- Länder beteiligen sich an diesem Mechanismus, aber er ist im- nen heute mehr als nur Händler, sie sind auch direkt mit mer noch unvollständig, weil bisher nur die Rohstoffförderer, Produktions- oder Extraktionsaktivitäten verbunden. nicht aber die Händler kooperieren müssen. Diese Initiative reagiert auf die Notwendigkeit, im Fall von Menschenrechtsverletzungen oder von Umweltverschmut- zungen rechtliche Schritte einleiten zu können – diese Mög- In Peru graben Tausende KleinschürferInnen unter sklavereiähnlichen Bedingungen lichkeit gibt es im Bereich der Korruption bereits. Der Fall nach Gold – wie hier in La Rinconada auf über 5000 Metern über Meer. Die Glencore macht Mut: Nachdem Public Eye im Jahr 2017 eine Goldraffinerie Metalor, mit Sitz in der Schweiz, bezog Gold aus La Rinconada. Strafanzeige eingereicht hatte, eröffnete die Bundesstaatsan- waltschaft ein Strafverfahren wegen Verdachts auf «Organi- sationsmängel» bei der Verhinderung von Korruption in der Demokratischen Republik Kongo, wo der Konzern Kupfer- und Kobaltminen betreibt. Es ist wichtig, dass es rechtliche Instrumente gibt, um gegen potenzielle Verstösse vorzuge- hen, so dass Rohstoffhändler für betrügerische Aktivitäten im Ausland zur Rechenschaft gezogen werden können. E Die Schweizer Behörden bieten einen Leitfaden an für die Umsetzung der Uno-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte im Rohstoffsektor. Den grösstmöglichen Profit zu machen und gleichzeitig die Menschen- und Umwelt- rechte zu respektieren, das scheint kaum vereinbar zu sein... F Meiner Meinung nach ist es durchaus möglich, dass wett- © imago / xOscarxEspinosax / xSopaxImagesx bewerbsfähige Unternehmen die Menschenrechte respektie- ren und die Umwelt schützen. Und dass sie Methoden entwi- ckeln, um Korruption und Geldwäscherei zu verhindern. Leitprinzipien dienen in erster Linie der Öffentlichkeitsar- beit, wenn sie nicht gleichzeitig von Kontrollmechanismen zur Überprüfung ihrer Anwendung begleitet werden. Der Ansatz der Freiwilligkeit hat seine Grenzen. 15 AMNESTY August 2020
DOSSIER_ KONZERN-INITIATIVE Warum es die Ein grosser Teil der Schweizer Unternehmen wirtschaftet korrekt. Aber leider gibt es immer Initiative braucht noch Konzerne, die Menschenrechte und Umwelt missachten. Folgende Beispiele zeigen die trauri- gen Konsequenzen. Solchen Geschäftspraktiken wollen wir ein Ende setzen. Von Anina Dalbert Fluss vergiftet Darum geht es: Recherchen der Organisation RAID haben auf- Das ändert sich mit der Initiative: Mit der gedeckt, dass wegen der Fahrlässigkeit von Glencore im Tschad ein Fluss Konzernverantwortungsinitiative müsste Glencore in Zu- mit Chemikalien vergiftet wurde. Im September 2018 brachen die un- kunft dafür geradestehen, wenn der Konzern fahrlässig einen sorgfältig konstruierten Auffangbecken für die Glencore-Ölproduktion, Fluss vergiftet und dabei die Gesundheit von Menschen be- und das kontaminierte Wasser gelangte in einen Fluss. Dies führte bei einträchtigt und ihre Lebensgrundlage gefährdet. Kindern und Erwachsenen zu zentimetergrossen Brandblasen auf der Haut, und Vieh der Dorfbevölkerung verendete. Über 50 Menschen aus dem nahen Dorf berichteten von Verletzungen. Mit Schwermetallen Darum geht es: In Cerro de Pasco (Peru) seien Luft, Boden und Was- ser mit Schwermetallen belastet, klagt die Bevölkerung. Glencore kontrolliert belastet hier eine riesige Mine. Die Bleivergiftungen haben dramatische Folgen: Blut- armut, Behinderungen, Lähmungen. Die Lebenserwartung der Einwohnen- den ist fünf Jahre tiefer, die Kindersterblichkeit höher als in anderen peruanischen Städten. Da Kinder bei gleicher Kontami- nation der Umgebung deutlich mehr Blei als Erwachsene im Körper aufnehmen, sind sie besonders betroffen. In der Region leben rund 2000 Kinder, die chronische Schwermetallvergiftun- gen aufweisen. Entgegen den Behauptungen von Glencore sind die Verschmutzungen gemäss einer Studie des Center for Clima- te Crime Analysis nicht nur historisch bedingt. Eine Haaranalyse bei Kindern zeigt, dass sich die Bleikonzentration in den letzten Jahren weiter verschlimmerte. Glencore steht auch wegen der Auswirkungen von Minen in Kolumbien, Sambia und in der Demokratischen Republik Kongo in der Kritik. Das ändert sich mit der Initiative: Glencore müss- te sicherstellen, dass die Belastung durch Schwermetalle auf ein ungefährliches Niveau sinkt. © zvg 16 AMNESTY August 2020
© Jean Claude MOSCHETTI / REA / laif DOSSIER_ KONZERN-INITIATIVE Darum geht es: In Burkina Faso arbeiten fast 250 000 Kinder auf Baumwollfeldern. Solidar Suisse beleuchtete im Januar 2019 die dortigen Produktionsbedingungen in einem Bericht. Die Kinder hantieren bei der Arbeit mit gefährlichen Werkzeugen und sind über Jahre giftigen Düngemitteln und Pestiziden ausgesetzt, die ohne Schutzkleidung gespritzt werden und teilweise Haut- und Atemwegskrankheiten verursachen. Die Tage auf den Feldern sind extrem lang und anstrengend. Einige Kinder nehmen Aufputschmittel, um die schwere Arbeit durchzustehen. Auch Schweizer Kinder auf Firmen profitieren von der Kinderarbeit in Burkina Faso. Die Louis Dreyfus Company, ein Konzern mit Sitz in Genf, ist der grösste Baumwollhändler der Welt und ein wichtiger Käufer von burkini- Baumwollfeldern scher Baumwolle. Auch die Reinhart AG aus Winterthur handelt mit Baumwolle aus Burkina Faso. Das ändert sich mit der Initiative: Die Reinhart AG und die Louis Dreyfus Compa- ny wären verpflichtet, sicherzustellen, dass sie nicht von Kinderarbeit profitieren, und müssten öf- fentlich und transparent berichten, mit welchen Massnahmen sie dies erreichen. In der Schweiz verbotenes Pestizid wird in Indien eingesetzt Darum geht es: Im indischen Distrikt Yavatmal wurden Das ändert sich mit der Initiative: Mit der Konzern 2017 Hunderte LandarbeiterInnen vergiftet, als sie auf Baumwoll- verantwortungsinitiative könnte Syngenta nicht mehr die Augen feldern Pestizide ausbrachten. Mehr als 20 von ihnen starben. Das vor Menschenrechtsverletzungen bei ihrer Geschäftstätigkeit ver- ergaben Recherchen von Public Eye. Ein für die Vergiftungswelle schliessen. In Bezug auf die Verwendung von giftigen Pestiziden mitverantwortliches Insektizid – «Polo» mit dem Wirkstoff Di- in Yavatmal könnte das Unternehmen nur zu einem Schluss kom- afenthiuron – stammte aus der Schweiz. Allein nach Indien expor- men: Eine gefahrlose Anwendung kann nicht sichergestellt wer- tierte Syngenta 2017 rund 75 Tonnen des Wirkstoffs – obwohl die- den. Der Verkauf müsste eingestellt werden. ser in der Schweiz wegen seiner Gefährlichkeit für Gesundheit und Umwelt längst nicht mehr zugelassen ist. Staub schädigt Darum geht es: DorfbewohnerInnen in Ewekoro im Südwesten Nigerias leiden unter den gravierenden Auswirkungen der Zementproduktion. LafargeHol- Dorfbevölkerung cim betreibt hier eine grosse Zementfabrik. Die Feinstaubbelastung ist extrem hoch. Der Zementstaub aus der Fabrik lagert sich überall ab: auf dem Boden, auf den Dächern der Häuser, an den Wänden. Auch das Trinkwasser ist verschmutzt, wie Recherchen zum Dokumentar- film «Der Konzern-Report» ergeben haben. Der ganze Staub und die Verschmutzung führen zu Gesundheitsschäden wie Atem- wegsbeschwerden, Augenproblemen und Organschäden. Das ändert sich mit der Initiative: LafargeHolcim müsste dafür geradestehen, wenn der Konzern durch die Ze- mentproduktion die Gesundheit von Menschen beeinträchtigt. Hintergrundinformationen und weitere Berichte © zvg finden Sie auf www.konzern-initiative.ch. 17 AMNESTY August 2020
DOSSIER_ KONZERN-INITIATIVE Auch Unternehmer und Unternehmerinnen stehen hinter der Konzernverantwortungsinitiative. Einer davon ist Samuel Schweizer, der ein Industrieunternehmen im Kanton Zürich leitet. Für ihn ist es selbstverständlich, Verantwortung zu übernehmen. Von Carole Scheidegger «Die Prozesse im Griff haben» D as Postauto fährt durch die grüne Landschaft des soge- © zvg nannten Säuliamts. Zehn Kilometer von Zürich entfernt stehen in Hedingen die Werkshallen der Ernst Schweizer AG, eines Industriebetriebs, der vielen wegen der dort hergestell- ten Briefkästen bekannt ist. Der Geschäftsleitung des Familienunternehmens steht in vierter Generation Samuel Schweizer vor. Er unterstützt fast seit Anbeginn die Konzern- verantwortungsinitiative. «Als Unternehmer Verantwortung für Umwelt und Menschenrechte zu übernehmen, sollte selbstverständlich sein. Ich stimme mit der Zielsetzung der Initiative überein, es ist eine vernünftige und verhältnismässi- ge Initiative.» Als Unternehmen mit 450 MitarbeiterInnen fällt die Ernst Schweizer AG in den Geltungsbereich der Kon- zernverantwortungsinitiative. Samuel Schweizer macht das aber keine Sorgen. Bereits heute will er wissen, woher die vie- len Produktbestandteile kommen, die sein Unternehmen im- portiert, und wie sie hergestellt werden. «Die Gegner sug gerieren, dass wahnsinnig komplizierte Abläufe neu dazu- kommen würden. Aber es ist heute schon normal, dass jedes professionell geführte Industrieunternehmen eine Lieferan- tenkontrolle für Schlüsselkomponenten durchführt. Wir kau- fen nicht blindlings Produkte ein. Wir prüfen Qualität, Ter- mintreue und Sicherheitsanforderungen.» Mit der Initiative Samuel Schweizer in der Werkshalle in Hedingen. kämen zusätzliche Aspekte dazu, etwa die Arbeitssicherheit in den Fabriken und Umweltanforderungen – aber das liesse sich man vorzuleben. Die Ernst Schweizer AG, die als Bauschlosse- in ein bestehendes Lieferantenmanagement einfügen. rei gestartet ist und heute Fassaden, Fenster, Türen, Briefkäs- ten und Fertigteile herstellt, ist schon seit Langem auch im Nachhaltig wirtschaften Samuel Schweizers Bereich Photovoltaik aktiv. Vergangenes Jahr hat sie einen Umfeld habe bis jetzt nie irritiert darauf reagiert, dass er sich Umsatz von mehr als 100 Millionen Franken erwirtschaftet. als Unternehmer für die Konzernverantwortungsinitiative ein- «Die Initiative berücksichtig die Anliegen der Wirtschaft, stellt setzt. «Ich werde manchmal darauf angesprochen, aber bei aber auch klar, was die Mindestanforderungen für Unterneh- unseren Mitarbeitenden und den Partnerunternehmen ist men sind. Wir wollen einen fairen Rahmen für alle. Langfris- wohl niemand überrascht darüber.» In seinen Augen müsse tig profitiert niemand, wenn gewisse Unternehmen kurzfristig ein Unternehmen in drei wesentlichen Aspekten nachhaltig Gewinn auf Kosten von Menschen und Umwelt machen», sagt arbeiten: wirtschaftlich, sozial und ökologisch. Das versuche der 34-Jährige, der seit 2014 im Verwaltungsrat des Unterneh- 18 AMNESTY August 2020
DOSSIER_ KONZERN-INITIATIVE mens ist und seit vergangenem Oktober den Vorsitz der Ge- Weitere Stimmen aus der Wirtschaft schäftsleitung innehat. «Als Bürger geht es mir auch darum, wofür die Schweiz stehen soll. ‹Swiss made› bedeutet für mich nicht nur hohe Qualität, sondern auch verantwortungsvolles «Aus Sicht der Wirtschaft ergibt die Initiative Sinn. Wirtschaften. Als Industriebetrieb haben wir ein Interesse da- Denn wenn Konzerne rücksichtslos handeln, schadet ran. Wenn man im Exportgeschäft als Schweizer Unterneh- mer primär mit Problembranchen in Verbindung gebracht das nicht nur den Opfern vor Ort, sondern auch wird, ist das nicht hilfreich.» dem Ansehen der Schweizer Wirtschaft.» Korrektheit wird belohnt Schweizer hat Rechts- wissenschaften studiert und betont, dass der grosse Teil der Alexandre Sacerdoti, ehem. Geschäfts Unternehmen «sauber» arbeitet. «Aber es ist wie mit allen leiter von Chocolat Villars und Regeln: Für die wenigen, die sie nicht einhalten, braucht es Mitglied des Wirtschaftskomitees für klare Konsequenzen.» Deshalb ist es ihm wichtig, dass die verantwortungsvolle Unternehmen. Initiative einen Haftungsmechanismus vorsieht. «Ohne Durchsetzungskraft bleibt es ein Papiertiger.» Er sieht im Gegenvorschlag, den das Parlament am Ende angenommen hat, die bürokratischere Variante: «Die ganz grossen Unter- nehmen müssten ja einen Bericht vorlegen, der dann geprüft «KMUs wirtschaften eigenverantwortlich, während würde. Der Vorteil der Initiative ist, dass sie keine solche Konzerne sich durch Mutter-Tochter-Strukturen aus Prüfstelle einrichtet, sondern dass auf der sicheren Seite ist, wer sich korrekt verhält. Sie setzt einen Anreiz dafür, die ei- der Verantwortung ziehen können. Ich sage Ja zur genen Prozesse im Griff zu haben.» Schweizer wundert sich Konzernverantwortungsinitiative, damit unsorgfältig etwas darüber, dass die Verbände Economiesuisse und Swiss wirtschaftende Konzerne nicht länger einen Kon Holdings die Initiative so stark bekämpfen. Vielleicht liege das an weltanschaulichen Grundsätzen: Man wolle einfach kurrenzvorteil gegenüber keine Regulierung. «Es gibt viele Unternehmen, gerade auch anständig wirtschaftenden in der Westschweiz, die es sehr bedauern, dass kein griffiger Gegenvorschlag erarbeitet wurde. Auch im Parlament waren kleinen Betrieben haben.» die Bürgerlichen ja nicht geschlossen dagegen.» Tabea Bossard-Jenni, Mitglied der Was verändert sich mit der Corona-Krise? «Natürlich wird Geschäftsleitung und Verwaltungsrätin man das Argument hören, dass die Wirtschaft nun sowieso Jenni Energietechnik AG. schon belastet sei. Aber das halte ich nicht für sehr gescheit. Damit sagt man: Wegen Corona können wir uns Menschen- rechte und Umweltschutz nicht mehr leisten. Dabei haben wir ja gerade gesehen, dass mangelnder Gesundheitsschutz und mangelnde Arbeitssicherheit der Krankheit Vorschub geleistet «Das Gros der Schweizer Wirtschaft handelt verant- haben.» Die Ernst Schweizer AG hat die Corona-Krise auch schon zu spüren bekommen, man hofft aber darauf, dass die wortungsvoll – doch leider nicht alle. Für Konzerne, die Baubranche «mit einem blauen Auge» davonkommt. Für im Ausland Menschenrechte oder einen minimalen Schweizer bleibt es eine tägliche Herausforderung, die Auf- tragsbücher vollzubekommen, denn er ist sich seiner Verant- Umweltschutz missachten, braucht es verbindliche wortung dafür, dass 450 Menschen dank dem Unternehmen Regeln, wie sie auch inter Arbeit haben, sehr bewusst. Trotzdem findet er die Zeit, sich national angestrebt werden.» für die Konzernverantwortungsinitiative einzusetzen. Sie ist ihm ein Herzensanliegen: «Wir sprechen hier wirklich von Mindeststandards für fundamentale Dinge: körperliche Integ- Peter Stämpfli ist Mitinhaber der rität, Leben, Umweltschutz. Dass wir uns diesbezüglich kor- Stämpfli-Gruppe Bern, die auch das rekt verhalten, muss doch selbstverständlich sein.» Magazin «AMNESTY» druckt. 19 AMNESTY August 2020
DOSSIER_ KONZERN-INITIATIVE Nachzügler aufs Spielfeld bringen Wer sich mit Unternehmensverantwortung beschäftigt, kommt um ihn nicht herum: Professor John G. Ruggie. Die von ihm 2011 entwickelten Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte haben in der Frage um die Verantwortung der Unternehmen Massstäbe gesetzt. Wie sieht er die Entwicklungen seither? Interview: Manuela Reimann Graf E AMNESTY: Mit den Leitprinzipien für Wirtschaft und Mehrere Regierungen haben inzwischen aufgrund der Leit- Menschenrechte gelang es Ihnen 2011, einen Konsens prinzipien Gesetze zum Beispiel gegen Sklaverei oder Kin- zwischen Staaten, Wirtschaft und Zivilgesellschaft herzu derarbeit erlassen, auch Frankreich kennt ein Gesetz zur stellen. Welche Erfolge sehen Sie jetzt, fast 10 Jahre später? Sorgfaltspflicht. Und die Europäische Kommission hat sich F John G. Ruggie: Als ich damals dem Uno-Menschenrechts- öffentlich zu einer obligatorischen Sorgfaltspflicht bekannt. rat die Leitprinzipien vorstellte, sagte ich dazu, sie würden das Ende eines Anfangs darstellen. Zum ersten Mal stellten E Wie kann denn eine echte Umsetzung garantiert werden, die Vereinten Nationen bindende Leitlinien auf, auf die alle sodass die unternehmerische Verantwortung über die Beteiligten zurückgreifen und auf denen sie aufbauen konn- Freiwilligkeit hinausgeht? ten. Offensichtlich haben einige eine bessere Arbeit geleistet F Eine Sorgfaltsprüfungspflicht muss mit Bedacht definiert als andere. Führende Unternehmen haben insgesamt einen werden: Sie soll Unternehmen nicht dazu veranlassen, eine langen Weg zurückgelegt; die Herausforderung besteht nun grössere rechtliche Distanz zu ihren Tochtergesellschaften darin, die Nachzügler mit weiteren Massnahmen aufs Spiel- und anderen mit ihnen verbundenen Unternehmen zu feld zu bringen, um gleiche Wettbewerbsbedingungen für schaffen. Firmenanwälte lehnen teilweise selbst freiwillige alle zu erlangen. Auch bei den Regierungen sind einige lang- Massnahmen zur Sorgfaltsprüfung ab mit der Begründung, samer vorangekommen als andere. dass diese das Risiko von Klagen gegen die Firma erhöhen könnten. Bindende Massnahmen müssen für die Unternehmen Kon- sequenzen haben, damit sie überhaupt ernst genommen © zvg werden. Die Sorgfaltsprüfungspflicht im Bereich der Menschenrechte zielt darauf ab, Schäden stärker und in mehr Geschäftsfel- dern zu reduzieren, als dies durch freiwillige oder branchen- basierte Praktiken bisher erreicht werden konnte. John G. Ruggie ist Berthold Sie wäre noch effektiver, wenn sie durch eine obligatorische Beitz-Forschungsprofessor Pflicht zur Berichterstattung ergänzt würde. Dies würde das für Menschenrechte und ganze Gewicht der Kapitalmärkte ins Spiel bringen: Investiti- internationale Angelegenhei- onen, welche Umwelt-, Sozial- und Governance-Kriterien in ten an der Kennedy School of die Portfolioauswahl einbeziehen, machen mittlerweile fast Government in Harvard. ein Drittel aller verwalteten Vermögenswerte weltweit aus. Von 1997 bis 2001 war er als Eine solche Sorgfaltsprüfungspflicht mit Berichterstattung stellvertretender Uno-Gene- würde wiederum zu einer grösseren Nachfrage nach konsis- ralsekretär für strategische tenten Leitlinien führen: Was wird wie gemessen? Es ist die- Planung unter Kofi Annan se dynamische Wechselwirkung zwischen den verschiede- tätig und von 2005 bis 2011 als Sonderbeauftragter des Generalsekre- nen Elementen und Akteuren, die die Leitprinzipien tärs für Wirtschaft und Menschenrechte. voranbringen wollen. 20 AMNESTY August 2020
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