Klimapolitik nach Kopenhagen Auf drei Ebenen zum Erfolg - Politikpapier
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Politikpapier Klimapolitik nach Kopenhagen Auf drei Ebenen zum Erfolg 6
Politikpapier Nr. 6 Klimapolitik April 2010 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen Inhalt Zusammenfassung 3 Wiederbelebung der multilateralen Klimapolitik Europäische Glaubwürdigkeit durch Vorbild Subglobale Allianzen von Klimapionieren Die Welt nach Kopenhagen 5 Lage Aufgaben der Klimapolitik Europäische Glaubwürdigkeit durch Vorbild 7 Subglobale Allianzen von Klimapionieren 9 Waldpolitik Kimaverträgliche Infrastrukturen Emissionshandel Fazit Wiederbelebung der multilateralen Klimapolitik 13 Schlussfolgerungen 16 Literatur 17 2
Politikpapier Nr. 6 Klimapolitik April 2010 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen Zusammenfassung Die internationale Klimapolitik befindet sich nach der Klimakonferenz von Kopenhagen in einer Krise: Das erhoffte umfassende und verpflichtende UN-Klimaabkommen ist derzeit nicht absehbar. Damit eine Erhöhung der globalen Mitteltemperatur um mehr als 2 °C bis zum Ende des Jahrhunderts noch verhindert werden kann, müssen in der in- ternationalen Klimadiplomatie innerhalb weniger Jahre entscheidende Weichen gestellt werden. Der WBGU empfiehlt, das multilaterale Klimaregime wiederzubeleben, indem Politik und Zivilgesellschaft in Europa eine selbstbewusste Führungsrolle einnehmen und weltweite Allianzen mit ausgewählten Klimapionierstaaten eingehen. Zivilgesell- schaftliche Initiativen sollen stärker als bisher unterstützt werden. Die Durchsetzung einer international verbindlichen Regelung zur Begrenzung des CO2-Ausstoßes – etwa in Anlehnung an den Budgetansatz des WBGU (2009b) und ähnlicher Lösungsansätze, die auch in China und Indien diskutiert werden – muss als Ziel bestehen bleiben. Die folgenden Empfehlungen richten sich in erster Linie an die deutsche Bundesregierung als Akteur auf der internationalen Bühne, insbesondere im Hinblick auf ihre Rolle inner- halb der Europäischen Union (EU), auf zwischenstaatlicher Ebene im Rahmen bi- und multilateraler Kooperationen sowie im Kontext der Vereinten Nationen. Wiederbelebung der multilateralen •• Die EU sollte anbieten, eine zweite Verpflichtungs- Klimapolitik periode des Kioto-Protokolls zu akzeptieren, auch wenn der Verhandlungsstrang unter der UNFCCC •• Der WBGU hält die Überwindung des entschei- noch nicht zu einem rechtsverbindlichen Abkom- dungshemmenden Konsensprinzips in der Klima- men entwickelt werden konnte oder einzelne rahmenkonvention (UNFCCC) zugunsten einer am bisher verpflichtete Staaten das Kioto-Protokoll Mehrheitsprinzip ausgerichteten Entscheidungsfin- verlassen sollten. Sie sollte ihre Treibhausgasemis- dung für erforderlich. sionen um mindestens 30 % bis 2020 gegenüber 1990 mindern. •• Wichtige Errungenschaften des UNFCCC-Prozesses sollten unbedingt gesichert werden. Dies gilt nicht •• Der WBGU regt eine Generaldebatte auf höchster zuletzt für Übereinkünfte zur Anpassung an den politischer Ebene sowie in der europäischen schon stattfindenden Klimawandel in besonders Zivilgesellschaft darüber an, wie anspruchsvolle gefährdeten Entwicklungsländern. Dass sich die Klimaschutzmaßnahmen im Einklang mit der in der Finanzierungszusagen Deutschlands größtenteils Kopenhagen-Vereinbarung (Copenhagen Accord) aus schon vorher für Klimaschutz und Entwick- bestätigten 2 °C-Leitplanke realisiert werden lungszusammenarbeit eingeplanten Geldern können. zusammensetzen, untergräbt die Glaubwürdigkeit von Unterstützungsversprechen und schwächt das Vertrauen der Entwicklungsländer in die klimapoli- tischen Verhandlungen. 3
Politikpapier Nr. 6 Klimapolitik April 2010 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen Europäische Glaubwürdigkeit durch Vorbild Subglobale Allianzen von Klimapionieren •• Die EU sollte ihr „20-20-20-Ziel“ zum „30-20-20- •• Zur Zeit blockieren sich die USA und China gegen- Ziel“ weiterentwickeln, d. h. bis zum Jahr 2020 eine seitig – und damit auch die globale Klimapolitik. 30 %ige Reduktion der Treibhausgasemissionen Europa kann diese Blockade überwinden helfen, anstreben. Für den internationalen Klimaschutz indem es subglobale Klimaschutzallianzen jenseits kann das Ziel einer europäischen Vollversorgung der „G 2“ auslotet. Dazu sollte eine Modellallianz mit erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2050 in mit einer ambitionierten Gruppe von Schlüssellän- Kombination mit einer konsequenten Effizienzstra- dern (z. B. Indien, Brasilien, Ägypten, Indonesien, tegie frischen Rückenwind für die internationale Südkorea, Japan, Malediven) gebildet werden, Klimapolitik bringen – und zugleich die Wettbe- welche unterschiedliche Themenfelder (z. B. werbsfähigkeit Europas auf eine zukunftsfähige Waldschutz, Infrastrukturentwicklung, Erweiterung Grundlage stellen. des EU-Emissionshandels, Ausbau erneuerbarer Energien, Verbesserung der Energieeffizienz und •• Zur Beschleunigung strategischer Innovations- Anpassung) repräsentieren. Diese Allianz sollte aus prozesse und zur Senkung der Kosten des Ener- Sicht des WBGU privilegierte Partnerschaften ein- giesystems in Europa empfiehlt der WBGU eine gehen und damit – wie einst die sechs Kernländer europaweite Einspeisevergütung für erneuerbare der Europäischen Gemeinschaften (Europäische Energien. So würde die Förderung an die Orte der Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Europäische jeweils besten Ressourcenverfügbarkeit fließen. Wirtschaftsgemeinschaft, Euratom) – zum selbst- bewussten Motor eines neuen klimapolitischen •• Zum Aufbau der künftigen Energieversorgungs- Multilateralismus werden. Die Modellallianz würde strukturen schlägt der WBGU eine Europäische Ini zudem zeigen, dass sie auf einen raschen Übergang tiative vor, welche die Ziele der Lissabon-Strategie zu einer klimaverträglichen Weltwirtschaft setzt, fortschreibt. Die Umsetzung einer Hightech- und würde so den „grünen“ Innovationswettlauf Strategie, namentlich eines europäischen und auf beschleunigen. erneuerbaren Energien basierenden Energiever- sorgungssystems in Verbindung mit einem neu zu •• Gleichzeitig sollte die EU in den einzelnen The- schaffenden „Supersmart-Grid“, kann demonstrie- menfeldern u. a. über Bildungs-, Forschungs- und ren, dass Wirtschaftlichkeit und Klimaschutz sich Technologiezusammenarbeit mit ausgewählten keineswegs gegenseitig ausschließen. Ländern kooperationsstiftend wirken. Der WBGU schlägt exemplarisch drei konkrete thematische Al- •• Initiativen der Städte und Gemeinden in Klima lianzen vor, nämlich (1) mit wichtigen Waldländern, aktionsbündnissen sowie das Engagement von (2) auf dem Gebiet klimaverträglicher Infrastruk- Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Akteuren turen und (3) zur geografischen Erweiterung des des klimaverträglichen Wandels verdienen nach EU-Emissionshandels. Ansicht des WBGU stärkere Aufmerksamkeit und Unterstützung durch die staatliche und supranatio- nale Politik. 4
Politikpapier Nr. 6 Klimapolitik April 2010 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen Die Welt nach Kopenhagen Lage kritiklos verbreiteten Meldungen zu weiteren Feh- lern jeder sachlichen Grundlage. Die Folgerungen des Auf der Weltklimakonferenz im Dezember 2009 hat die IPCC-Berichts sind in wichtigen Punkten keineswegs überwältigende Mehrheit der Staaten mit der Kopenha- übertrieben, sondern im Licht neuerer Messdaten und gen-Vereinbarung (Copenhagen Accord) bestätigt, dass Forschungsergebnisse eher optimistisch. Zum Beispiel der Klimawandel eine große Herausforderung ist und übertreffen der Anstieg des Meeresspiegels und der die Erhöhung der globalen Mitteltemperatur 2 ºC nicht Schwund des arktischen Meereises bereits die IPCC- übersteigen soll (UNFCCC, 2010). Die Konferenz hat Projektionen (Copenhagen Diagnosis, 2009). aber weder ein global verbindliches Abkommen noch Ein zur Zeit gelegentlich propagierter Politikwech- das Instrumentarium geliefert, um die 2 °C-Leitplanke sel weg von der bisherigen Doppelstrategie „Vermei- einzuhalten. Mehr als 120 Staaten, die mehr als vier dung und Anpassung“ hin zu einer reinen Reparatur- Fünftel der globalen Treibhausgasemissionen verursa- politik wäre unverantwortlich. So können Deiche nicht chen, haben sich mit dem Copenhagen Accord assoziiert, beliebig hoch gebaut werden und auch andere Küs- wovon die Mehrheit im „Pledge-and-Review-Verfah- tenschutzmaßnahmen – wie Entwässerungspumpen, ren“ (Minderungsziele national festsetzen und interna- Wiederaufforstung von Mangroven, Freisetzung von tional überprüfen) freiwillige Klimaschutzmaßnahmen Flutungsflächen und Verlagerung von Siedlungsräumen angekündigt hat. Allerdings gibt es bisher weder einen oder flottierende Siedlungen – sind auf globaler Ebene verbindlichen Zeitplan noch eine globale Koordinierung. nur in sehr begrenztem Umfang durchführbar. Auch Ebenso wenig gibt es ein belastbares Monitoring oder Bewässerungsmaßnahmen können die landwirtschaftli- Sanktionsmöglichkeiten, um Staaten zur Einhaltung chen Erträge nur dann sichern, wenn in der betroffenen ihrer Absichtserklärungen zu veranlassen. Zudem ist die Region überhaupt noch genügend Wasser verfügbar ist. Summe der bisherigen Absichtserklärungen der Staaten unzureichend, um selbst bei deren vollständiger Erfül- lung die Erhöhung der globalen Mitteltemperatur auf Aufgaben der Klimapolitik 2 °C zu begrenzen; vielmehr lassen die jetzigen Zusagen bis Ende des Jahrhunderts eine Erhöhung der globalen Worin bestehen nun die zentralen Aufgaben globaler Mitteltemperatur um 3 °C oder mehr erwarten (Rogelj Klimapolitik nach Kopenhagen? Erstens ist weltweit et al., 2010). Eine Erhöhung über 2 °C hinaus wäre aus ein großer Teil der politischen Entscheidungsträger wissenschaftlicher Sicht aber eine gefährliche Störung noch nicht davon überzeugt, dass Dekarbonisierung des Klimasystems, die zahlreiche erhebliche Risiken für und klimaverträgliche Entwicklung ohne erhebliche die menschliche Gesellschaft mit sich bringen würde Wohlstandseinbußen funktionieren können (Demons- (WBGU, 2003, 2009b). trationseffekt). Zweitens fehlt eine Einigung über ein An den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Kli- globales Verteilungssystem in Bezug auf Vermeidungs- mawandel und der Begründung der 2 °C-Leitplanke anstrengungen, Anpassungsmaßnahmen, Finanzierung ändern die jüngsten Mediendebatten über den angeb- sowie Technologietransfer (konkrete Formel zur Lasten- lichen „Alarmismus“ und die „Manipulationen“ der Kli- teilung). Die Menschheit steht hier vor einer fundamen- maforschung nichts. Auch wenn im vierten Sachstands- talen Gerechtigkeitsaufgabe, die sie derzeit zu überfor- bericht des IPCC (2007) in einem Regionalkapitel eine dern scheint (WBGU, 2009b). Drittens wird nicht nur in falsche Zahl zur Gletscherschmelze im Himalaya zitiert der globalen Klimapolitik eine machtpolitische Multipo- wird, entbehren die meisten der in einigen Medien larität sichtbar, in der eine Reihe von Schlüsselakteuren 5
Politikpapier Nr. 6 Klimapolitik April 2010 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen substanzielle Fortschritte in der internationalen Klima- schen Gründen vermehrt polyzentrische Ansätze in politik blockieren können. Ohne die USA und andere der Klimaschutzpolitik postuliert. Viele setzen nach Schlüsselnationen wie China, die EU, Indien, Brasilien, dem Scheitern eines völkerrechtlich verbindlichen Japan und Russland sind klimapolitische Durchbrüche Vertrags („von oben“) Hoffnungen auf eine Revita- kaum denkbar (internationale Handlungsblockade). lisierung der Klimapolitik durch bilaterale und regio- Gleichzeitig ist viertens noch keine klimapolitische nale Kooperation. Führungsallianz zu erkennen, die über ausreichende 3. Zwischenstaatliche Allianzen werden wichtiger, aber Gestaltungskraft verfügt, um eine problemadäquate Kli- darauf allein darf die Klimapolitik nicht setzen. Die maschutzarchitektur durchzusetzen, der sich die übrige EU soll deshalb weiterhin auf ein umfassendes rechts- Staatenwelt nicht widersetzen könnte (Machtallianz für verbindliches Klimaschutzabkommen innerhalb der klimaverträgliche Entwicklung). Schließlich ist fünftens UNFCCC drängen. Die Fortschritte, die bisher in den die spürbare Bereitschaft der Zivilgesellschaft als Res- beiden UN-Verhandlungssträngen erreicht worden source für ein aktives klima- und umweltpolitisches sind, sollten im Blick auf die Vertragsstaatenkonfe- Engagement zu wenig anerkannt und aufgegriffen wor- renz in Cancún gesichert und ausgebaut werden. Es den. Vernünftiger Klimaschutz, der darüber hinaus eine muss verhindert werden, dass die Verhandlungen auf nachhaltige Entwicklungsperspektive erkennen lässt, der Stelle treten und die UN-Klimapolitik das Schick- ist attraktiv und mehrheitsfähig (Chancen des Klima sal der Doha-Runden der WTO erleidet. schutzes). Damit ein Anstieg der globalen Mitteltemperatur um Mit dem enttäuschenden Ausgang der Kopenhagener mehr als 2 °C verhindert werden kann, müssen inner- Klimakonferenz ist sichtbar geworden, dass klimapo- halb weniger Jahre in der internationalen Klimadiplo- litische Anstrengungen in einen breiten, ressortüber- matie zentrale Weichen gestellt werden. Insbesondere greifenden Kontext gestellt werden müssen. Es geht empfiehlt der WBGU entschlossene Initiativen der glo- nicht isoliert um die Vermeidung und Reduzierung von balen und europäischen Klimadiplomatie, an denen sich Treibhausgasemissionen, es geht auch nicht allein um Deutschland führend beteiligen sollte, damit die Euro- den Ausbau und die Förderung regenerativer Energien, päische Union die von ihr beanspruchte Führungsrolle um Energieeffizienz und Energiesparen. Es geht auch glaubhaft machen und „durch Beispiel führen“ kann. um eine breite industrie- und gesellschaftspolitische Dazu sollte die EU eine klug gestaffelte Mehrebenen- Initiative, die den Wirtschaftsstandort Europa krisen- politik entwickeln, die Ansätze aus der Zivilgesellschaft fester macht und den Menschen in Europa ein identi- („von unten“) mit strategischen Klimaallianzen zwi- tätsstiftendes Ziel gibt. Eine neue Klimastrategie sollte schen Pionierländern und UNFCCC-Aktivitäten in Rich- den Menschen überzeugend aufzeigen, dass es nicht tung der nächsten Vertragsstaatenkonferenz in Cancún um Verzicht auf Wohlstand und Komfort geht, sondern verbindet: vielmehr um eine positive Transformation der gewohn- ten Lebensweisen zu einer nachhaltigen Gesellschaft, in 1. Dezentrale, kommunale und lokale Initiativen aus deren Verlauf sie an Lebensqualität und Teilhabe gewin- Wirtschaftsunternehmen, Verwaltungen und der nen. Eine solche politische Klimastrategie verbindet die Zivilgesellschaft haben sich die aus der 2 °C-Leit- Suche nach innovativer Technik und neuen Absatzmärk- planke resultierenden Verpflichtungen zu eigen ten unabdingbar mit der ethischen Verpflichtung, die gemacht und setzen diese in einer großen Zahl for- uns vor allem die existenzielle Bedrohung der besonders meller und informeller Initiativen um. Entsprechende von gefährlichem Klimawandel betroffenen Insel- und Klimabündnisse und funktionierende Städte-, Wis- Küstenstaaten der Welt auferlegt. senschafts-, Bildungs-, Technologie- und Unterneh- menspartnerschaften müssen unterstützt, vernetzt und ausgebaut werden. 2. Zudem sollten die EU und ihre Mitgliedsländer glaub- würdige und wirkungsvolle klimapolitische Allianzen mit strategischen Partnerländern schließen. Diese diplomatischen Nachhaltigkeitsinitiativen müssten sowohl inner- als auch zwischenstaatlich ressort- übergreifend angelegt werden, da die Klimakrise eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung ist. In der Forschung (Ostrom, 2010; Keohane und Vic- tor, 2010) wie in der Politikberatung (E3G, 2010) werden derzeit aus grundsätzlichen wie pragmati- 6
Politikpapier Nr. 6 Klimapolitik April 2010 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen Europäische Glaubwürdigkeit durch Vorbild Die EU hat bei den Verhandlungen um einen Nachfol- ziert, der Gesamtanteil erneuerbarer Energien auf 20 % gevertrag zum Kioto-Protokoll am konsequentesten gesteigert und die Energieeffizienz um 20 % erhöht wer- Kurs auf die 2 °C-Leitplanke gehalten, die von über 100 den. Die EU sollte dieses Ziel zum „30-20-20-Ziel“ wei- Staaten anerkannt worden war. Die Allianz der klei- terentwickeln, d. h. bis zum Jahr 2020 eine Reduktion nen Inselstaaten (AOSIS) fordert die Einhaltung der der Treibhausgasemissionen um 30 % anstreben. Dieser noch anspruchsvolleren Grenze von 1,5 °C. Doch weder Wert ergibt sich vom heutigen Emissionsniveau aus die EU noch einzelne Mitgliedstaaten können für sich gesehen als Etappenziel bei linearer Emissionsreduktion die Rolle eines Pioniers oder gar eines Musterschülers (um ca. 1,5 % pro Jahr bezogen auf 1990), wenn die reklamieren – zu zaghaft sind die tatsächlichen Ver- Emissionen bis 2050 um 80 % gegenüber 1990 gesenkt pflichtungen und zu uneinheitlich ist das Gesamtbild des werden sollen. Eine Reduktion um nur 20 % würde europäischen Klimaschutzes. Erst wenn die EU-Länder dagegen deutlich vom Pfad zur 80 %-Minderung abwei- anspruchsvollere Verpflichtungen einhalten, können sie chen und nach 2020 erheblich größere Emissionsminde- in der globalen Klimapolitik wieder die im März 2010 rungen erfordern. von der EU-Kommission reklamierte Führungsfunktion Für den internationalen Klimaschutz kann das Ziel übernehmen (Europäische Kommission, 2010a): „Die einer europäischen Vollversorgung mit erneuerbaren Union ist jetzt bereit, Europa zur klimafreundlichsten Energien bis zum Jahr 2050 in Kombination mit einer Weltregion zu machen und zu einem kohlenstoffar- konsequenten Effizienzstrategie frischen Rückenwind men, ressourceneffizienten und klimaresistenten Wirt- für die internationale Klimapolitik bringen. Verschie- schaftssystem überzugehen.” dene Studien kommen zu dem Ergebnis, dass bis 2050 Die EU kann ihre Kioto-Verpflichtungen voraus- ein Anteil erneuerbarer Energien von 85–100 % im sichtlich erfüllen und dadurch einerseits Glaubwürdig- Stromsektor (Krewitt et al., 2008; PriceWaterHouse- keit in Bezug auf ihren Willen zum Klimaschutz erzielen Coopers, 2010) und 60 % an der Primärenergie (Krewitt und andererseits wie kein zweiter Akteur die Machbar- et al., 2008) möglich sind. Das 20 %-Ziel für die erneu- keit eines anspruchsvollen Klimaschutzes international erbaren Energien sollte bis Mitte des Jahrhunderts in demonstrieren. Umso mehr sollte die EU ein ambitio- Richtung einer 100 %igen Versorgung fortgeschrieben niertes Abkommen einfordern. Sie verfügt über den werden. Hierzu sind klare Langfristsignale und Pla- größten Binnenmarkt der Welt und über erhebliche nungssicherheit für Unternehmen und Forschung nötig, technologische Kompetenzen im Bereich Klima- und wofür die EU auch in einzigartiger Weise Rechtssicher- Umweltschutz. Sie hat Kostensenkungen im Bereich heit bietet. Für den internationalen Klimaschutz könnte grüner Technologien erzielt, was wiederum deren brei- die Erklärung eines europäischen 100 %-Ziels für erneu- ten Einsatz auch in Entwicklungsländern ermöglicht. erbare Energien neuen Anschub bringen. Außerdem ist die EU der größte Geldgeber in der finan- Der WBGU schlägt eine europäische Initiative vor, ziellen und technischen Entwicklungszusammenarbeit, die im Rahmen einer Hightech-Strategie zum Aufbau die auch als Weichenstellung für klimaverträgliches der zukünftigen Energieversorgungsstrukturen die Ziele Wirtschaften in den ärmeren Partnerländern genutzt der Lissabon-Strategie mit dem neuen Konzept einer werden sollte. Vollversorgung Europas mit erneuerbaren Energien ver- Aus diesen Gründen sollte die EU den Klimaschutz bindet. Dadurch würde eine neue und nachhaltige Wirt- und die Erreichung der „20-20-20-Ziele“ entschie- schaftsdynamik entstehen, die eine glaubwürdige Basis den vorantreiben. Gemäß diesem Ziel sollen bis zum für eine Kooperation mit Entwicklungs- und Schwellen- Jahr 2020 die Treibhausgasemissionen um 20 % redu- ländern bieten könnte. Die Einbindung des neu gegrün- 7
Politikpapier Nr. 6 Klimapolitik April 2010 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen deten European Institute of Innovation and Technology sen gebündelt und mit konkreten Zeitplänen versehen in die Gestaltung dieses Prozesses kann die erforderliche werden. Zudem gilt es, die vielfältigen klimaschädlichen Wissens- und Bildungsinfrastruktur schaffen. Anreizsysteme und Subventionen rasch abzubauen und Eine auf erneuerbaren Energien basierende Ver- dezentrale Energieproduktion auf lokaler und regio- sorgungsstruktur bietet nicht nur bessere Versor- naler Ebene zu fördern. In Europa gibt es vorbildliche gungssicherheit sowie die Aussicht auf neue qualifi- Ansätze für klimaverträgliche Städte unter Mitwirkung zierte Arbeitsplätze und die Chance der Einhaltung der engagierter Unternehmen, die ihre Wettbewerbsfähig- 2 °C-Leitplanke; sie hat auch das Potenzial, sich kosten- keit durch klimaverträgliche Investitionen sichern und günstiger als konventionelle Energiesysteme zu entwi- ausbauen wollen. Zu nennen sind hier beispielhaft ckeln. Wichtiger Bestandteil des WBGU-Vorschlags ist Städte wie Malmö oder Freiburg i. Br., zu erwähnen ist deshalb die drastische Steigerung von Effizienzmaßnah- auch die vom Initiativkreis Ruhr angestoßene „Innova- men, etwa durch abwärmeverlustfreie Stromerzeugung tion City Ruhr“ für eine Metropolregion. Diese können mit Wind-, Sonnen- und Wasserkraftwerken, ferner der in einem europäischen Städtenetzwerk verbunden und massive Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung in Verbin- damit international anschlussfähig werden. dung mit einer nachhaltigen Nutzung von Bioenergie Die Klimathematik verzweigt sich gemäß der ihr (WBGU, 2009a) und nicht zuletzt die konsequente Ein- eigenen Multidimensionalität in die verschiedensten führung der Elektromobilität. Zuständigkeiten und Agenden. Daher ist national und Eine Strategie, die mit Hilfe geeigneter Informations- auf EU-Ebene mehr als bisher eine strategische Zusam- und Kommunikationstechnologien die Integration hoher menarbeit der Ressorts erforderlich. Einzubinden wären Anteile erneuerbarer Energien und ihren großräumigen dabei vor allem außenpolitische Belange und die Ent- Transport über ein transeuropäisches „Supersmart-Grid“ wicklungszusammenarbeit, aber auch Fragen der Land- schafft sowie Elektromobilität im Verkehrssektor fest nutzung, des Verbraucherschutzes, der Wirtschafts- und verankert und mit hocheffizienten Nutzungstechnolo- Finanzpolitik, des Bau- und Wohnungswesens, der gien verbindet, kann Europa den Weg in ein neues Zeit- Raumplanung, des Gesundheitswesens, der Verkehrspo- alter der Energieversorgung weisen; auch kann Europa litik und nicht zuletzt die Forschung und die Bildung. damit international demonstrieren, dass Wirtschaft- Klima- und Nachhaltigkeitsthemen müssen aus der lichkeit und Klimaschutz vereinbar sind. In der EU lie- Nische heraustreten. gen viele Elemente für eine solche Weichenstellung in Richtung klimaverträglicher Entwicklung vor, sie müs- 8
Politikpapier Nr. 6 Klimapolitik April 2010 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen Subglobale Allianzen von Klimapionieren Zur Zeit blockieren sich die USA und China gegensei- aussichtlich bald auch von Windturbinen. Ambitionierte tig – und damit die globale Klimapolitik. Europa kann Ausbauziele lassen den Anteil erneuerbarer Energien diese Blockade überwinden helfen, indem es subglo- schnell wachsen. In den USA bieten ehrgeizige Klima- bale Klimaschutzallianzen jenseits der „G 2“ auslotet. schutzprogramme in einzelnen Bundesstaaten und einer Ausgangspunkt eines solchen Netzwerkes von Kli- großen Zahl von Großstädten interessante Anschlüsse mapionierländern sollte zunächst eine Modellallianz für Kooperationen. Auch der Gasexporteur Russland mit einer ambitionierten Gruppe von Schlüsselländern könnte mit Blick auf seinen großen Nachholbedarf bei (z. B. Indien, Brasilien, Ägypten, Indonesien, Südkorea, der Gebäudesanierung und Verkehrsinfrastruktur ein Japan, Malediven) sein, welche unterschiedliche The- hochinteressanter Partner sein. Das gilt auch innerhalb menfelder (z. B. Waldschutz, Infrastrukturentwicklung, der EU für ostmitteleuropäische Staaten, von denen Erweiterung des EU-Emissionshandels, Ausbau erneu- zwei (Ungarn und Polen) im Jahr 2011 die EU-Ratsprä- erbarer Energien, Verbesserung der Energieeffizienz sidentschaft innehaben werden. Große Schwellenländer und Anpassung) repräsentieren. Diese Allianz sollte aus wie Brasilien oder Indien könnten ebenfalls als Partner Sicht des WBGU privilegierte Partnerschaften eingehen für gemeinsame Energieversorgungsstrategien gewon- und damit – wie einst die sechs Kernländer der Europä- nen werden. Brasilien verfügt neben seinen spezifischen ischen Wirtschaftsgemeinschaft – zum selbstbewussten Standortvorteilen bereits über erhebliche technische Motor eines neuen klimpolitischen Multilateralismus Erfahrungen im Bereich der Bioenergienutzung, die und eines breiten Netzwerkes von Klimaschutzländern sowohl im Energie- als auch im Transportsektor bedeut- werden. Die Modellallianz würde zudem zeigen, dass sie sam sein werden. auf einen raschen Übergang zu einer klimaverträglichen Die Welt kann nicht warten, bis die USA und China Weltwirtschaft setzt, und so den „grünen“ Innovations- – jeder für sich oder gemeinsam – zu anspruchsvolleren wettlauf beschleunigen. Klimaschutzverpflichtungen bereit sind. In dieser Patt- Die USA und China, die die Hauptverursacher von situation sollte Europa subglobale Allianzen mit ausge- Treibhausgasemissionen sind, haben aus unterschied- wählten Partnern anstreben, die ambitionierte Klima- lichen Interessen zu dem enttäuschenden Ergebnis der ziele verfolgen, um nicht zuletzt ein rechtsverbindliches Klimaverhandlungen in Kopenhagen beigetragen. Eine Abkommen in der UNFCCC zu erleichtern. In diesem anspruchsvolle globale Klimapolitik muss beide Akteure Sinne sollte Europa jenseits verbaler Bekundungen und einbinden. Angesichts der skizzierten Multipolarität fragmentierter Muster klima- und energiepolitischer muss die EU eine neue geopolitische Klimastrategie ent- Kooperationen effektive Macht generieren, es sollte wickeln und ausloten, mit welchen Schlüsselakteuren attraktiver Pol für hochambitionierte Klimaallianzen sie eine Allianz der Klimapioniere bilden will. und für Anreizsysteme zum Aufbau eines internationa- China scheint derzeit zwar nicht für international len Klimapioniernetzwerks werden. verbindliche Abkommen zu gewinnen zu sein, hat sich So lassen sich schon jetzt für die Zeit nach dem auf nationaler Ebene aber beachtlich im Klimaschutz Auslaufen der ersten Verpflichtungsperiode des Kioto- engagiert und strebt über eine „grüne Entwicklungs- Protokolls im Jahr 2012 internationale Klimaschutz- führerschaft“ soft power an, die die Defizite des chine- allianzen begründen, bzw. bestehende Kooperationen sischen Regimes in Sachen Menschenrechte und Demo- ausbauen. Es besteht die Möglichkeit, durch geschick- kratie in ein besseres Licht rücken soll. So besitzt China tes Verknüpfen des Klimaschutzes mit anderen Berei- schon heute die weltweit größten Kapazitäten zur Her- chen der internationalen Zusammenarbeit ein größeres stellung von Solarkollektoren und Solarzellen sowie vor- Engagement der Staatengemeinschaft beim Klimaschutz 9
Politikpapier Nr. 6 Klimapolitik April 2010 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen zu erwirken. Als Ansatzpunkte hierfür bieten sich bei- zur Verminderung der Emissionen aus Entwaldung und spielsweise Bildungs-, Forschungs- und Technologieko- Walddegradation (REDD+) zu erreichen sowie globale operation an. Staaten, die ambitionierte Klimaschutz- Ziele und einen Zeitplan zum Stopp der Entwaldung zu strategien entwickeln wollen, können durch die Zusam- vereinbaren (REDD steht für „Reducing Emissions from menarbeit mit europäischen Forschungseinrichtungen Deforestation and Degradation“, Reduktion von Emis- oder Technologiepartnerschaften profitieren. sionen aus Entwaldung und Schädigung von Wäldern). Auch in der Entwicklungszusammenarbeit gibt es In Kopenhagen sind von den Industrieländern für den Spielräume für anspruchsvolle Programme in Bezug auf Zeitraum 2010–2012 Mittel in Höhe von insgesamt klimaverträgliche Entwicklung. Die EU sollte Angebote 30 Mrd. US-$ zugesagt worden (Fast-Start-Finanzmit- für den Aufbau von Dekarbonisierungspartnerschaften tel). Deutschland und die EU sollten einen angemes- machen, die weit über die bestehenden EU-Klimako- senen Anteil aus diesen zusätzlich bereitzustellenden operationen hinausgehen. Derartige Kooperationen sind Geldern für den Waldbereich reservieren. Ausgehend angesichts der Blockaden in den internationalen Kli- von diesen bereits vereinbarten Ergebnissen lassen sich maverhandlungen wichtig, um reale Fortschritte in der mit ausgesuchten Partnerländern (z. B. Indonesien, Bra- Dekarbonisierung der Weltwirtschaft voranzubringen silien, Papua Neuguinea, D. R. Kongo) im Waldbereich und zu demonstrieren, dass mit Klimaschutzstrategien bilaterale Allianzen vorantreiben und auch der regionale Wettbewerbsfähigkeit und soziale Entwicklung erfolg- Austausch fördern. In einer solchen Zusammenarbeit reich miteinander verbunden werden können. Die Alli- sollen die technischen und administrativen Rahmen- anzen können in ihrem Zusammenspiel in der Lage sein, bedingungen entwickelt und erprobt werden, die Vor- die Kehrtwende der Weltwirtschaft in Richtung Klima- aussetzung für eine rasche und erfolgreiche Umsetzung verträglichkeit zu beschleunigen. Ab einer bestimmten von REDD-Projekten sind. Auf diese Weise lassen sich Größenordnung, Attraktivität, wirtschaftlichen Leis- wichtige Erfahrungen sammeln und austauschen, wie tungsfähigkeit und kollektiven Innovationskraft würden die nur grob umrissenen Vorgaben der UNFCCC unter hierdurch die noch immer auf „High-carbon“-Wachstum den sehr unterschiedlichen nationalen Bedingungen orientierten Gesellschaften zunehmend unter Anpas- konkret umgesetzt werden können. Dies gilt für die sungsdruck gesetzt. Ausgestaltung von Monitoring- und Berichtssystemen Der WBGU skizziert im Folgenden drei konkrete Bei- für die Emissionsmessungen im Waldbereich sowie für spiele für thematische Allianzen. Die EU sollte hier tech- die Frage, wie andere wichtige Nachhaltigkeits- und nisch, finanziell und institutionell in Vorleistung treten, Entwicklungsdimensionen berücksichtigt werden kön- um einen nachweisbaren Beitrag zu den gemeinsamen nen, etwa die Erhaltung der natürlichen Wälder und Klimaschutzzielen zu erzielen: (1) Kooperation mit Län- der biologischen Vielfalt sowie die Partizipation und die dern, die hohe Treibhausgasemissionen aus der Entwal- Rechte der lokalen sowie indigenen Bevölkerung. Die so dung verzeichnen; (2) Zusammenarbeit beim Ausbau gewonnenen Erkenntnisse können dann wieder in den und der klimaverträglichen Modernisierung der Infra- UNFCCC-Prozess eingebracht werden und anderen Län- struktur (vor allem Energietechnologie und Verkehrs- dern bei der Umsetzung helfen. Diese Allianzen würden systeme), insbesondere mit Entwicklungs- und Schwel- es ermöglichen, die vielfältigen Erfahrungen mit einzel- lenländern; (3) Verknüpfung des europäischen Emissi- nen Projekten in eine bi- bzw. multilaterale Strategie onshandelssystems mit anderen Ländern und Regionen. einzubinden und in einem größeren Maßstab voranzu- treiben. Waldpolitik Kimaverträgliche Infrastrukturen Eine strategische Zusammenarbeit mit relevanten „Waldländern“ ist u. a. deshalb erstrebenswert, weil eine Strategische Partnerschaften speziell mit Entwicklungs- deutliche Senkung der Emissionen aus der Entwaldung und Schwellenländern bieten sich beim Ausbau und der eine notwendige Voraussetzung für die Einhaltung der Modernisierung klimaverträglicher Infrastrukturen an, 2 °C-Leitplanke ist. Auf der Klimakonferenz in Kopen- insbesondere mit Blick auf ressourcenschonende Tech- hagen sind in den technischen Verhandlungen zum nologien für Energie- und Verkehrssysteme. Waldbereich bereits substanzielle Fortschritte erzielt Länder in Nordafrika wie beispielsweise Marokko worden, z. B. über den Umfang der anrechenbaren Ver- drängen sich als strategische Partner zur Verwirklichung meidungsmaßnahmen und über die Vermeidung von eines transmediterranen Supergrids zur Übertragung Nachhaltigkeitsrisiken. Daran sollte bei der nächsten von Solar- und Windstrom auf. Für ein weitgehend Vertragsstaatenkonferenz in Cancún angeknüpft wer- auf erneuerbaren Quellen beruhendes Energiesystem den, um eine Einigung über einen globalen Rahmen ergeben sich deutliche Kostenreduktionen, wenn Regi- 10
Politikpapier Nr. 6 Klimapolitik April 2010 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen onen mit hohen Potenzialen eingeschlossen werden. nicht nur dazu beitragen, Treibhausgasemissionen zu Bereits bestehende Initiativen, z. B. „Desertec“ oder reduzieren, sondern vor allem auch an konkreten Bei- der „Mediterranean Solar Plan“, müssen ohnehin durch spielen demonstrieren, dass und wie Armutsbekämpfung Netzanbindungen flankiert werden. Die strategische und Wirtschaftswachstum kombiniert werden können. Verknüpfung mit den Windkraft- und Wasserspeicher- Damit könnte die in Entwicklungsländern weit verbrei- potenzialen etwa der Nordseeanrainer in ein kontinen- tete Einschätzung, dass klimaverträgliche Entwicklung tales Supergrid ist anzustreben. Für die EU sind Ausbau eine Luxusstrategie für Industrieländer ist, entkräftet und Einbindung von Solarenergie aus den europäischen werden. Eine solche konsequente Neuausrichtung der Mittelmeerländern in dieses Supergrid sowohl in Bezug Entwicklungskooperation würde das Vertrauenskapital auf die Erhöhung der Versorgungssicherheit als auch zwischen Industrie- und Entwicklungsländern revitali- auf die Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit gegen- sieren, das für die weiteren Klimaverhandlungen drin- über konventionellen Alternativen vorteilhaft. Auch für gend benötigt wird. die nordafrikanischen Länder ergeben sich durch diese Vernetzung ökonomische und versorgungstechnische Vorteile. Emissionshandel Über Gasnetze sowie die Einbeziehung von Flüssig- gasaufbereitungs- und -transportsystemen bieten sich Allianzen können auch im Bereich des Emissionshan- weitere Integrationsmöglichkeiten. Auch in Zentral- und dels geknüpft werden. Ein wesentlicher Baustein der Osteuropa existieren hohe Potenziale für nachhaltige Klimaschutzpolitik der EU ist das europäische Emissi- Biomasseproduktion. Durch die Erzeugung von Methan onshandelssystem. Trotz einiger Anfangsschwierigkei- aus Biomasse oder aus überschüssiger Elektrizität kön- ten, vor allem in Bezug auf die fehlende Knappheit der nen grundsätzlich auch Länder ohne eigene Erdgasvor- Zertifikate und die hohe Preisvolatilität, deren Lösung kommen zu Nettoexporteuren von Erdgassubstituten aber durch laufende und zukünftige Reformen erwartet werden. werden kann, kommt dem System eine Leitbildfunktion Beide Beispiele zeigen, dass Energiepartnerschaf- zu. Der WBGU empfiehlt, dies als Anknüpfungspunkt ten ein wichtiger Teil der EU-Außenpolitik sein sollten. für staatenübergreifende Kooperationen zu nutzen. Generell bietet ein beschleunigter Ausbau erneuerbarer Die EU könnte mit einzelnen Ländern oder Regionen, Energien der EU interessante Kooperationsmöglichkei- die bereits Emissionshandelssysteme eingeführt oder ten. Um entsprechende Anreize zu setzen, haben bereits dieses geplant haben, über eine Verknüpfung mit dem vierzig Staaten weltweit (davon allein 18 in der EU) Ein- EU-Emissionshandelssystem verhandeln. Zu nennen speisevergütungen etabliert, um das Erreichen der Kos- sind z. B. Japan, Kanada (Western Climate Initiative), tenparität zu konventionellen Stromerzeugungsformen Australien (NSW Greenhouse Gas Abatement Scheme), zu beschleunigen. Während Investitionsentscheidun- Neuseeland sowie die USA (Regional Greenhouse Gas gen im europäischen Rahmen bislang weitgehend dem Initiative). freien Markt überlassen werden, könnten Investitio- Die Erweiterung des EU-Emissionshandels würde nen im Sinne strategischer Partnerschaften durch ent- für alle beteiligten Unternehmen die Marktliquidität sprechende Kreditgarantien abgesichert werden (z.B. erhöhen und neue Vermeidungspotenziale erschlie- durch die Europäische Bank für Wiederaufbau und Ent ßen. Länder, die bisher keine nationalen Emissions wicklung). obergrenzen eingeführt haben, könnten sektoral oder Darüber hinaus kann die europäische Entwicklungs- abgestuft an einem solchen System beteiligt werden. zusammenarbeit auch in den armen Entwicklungs- Vorstellbar wäre etwa, dass ein Land eine absolute oder ländern in Afrika südlich der Sahara und in Südasien relative Emissionsobergrenze zunächst nur für einen sowie mittelgroßen Entwicklungsländern wie Vietnam eng begrenzten Sektor einführt und diesen mit dem und Peru zum Aufbau klimaverträglicher Infrastruktu- EU-Emissionshandelssystem verknüpft. Insbesondere ren beitragen. 60 % der weltweiten Investitionen in die für Entwicklungs- und Schwellenländer kann hier ein internationale Entwicklungszusammenarbeit kommen Anreiz geschaffen werden, indem die Emissionsober- aus dem EU-Raum. Dieser entwicklungspolitische Hebel grenze relativ großzügig gewählt wird. Dies wäre jedoch wird derzeit nicht systematisch genutzt, um das neue im Gegenzug durch ambitionierte Obergrenzen auf Sei- klimaverträgliche Entwicklungsparadigma international ten der EU zu kompensieren. Es ist daher wichtig, dass attraktiv zu machen. Die europäische Entwicklungszu- in allen beteiligten Staaten ein effektives Kontroll- und sammenarbeit muss sich neben den primär auf Armuts- Monitoring-System etabliert wird, um eine Verwässe- reduzierung ausgerichteten Millenniumsentwicklungs- rung des EU-Emissionshandelssystems zu vermeiden. zielen zusätzlich systematisch auf klimaverträgliches Auch die Harmonisierung der Bilanzierungsstandards Wachstum orientieren. Diese Neuorientierung würde und Detailregelungen wie Anrechnung von „Offsets“ 11
Politikpapier Nr. 6 Klimapolitik April 2010 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (z. B. CDM oder Landnutzungsemissionen) zwischen den Fazit Ländern sowie mit den Regeln innerhalb der UNFCCC sollte gewährleistet sein. Mit den hier skizzierten zwischenstaatlichen Allian- Grundsätzlich bleibt zu bedenken, dass derartige zen kann sich Europa das politische Handlungskapital Kooperationen die Komplexität des bestehenden Emis- schaffen, um eine führende Rolle in der globalen Kli- sionshandelssystems weiter erhöhen. Das Volumen der mapolitik übernehmen zu können. Die in Umrissen zusätzlich einbezogenen Emissionen und tatsächliche skizzierten Allianzen wären inklusiv und auf einen damit verbundene Minderungen müssen diesen Auf- positiven Beteiligungswettbewerb ausgerichtet. Ziel der wand rechtfertigen. Perspektivisch sollten diese Maß- neuen europäischen Klimadiplomatie wäre, die kritische nahmen dazu beitragen, schrittweise einen globalen Masse klimaorientierter Partner zu gewinnen, die die Kohlenstoffmarkt zu schaffen, dessen Elemente bereits Weichen in Richtung einer klimaverträglichen Welt- jetzt zu erörtern sind. So stellt sich etwa die Frage, ob wirtschaft umstellen kann. Die exemplarisch dargestell- zum Abbau von Bürokratie und zur Steigerung der ten Partnerschaften könnten nach Ansicht des WBGU Wirksamkeit des Systems mittelfristig eine Erfassung auch dazu beitragen, die Differenz zwischen dem nor- der Emissionen auf der ersten Handelsstufe sinnvoll mativen Grundkonsens über die notwendige Beachtung wäre. der 2 °C-Leitplanke und den für ihre Einhaltung inad- Flankierende Technologiekooperationen könnten äquaten Strukturen und Routinen der internationalen die Bereitschaft zur Beteiligung an verknüpften Emissi- Kooperation zu überwinden. onshandelssystemen weiter erhöhen. Explizite Handels- sanktionen gegen nicht teilnehmende Staaten hält der WBGU für nicht zielführend. Zur Reduktion von Wett- bewerbsnachteilen könnte allerdings eine gemeinsame Einführung moderater Grenzausgleichsabgaben für die betroffenen Sektoren in Erwägung gezogen werden. 12
Politikpapier Nr. 6 Klimapolitik April 2010 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen Wiederbelebung der multilateralen Klimapolitik Wie die Klimakonferenz in Kopenhagen gezeigt hat, der Entwicklungsländer für die Erfüllung ihrer Reduk- schreiten die internationalen Klimaverhandlungen tionsverpflichtungen trägt. allenfalls im Schneckentempo voran. Eine Strategie zur Für die sachgerechte Fortentwicklung des internationa- wirksamen Begrenzung des anthropogen verursachten len Klimaschutzregimes ist es erforderlich, dass flexibel Klimawandels – zumal unter erheblichem Zeitdruck – und zeitnah auf neue wissenschaftliche und technolo- hat aber ohne den Fluchtpunkt eines weltweit verbind- gische Erkenntnisse – durch völkervertragsrechtlich, lichen Klimaabkommens keine realistischen Erfolgs- mittels Mehrheitsentscheidung, herbeigeführte Proto- aussichten. Allen Frustrationen über den verfahrenen kolländerungen – reagiert werden kann und dass die UN-Verhandlungsprozess zum Trotz wäre ein allein auf Finanzierung von Reduktions- und Anpassungsmaß- zwischenstaatlichen Initiativen beruhender Ansatz mit nahmen im Sinne des Verantwortlichkeitsprinzips, ins- mindestens zwei fundamentalen Risiken behaftet. Es besondere mit Blick auf die Entwicklungsländer, bereits ist zum einen völlig offen, ob mit dem im Copenhagen jetzt gesichert ist. Accord vereinbarten Verfahren auch nur annäherungs- Eine konsistente völkervertragsrechtlich abge weise der 2 °C-Leitplanke entsprechende Emissionsre- sicherte Klimaschutzordnungspolitik würde die Chancen duktionen erreicht werden können. Zum anderen wird deutlich erhöhen, gefährlichen Klimawandel zu vermei- ein System ohne übergeordnete Koordinierungs- und den. Für ein entsprechendes internationales Klima- Sanktionsmechanismen die Verlagerung von Emissio- schutzabkommen mit verbindlichen Pflichten für die nen in kooperationsunwillige Länder (Carbon Leakage) Vertragsstaaten sowie effektiven Durchsetzungsmecha- ebenso wenig überwinden können wie das kollektive nismen und Streitschlichtungsinstrumenten sprechen Handlungsproblem des „Trittbrettfahrens“ (WBGU, insbesondere vier Gründe: 2003, 2009b). Frühere Erfolgsbeispiele globaler Umweltpolitik, 1. Eindeutige und unumkehrbare Anreize für die Redu- wie die internationalen Vereinbarungen zum Schutz der zierung von Emissionen; Ozonschicht, sind insbesondere auf bindendes Völker- 2. Begrenzung von Carbon Leakage und Trittbrett- vertragsrecht zurückzuführen. Als wesentliche Erfolgs- fahrerverhalten sowie Eindämmung der Gefahr des faktoren des Wiener Übereinkommens über den Schutz „Klimaprotektionismus“; der Ozonschicht und des dazu ergangenen Montreal- 3. Erwartungssicherheit für transnationale Unterneh- Protokolls gelten dabei: men durch globale, langfristige und stabile Rahmen- •• Die völkerrechtlich innovative Ausgestaltung des Ver- bedingungen, wodurch auch mögliche Spannungen tragswerks durch eine Rahmensetzung, die durch Pro- zwischen Wirtschafts- und Klimapolitik entschärft tokolle mit konkreten Reduktionsverpflichtungen für würden; die Herstellung und den Verbrauch Ozon abbauender 4. Gemeinsame Regelsetzung und wechselseitiges Substanzen ausgefüllt wurde. Monitoring zur Vertrauensbildung zwischen den kli- •• Der dynamische Charakter der Entscheidungsfindung mapolitischen Hauptakteuren (China, USA, EU, G77). bei der Fortentwicklung des Montreal-Protokolls, das nicht entsprechend dem sonst im Völkervertragsrecht Wenn eine derartige völkerrechtlich fundierte Ord- geltenden Konsensprinzip, sondern mittels Zwei-Drit- nungspolitik innerhalb des bereits bestehenden tel-Mehrheit geändert werden kann. UNFCCC-Prozesses nicht gelingt und dieser im diploma- •• Die Einrichtung eines innovativen, langfristig angeleg- tischen Normalmodus einfach weitergeführt wird, droht ten Finanzierungsmechanismus, der die Mehrkosten ihm das endgültige Aus. Es gilt also zu retten, was für 13
Politikpapier Nr. 6 Klimapolitik April 2010 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen ein künftiges Regime zu retten ist und Agenden zu ver- dung des – in Art. 7 (3) der UNFCCC angelegten – Mehr- folgen, die man am ehesten beschleunigen oder heraus- heitsprinzips einsetzen. lösen kann. Im Copenhagen Accord haben die Industrieländer Wichtige Errungenschaften des UNFCCC-Prozes- zugesagt, im Zeitraum von 2010 bis 2012 eine Summe ses, die unbedingt gesichert werden sollten, sind ein von 30 Mrd. US‑$ zusätzlich für Vermeidungs- und gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Stan- Anpassungsmaßnahmen, Technologietransfer und dardsetzung in Bezug auf die Erfassung, Zuordnung Kapazitätsaufbau in Entwicklungsländern zur Verfü- und Anrechnung von Treibhausgasemissionen. Einiges gung zu stellen. Anschließende jährliche Zahlungen sol- davon ist bereits im Rahmen des Kioto-Protokolls gere- len bis 2020 100 Mrd. US‑$ erreichen. Ein großer Teil gelt (etwa Anrechnungsregeln für die national zu erstel- der Gesamtsumme, heißt es im Copenhagen Accord, soll lenden Emissionsinventare; Land Use, Land-Use Change über den neuen Green Climate Fund abgewickelt wer- and Forestry; Clean Development Mechanism), weiteres den. Die Zusätzlichkeit der Mittel ist jedoch in vielen ist gegenwärtig Gegenstand des zweiten Verhandlungs- Fällen nicht gegeben. So setzen sich beispielsweise die strangs (etwa REDD+; Measurement, Reporting and von Deutschland zugesagten 420 Mio. € größtenteils Verification). Zwar hält der WBGU viele dieser Regelun- aus bereits vorher für Klimaschutz und Entwicklungs- gen für verbesserungswürdig, aber als transparente und zusammenarbeit eingeplanten Geldern zusammen (WRI, international abgestimmte Regelungen bilden sie die 2010). Zur Erfüllung der in Kopenhagen gemachten Basis für eine international vertrauenswürdige Zusam- Zusagen wurden für das Jahr 2010 nur 70 Mio. € neu menarbeit im Klimaschutz. in den Bundeshaushalt eingestellt (BMF, 2010). Der- Dies gilt insbesondere auch für den Bereich der artige Verfahrensweisen unterminieren die Glaubwür- Anpassung an den Klimawandel in Entwicklungslän- digkeit von Transferzusagen auf internationaler Ebene, dern. Der Bedarf nach umfassenden Unterstützungsleis- schwächen das Vertrauen der Entwicklungsländer in kli- tungen der Industrieländer an die ärmsten Entwicklungs- mapolitische Verhandlungen und sind daher langfristig länder ist grundsätzlich in der UNFCCC verankert. Mit kontraproduktiv. der Einigung auf die Ausgestaltung eines Anpassungs- Für die Verwaltung und Auszahlung der zugesagten fonds und der Verabschiedung des Arbeitsprogramms Gelder müssen einheitliche und transparente Strukturen von Nairobi (UNFCCC, 2007) wurde dies konkretisiert entwickelt werden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass und im Sinne der gemeinsamen aber unterschiedlichen sämtliche Finanzmittel das Kriterium der Zusätzlichkeit Verantwortlichkeit auf internationaler Ebene bekräftigt. erfüllen und außerdem, nach Ansicht des WBGU, leis- Es erscheint für viele Entwicklungsländer unverzicht- tungsbasiert ausgezahlt werden sollen. Die EU sollte bar, dass Weiterentwicklung und Umsetzung entspre- sich dafür einsetzen, dass der Green Climate Fund unter chender Politiken auch weiterhin unter dem Dach der dem Dach der UNFCCC angesiedelt wird. Eine Diffe- UNFCCC verfolgt werden. renzierung zwischen den Bereichen „Vermeidung“ und Der Komplexität der internationalen Klimapolitik „Anpassung“ erscheint sinnvoll. Während für Vermei- nicht mehr angemessen ist die Zweiteilung der UNFCCC- dung ein langfristig tragfähiges Konzept neu erarbeitet Vertragsstaaten in Annex-I- und Nicht-Annex-I-Länder. werden müsste, könnten im Bereich der Anpassung die Auch wenn viele Entwicklungs- und Schwellenländer Erfahrungen mit dem neu eingerichteten Kioto-Anpas- auf dieser Dichotomie beharren, ist eine Differenzierung sungsfonds genutzt werden, um ein Konzept für die län- innerhalb der Gruppe der Nicht-Annex-I-Länder erfor- gerfristige institutionelle Ausgestaltung zu entwickeln. derlich, um die internationale Klimapolitik zu beschleu- Zur Förderung der Vertrauensbildung zwischen den nigen. In Kopenhagen wurden auch Entwicklungs- und Ländern empfiehlt der WBGU, dass die Industrieländer Schwellenländer auf internationaler Ebene zur Benen- umgehend konkrete Konzepte vorlegen, wie sie lang- nung quantitativer Klimaschutzziele im Anhang des fristig und verlässlich Mittel für den oder die Fonds Copenhagen Accord eingeladen; dem sind sie auch generieren. Der WBGU hält es für notwendig, dass dabei grundsätzlich gefolgt. Insbesondere die Operationali- auch die öffentlichen Haushalte einen beträchtlichen sierung der im Copenhagen Accord vereinbarten Über- Anteil beisteuern. prüfungsmechanismen könnte ein Präzedenzfall für die Die EU sollte schließlich anbieten, eine zweite Ver- Überwindung der überholten Dichotomie bilden. pflichtungsperiode des Kioto-Protokolls zu akzeptieren, Wie das erwähnte Beispiel des Montreal-Protokolls auch wenn der Verhandlungsstrang unter der UNFCCC zeigt, könnten auch effektivere Entscheidungsverfahren noch nicht zu einem rechtsverbindlichen Abkommen zur Überwindung von Verhandlungsblockaden beitra- entwickelt werden kann, oder auch wenn einzelne bis- gen, die durch das Konsensprinzip bedingt sind, und her verpflichtete Staaten das Kioto-Protokoll verlassen eine Beschleunigung des Verhandlungsprozesses erwir- sollten. Einzige Bedingung sollte sein, dass die im Copen- ken. Die EU sollte sich in diesem Sinne für die Anwen- hagen Accord vereinbarten Eckpunkte in den weiteren 14
Politikpapier Nr. 6 Klimapolitik April 2010 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen Verhandlungsprozess integriert und operationalisiert werden. Insbesondere das „Pledge-and-Review-Ver- fahren“ sollte transparente Regeln und völkerrechtli- che Verbindlichkeit erhalten. Diese angestrebte Lösung wäre ein pragmatischer „Erfolg“ der Vertragsstaaten- konferenz in Cancún. Die EU würde signalisieren, dass sie an international verbindlichem Klimaschutz festhält und die erreichten Verhandlungsfortschritte nicht aufs Spiel setzen will. Somit stünde die Welt 2012 – nach dem Auslaufen der ersten Verpflichtungsperiode des bestehenden Kioto-Vertrages – nicht gänzlich ohne ein wirkungsvolles internationales Klimaregime da. 15
Politikpapier Nr. 6 Klimapolitik April 2010 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen Schlussfolgerungen Der WBGU regt in diesem Politikpapier eine entschie- geschlossen werden kann und wie das Klimathema die dene und rasche Wende der globalen Klimapolitik an. ihm zukommende Relevanz in der Formulierung globa- Die Klimaverhandlungen zur Erreichung eines interna- ler Politikziele erlangen kann. tional verbindlichen Regelwerkes zur Begrenzung der Als mögliche Foren dieser Strategiedebatte (Solutions Treibhausgasemissionen müssen erneuert und durch ein Dialogue) kommen neben parlamentarischen und quasi- Bündel von Initiativen ergänzt werden. Skizziert wurde parlamentarischen Gremien (vom EU-Parlament bis ein Mehrebenensystem, das nach dem unzureichenden zur UN-Generalversammlung) themenzentrierte und Ergebnis des Kopenhagener Klimagipfels dessen posi- moderierte Internet-Foren nach dem Vorbild der EU- tive Aspekte aufgreift, zugleich aber die Spannungs- Verfassungs-Debatte und im Rahmen des Diskussions- felder einer polyzentrischen Weltkonstellation berück- forums zur „Zukunft Europas“ in Betracht (Europäisches sichtigt und sich stärker von der gesellschaftlichen und Parlament, 2010; Europäische Kommission, 2010b). wirtschaftlichen Basis her auf ein globales Regieren im Weiterhin regt der WBGU einen weltweiten Ideen- Klima- und Energiebereich hin bewegt. Darunter wer- wettbewerb für die besten Lösungen und Praktiken im den ganz unterschiedliche Ansätze gefasst, die man ana- Klimaschutz an. Mit solchen Partizipationsformen wird lytisch und praktisch auseinanderhalten muss: auch die europäische Zivilgesellschaft ernst genommen. •• Subnationale Klimainitiativen und Allianzen von Sie wird sich an der Debatte aber nur beteiligen, wenn Städten in Ergänzung zentralstaatlicher und suprana- sie nah an den Entscheidungsprozess der Europäischen tionaler Steuerungsversuche; Union und ihrer Mitgliedsländer sowie der Vereinten •• Unternehmensaktivitäten, die einen Markt für klima- Nationen herangeführt wird und jenseits der technisch- verträgliche Produkte und Dienstleistungen schaffen; ökonomischen Details der Klimadiplomatie ein histori- •• Freiwillige und eigenverantwortliche Reduktionsver- sches Projekt erkennen kann. Politische Kooperationen pflichtungen der Zivilgesellschaft, die gesetzliche und haben sich – wie das Beispiel der Europäischen Union administrative Regelungen antizipieren oder übertref- zeigt – aus sektoral und regional begrenzten, gleichwohl fen; zentralen Agenden entwickelt und politische Identität •• Eine Klimapolitik, die auf verschiedene Instrumente gestiftet. Nicht weniger muss Europa heute gelingen, und Regime setzt; allerdings im globalen Rahmen. •• Eine Klimapolitik, die die Multipolarität der Weltpoli- Die vom WBGU skizzierte Mehrebenenpolitik darf tik spiegelt und Raum für spontane oder koordinierte allerdings in keinem Moment verkennen, dass eine staatliche Initiativen schafft (wie das von Norwegen zukunftsfähige Strategie gegen den Klimawandel nicht und Deutschland unterstützte Amazonasschutzpro- um die Fundamentalfrage der gerechten internationalen gramm in Brasilien oder die Low-carbon-Partner- Lastenteilung herumkommt: Wie im WBGU-Sondergut- schaft Großbritanniens mit China) und parastaatliche achten „Kassensturz für den Weltklimavertrag“ (WBGU, Ansätze (etwa die Soros Climate Policy Initiative oder 2009b) ausgeführt, hat die Menschheit nur noch ein die von der Stiftung der Münchener Rückversicherung begrenztes Emissionsbudget zur Verfügung, wenn das angestoßene Initiative zum Versicherungsschutz von Risiko unbeherrschbarer Umweltveränderungen einge- Kleinbauern in Entwicklungsländern, die vom Klima- hegt werden soll. Mit den zahlreichen hier vorgeschla- wandel bedroht sind). genen Initiativen und Innovationen könnte es gelingen, Dieser Mehrebenenansatz, der weiterhin ein völker- mit diesem Budget leichter auszukommen und damit die rechtlich verbindliches Klimaabkommen als Flucht- zu verteilende Last zu mindern. Aber eine beträchtliche punkt hat, sollte mit einer durch Strategiepapiere unter- Last wird bleiben – und muss auf faire und verantwor- legten Generaldebatte der Länder über die Umsetzung tungsvolle Weise von der Weltgemeinschaft geschul- des Copenhagen Accord ergänzt werden. Es sollte insbe- tert werden. Die Klimaphysik bleibt ohnehin dieselbe, sondere diskutiert werden, auf welche Weise die große ganz gleich ob man sie „von oben“ oder „von unten“ Lücke zwischen den angebotenen und den zur Einhal- betrachtet. tung der 2 °C-Leitplanke notwendigen Verpflichtungen 16
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