Kunsthalle Wien - How To Live

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Kunsthalle Wien - How To Live
Kunsthalle Wien

 How To Live
                  iStock.com/subwaytree

  Together
Kunsthalle Wien - How To Live
Gesellschaft zwischen Erosion und Aufbruch
Wie zusammenleben? Diese Frage zielt auf unsere           Gesellschaft und Individuum und welche Mechanismen
Alltagserfahrungen und wie diese durch die                wirken dabei? Dies sind einige der Fragen, auf die die
gegenwärtigen sozialen, ökonomischen und politischen      gezeigten Arbeiten sehr persönliche Antworten geben.
Entwicklungen bedingt sind. Alte Strukturen lösen              How To Live Together entwirft Vorstellungen
sich auf, Perspektiven auf Vergangenes verändern          von Zusammenleben, die Vergangenheit, Gegenwart
sich und neue Modelle eines sozialen Miteinanders         und Zukunft miteinander verbinden, um gemeinsam
entstehen. Die vermeintliche Freiheit des Menschen,       an neuen Konfigurationen des Sozialen zu arbeiten.
über sein eigenes Leben zu bestimmen, ist durch
seine Einbettung in soziale Gefüge bestimmt. Dass         Kurator
den individuellen wie gesellschaftlichen Bedingungen      Nicolaus Schafhausen
unseres Zusammenlebens soziale Konstruktionen von
Wirklichkeiten zugrunde liegen, verweist auch auf das     Juliane Bischoff
Potenzial individueller Handlungen.                       kuratorische Assistentin
      How to Live Together nähert sich dem
Zusammenleben als persönliche Erfahrung sowie
strukturelle Kategorie. Die Kunst fungiert hier als ein
Medium, das Gesellschaftsbilder einer jeweiligen
Zeit nachzeichnen und einen Reflexionsraum für
gelebte Erfahrung bieten kann. Es geht um individuelle
Geschichten in unterschiedlichen historischen
Räumen, die auf das Allgemeine im Besonderen
verweisen und etwas zur Sprache bringen, was anders
nicht gesagt werden kann.
      Überlegungen zu Identitäts- und
Geschichtskonstruktionen machen darauf
aufmerksam, dass Vergangenheit immer auch anders
erzählt werden kann und tragen so auch zu einem
neuen Verständnis unserer sozialen Gegenwart bei.
      Ausgehend von persönlichen Erfahrungen
thematisieren die Kunstwerke Flucht und Migration,
Rassismus und Ausgrenzung, aber auch Solidarität
und Teilhabe. Dabei verweisen sie immer auch auf
gesellschaftliche Zustände und sich verändernde
Verhältnisse zwischen Privatem und Politischem,
Stillstand und Bewegung, Wirklichkeit und Utopie.
      Auch die Herstellung von Nähe, die in Zeiten
polarisierter Gesellschaften oft nur innerhalb eng
abgesteckter sozialer Grenzen zu finden ist, erweist
sich als wichtiges Thema. Die Kunst argumentiert
hier nicht nur aus kritischer Distanz, sondern auch auf
Ebene der Empathie. Die Vielfalt der präsentierten
Lebenswelten zeigt auf, dass Gesellschaft mehr ist als
die Summe ihrer Individuen.
      Für den französischen Philosophen Roland
Barthes blieb ein Zusammenleben, das den
individuellen Rhythmus des Einzelnen anerkennt, ein
Phantasma, das er allein auf Ebene der Literatur zu
finden vermochte. In unserer globalisierten Gegenwart
erfordert Zugehörigkeit über dieses bereits schwierige
Ausloten des Verhältnisses zwischen Gruppe
und Individuum hinaus auch die Anerkennung auf
sozialer wie institutioneller Ebene. Dies verkörpert
die Fundierung unserer Demokratie, die es vor ihrer
Auflösung zu bewahren gilt.
      Was bedeutet politische Repräsentation in
unserer Gegenwart? Wie sehr ist das Private immer
auch öffentliches Leben? Inwiefern bedingen sich
Kunsthalle Wien - How To Live
Bas Jan Ader                                                                                                                                      Kader Attia
       *1942 in Winschoten, vermisst 1975                                              In Untitled (Tea Party) fährt die Kamera langsam in          *1970 in Dugny, lebt in Berlin und Algier                                         empfinden, als käme er aus dem fehlenden
         auf dem Atlantik                                                               eine Waldlichtung, wo der mit einem dunklen Anzug       Als Kind algerischer Einwanderer in den Banlieues                                      Körperteil. Ausgehend von dieser neurologischen
Bas Jan Ader ist in die Kunstgeschichte vor allem über                                  bekleidete Künstler unter einem großen, durch einen     von Paris aufgewachsen, bilden Kader Attias                                            Wahrnehmung zieht Attia Parallelen zu Traumata,
sein Projekt In Search of the Miraculous eingegangen,                                   Ast nach oben hin offen gehaltenen Pappkarton sitzt     Erfahrungen in zwei unterschiedlichen kulturellen                                      die durch historische Kriegs- und Terrorerlebnisse
dessen Ende das spurlose Verschwinden des                                               und allein eine Teezeremonie nach britischer Manier     Milieus die Grundlage seiner künstlerischen                                            ausgelöst wurden und sich als Schmerzempfinden
Künstlers selbst markiert: 1975 machte er sich mit dem                                  abhält. Während die Kamera wieder zurückfährt, löst     Praxis. Neben dem Einfluss der westlichen Kultur                                       durch mehrere Generationen ziehen. „Reparierbar“
kleinsten Boot, das jemals über den Atlantik gesegelt                                   sich der Ast aus seiner Verankerung und die Schachtel   und des Kapitalismus auf die Gesellschaften in                                         ist dieser Schmerz nach Aussage der Interviewten
ist, von den USA in die Heimat seiner Kindheit auf.                                     lässt den Teetrinker wie in einer Falle verschwinden.   Nordafrika und im Nahen Osten gilt sein spezielles                                     am ehesten durch bewusstes Erinnern, durch aktive
Etwa zehn Monate später wurde sein Boot leer an der                                                                                             Interesse den Nachwirkungen des Widerstandes                                           Auseinandersetzung mit der Vergangenheit,
Küste Irlands gefunden.                                                                 Untitled (Tea Party), 1972                              gegen die Kolonisierung auf die heutige arabische                                      durch Reflexion. Und Reflexion ist, so der Künstler,
       In seinem künstlerischen Werk ging es ihm                                        16mm Film übertragen auf Video, s/w, ohne Ton,          Jugend. Attia sucht vor allem nach vergleichbaren                                      „vor allem eine Form des Widerstands“.
immer wieder um das Moment des Fallens (falling)                                        1:51 Min., Kamera: William Leavitt                      Phänomenen in unterschiedlichen Kulturbereichen.
und Verschwindens, das er mit dem Scheitern (failing)                                                                                           Dabei geht es ihm nicht um die idealistische Idee                                      Reflecting Memory (Réfléchir la Mémoire), 2016
in Verbindung brachte. Neben der eigentlichen, stets                                    Courtesy Meliksetian | Briggs, Los Angeles              einer Versöhnung kultureller Differenzen, sondern                                      HD-Videoprojektion, Farbe, Ton, 40 Min.
ausgeführten Aktion bediente er sich der Medien                                                                                                 vielmehr um eine geschärfte Wahrnehmung der
Fotografie und Film zur Dokumentation. Seine                                                                                                    Pluralitäten. Zugleich ist ihm die „Reparatur“ als eine                                Courtesy der Künstler; Galerie Nagel Draxler, Berlin/
Videoarbeiten (ursprünglich 16mm- oder Super-8-Filme)                                                                                           Konstante des Lebens eine adäquate Möglichkeit                                         Köln; Lehmann Maupin, New York/Hong Kong; Galerie
sind zumeist kurze Sequenzen, in denen er verschiedene                                                                                          der Wiederaneignung zerstörter oder vergessener                                        Krinzinger, Wien; und Galerie Continua,
Arten des Fallens oder Kippens zeigt. Diese Aktionen                                                                                            Werte, seien sie kultureller, persönlicher oder auch                                   San Gimignano/Les Moulins/Peking/Habana
erinnern an Slapstick und sind zugleich Metaphern für                                                                                           psychischer Natur.
das Gefühl existenzieller Instabilität. So wie anderen                                                                                               Um den Gedanken der „Reparatur“ dreht
Konzeptkünstlern in Los Angeles der 1970er Jahre – etwa                                                                                         sich auch sein Filmessay Reflecting Memory.
Ed Ruscha, Gordon Matta Clark, Robert Smithson oder                                                                                             In den hier versammelten Interviews mit
Chris Burden – war es Ader ein Anliegen, Kunst und                                                                                              Chirurg/innen, Historiker/innen, Philosoph/innen,
Leben miteinander zu verweben und der Fragilität der                                                                                            Psychoanalytiker/innen und traumatisierten
menschlichen Existenz mehr Bedeutung beizumessen                                                                                                Menschen geht es zunächst um das Phänomen
als der Utopie von Harmonie und Gleichgewicht.                                                                                                  des Phantomschmerzes, den Amputierte so

Bas Jan Ader, Untitled (Tea Party), 1972, Filmstill, © Nachlass Bas Jan Ader / Mary Sue Ader Andersen, 2017, The Artists Rights                 Kader Attia, Reflecting Memory, 2016, Videostill, Courtesy der Künstler; Galerie Nagel Draxler, Berlin/Köln; Lehmann Maupin,
Society (ARS), New York; Courtesy Meliksetian | Briggs, Los Angeles                                                                             New York/Hong Kong; Galerie Krinzinger, Wien; Galerie Continua, San Gimignano/Les Moulins/Peking/Habana
Kunsthalle Wien - How To Live
Sven Augustijnen                                                                                                                                    Tina Barney
      *1970 in Mechelen, lebt in Brüssel                 Inspecting the Works in Progress or Completed,                                             *1945 in New York, lebt in Watch Hill             The Lollipops, 2001
Im Rahmen seiner Recherchen der belgischen               Te Deum at the Saint-Laurent Chapel and Military                                             und New York                                     Chromogene Farbdrucke, je 121,9 x 152,4 cm
Kolonialgeschichte im Kongo stieß Sven Augustijnen       Parade on 21 juillet 1953, 2016                                                      Seit Mitte der 1970er Jahre verschafft uns Tina Barney
auf das sogenannte Reduit, das in den 1950er             Fotokompositionen aus 50 Negativen, s/w-Drucke                                       Einblicke in die Privatsphäre der US-amerikanischen      The Foyer, 1996
Jahren in der Provinz Katanga geplant wurde. Diese       auf Barytpapier, 20 x 20 cm / Größen variabel                                        Upper Class und ihrer sozialen Dynamiken. Als            Chromogener Farbdruck, 76,2 x 101,6 cm
als Schutzwall angelegte geheime Stadt sollte als                                                                                             Angehörige dieser Schicht begann sie zunächst
Zufluchtsort für die belgische Regierung im Falle        Courtesy der Künstler, La Loge, Brüssel und Jan Mot                                  ohne künstlerische Intention ihre Familie und            Aus der Serie: Players
einer kommunistischen Invasion in Europa dienen.         Gallery, Brüssel                                                                     Freunde zu fotografieren. Auf erste, mit einer
Die Absenz eindeutiger Informationen und Daten zu                                                                                             Kleinbildkamera gemachte schnappschussartige             Family Commission with Snake, 2007
diesem Thema erregte das Interesse des Künstlers.        Belgian Congo, Katanga Province, District of the Haut                                Schwarzweiß-Aufnahmen folgten dezent inszenierte         The Reunion, 1999
Im Archiv des belgischen Centre de Documentation         Lomami, Kamina, Provisional Town, ca. 1951                                           Gruppenporträts, die sie ab 1982 in Farbe und im         Chromogene Farbdrucke, je 121,9 x 152,4 cm
historique des Forces armées (ACOS IS/CA) wurde          Plan (Maßstab 1:45000 – Plan No. T 524 Su1.),                                        Großformat ausführte. Dabei verlängerte sich die
Sven Augustijnen schließlich fündig. Er analysierte      Papier und Tinte, 90 x 47 cm                                                         Vorbereitungszeit für jedes Bild und entsprechend        Courtesy die Künstlerin und Paul Kasmin Gallery,
zahlreiche Dokumente, Fotografien, Landkarten und                                                                                             der Grad der Inszenierung: die Personen stellen jetzt    New York
Pläne, die mit dem Reduit in Verbindung standen und      Courtesy Federal Public Services of Foreign Affairs,                                 zunehmend ihre eigenen Posen nach. „Ich wollte,
die Absichten der belgischen Regierung enthüllten,       Belgien                                                                              dass die Betrachter jedes Detail im Bild erkennen und
in der kongolesischen Stadt Kamina nicht nur eine                                                                                             sich dort selbst als anwesend empfinden können
Militärbasis, sondern auch einen Regierungssitz zu       Kamina Military Base, ca. 1956–58                                                     – so, als würden sie im Kino sitzen“, sagte Tina
errichten, der die belgische Hauptstadt im Falle eines   Plan (Maßstab 1:5000), Papier und Tinte, 161 x 152 cm                                Barney dazu. 1996 fasste sie ihr Langzeitprojekt in
militärischen Angriffs ersetzen würde.                   und 145 x 151 cm                                                                     dem Fotoband Theater of Manners zusammen – einer
      In seiner Installation zeichnet der Künstler                                                                                            Sozialstudie über das Leben der nordamerikanischen
die Geschichte der Kamina Base nach, die                 11 Plans of buildings and infrastructure of Kamina                                   Privilegierten und damit auch ein Gegenstück zur
zunächst eine konkrete Materialisierung der              Base, 1947–60                                                                        Street Photography eines Walker Evans oder zu
Ängste der belgischen Regierung war, ab 1960 aber        11 Pläne, Papier und Tinte, Maße variabel                                            Nan Goldins intimen Porträts der Subkultur.
auch eine strategische Rolle in den politischen                                                                                                     Auf den Spuren ihrer Vorfahren besuchte die
Unruhen spielte, die den Kongo nach dessen               Courtesy Centre de Documentation historique                                          Künstlerin auch acht Jahre lang Familien in sechs
Unabhängigkeitserklärung destabilisierten.               des Forces armées (ACOS IS/CA)                                                       europäischen Ländern, woraus 2004 der Fotoband
Die Installation versammelt Luftaufnahmen                                                                                                     The Europeans entstand. Im Wechselspiel von
und Landkarten von Kamina, die das territoriale                                                                                               Darstellung und Selbstdarstellung der Porträtierten
Ausmaß der Basis darlegen, und Dokumente,                                                                                                     werden Gesten und Posen sichtbar, die sie als
die die entworfene Infrastruktur mit Wohnbauten,                                                                                              Vertreter/innen einer bestimmten gesellschaftlichen
Verwaltungs- und Funktionsgebäuden einer                                                                                                      Klasse ausweisen, auch wenn deren Codes von Land
königlichen Residenz aufzeigen. Zudem finden sich                                                                                             zu Land verschieden scheinen. Während dieser Zeit
Dokumentarfotografien, die auf die Ideologie und                                                                                              begann Barney auch für Mode- und Lifestyle-Magazine
das Begehren nach dem Zufluchtsort verweisen                                                                                                  zu arbeiten und Porträtaufträge anzunehmen.
sowie ein Text, in dem Augustijnen seine Eindrücke                                                                                            The Reunion entstand 1999 für das W Magazine, ist also
einer Reise nach Kamina 2016 festhielt. Durch die                                                                                             eine inszenierte Aufnahme ohne direkte Beziehung
Zusammenstellung erhält das historische Material                                                                                              zwischen Fotografin und Darsteller/innen. Diese
eine persönliche Lesart, in der der Künstler auch                                                                                             kommerziellen und erstmals auch mit Digitalkamera
seinen eigenen Interpretationen Raum gibt. Seine                                                                                              gemachten Aufnahmen publizierte Barney 2010 in
Rekonstruktion der Geschichte ist ebenso komplex                                                                                              ihrem Fotoband The Players.
wie die zugrunde liegende Realität, die sich einer
eindeutigen Wahrheit verschließt. Gleichzeitig                                                                                                Aus der Serie: Theater of Manners
verweist dieser historische Fall auch auf die
Konsequenzen eines politischen Klimas der                                                                                                     Thanksgiving, 1992
Angst und Bedrohung.                                                                                                                          Chromogener Farbdruck, 121,9 x 152,4 cm

Le Réduit, 2016                                                                                                                               Aus der Serie: The Europeans
Text, Größen variabel
                                                                                                                                              Dirndls, 2004
General Kestens and Major BEM Janssens Set                                                                                                    The Brothers in the Kitchen, 2004
the First Stone of a Building, 2016                                                                                                           The Granddaughter, 2004
Fotokomposition aus Negativen, s/w-Drucke                                                                                                     The Brocade Walls, 2003
auf Barytpapier, 20 x 20 cm / 45 x 69 cm                                                                                                      The Bust, 2003
                                                                                                                                              The Antique Shop, 2002
Aerial views of Kamina Base, 2016                                                                                                             Young man with a dog, 2002
Zeitgenössische Fotografien, übertragen auf              Sven Augustijnen, Le Réduit , 2016, Fotografie, (anonymer Fotograf), Courtesy Sven
                                                                                                                                              The Antlers, 2001                                        Tina Barney, Dirndls, 2004, © Tina Barney, Courtesy die Künstlerin und Paul
68 AdoxSilvermax Dias, Maße variabel                     Augustijnen, La Loge und Centre de Documentation historique des Forces armées        The Doll, 2001                                           Kasmin Gallery
Kunsthalle Wien - How To Live
Cana Bilir-Meier                                                                                                                                  Ayzit Bostan
     *1986 in München, lebt in Wien                                                     In Auseinandersetzung mit dem Material entwickelt           *1968 in Torul, lebt in München                                       wie auch Yoko Ono einst formulierte: „A dream you
       und München                                                                       Cana Bilir-Meier ihren eigenen Blick auf Fragen       Der Ausstellungsbeitrag von Ayzit Bostan findet sich                         dream alone is only a dream. A dream you dream
Cana Bilir-Meier setzt sich in ihren beiden Arbeiten                                     um Migration und Repräsentation. Als persönliche      als Aufdruck auf der Kleidung des Aufsichtspersonals                         together is reality.“
mit der Geschichte der Schriftstellerin und politischen                                  Erzählung verweist diese auch auf die Geschichten     der Kunsthalle Wien. In arabischer Schrift ist dort die
Aktivistin Semra Ertan auseinander. Semra Ertan                                          zahlreicher „Gastarbeiter/innen“, die im Zuge des     Zeile „Imagine Peace“ geschrieben, eine Anlehnung                            Imagine Peace, 2015
zog 1972 als 16-Jährige von der Türkei zu ihren Eltern                                   Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und             an John Lennons und Yoko Onos legendären Song                                Print auf T-Shirt
nach Deutschland, wo sie eine Ausbildung absolvierte                                     der Türkei ab den 1960er Jahren umsiedelten.          von 1971. Als anti-religiöses, anti-nationalistisches
und als technische Bauzeichnerin sowie als                                               Die Lebensbedingungen der Migrant/innen, denen        und anti-kapitalistisches Statement transportiert der                        Courtesy die Künstlerin
Dolmetscherin arbeitete. Parallel schrieb sie Gedichte,                                  oftmals nur ein befristeter Aufenthalt zuerkannt      Song bis heute eine klare Botschaft und verbreitet sie
die unter anderem ihre Erfahrungen als Migrantin                                         wurde, waren von ausbeuterischer Arbeit und einem     in unterschiedliche gesellschaftliche Räume. In ihrer
thematisierten. Nach zahlreichen diskriminierenden                                       rassistischen Klima geprägt. Die Perspektive dieser   Übersetzung ins Arabische erhält die Aufschrift eine
wie enttäuschenden Erlebnissen verbrannte sich                                           Geschichten macht deutlich, dass das Fremde auch      bildhafte Form, ein grafisches Muster, das sich erst in
Semra Ertan 1982 in Hamburg, um ein Zeichen gegen                                        etwas ist, zu dem Menschen gemacht werden.            der Übersetzung als Appell enthüllt.
die herrschende Ausländerfeindlichkeit zu setzen.                                                                                                    Ayzit Bostan entwarf den Schriftzug in Reaktion
     Das Material, das Cana Bilir-Meier für die                                          Semra Ertan, 2013                                     auf ihre Beobachtung, dass westliche Markennamen
Film- wie auch die Audioarbeit verwendet, stammt                                         Video, s/w und Farbe, Ton, 7:30 Min.                  und Logos auf Kleidungsstücken – häufig auch Imitate
aus dem Archiv ihrer Familie. Über Generationen                                                                                                oder Stücke aus Second-Hand-Shops – auch in nicht-
wurden zahlreiche Fotografien, Notizhefte, Briefe                                        Semra Ertan – Ihre eigene Stimme, 2017                westlichen Weltregionen dominieren. Mit dem Layout
und Zeitungsartikel gesammelt, die private Momente                                       Künstlerinnenbuch, Transkription, Ton, 39:17 Min.     möchte Bostan ein Angebot zur Kommunikation
der Familie wie auch öffentliche Berichte über den                                                                                             machen. Ihre Shirts können im Shop der Kunsthalle
Protest Semra Ertans dokumentieren. In ihrem Film                                        Courtesy die Künstlerin                               Wien erworben werden. Der arabische Schriftzug
collagiert Cana Bilir-Meier eine Auswahl von Semra                                                                                             sorgt für Irritation, spricht aber auch Teile der
Ertans Gedichten mit Aufnahmen aus der Zeit und                                                                                                Bevölkerung direkt an. In seiner Übersetzung wirkt
dekonstruiert so dramatisierende Bilder, wie sie                                                                                               „Imagine Peace“ viel akuter als jeder Werbespruch.
öffentliche Medien einsetzen. Semra Ertan – Ihre eigene                                                                                        Er erinnert an die aktuellen grausamen Konfliktherde
Stimme basiert auf Tonbandaufnahmen, die Gani Bilir                                                                                            im arabischen Raum. In diesem Sinne kann er als
nach dem Tod seiner Tochter herstellte.                                                                                                        Appell an unsere Vorstellungskraft gelesen werden,

Cana Bilir-Meier, Semra Ertan, 2013, Filmstill, © Cana Bilir-Meier, Courtesy die Künstlerin                                                    Ayzit Bostan, Imagine Peace, 2014, © Ayzit Bostan, Courtesy die Künstlerin
Kunsthalle Wien - How To Live
Mohamed Bourouissa                                                                                                                               Kasper De Vos
      *1978 in Blida, lebt in Paris und Gennevilliers    L‘Utopie d‘August Sander, 2012–13                                                   *1988 in Antwerpen, lebt in Gent                  Native Kitch and Spiritual Ravers, 2016
Der algerisch-französische Künstler Mohamed               Installation, Künstlerbuch, Wand, Tisch, Sessel,                              Native Kitch and Spiritual Ravers ist eine Reihe        Polyurethanharz, Pigment, Aluminiumrohre, Beton,
Bourouissa widmet sich vornehmlich der fotografischen     140 x 100 x 200 cm und C-Print, 125 x 94 cm                                   von Skulpturen, die einerseits von den Büsten           Kieselsteine, 185 x 36 x 44 cm
Erforschung des Lebens in sozialen oder ethnischen                                                                                      des österreichischen Bildhauers Franz Xaver
Randgruppen. Seine Serie großformatiger                   Temps mort, 2009                                                              Messerschmidt (1736–83) inspiriert sind, andererseits   Courtesy der Künstler
Farbfotografien Périphérique zeigt Szenen aus den         Video, Farbe, Ton, 18 Min.                                                    von der Gabber-Subkultur. Gabber ist eine
Pariser Vororten mit ihren aus den Maghreb-Regionen                                                                                     Variante des Hardcore Techno, die vor allem in den
stammenden Bewohner/innen. Bouroussias sorgsam            Courtesy der Künstler und kamel mennour,                                      Niederlanden und Flandern in den 1990er Jahren
instrumentierte Aufnahmen sind Gegenstücke zu den         Paris/London                                                                  populär war. Im Niederländischen steht Gabber
um 2005 massenmedial verbreiteten, ausschließlich                                                                                       umgangssprachlich für „Kerl, Typ“, aber auch
Gewalt und Zerstörung zeigenden Bildern der damaligen                                                                                   „Kumpel, Kamerad“. Kleidungsstil und Attitüde des
Pariser Unruhen. Zwar verweist der Titel der Serie auf                                                                                  Gabber waren teilweise von der britischen Skinhead-
den Boulevard périphérique, der die Pariser Innenstadt                                                                                  Bewegung inspiriert, die ursprünglich eine Reaktion
von den Außenbezirken trennt, doch der Künstler                                                                                         Jugendlicher aus der Arbeiterklasse auf das eher
verunklärt die Grenzen von Zentrum und Rand, indem                                                                                      intellektuelle Flower Power Movement war. Im
er fotodokumentarische Aufnahmen mit inszenierten,                                                                                      Gegensatz zu der von Links- wie Rechtsextremen
geradezu piktoralen Bildern alternieren lässt. Letztere                                                                                 vereinnahmten Skinhead-Bewegung blieb die Gabber-
erinnern an Bildkompositionen klassischer französi-                                                                                     Szene allerdings stets eine unpolitische Partyszene,
scher Malerei und schlagen dadurch eine Brücke zu                                                                                       die einen eigenen Tanzstil kultivierte.
dem von Hochkultur geprägten Stadtzentrum.                                                                                                    Kasper De Vos erinnerten die in zahlreichen
      Auch in seiner Videoarbeit Temps mort                                                                                             Youtube-Videos festgehaltenen Gabber-Tänzer
vermeidet Bourouissa, Machtsymmetrien zwischen                                                                                          an die bekannten „Charakter-Köpfe“ von
dem Künstler und den Mitwirkenden an seinen                                                                                             Messerschmidt, die menschliche Gefühle
Werken zu ziehen. Mittels eines ins Gefängnis                                                                                           und Leidenschaften in überaus realistischen
geschmuggelten Mobiltelefons korrespondiert er mit                                                                                      Momentaufnahmen am Rande zur Groteske
seinem inhaftierten Bekannten Al per SMS, der ihm                                                                                       darstellen. Die affektgeladenen Büsten von
Aufnahmen des Gefängnisalltags zurückschickt.                                                                                           gähnenden, lachenden oder schreienden
Bourouissa wiederum sendet Naturansichten zu,                                                                                           Männern sind singuläre Darstellungen alltäglicher
wenn Al über die Enge seiner Gefangenschaft klagt.                                                                                      Mimik. De Vos übersetzt diese schonungslosen
      In seinem mehrteiligem Projekt L’Utopie                                                                                           spätbarocken Studien zur menschlichen
d’August Sander referiert der Künstler auf Sanders                                                                                      Physiognomie in zeitgenössische Skulpturen, die
unvollendet gebliebenen Bildatlas Menschen                                                                                              die Ekstase des Rave momenthaft fixieren und einer
des 20. Jahrhunderts, beschränkt sich aber auf                                                                                          bereits historisch gewordenen Jugendbewegung
dokumentarische Porträts von Arbeitsuchenden.                                                                                           zeitlose Präsenz verleihen. Die Gabber-Tänzer in
Die Aufnahmen scannte er mittels eines mobilen                                                                                          ihrer fast schon spirituellen Hingabe zur Musik
3D-Fotolabors und ließ sie als etwa 10 cm große                                                                                         werden dabei zu Agenten einer zeitgemäßen
Polyesterstatuetten ausdrucken, die er wiederum                                                                                         Folklore, bei der Identität nach wie vor aus einer
um einen Euro pro Stück auf dem Markt verkaufte.                                                                                        Gruppenzugehörigkeit abgeleitet wird.

Aus der Serie: Périphérique, 2005–08                                                                                                    Native Kitch and Spiritual Ravers, 2016
                                                                                                                                        Polyurethanharz, Pigment, PVC-Rohre,
Bascule, 2006                                                                                                                           248 x 40 x 30 cm
Le miroir, 2006                                                                                                                         Privatsammlung, Antwerpen
C-Prints, je 120 x 90 cm
                                                                                                                                        Native Kitch and Spiritual Ravers, 2016
Le poing, 2007–08                                                                                                                       Polyurethanharz, Pigment, PVC-Rohre,
La rencontre, 2007–08                                                                                                                   Beton, Kieselsteine, Kunststoffbeschichtung,
La prise, 2008                                                                                                                          215 x 35 x 30 cm
C-Prints, je 90 x 120 cm                                                                                                                Privatsammlung, Diest

Le couloir, 2007-08                                                                                                                     Native Kitch and Spiritual Ravers, 2016
C-Print, 120 x 160 cm                                                                                                                   Polyurethanharz, Pigment, PVC-Rohre,
                                                                                                                                        190 x 40 x 40 cm
La République, 2006                                                                                                                     Privatsammlung, Antwerpen
C-Print, 138 x 165 cm
                                                                                                                                        Native Kitch and Spiritual Ravers, 2016
Carré rouge, 2007–08                                      Mohamed Bourouissa, Carré rouge, aus der Serie: Périphérique, 2005, © ADAGP
                                                                                                                                        Polyurethanharz, Pigment, PVC- Rohre,                   Kasper De Vos, Native Kitsch and Spiritual Ravers, 2016, © Kasper De Vos, Foto:
C-Print, 106 x 160 cm                                     Mohamed Bourouissa, Courtesy der Künstler und kamel mennour, Paris/London     Kunststoffbeschichtung, 162 x 45 x 60 cm                Philip Vanderschueren, Courtesy Privatsammlung, Diest/Belgien
Kunsthalle Wien - How To Live
Ieva Epnere                                                                                                                          Aslan Gaisumov
      *1977 in Liepāja, lebt in Riga                                             erleuchteten staubigen Hallen des ehemaligen                    *1991 in Grosny, lebt in Grosny                             Reise durch Tschetschenien, um letzte Zeitzeug/innen
Ieva Epneres Videoinstallation Potom beschäftigt                                 Versammlungsgebäudes der kaiserlich russischen            Aslan Gaisumov entwickelt seine Arbeiten in                       der Deportation aufzusuchen. 119 Überlebende erklärten
sich mit der Militärgeschichte der Ostseeküste und                               Armee folgend, sieht man Soldaten der lettischen          Auseinandersetzung mit der kollektiven Geschichte                 sich zu einem Treffen in Grosny bereit. Gaisumovs
mit dem Verhältnis zwischen Lettland und Russland.                               Seestreitkräfte (Jūras Spēki) die Treppen hoch            seiner Heimat Tschetschenien. 1995, als Grosny während            Video zeigt einen leeren Versammlungssaal, an
Übersetzt bedeutet der russische Titel „später“                                  marschieren und sich wie für ein Gruppenfoto              des ersten Tschetschenienkrieges von russischen                   dessen Rückwand eine Ansicht des heutigen Grosny
und verweist, wie auch die im Film verwendete                                    versammeln.                                               Streitkräften bombardiert wurde, floh die Familie des             angebracht ist. Nach und nach betreten ältere, meist
Symbolik, auf das Regime der Vergangenheit und                                        Epneres Fotografien verkehren auf ähnliche           Künstlers aus ihrer Heimatstadt. In Volga (re)inszeniert          gebrechliche Männer den Raum und nehmen in den
die postkommunistische Gegenwart, aber auch auf                                  Weise wie ihre Filme den gewohnten narrativen             Gaisumov jene Flucht-Episode, als er sich im Alter von            ersten Reihen Platz. Der Tradition entsprechend folgen
die Zukunft im Hinblick auf die jüngste Annektierung                             Raum. Für ihre Fotoserie Riga Circus hat sie              vier Jahren gemeinsam mit zwanzig Verwandten in ein               ihnen die Frauen, die sich in der hinteren Hälfte des
der Krim und die aktuellen Berichte über Russlands                               über vier Jahre hinweg Mitglieder der Kompanie            einziges Auto zwängte. Im Zentrum des Videos steht ein            Saals niederlassen. Der Künstler konfrontiert uns mit
Flottenpräsenz unweit von Lettland.                                              und die Tiere, mit denen sie zusammenarbeiten,            alter Wagen der Marke Volga, der auf einer weitläufigen           den teilnahmslosen Gesichtern der Überlebenden.
      Die sich in Potom frei entfaltende Geschichte                              dokumentiert. Darsteller/innen – Lufttänzer,              Wiese geparkt ist. Am Horizont tauchen gruppenweise               Erst am Ende des Films vermittelt eine Textpassage
folgt den Bewegungen des Protagonisten. Der                                      Akrobatinnen, Clowns, Musikerinnen und                    Eltern mit Kindern auf, die sich dem Gefährt nähern und           den historischen Hintergrund des Ereignisses.
nicht näher benannte militärische Funktionär                                     Stuntartisten – erscheinen in voller Montur, doch die     in ihm Platz nehmen. Der Prozess scheint kein Ende zu                   Gaisumovs Bildsprache berührt in ihrer
betrachtet den Horizont – am Strand und auf einem                                meisten der ausgestellten Bilder zeigen den Blick         nehmen. Noch bevor sich die letzten zwei Frauen hinein            Einfachheit und Unmittelbarkeit komplexe Themen
Boot – und beschäftigt sich mit Alltagshandlungen                                hinter die Zirkuskulissen. Einige der Aufnahmen           gezwängt haben, startet der Motor. Den nun insgesamt              der konfliktreichen und verdrängten Geschichte
wie Ankleiden oder Kämmen. Epneres Film                                          wirken inszeniert, dennoch vermitteln die Porträts        einundzwanzig Insassen gelingt es endlich, die Türen zu           Tschetscheniens. Seine stillen Kommentare treten
projiziert sowohl persönliche als auch nationale                                 und Schnappschüsse intime Einblicke in das                schließen, und der Wagen fährt aus dem Bild.                      insbesondere einer auf Sensation ausgelegten
Geschichte(n). Die Innenräume der gezeigten                                      Arbeitsleben und die Beziehungen im Zirkus.                     In People of No Consequence widmet sich                     Berichterstattung über Kriege und Konflikte entgegen.
Gebäude befinden sich im Verfall. Die satten Farben                                                                                        Gaisumov der Vertreibung des tschetschenischen und
und Materialien der abblätternden Wände erinnern                                 Potom, 2016                                               inguschischen Volkes auf Befehl Stalins. Unter dem                Volga, 2015
an die Oberflächenstrukturen der Landschaft,                                     Installation, Militärdecken, Video, Farbe, Ton, 20 Min.   Vorwurf „antisowjetischen Verhaltens“ deportierten die            Video, Farbe, Ton, 4:11 Min.
die gekräuselte See oder an die Kasematten an                                                                                              Sowjets im Frühjahr 1944 eine halbe Million Menschen
der Küste, die in Folge des Krieges und der Wellen                               Riga Circus, 2004–08/2017                                 nach Zentralasien. Über 73.000 starben an Erschöpfung,            People of No Consequence, 2016
der Ostsee nur noch aus Trümmern bestehen.                                       16 Fotografien, je 42 x 60 cm                             Hunger oder Krankheit, Widerständige wurden hinge-                HD-Video, Farbe, Ton, 8:34 Min.
Nebelhörnern und dem einsamen Gang des                                                                                                     richtet. Erst 1957 konnten Überlebende in ihre Heimat
Protagonisten durch die vom Tageslicht hell                                      Courtesy die Künstlerin                                   zurückkehren. 2016 begab sich der Künstler auf eine               Courtesy der Künstler

Ieva Epnere, Riga Circus, 2004–08/2017, © Ieva Epnere, Courtesy die Künstlerin                                                             Aslan Gaisumov, Volga, 2015, Videostill, Courtesy der Künstler
Kunsthalle Wien - How To Live
Gelitin                                                                                                                         Liam Gillick
(auch: Gelatin) besteht aus: Ali Janka, WoIfgang         AB pressure measurement, 2013                                                     *1964 in Aylesbury, lebt in New York
Gantner, Florian Reither und Tobias Urban. Erstes        Don’t touch it, it might survive, 2013                                      Liam Gillick setzt sich in seinen Werken immer
Treffen 1978, seit 1993 internationale Ausstellungen     Fio dental africano, 2013                                                   wieder mit den Mechanismen und letztlich auch dem
      In ihrer Kunst verbinden Gelitin/Gelatin           Flu Glue, 2013                                                              Scheitern postindustrieller Gesellschaftsmodelle
Aktionismus mit Installation. Ein wesentlicher           Hinkel Jause in der Schinkel Klause, 2013                                   auseinander. Seine Beschäftigung mit
Faktor ihrer Produktionen ist das Zusammenspiel          Homo lulu, 2013                                                             Geschichtskonzepten und den langfristigen
mit dem Publikum. Daraus entstehen                       Paaanna Cooootta OAAHHH, 2013                                               Auswirkungen ehemals als utopisch erachteter
„materialtransformatorische“ Objekte, Installationen     Ponte de la caque, 2013                                                     Vorstellungen von Moderne führt zu einer Vielzahl
und Aktionen aus zumeist „gefundenem oder                So Douglas, 2013                                                            von Arbeiten, in denen das Kollabieren vergangener
exklusivem Abfallmaterial“, wobei Handarbeit in          teenage saladteenage salad, 2013                                            Ideologien und deren Transformation oder ihr
der Regel eine ebenso wichtige Rolle spielt wie                                                                                      pragmatisches Weiterleben unter veränderten
der Zugriff auf die Körperlichkeit als ein „Ort“ des     Mixed Media inklusive Holz, Ballon, Wasserflasche, CD-                      Vorzeichen thematisiert wird. Mit den Plakaten
Vertrauens und der Kommunikation. Das Ausloten des       Spieler, Plastikeimer, Schaum, Gips, Plastikeier, Ton,                      der Serie Information Posters (Wien/Public)
Empfindungsbereichs, entweder des eigenen oder der       Knochen, Plastik, Wasser, Pumpe, Plastikschläuche,                          begegnet uns eine historisch anmutende Ästhetik
des Publikums, aber auch von Erwartungshaltungen, ist    Perücken, Räder, Papier, Stoff, Plastikhandschuhe,                          des gegenkulturellen Protestes oder staatlicher
ein zentraler Punkt ihres Kunstschaffens.                Textilien, Müll, Acryl, Glas, Polystrol                                     Kampagnen, die sich mit fragmentarischen Slogans
      Für die Ausstellung Diskursive Konstruktion …                                                                                  verbindet. In appellativem Tonfall wird eine allgemeine
(2013) im Berliner Schinkel Pavillon luden               Courtesy die Künstler und Artist Pension Trust London                       Öffentlichkeit adressiert, doch die Information bleibt
Gelitin zwölf Künstler/innen ein, die sich zu der        Collection                                                                  ebenso vage wie die Beziehung zwischen den Texten
Künstlergruppe Anna Ly Sing formierten. Täglich                                                                                      und schwarzweißen Bildern. Welche Ideologie spricht
traf das Kollektiv drei Mitglieder dieser Gruppe zu je                                                                               aus den mit Rufzeichen versehenen Wörtern? Wer
vierstündigen Sitzungen. Die Künstler diskutierten                                                                                   propagiert was oder richtet sich an wen?
vor dem Publikum über Skulptur und verdinglichten                                                                                          Die ursprünglich am Canal St. Martin in Paris
ihre Gedanken in ihrer persönlichen Handschrift.                                                                                     affichierten Plakate fügen sich optisch in ihre
Zur Verfügung standen ihnen Arbeitsplätze,                                                                                           Umgebung ein, stören sie zugleich aber mit ihren
ein umfangreiches Materiallager sowie Raum                                                                                           abstrahierten Texten, die wie ein schadhaft in die
für Diskussionen. Ohne vorzugeben, wie sich                                                                                          Gegenwart übertragener Nachhall politischer
die einzelnen Performances entwickeln, waren                                                                                         und sozialer Bewegungen des 20. Jahrhunderts
diese vielmehr als ein Nachdenken über Skulptur                                                                                      klingen. In der Gegenwart platziert, wirken die
angelegt und ergaben sich aus dem Dialog mit                                                                                         Text-Bildkombinationen der neu aufgelegten Poster
den Gästen. Die Exponate entstanden somit im                                                                                         geradezu wie post-utopische Nachrichten aus einer
Prozess und als Kondensat dieses Dialogs oder,                                                                                       nahen Zukunft, in der selbst alltägliche Motive wie
wie Gelitin erklären: „Aus dem Gespräch von Anna                                                                                     Jugendliche im Schwimmbad oder Studierende bei
Ly Sing und Gelitin entstehen Skulpturen. Die                                                                                        der Abschlussfeier ein Moment des Aufbruchs, der
Skulpturen wiederum füttern das Gespräch. Fragen.                                                                                    Unruhe, des bevorstehenden Aufruhrs implizieren.
Destruktion. Konstruktion. Umlaufbahn. Achterbahn.
Schnitt. Verdrehung. Umkehrung. Aufbau. Erosion.                                                                                     Information Posters (Wien/Public), 2017
Klappstuhl. Verschüttung. Reflexion. Spiegel. Nichts                                                                                 Plakate zur Mitnahme, je 42 x 29,7 cm
und Alles und wieder Nichts. Die Skulptur wirft den
Anker in den Kopf zurück. Am Ende der Performance                                                                                    Courtesy Galerie Meyer Kainer, Wien
gibt es 12 davon. Vorausichtlich.“ Mit der Umkehrung
des traditionellen Machtverhältnisses von
Produzent/innen und Konsument/innen schaffen
Gelitin für alle, die zum Mitarbeiten bzw. Verfolgen
ihrer Aktionen kommen, eine „community of
participation and experience“.

Aus: stop – anna ly sing, schinkel pavillon, 2013
Gelitin gemeinsam mit: Kris Lemsalu, Thomas Zipp,
Martin Ebner, Wolfgang Ganter, Tom Humphreys, Will
Benedict, Katrin Plavcak, Vanessa Lodigiani, Michele
Di Menna, Michael Beutler, Marlie Mul, Karl Holmqvist,
Douglas Gordon, Christian Falsnaes, Gerwald
Rockenschaub, Kolbeinn Hugi, Mundi Vondi und
Gabriel Loebell

A einu bretti, 2013                                      Gelitin, stop – anna ly sing, schinkel pavillon, 2013, Foto: Markus Jens,
A mit kurzen Beinen, 2013                                Courtesy die Künstler und Artist Pension Trust London Collection
Kunsthalle Wien - How To Live
Paul Graham
                                                                                                                   *1956 in Stafford, lebt in New York               Woman in Headscarf, DHSS Waiting Room, Bristol,
                                                                                                            Paul Graham hat in den frühen 1980er Jahren, als         1984–85/2017
                                                                                                            mehr als zehn Millionen Briten und Britinnen auf die     Man filling in Form, Dole Office, Liverpool, 1984–85/2017
                                                                                                            Unterstützung der staatlichen Wohlfahrtsverbände         Man Reading Paper, Bloomsbury DHSS, Central
                                                                                                            angewiesen waren, den Alltag in Arbeits- und             London, 1985/2017
                                                                                                            Sozialämtern fotografiert. Seine Serie Beyond Caring     Waiting Room, Poplar DHSS, East London, 1985/2017
                                                                                                            zeigt die heruntergekommenen Wartehallen und             C-prints, je 87,5 x 106 cm
                                                                                                            tristen Flure des „Department of Health and Social
                                                                                                            Security“ und des „Department of Employment“ –           Courtesy Anthony Reynolds Gallery, London
                                                                                                            jene Orte, an denen gesellschaftliche, ökonomische
                                                                                                            und soziale Ungleichheit verwaltet wird. Siegfried
                                                                                                            Kracauer formulierte bereits 1930 in Bezug auf
                                                                                                            die Beschaffenheit von Arbeitsämtern, dass
                                                                                                            Konditionen des Gesellschaftlichen auf der Ebene
                                                                                                            des Raums verhandelt werden: „Jeder typische
                                                                                                            Raum wird durch typische gesellschaftliche
                                                                                                            Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die
                                                                                                            störende Dazwischenkunft des Bewusstseins in ihm
                                                                                                            ausdrücken.“ Die Topographie des Arbeitsamtes
                                                                                                            stellt sich dabei als „Passage“ dar, welche zurück in
                                                                                                            die Welt der Erwerbstätigkeit führen soll, tatsächlich
                                                                                                            aber bereits in ihrer Konstruktion eine Wartehalle
                                                                                                            ist. Es ist ein den Menschen, die sich dort aufhalten,
                                                                                                            gesellschaftlich zugeordneter Raum, der sowohl
                                                                                                            räumlich als auch typologisch an der Peripherie
                                                                                                            lokalisiert ist.
                                                                                                                   Paul Graham untersucht in seinen Fotografien
                                                                                                            die Typologie des Raums, in dem sich die sozialen
                                                                                                            Bedingungen jener Zeit in Großbritannien
                                                                                                            artikulieren. Er fokussiert in seinen Bildern das
                                                                                                            Warten, das zur prägenden Erfahrung eines Großteils
                                                                                                            der Bevölkerung unter der Regierung Margaret
                                                                                                            Thatchers wurde. Die kargen Wände, das grelle
                                                                                                            Neonlicht, lose verteilte Bänke und der völlige
                                                                                                            Mangel an Komfort zeigen, wie wenig öffentliches
                                                                                                            Interesse an diesen Räumen besteht. Die Komplexität
                                                                                                            des Sozialen transformiert sich in schlichten
                                                                                                            Pragmatismus. Dass die damit einhergehende
                                                                                                            Geringschätzung ganzer gesellschaftlicher Gruppen
                                                                                                            auch Aggressionspotenzial gegen noch Schwächere
                                                                                                            entfacht, zeigt sich nicht zuletzt auch in jüngsten
                                                                                                            politischen Entwicklungen weltweit.

                                                                                                            Aus der Serie: Beyond Caring, 1984–85

                                                                                                            Baby, DHSS Office, Birmingham, 1984/2017
                                                                                                            Baby and Interview Cubicles, Brixton DHSS,
                                                                                                            South London, 1984/2017
                                                                                                            Crouched Man, Bristol, 1984/2017
                                                                                                            DHSS Emergency Centre, Elephant and Castle,
                                                                                                            South London, 1984/2017
                                                                                                            Doorway, Dole Office, Hammersmith, West London,
                                                                                                            1984/2017
                                                                                                            Horse Poster, DHSS Office, Bristol, 1984/2017
                                                                                                            Mother and Baby, Highgate DHSS, North London,
                                                                                                            1984/2017
                                                                                                            Waiting Room, Southwalk DHSS, South London,              Paul Graham, aus der Serie: Beyond Caring, 1984–85, © Paul Graham, Courtesy
Liam Gillick, aus der Serie: Information Posters (Wien/Public), 2017, Courtesy Galerie Meyer Kainer, Wien   1984–85/2017                                             Anthony Reynolds Gallery, London
Kunsthalle Wien - How To Live
Johan Grimonprez                                                                                                                                    Binelde Hyrcan
      *1962 in Roeselare, lebt in Belgien und New York                           Ausbeutung des Menschen und die Privatisierung                   *1982 in Luanda, lebt in Paris und Nizza                                       das Bewusstsein ab, dass nicht alle solches Glück
Die filmischen Arbeiten von Johan Grimonprez                                      der öffentlichen Ressourcen durch eine radikale            Binelde Hyrcan beschäftigt sich in seinen Arbeiten mit                               erfahren werden. Die Flucht aus den Bedingungen
bewegen sich entlang der Grenzen von Dokumentation                                Form des Gemeinwohls ersetzt. Das Gemeinsame,              Machtstrukturen, Armut und Migration. Er wuchs in der                                ihres eigenen Lebens gelingt nur für einen Moment,
und Fiktion, Kommentar und Inszenierung. Häufig                                   die „commons“, sind für ihn das Mittel gegen eine          Zeit des Bürgerkriegs in Angola auf und erlebte selbst                               bevor wieder die Hoffnungslosigkeit zurückkehrt.
verbindet er existierendes und neu gedrehtes Material                             von Furcht geleitete Gesellschaft und Inspiration für      die Auswirkungen politischer Entscheidungen auf das
in einer Kontrastmontage, die scheinbar Bekanntes in                              ein soziales Modell, das Macht und Autorität durch         individuelle Leben. Sein Film Cambeck entstand in der                                Cambeck, 2010
einen neuen diskursiven Kontext stellt.                                           Dialog und Kooperation ersetzt.                            angolanischen Hauptstadt Luanda, wo der Künstler                                     Video, Farbe, Ton, 2:36 Min.
      Every Day Words Disappear bettet kurze                                            Kiss-o-drome berichtet von einer Demonstration,      vier spielende Kinder filmte. In ihrer Vorstellung
Ausschnitte aus Jean-Luc Godards Spielfilm                                        die 1980 in der brasilianischen Stadt Sorocaba             umfahren sie die Welt in einer aus Sand gebauten                                     Courtesy Atelier Binelde Hyrcan
Alphaville in eine Abhandlung des amerikanischen                                  stattfand. Unter der damaligen Militärdiktatur wurde das   Limousine, doch enthüllen sich in ihrem unschuldigen
Philosophen Michael Hardt über die Liebe als                                      Küssen im öffentlichen Raum unter Gefängnisstrafe          Spiel schon bald die Erfahrungen ihrer Realität.
Teil des Gemeinwohls ein. Godards dystopische                                     gestellt, weil es die öffentliche Moralvorstellung               Luanda gilt laut der Mercer Studie (2016) als
Zukunftsvision spielt im Stadtstaat Alphaville, der von                           unterminiere. Aus Protest verwandelten zahlreiche          zweitteuerste Stadt der Welt, die nach Ende des
einem Computersystem namens Alpha 60 dominiert                                    Menschen die brasilianische Stadt für einen Tag in ein     Bürgerkriegs in Angola 2002 ein enormes Wachstum
wird. Empfindungen und persönliche Bindungen                                      riesiges Kussevent.                                        erfuhr. Binelde Hyrcan betrachtet die Situation in der
sind in Alphaville unter Todesstrafe verboten,                                                                                               Stadt durch die Augen von Kindern und macht so die
Liebe, Dichtung und Gefühle unbekannt. Jeden Tag                                  Every Day Words Disappear, 2016                            sozialen Ungleichheiten und Spannungen sichtbar.
verschwinden neue Wörter aus dem Wörterbuch                                       Video, Farbe, Ton, 15:29 Min.                              Der auf Reichtum basierende Status von Macht
der Stadt. Michael Hardt, der gemeinsam mit                                                                                                  einiger Weniger kollidiert mit der Lebenswirklichkeit
Antonio Negri die Trilogie Empire (2000), Multitude                               In Auftrag gegeben und koproduziert von                    derer, die unterhalb der Armutsgrenze leben und
(2004) und Common Wealth (2010) verfasst hat,                                     CONTOUR 7 – A Moving Image Biennale                        von einem besseren Leben in Ländern wie den USA
setzt diesem filmischen Narrativ die Utopie einer                                                                                            oder Brasilien träumen. Die dargestellten Jungen
„Politik der Liebe“ entgegen. Machiavelli schrieb,                                Kiss-o-drome [fragment from Shadow World,                  imaginieren sich schon in einer solchen fernen
es sei besser, wenn der Fürst gefürchtet wird                                     story written and read by Eduardo Galeano], 2016           Realität, die die Schattenseiten der afrikanischen
statt geliebt. Michael Hardt schlägt hingegen ein                                 Video, s/w, Ton, 1:16 Min.                                 Metropole mit Armut, Luftverschmutzung,
politisches System vor, das auf Liebe statt Angst                                                                                            Wohnraumspekulation und Verkehrschaos
gründet, sowie einen Paradigmenwechsel, der die                                   Courtesy der Künstler und ZAP-O-MATIK                      zurücklässt. Gleichzeitig zeichnet sich in ihrem Spiel

Johan Grimonprez, kiss-o-drome, 2016, Videostill, © Johan Grimonprez, Courtesy ZAP-O-MATIK                                                   Binelde Hyrcan, Cambeck, 2010, Videostill, © Binelde Hyrcan, Courtesy Atelier Binelde Hyrcan
Leon Kahane                                                                                                                                 Herlinde Koelbl
      *1985 in Berlin, lebt in Berlin                                                    „Lingua Tertii Imperii“, die Sprache des Dritten              *1939 in Lindau, lebt in Neuried bei München                                     Zyklus Refugees reiste sie an die Brennpunkte
Die von Leon Kahane für die Ausstellung entwickelte                                      Reiches. In seinen Schriften dokumentierte der zum      Für ihre Langzeitstudie Spuren der Macht –                                             in Griechenland und Italien, besuchte aber auch
Arbeit it’s an uphill battle verknüpft Ideen von                                         Protestantismus konvertierte jüdische Romanist und      Die Verwandlung des Menschen durch das Amt                                             sechs Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland. Da
Gesellschaftsentwicklung und Kulturgeschichte.                                           spätere Politiker Klemperer seine Alltagserfahrungen    hat Herlinde Koelbl von 1991 bis 1998 jährlich 15                                      wie dort dokumentierte sie nicht nur das Elend der
Ein großformatiger Teppich im Raum lässt erst bei                                        im Nationalsozialismus, die von Ausgrenzungen           Persönlichkeiten aus der deutschen Politik und                                         Betroffenen, sondern auch die Hilfsbereitschaft
genauer Betrachtung einen Schriftzug erkennen,                                           geprägt waren. Er analysierte sowohl politische         Wirtschaft fotografiert und interviewt. „Ich will eine                                 in den Ankunftsländern, die mehr oder minder
der das Wort „ewig“ darstellt. Der Teppich spielt                                        Reden und Propagandamittel als auch Trivialliteratur    Geschichte über den Menschen erzählen. Seine                                           gut organisierte Nächstenliebe. Als Motto hat die
einerseits auf den Wohnraum an, verweist anderer-                                        und stellte fest, dass die Manipulation durch Sprache   Geschichte. Das gelingt nur im Dialog. Menschen                                        Fotografin einen Satz von Albert Einstein ausgewählt:
seits auch auf kulturelle Traditionen und stellt eine                                    vor allem über die ständige Wiederholung von            öffnen sich nur, wenn sie glauben, dass der andere                                     „Was für eine Welt könnten wir bauen, wenn wir
Verbindung zur globalisierten Warenproduktion                                            nationalsozialistisch besetzten Begriffen erfolgte.     sie nicht dekuvrieren will. Es ist ein Miteinander.                                    die Kräfte, die ein Krieg entfesselt, für den Aufbau
her, die heute oftmals in Länder der ökonomischen                                        Rationales Wissen wurde so durch Gefühl und             Der Porträtierte merkt, dass ich ihn annehme, nicht                                    einsetzten!“
Peripherie ausgelagert wird. Aufgrund wachsen-                                           Glaube ausgetauscht. Indem das Wort „ewig“ immer        über ihn urteile. Ich gebe ihm Zeit, nicht funktionieren
der sozialer Ungleichheit auf globaler Ebene rückt                                       wieder gelöscht und mit individueller Handschrift       zu müssen, sondern sein zu können“, sagt Herlinde                                      Angela Merkel, 1991–2006,
Kultur als identitätsstiftendes Merkmal wieder in den                                    neu appliziert wird, stellt Leon Kahane der Idee der    Koelbl zu ihrer fotografischen Herangehensweise.                                       aus dem Zyklus: Spuren der Macht
Vordergrund nationalstaatlicher Politik. Populistische                                   Verführung durch Repetition die Veränderlichkeit        Die Veränderungen, die das Leben im Rampenlicht                                        Silbergelatine-Vintageprints, je 50 x 60 cm
Rhetorik schürt Ängste vor der Auflösung einer alten                                     seiner Arbeit entgegen und bricht das Narrativ,         bei den Politiker/innen mit sich bringt, hat Koelbl
Weltordnung, die ein statisches Bild von kulturel-                                       das in totalitären Systemen eingesetzt wird.            im gleichnamigen 1999 erschienen Bildband                                              Refugees, 2016
ler Identität propagiert. Auf der Handlungsebene                                                                                                 festgehalten und versammelt darin u. a. Fotografien                                    C-Prints auf Alu-Dibond, 20 x 30, 30 x 40
resultieren daraus Exklusion und Abwertung gesell-                                       it’s an uphill battle, 2017                             von Joschka Fischer, Gerhard Schröder, Angela                                          bis 40 x 60 cm
schaftlicher Gruppen, die nicht in das konstruierte                                      Getufteter Teppichboden, Polyamid, 400 x 1000 cm        Merkel und Irmgard Schwaetzer. „Welche Spuren
Bild passen.                                                                                                                                     hinterlässt Macht, im Positiven wie im Negativen?                                      Courtesy die Künstlerin
      Leon Kahane interessiert sich für die                                              Courtesy der Künstler                                   Wie entwickelt, entfaltet sich ein Mensch? Wie geht er
Verbreitung politischer Ideologie über die Sprache.                                                                                              mit Krisen um?“
Das Wort „ewig“ wird im Laufe der Ausstellung immer                                                                                                    Als der Europarat die Fotografin mit einer
wieder neu in den Teppich gezeichnet werden.                                                                                                     Arbeit zum Thema Geflüchtete beauftragte,
Es referiert auf Victor Klemperers LTI – Notizbuch                                                                                               entschloss sie sich, dem Schicksal der Menschen
eines Philologen (1947). LTI steht dabei für                                                                                                     jenseits der Schlagzeilen nachzuspüren. Für ihren

Leon Kahane, vacuum cleaner on a carpet with an extra clean strip for copy space, Referenzfoto, 2017,                                            Herlinde Koebl, Italy Catania–Messina, 2016, aus der Serie: Refugees, © Herlinde Koelbl,
© rosieapples/123RF Stock Photos                                                                                                                 Courtesy die Künstlerin
Armin Linke                                                                                                                                             Goshka Macuga
       *1966 in Mailand, lebt in Mailand und Berlin          Senate of the Republic, 2007                                                           *1967 in Warschau, lebt in London                                               Entwicklung der antiken Erinnerungstechniken und
2006 begann Armin Linke auf Einladung des                                                                                                      Goshka Macugas To the Son of Man Who Ate                                             leite in ihrer Konsequenz ein neues Zeitalter ein, in
italienischen Ministeriums für Kulturelles Erbe (Ministero   Senate of the Republic, Palazzo Madama, television                                the Scroll ist ein sprechender Androide, der das                                     dem tradierte Konzepte von Geschichte, Sterben,
per i Beni e le Attività Culturali), alle staatlichen        control room, 2007                                                                Publikum direkt adressiert. Seine Mimik wirkt auf                                    Schöpfung, Sehnsucht oder Geschlecht nicht
Institutionen Roms, die in historischen Gebäuden             Fotodrucke auf Alu-Dibond montiert, je 50 x 60 cm                                 faszinierende Weise menschenähnlich, und trotz                                       länger existieren. In seinem Appell nutzt der Roboter
residieren, fotografisch zu kartografieren. Entstanden                                                                                         seiner Cyborg-Erscheinung erweckt er ein Gefühl                                      Sprache als Medium der Wissenserzeugung – ein
ist ein Porträt des italienischen Staates anhand jener       Bank of Italy, 2007                                                               der Empathie. In seiner Rede spricht er universelle                                  Werkzeug zum Erkenntnisgewinn, das dem Menschen
geschichtsträchtigen Architekturen der Hauptstadt, die                                                                                         humanistische Themen an und zeichnet dabei die                                       vorbehalten schien. In einer Poetik logischer Ideen
noch immer funktional oder zeremoniell genutzt werden.       CNR, National Research Council, Fermi conference hall,                            Menschheitsgeschichte von der Entstehung der                                         spricht er aus einer vergangenen Zukunft heraus und
Es sind Aufnahmen von Orten, an denen Macht über             on the wall the Globe made by Fra' Mauro in 1460, 2007                            Erde über die Zivilisationsentwicklung, die Antike                                   philosophiert über die Entstehung neuer Vorstellungen
Entscheidungsprozesse sichtbar wird oder sich auf            Fotodrucke auf Alu-Dibond montiert, je 150 x 200 cm                               und Renaissance bis in die Moderne nach. Er zitiert                                  und Erfahrungen.
administrativer oder repräsentativer Ebene artikuliert.                                                                                        große Denker/innen, die unser Verständnis von
Wie in einem Mikrokosmos zeigen sich der politische          Courtesy der Künstler                                                             Zusammenleben geprägt haben, von Immanuel Kant                                       To the Son of Man Who Ate the Scroll, 2016
und verwaltende Aspekt des Staatsapparates. Im Fall                                                                                            und Friedrich Nietzsche, Albert Einstein und Sigmund                                 Mixed Media: Roboter, Plastik, Mantel, 2 Schuhe,
der zahlreichen Gebäude des Vatikans eröffnet sich im                                                                                          Freud zu Hannah Arendt und Martin Luther King.                                       Kompressor, sitzender Android: 140 x 50 x 84 cm
Zusammenspiel historisch aufgeladener Interieurs und                                                                                           Aber auch fiktive Geschichten wie Frankenstein,
der dort tätigen Menschen auch ein spiritueller Verweis.                                                                                       2001: Odyssee im Weltraum oder Blade Runner                                          Courtesy Fondazione Prada, Mailand
Regieren, Verwalten und Repräsentieren werden                                                                                                  sind Teil seines Universums. Menschliche Instinkte
in diesen ebenso dokumentarischen wie inszeniert                                                                                               wie Liebe und Hass werden von ihm genauso
wirkenden Fotografien zu Aufgaben, die auch aus den                                                                                            angesprochen wie das Verhältnis von Mensch und
Resonanzräumen jahrhundertealter Geschichte einen                                                                                              Technologie oder die Überwindung des Glaubens
Teil ihrer Legitimation ziehen.                                                                                                                an einen Gott. Der Roboter versteht sich als Teil
       Armin Linke geht es nicht um das einzelne Motiv,                                                                                        unserer heutigen Gesellschaft, die ihrerseits vor
sondern um die Kombination der Bilder und das dadurch                                                                                          einem radikalen Neubeginn steht. Die Technologie
erzeugte Narrativ. Im Sinn eines offenen Verweissystems                                                                                        entlarvt sich dabei nicht mehr als Erweiterung der
kommentieren die Aufnahmen einander und zeigen                                                                                                 Menschheit, sondern als unabdinglicher Teil von ihr.
die Wechselwirkungen zwischen den funktionalen                                                                                                 Künstliche Intelligenz, so der Roboter, sei die logische
Aspekten von Gesellschaft, Architektur und Raum
sowie den Menschen, die mit diesen Umgebungen
interagieren. Der Blick hinter die für die Öffentlichkeit
meist verschlossenen Türen unterstreicht dabei das
Moment der Distanz, das zwischen den Betrachter/innen
und jenen Orten, von denen aus sie regiert werden, noch
immer zu liegen scheint.

Vatican, Church of St. Peter, ceremony for the
nomination of bishops, 2002

CNR, National Research Council, Marconi conference
hall, 2007

CONI, 2008

Supreme Court of Cassation, Hall of Justice,
Aula Magna, display of the scepter used by all Italian
courts during the annual inaugural ceremony as
symbol of power, 2008

Supreme Court of Cassation, Hall of Justice,
Aula Magna, opening of the judicial year, 2008
Lambda Drucke auf Alu-Dibond montiert, je 50 x 60 cm

Bank of Italy, Department Cut2000, robotic arm
photographs a pack worth 1,000,000 Euros as a final and
legal digital document, 2007

                                                             Armin Linke, CNR, National Research Council, Fermi conference hall, on the wall
Chamber of deputies, Palazzo Montecitorio,                   the Globe made by Fra' Mauro in 1460, Rome Italy, 2007, © Armin Linke, Courtesy   Goshka Macuga, To the Son of Man Who Ate the Scroll, 2016, Ausstellungsansicht: Fondazione Prada, Mailand, 2016,
assembly, 2007                                               der Künstler                                                                      Foto: Delfino Sisto Legnani Studio, Courtesy Fondazione Prada, Mailand
Taus Makhacheva                                                                                                                                       Pedro Moraes
      *1983 in Moskau, lebt in Machatschkala                                      Diesen Heldinnen des Alltags möchte Super Taus                  *1985 in Rio de Janeiro, lebt in Brüssel                                        Dabei bezieht er sich auch auf wissenschaftliche
        und Moskau                                                                 die gerechte Anerkennung zukommen lassen und                      und Rio de Janeiro                                                             Erkenntnisse und Fiktionen, im Fall von Physical
Für 19 a Day arbeitete Taus Makhacheva mit dem                                     begibt sich auf die Suche nach dem richtigen Platz       Pedro Moraes’ Physical Factors of the Historical                                        Factors of the Historical Process … auf Isaac Asimovs
professionellen Hochzeitsfotografen Shamil                                         zwischen Machatschkala und Paris und findet ihn          Process – The Problem of Cosmic Calculation                                             Kurzgeschichte Wenn die Sterne verlöschen
Gadzhidadaev zusammen. An einem Tag im                                             schließlich im Moscow Museum of Modern Art               thematisiert die Energie, ihre Produktion und                                           (Originaltitel: The Last Question). In dieser Erzählung
September 2014 versuchten sie, als ungeladene                                      (MMOMA). In Anlehnung an Arbeiterdarstellungen           Distribution sowie Zirkulation in Systemen. Energie                                     beschäftigt sich der russisch-amerikanische
Gäste möglichst viele Hochzeiten in Machatschkala                                  des Sozialistischen Realismus verweist das Denkmal       ist dabei nicht nur im Sinne von Elektrizität für                                       Biochemiker und Science-Fiction-Schriftsteller
zu besuchen. Die Stadt im russischen Dagestan ist                                  einerseits auf neue Formen der Arbeit, aber auch auf     Geräte und Apparate zu verstehen, sondern auch                                          mit der Umkehrbarkeit des physikalischen Maßes
bekannt für ihre mehr als sechzig Hochzeitssäle, die                               die Marginalisierung von (historischen) Leistungen       in einem kosmisch-evolutionären Zusammenhang.                                           der Entropie. Nach dem zweiten Hauptsatz der
zu Spitzenzeiten ausgebucht sind. Die Fotografien                                  von Frauen. Als Super Taus würdigt die Künstlerin die    Als Vektor technologischer Innovation, als politische                                   Thermodynamik löst sich durch entstehende Entropie
zeigen Makhacheva, wie sie sich als Teil der                                       oft übersehenen Heldinnentaten im Alltagsleben auf       Infrastruktur oder als metaphysische Kraft, die in                                      in einem geschlossenem System demzufolge alles,
Hochzeitsgesellschaft inszeniert, den Brautpaaren                                  humorvolle Weise.                                        ökonomische oder technische Systeme eingespeist                                         was aus Ordnung hervorgeht – Galaxien, Planeten,
gratuliert oder neben den Heiratsgaben posiert. Die                                                                                         ist, ist Energie die notwendige Voraussetzung für die                                   Metalle, Luft oder Wasser – unaufhörlich in Chaos
Dokumentation der „Hochzeits-Crashes“ entfaltet ein                                19 a Day, 2014                                           Produktion von neuen Ressourcen.                                                        auf. Bezogen auf Systeme des Zusammenlebens
Spektrum von Repräsentationen der Ehegemeinschaft                                  28 Farbfotografien, je 10 x 15 cm                               Physical Factors of the Historical Process …                                     werden dabei Fragen nach der Produktion und der
– von westlich-orientierten Stilen bis zu Hidschab-                                In Zusammenarbeit mit Shamil Gadzhidadaev                besteht aus einem großformatigen Druck in der                                           geordneten, also gerechten Verteilung begrenzter
tragenden Frauen – sowie der universellen                                                                                                   Ausstellung sowie mehreren Postern, die in den                                          Ressourcen aufgeworfen, die letztlich auch direkte
Ritualisierungen der individuellen Liebe.                                          Super Taus, 2016                                         Toilettenräumen der Kunsthalle Wien platziert sind.                                     politische Implikationen enthalten.
      In ihrem 4-Kanal-Video sieht man die Künstlerin                              4-Kanal-Video, Farbe, Ton, 10:17, 12:36, 15:57 und       Ausgangspunkt ist eine Publikation des Künstlers,
hingegen in der Rolle ihres Alter Egos „Super Taus“.                               5:10 Min.                                                im Rahmen derer er sich mit den ökonomischen,                                           Physical Factors of the Historical Process – The Problem
In der für Dagestan traditionellen Kleidung begibt sie                                                                                      politischen wie auch materiellen Bedingungen von                                        of Cosmic Calculation, 2017
sich auf die Suche nach einem geeigneten Ort für das                               Courtesy die Künstlerin und narrative projects, London   Energieproduktion auseinandersetzt und diese am                                         4 Panele mit Vinylfolie, je 200 x 280 cm, 6 Poster,
von ihr produzierte Denkmal für Maria Korkmasova und                                                                                        historischen Fall eines Arbeiterstreiks, der 1919 im                                    je 29,7 x 42 cm
Khamisat Abdulaeva. Die beiden Frauen arbeiteten                                                                                            damals größten Kraftwerk Barcelonas stattfand,
als Aufsichtspersonal in einem russischen Museum                                                                                            abhandelt. Moraes interessiert sich vor allem für die                                   Courtesy der Künstler
und retteten in den frühen 1990ern ein Gemälde von                                                                                          Mechanismen, die bei der Herstellung, dem Austausch
Alexander Rodchenko aus den Händen eines Räubers.                                                                                           und der Umverteilung von Ressourcen wirken.

Taus Makhacheva, 19 a Day, Makhachkala, 14.09.2014, Foto: Shamil Gadzhidadaev, Courtesy die Künstlerin und narrative
projects, London                                                                                                                            Pedro Moraes, Physical Factors of the Historical Process – The Problem of Cosmic Calculation, 2017, Courtesy der Künstler
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