Lebensabend Sucht? Süchte älterer Menschen und Handlungsmöglichkeiten in der Suchthilfe - Nds. Ministerium für Soziales ...

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Lebensabend Sucht? Süchte älterer Menschen und Handlungsmöglichkeiten in der Suchthilfe - Nds. Ministerium für Soziales ...
Niedersächsisches Ministerium
für Soziales, Frauen, Familie
und Gesundheit

19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ 09 | 2009

Lebensabend Sucht?
Süchte älterer Menschen
und Handlungsmöglichkeiten
in der Suchthilfe
Berichte zur Suchtkrankenhilfe

          Niedersachsen
Lebensabend Sucht? Süchte älterer Menschen und Handlungsmöglichkeiten in der Suchthilfe - Nds. Ministerium für Soziales ...
2   VORTRÄGE
                                                      AUTOR

    19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ               Berichte zur Suchtkrankenhilfe 09 . 2009
                                                                                             VORTRÄGE

                Lebensabend Sucht?
                Süchte älterer Menschen
                und Handlungsmöglichkeiten
                in der Suchthilfe

                Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit
Impressum

Herausgegeben vom
Niedersächsischen Ministerium
für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit
Hinrich-Wilhelm-Kopf-Platz 2
30159 Hannover

in Zusammenarbeit mit der
Landesvereinigung für Gesundheit und
Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V.
Fenskeweg 2
30165 Hannover

Redaktion:
Sabine Hillmann
Melanie Bremer
Sabine Brägelmann-Tan
Thomas Altgeld

Layoutkonzept und Gestaltung:
Homann Güner Blum,
Visuelle Kommunikation,
Hannover

Druck:
Unidruck, Hannover

Fotos: © fotolia.com (Irina Fischer, Alta.C, bilderbox, Konstantin Sutyagin, Danny Meyer, Alexey Klementiev, Pixstore)
INHALT

                            VORWORT

SABINE BRÄGELMANN-TAN       Lebensabend Sucht?                                                                      04
                            Süchte älterer Menschen und Handlungsmöglichkeiten
                            in der Suchthilfe

                            VORTRÄGE

PD DR. HANS-JÜRGEN RUMPF    Problematischer Alkoholkonsum im Alter:                                                 06
                            Häufigkeit und Behandlungsmöglichkeit

PROF. DR. GERD GLAESKE      Die Tablette ist für mich wie ein Freund                                                12
                            Medikamentengebrauch, -missbrauch und -abhängigkeit im Alter

PROF. DR. IRMGARD VOGT      Ältere Drogenabhängige in Deutschland und anderen                                       20
                            europäischen Ländern
                            Sachstand und Ausblick

DR. DIETER GEYER            Es lohnt sich!                                                                          28
                            Erfahrungen in der Behandlung älterer suchtkranker Menschen

HARTWIG VON KUTZSCHENBACH   Zwischen allen Stühlen?                                                                 42
ELKE KLÖS                   Über die Notwendigkeit der Zusammenarbeit von Altenhilfe,
                            Suchthilfe und Gerontopsychiatrie

                            VERZEICHNIS DER REFERENTINNEN                                                           49
                            UND REFERENTEN

                                               19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
4   VORWORT
                                                      SABINE BRÄGELMANN-TAN        Landesdrogenbeauftragte

    Lebensabend Sucht?
    Süchte älterer Menschen und Handlungsmöglichkeiten
    in der Suchthilfe

    Bei Begriffen wie Missbrauch, Sucht               dass der Missbrauch und die Ab-               zwischen Alt und Jung werden sich
    und Abhängigkeit denken die meis-                 hängigkeit von Alkohol, Tabak und             damit erheblich verändern. Für das
    ten Menschen an Bilder von jungen                 psychoaktiven Medikamenten ein                Jahr 2050 – wenn die Baby-Boom-
    Heroinabhängigen, Showstars, die                  gravierendes Problem im höheren               Generation in die Jahre gekommen
    kokainabhängig sind und auch –                    Lebensalter darstellt.                        ist – wird mit einem Anteil von mehr
    leider zu Recht – an Jugendliche,                                                               als einem Drittel über 65-Jähriger an
    die massiv Alkohol trinken.                       Die Deutsche Hauptstelle für Sucht-           der Gesamtbevölkerung gerechnet.
                                                      fragen (DHS) geht aufgrund verschie-
    Bei obdachlosen Alkoholkranken in                 dener Studien und Datenerhebungen             Positiv ist anzumerken, dass diese
    der Fußgängerzone wird das „Alt                   davon aus, dass knapp 16% der                 ältere Generation wohl gesünder und
    aussehen“ eher der Erkrankung und                 Männer und 7% der Frauen ab 60                aktiver sein wird als ihre Elterngene-
    dem sozialen Elend zugerechnet.                   Jahren rauchen. Schätzungsweise               ration. Anstatt vom Ruhestand wird
    Die Lebensphase Alter dagegen wird                2–3% der Männer und 0,5–1% der                hier in den Medien auch schon mal
    in der Regel nicht mit Sucht und                  Frauen ab 60 Jahren haben ein                 vom Unruhestand gesprochen. Wel-
    Abhängigkeit in Zusammenhang                      schwerwiegendes Alkoholproblem                che Herausforderungen stellen sich
    gebracht. Im Gegensatz zu Jugend-                 und zwischen 5 und 10% weisen                 angesichts der demographischen
    lichen fallen ältere Menschen auf-                einen problematischen Gebrauch                Entwicklung aber für die Sucht-
    grund ihres Suchtverhaltens in der                von psychoaktiven Medikamenten                krankenhilfe und die Suchtpräven-
    Öffentlichkeit meist nicht negativ auf.           bzw. von Schmerzmitteln auf.                  tion? Widerlegt ist beispielsweise die
    Suchtprobleme, Vereinsamung und                                                                 Ansicht, abhängige Menschen hören
    Isolation zeigen sich zu Hause im                 Die demographische Entwicklung in             mit dem Älterwerden einfach auf,
    privaten Umfeld. Sucht im Alter exis-             Deutschland wird dazu führen, dass            süchtiges Verhalten zu zeigen. Wir
    tiert deshalb als Problemlage kaum                der Anteil an älteren Menschen in             müssen davon ausgehen, dass die
    in der öffentlichen Wahrnehmung.                  der Gesamtbevölkerung zunimmt                 Menschen ihr persönliches lebens-
                                                      bei einer insgesamt schrumpfenden             geschichtliches Konsummuster für
    Dabei ist das Problem von Substanz-               Bevölkerungszahl für das Gebiet               Tabak- und Alkoholmissbrauch, aber
    missbrauch und -abhängigkeit im                   der Bundesrepublik. 2006 hatte                auch für den Missbrauch von Medi-
    höheren Erwachsenenalter kein                     Deutschland ca. 82 Millionen Ein-             kamenten oder illegalen Drogen, wie
    Problem von Randgruppen. Aller-                   wohner. Für 2050 werden in demo-              Heroin oder Kokain, mit in das Alter
    dings verfügen wir kaum über ver-                 graphischen Hochrechnungen 69                 hineintragen.
    lässliche Daten zum Ausmaß des                    bis 74 Millionen angegeben. Die
    Problems. Genaue Erhebungen,                      Gründe hierfür sind vielfältig und            Darüber hinaus steht fest, dass ältere
    die belegen, wie viele Menschen                   komplex.                                      Menschen für bestimmte Konsum-
    im Alter ab 65 Jahren tatsächlich                                                               formen besonders empfänglich sind.
    von Suchtmittelmissbrauch und                     Abnehmende Geburtenzahlen stehen              Sie können schleichend in eine
    -abhängigkeit betroffen sind, liegen              einer zunehmenden Lebenserwar-                Abhängigkeit geraten – ohne, dass
    nicht vor. Einzelstudien zeigen aber,             tung gegenüber. Die Relationen                ihr Umfeld dieses bemerkt. Es ist

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VORWORT           5

nämlich schwierig abzuschätzen, in-     dahinter die Möglichkeit einer an-           kunft vor große Herausforderungen
wieweit Medikamente und Alkohol         deren Erkrankung – hier einer Sucht          stellen.
bei älteren Menschen hilfreiche         – nicht sieht oder manchmal auch
Mittel zur Bewältigung des Alltags      nicht sehen will. Gerade auch weil           Wir wissen, dass diese neue Genera-
und zur Erhaltung der Lebensqualität    sich die Suchtentwicklung und die            tion älterer Menschen deutlich mehr
sind und wann sie beginnen, Alltag      Sucht bei älteren Menschen häufig            Ressourcen für therapeutische An-
und Lebensqualität zu beeinträchti-     im privaten Raum abspielt, ist es            sätze mitbringt. Die Prognose für
gen. Die Grenzen zwischen notwen-       besonders schwierig, sie frühzeitig          eine Behandlung ist gut, vor allem,
diger und sinnvoller Anwendung und      zu erkennen.                                 wenn die Hilfeangebote speziell auf
zur Abhängigkeit führendem Miss-                                                     die älteren Patientinnen und Patien-
brauch von Psychopharmaka können        Die Bereitschaft von älteren Men-            ten zugeschnitten werden. Eine gute
im Alter fließend sein.                 schen mit substanzbedingten Pro-             Zusammenarbeit und Vernetzung
                                        blemen, Beratung und Behandlung              zwischen den Einrichtungen im am-
Deshalb ist davon auszugehen, dass      in Anspruch zu nehmen, ist allerdings        bulanten und stationären Bereich,
die Zahl der älteren Abhängigkeits-     bisher vergleichsweise eher gering           zwischen Akutmedizin und Sucht-
kranken in den nächsten Jahren stark    ausgeprägt. Der hohe Anteil von              hilfe, Altenhilfe und Gerontopsychia-
zunehmen wird. Die Probleme wer-        suchtgefährdeten und suchtabhängi-           trie ist notwendig, um hier den älte-
den größer und der Bedarf nach          gen älteren Menschen spiegelt sich           ren Menschen mit Suchtproblemen
einer adäquaten gesundheitlichen        bislang nicht in den Behandlungs-            gerecht zu werden.
und sozialen Versorgung komplexer.      zahlen im Suchthilfesystem wider.
Außerdem ergeben sich ganz neue         Dies kann nur bedeuten, dass diese           Die wichtigste Voraussetzung, damit
Bedarfe nach effektiven Präventions-    Klientel bislang nicht ausreichend           Suchttherapie, aber auch Suchtprä-
strategien für das mittlere und         von den Angeboten der Suchthilfe             vention im Alter gelingen kann, ist
höhere Lebensalter.                     erreicht wird. Hier existieren Hand-         die Enttabuisierung des Themas
                                        lungsbedarfe.                                Sucht im Alter und die Sensibilisie-
Die Folgen von chronischem Sucht-                                                    rung für diese wachsende Problema-
mittelkonsum sind uns bekannt. Es       Zusammenfassend stellt Sucht im              tik. Die 19. Niedersächsische Sucht-
sind multiple Organschäden und          Alter nach wie vor ein unterschätztes        konferenz und diese Dokumentation
psychische Erkrankungen.                Problem dar, dem es so früh wie              sollen dazu einen Beitrag leisten.
Psychische Folgen der Abhängigkeit      möglich in angemessener Weise
können Verwirrungszustände, Ver-        zu begegnen gilt. Aufgrund der
wahrlosung, aber auch Demenz,           demographischen Entwicklung
Depression, Verlust an persönlicher     gewinnt das Thema in unserer Ge-
Autonomie und eine erhöhte Suizid-      sellschaft zunehmend an Brisanz.
rate sein. Dies sind aber Folgen, die   Die Folgekosten von Suchterkran-
die Gesellschaft häufig dem „Alt        kungen bei älteren Menschen wer-
werden“ als solches zuschreibt und      den das Gesundheitssystem in Zu-

                                                           19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
6   VORTRÄGE
                                                      PD DR. HANS-JÜRGEN RUMPF

    Problematischer Alkoholkonsum im Alter:
    Häufigkeit und Behandlungsmöglichkeit

    Einleitung

    Aufgrund der demographischen Vor-                 1. Riskanter Alkoholkonsum be-           3. Die Alkoholabhängigkeit be-
    hersagen zu den Veränderungen der                 deutet, dass die durchschnittlichen      inhaltet eine Reihe von Kriterien,
    Altersstruktur der Bevölkerung tritt              täglichen Trinkmengen ein erhöhtes       die kennzeichnen, dass das Verhal-
    die Behandlung von substanzbezo-                  Risiko für das Auftreten von Erkran-     ten eine Form angenommen hat,
    genen Problemen im Alter zuneh-                   kungen darstellen. Für Menschen ab       welche durch eine Einschränkung
    mend in den Vordergrund. Es wird                  65 Jahren gilt dabei, dass im Durch-     des kontrollierten Verhaltens ge-
    vorausgesagt, dass die Zahl der                   schnitt pro Tag nicht mehr als ein       kennzeichnet ist. Dazu gehört nach
    Menschen über 65 Jahren in den                    alkoholisches Getränk zu sich ge-        ICD-10 ein starker Wunsch / Zwang,
    kommenden Dekaden deutlich an-                    nommen werden sollte (National           Alkohol zu trinken, eine verminderte
    steigen wird. Dadurch entsteht eine               Institute on Alcohol Abuse and Alco-     Kontrolle darüber, wie viel und wie
    neue Herausforderung für das Be-                  holism, 2005). Darüber hinaus wird       lange konsumiert wird, ein körper-
    handlungs- und Versorgungssystem,                 empfohlen, bei einer Gelegenheit         liches Entzugssyndrom oder das
    welches derzeit noch wenig auf diese              nicht mehr als drei Getränke zu          Vermeiden von Entzugserscheinun-
    Zielgruppe ausgerichtet ist. Bereits in           konsumieren.                             gen durch erneuten Konsum, die
    den 1990er Jahren war die Rate der                                                         Entwicklung von Toleranz (es wird
    Hospitalisierungen bei Menschen                   2. Der Alkoholmissbrauch nach            mehr Alkohol vertragen), die Ver-
    über 65 aufgrund von Alkoholproble-               DSM-IV (Saß, Wittchen & Zaudig,          nachlässigung von Aktivitäten oder
    men ähnlich hoch wie aufgrund von                 1996) oder der schädliche Gebrauch       Interessen zugunsten des Alkohol-
    Herzinfarkt (Adams, Yuan, Barboriak               nach ICD-10 (Dilling, Mombour,           konsums und ein anhaltender
    & Rimm, 1993). Weiterhin stellt pro-              Schmidt & Schulte-Markwort, 1994)        Konsum trotz schädlicher Folgen.
    blematischer Alkoholkonsum ein                    setzen voraus, dass bereits ein tat-     Bei Vorliegen von drei Kriterien
    erhöhtes Risiko für die Notwendig-                sächlicher Schaden durch den Alko-       innerhalb der letzten 12 Monate
    keit von stationärer Langzeitpflege               holkonsum eingetreten ist; dieser        wird eine Alkoholabhängigkeit
    dar (Adams & Cox, 1995).                          kann physischer, psychischer oder        diagnostiziert. Zum Teil sind diese
    Insgesamt müssen drei verschiedene                sozialer Natur sein. In der jeweiligen   Kriterien bei älteren Personen
    Formen problematischen Alkohol-                   Gewichtung unterscheiden sich dabei      schwieriger zu beurteilen (Rumpf,
    konsums unterschieden werden:                     die beiden Klassifikationssysteme.       2007).

    19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
VORTRÄGE       7

 ABB. 1: PRÄVALENZ RISKANTEN ALKOHOLKONSUMS                                    ABB. 2: PRÄVALENZ PROBLEMATISCHEN ALKOHOL-
 (MÄNNER >30G, FRAUEN >20G DURCHSCHNITTLICH                                    KONSUMS (SCREENING POSITIV IM AUDIT-C*)
 PRO TAG)                                                                      Daten des Robert Koch-Instituts (Hapke et al., im Druck)
 Daten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Bühringer et al.
 2000)

 A
         Alkoholkonsum in g                                                          Alkoholkonsum in g
         40                                                                          55
                                                                                                52,9
         35                                                                          50
                                               33,7                                  45
         30                     31                                                   40                  38,4              38,6
                                                           26,9                                                                     37,7
         25         24,7                                                             35         33,3                                         34
                                               22,6                                                                32,6
         20                     22,4                                                 30                                              29
                    16,7                                                             25
         15                                                15,4                                        24,6      25,3      22,5
                                             11,7                                    20                                                     18,6
                               13,8
         10                                                                          15
                    8,6                                    7,7
          5                                                                          10
                                                                                      5
          0
                                                                                      0
               30–39        40–49        50–59         >59          Alter
                                                                                           18–29 30–39 40–49 50–59 60–69 ab 70                     Alter

                                                                                                         *AUDIT-C: Alcohol Use Disorders Identification
                                                                                                         Test – Consumption Questions
                                                                                                         (AUDIT-C; Bradley et al., 1998)

Häufigkeit problematischen Alkoholkonsums im Alter

Die epidemiologische Datenbasis für                    Disorders Identification Test – Con-              gende Remissionsrate. In der Epide-
das Vorliegen von problematischem                      sumption Questions (AUDIT-C;                      miologic Catchment Area Study wie-
Alkoholkonsum in Deutschland ist                       Bradley et al., 1998). Ältere Daten               sen die Daten einen stetigen Anstieg
unbefriedigend (Rumpf & Weyerer,                       auf Basis von Grenzwerten riskanten               der Remittierten über die Lebensjahre
2006). Insgesamt geht die jeweilige                    Konsums kommen auf etwas gerin-                   auf und erreichten bei den über 65-
Häufigkeit zurück, bleibt jedoch auf                   gere Raten (Bühringer et al., 2000).              Jährigen 77% bei den Männern und
einem Niveau, welches die Versor-                      Der insgesamt zu verzeichnende                    69% bei den Frauen (Robins & Regier,
gungsnotwendigkeit deutlich macht                      Rückgang des allgemeinen sowie des                1991). Ein Teil davon ist auf Behand-
(Abb. 1 und Abb. 2). So zeigen Daten                   problematischen Alkoholkonsums im                 lung zurückzuführen, der größere
einer bundesweiten Befragung des                       Alter ist auf Veränderung des Stoff-              Anteil davon erfolgt allerdings ohne
Robert Koch-Instituts auf, dass bei                    wechsels, eine Verschlechterung der               formelle Hilfe (vgl. Rumpf, Bischof,
Männern ab 70 Jahren bei 34% der                       Gesundheit, die Entstehung chroni-                Hapke, Meyer & John, 2009). In einer
Hinweis auf einen problematischen                      scher Erkrankungen und die Zunahme                Stichprobe von 51- bis 65-Jährigen
Alkoholkonsum vorlag (Hapke,                           eines gesundheitsorientierten Lebens-             waren bei Nachuntersuchungen nach
Hanisch, Ohlmeier, Rumpf & Scheidt-                    stils sowie auf alkoholbezogene Mor-              4 und 10 Jahren insgesamt 73% ohne
Nave, im Druck). Die Einschätzung                      talität zurückzuführen. Ein weiterer              formelle Hilfen remittiert (Schutte,
erfolgte mit Hilfe des Alcohol Use                     Faktor ist jedoch ebenso die anstei-              Moos & Brennan, 2006).

                                                                             19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
8   VORTRÄGE

    Wirksamkeit von Interventionen

    Die folgenden Ausführungen basieren
    auf einer aktuellen Übersichtsarbeit
    (Rumpf, John, Hapke & Bischof, im
    Druck). Hinsichtlich der pharmako-
    therapeutischen Behandlung liegen
    nur wenige Daten für ältere Men-
    schen mit problematischem Alkohol-
    konsum vor. Dabei wird Antabus
    (Disulfiram) wegen der Unverträg-
    lichkeitsreaktionen als nicht empfeh-
    lenswert angesehen (s. Lieb, Rosien,
    Bonnet & Scherbaum, 2008). Zu dem
    Anticraving-Medikament Campral
    (Acamprosat) liegen keine Studien
    vor. Die zweite insgesamt gut unter-
    suchte Substanz in diesem Bereich,
    Naltrexon, wurde in zwei Studien bei
    älteren Personen geprüft. Es konnte
    bei den älteren Patientinnen und
    Patienten eine bessere Compliance
    gefunden werden, insgesamt zeigte
    sich die gleiche Wirksamkeit ver-
    glichen zu Jüngeren (Oslin, Liberto,
    O’Brien, Krois & Norbeck, 1997;
    Oslin, Pettinati & Volpicelli, 2002).

    In Bezug auf suchtspezifisch-psycho-              Outcome-Raten in den älteren Stich-    Drogenproblematik hatten und ein
    therapeutische Behandlung findet                  proben besser als bei jüngeren         geringeres Ausmaß an Problemen
    sich hinsichtlich des kurzfristigen               (Lemke & Moos, 2003; Oslin et al.,     mit dem Gesetz oder Problemen im
    Therapieerfolgs bei älteren Patien-               2002; Weisner, Ray, Mertens, Satre &   familiären Bereich zeigten (Satre,
    tinnen und Patienten eine mindes-                 Moore, 2003). Dabei unterscheiden      Mertens, Arean & Weisner, 2004).
    tens vergleichbar gute Erfolgsquote               sich jüngere und ältere Patientinnen   Auch konnte bei ihnen eine längere
    (Rice, Longabaugh, Beattie & Noel,                und Patienten in der Form, dass die    Behandlungsdauer verzeichnet wer-
    1993; Satre, Mertens, Arean & Weis-               älteren häufiger verheiratet waren,    den. Als Prädiktor für die Abstinenz
    ner, 2003). Bei längerfristigen Follow-           eine schlechtere Gesundheit auf-       nach 5 Jahren hatte das Alter keine
    up-Zeiträumen erwiesen sich die                   wiesen, seltener eine komorbide        eigenständige signifikante Bedeu-

    19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
VORTRÄGE           9

tung, hingegen waren die Länge des       unbehandelten Kontrollgruppe eine
Aufenthalts in der Behandlungsein-       um 34% höhere Abnahme des Kon-
richtung und das Fehlen von Freun-       sums und eine um 75% höhere
den oder Familienmitgliedern, welche     Reduktion der Anzahl von Episoden
zum Trinken oder Drogenkonsum er-        mit Rauschtrinken (Fleming et al.,
mutigten, bedeutsam (Satre et al.,       1999).
2004). Hinsichtlich der altersspezifi-
schen Anpassung von Therapiepro-
grammen sind wenige Daten vor-
handen. Es zeigen sich dabei jedoch      Fazit
bessere Haltequoten (Liberto, Oslin
& Ruskin, 1992; Schonfeld & Dupree,      Insgesamt nehmen der allgemeine
1995) und es besteht auch ein Hin-       wie auch der riskante Alkoholkon-
weis auf bessere Abstinenzraten          sum sowie Missbrauch und Abhän-
(Kashner, Rodell, Ogden, Guggen-         gigkeit im Alter ab, dennoch wird die
heim & Karson, 1992).                    Zahl der Menschen mit problemati-
                                         schem Alkoholkonsum aufgrund der
Da insgesamt nur wenige Menschen         Bevölkerungsentwicklung deutlich
suchtspezifische Hilfen aufsuchen        zunehmen. Therapeutische Maß-
(Dawson, Grant, Stinson & Chou,          nahmen sind insgesamt wirksam,
2006; Rumpf, Meyer, Hapke, Bischof       hinsichtlich des längerfristigen Er-
& John, 2000) und dieses in mindes-      folges zeigen sich sogar bessere
tens gleicher Weise für ältere Perso-    Raten bei älteren Personen. Eine
nen anzunehmen ist, erscheinen           Anpassung der Therapieprogramme
Frühinterventionsmaßnahmen –             an die Bedürfnisse und Lebenssitua-
insbesondere in Einrichtungen der        tionen der älteren Menschen er-
medizinischen Versorgung – not-          scheint sinnvoll. Insbesondere stellt
wendig, um hier proaktiv Kurzinter-      jedoch die bessere Versorgung der
ventionen anzubieten. Insgesamt          älteren Menschen mit adäquaten
konnten sich solche Maßnahmen            Hilfen oder Interventionen eine be-
in bislang vier Studien als wirksam      sondere Herausforderung dar. Hier
erweisen (Fink, Elliott, Tsai & Beck,    erscheinen Maßnahmen der Früh-
2005; Fleming, Manwell, Barry,           entdeckung und Kurzintervention
Adams & Stauffacher, 1999; Gordon        in der medizinischen Versorgung
et al., 2003; Oslin et al., 2006).       besonders aussichtsreich und not-
So zeigte sich z.B. im Vergleich zur     wendig.

                                                             19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
10   VORTRÄGE

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     19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
VORTRÄGE           11

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12   VORTRÄGE
                                                       PROF. DR. GERD GLAESKE     Universität Bremen

     Die Tablette ist für mich wie ein Freund
     Medikamentengebrauch, -missbrauch
     und -abhängigkeit im Alter

     Jeden Tag das gleiche Ritual, seit                starken Schmerz- und Migränemitteln,            einmal gesteigert werden muss
     14 Jahren: Eine 63-jährige Lehrerin               von Hustenmitteln und Psychostimu-              („low-dose-dependency“), sind keine
     kommt mittags nach Hause, bereitet                lanzien. Die Zahlen sind seit vielen            Absetz- oder Entzugssymptome zu
     sich einen Tee und nimmt dazu ein                 Jahren relativ konstant. Es sind vor            bemerken. Wenn aber diese Mittel
     Beruhigungsmittel vom Benzodiaze-                 allem die verschreibungspflichtigen             nach einer solchen Zeit drei oder vier
     pin-Typ ein – zur Entspannung, wie                Mittel, die zu einem Abhängigkeits-             Tage nicht eingenommen werden,
     sie sagt, zum Abschalten. Die Frage,              problem führen können. 4–5% aller               kommt es zu typischen Symptomen
     ob sie abhängig von diesem Mittel                 ärztlich verordneten Präparate dieser           für einen Entzug, z.B. zu Unruhe,
     ist, würde sie entrüstet verneinen.               Gruppe (rd. 35 von 690 Mio. im                  Schweißausbrüchen, Schlaflosigkeit
     Zum einen hat sie nie die Dosis                   Jahre 2007, zusätzlich werden etwa              oder Aggressionen. Die fortgesetzte
     steigern müssen, zum anderen ver-                 140 Mio. Packungen rezeptfreier                 Verschreibung und Einnahme be-
     schreibt ihr eine Ärztin das rezept-              Arzneimittel verordnet) haben ein               deutet damit auch ein „Entzugsver-
     pflichtige Mittel seit vielen Jahren              eigenes Abhängigkeitspotenzial. Die             meidungsverhalten“ – eine thera-
     und der Apotheker händigt ihr die                 Mittel sind – für sich betrachtet –             peutische Wirkung ist nach einer
     Packung kommentarlos aus – diese                  nach wie vor wichtig in der Behand-             solchen Einnahmezeit nicht mehr zu
     Expertinnen und Experten müssten                  lung: So wirken Benzodiazepine, die             erwarten. Zu den problematischen
     die „Nebenwirkung“ Abhängigkeit                   seit 1960 auf dem Markt angeboten               Arzneimitteln gehören auch die
     doch kennen und sie darauf hin-                   werden – Librium (1960) und Valium              Folgeprodukte der Benzodiazepin-
     weisen. Nein, abhängig fühlt sie sich             (1963) waren die ersten Produkte –              Schlafmittel, die sog. Z-Drugs, vor
     überhaupt nicht. Sie fühlt sich wohl              gut bei Angst- und Panikattacken, bei           allem Zopiclon oder Zolpidem. Zu-
     mit diesem Mittel, das ihr hilft, den             Schlafstörungen, bei Krämpfen oder              nächst wurde davon ausgegangen,
     Alltag zu bewältigen.                             zur Muskelentspannung vor Opera-                mit diesen Mitteln risikoärmere
                                                       tionen. Der Missbrauch in der Ver-              Varianten verschreiben zu können.
     So wie dieser Lehrerin geht es noch               schreibung beginnt aber dann, wenn              Diese Hoffnung hat sich jedoch
     immer vielen Menschen in Deutsch-                 diese Mittel über zu lange Zeiträume,           nicht unbedingt bewahrheitet.
     land: Schätzungen zum Grund der                   z.B. länger als drei Monate aufein-
     Konsummuster bei Arzneimitteln mit                ander folgend verschrieben und                  Es sind vor allem ältere Menschen
     Abhängigkeitspotenzial weisen da-                 geschluckt werden – in diesen Fällen            und darunter als Hauptanteil Frauen,
     rauf hin, dass 1,5 Mio., viele Fach-              ist eine Abhängigkeitsentwicklung               die unter der Arzneimittelabhängig-
     leute meinen sogar 1,9 Mio. Men-                  kaum noch zu vermeiden. Solange                 keit leiden, von der sie allein nur in
     schen, bei uns abhängig sind von                  diese Mittel eingenommen werden,                den seltensten Fällen loskommen.
     Arzneimitteln, 2/3 von Schlaf- und                wobei bei den meisten Menschen                  Ambulante Entzugsbehandlungen
     Beruhigungsmitteln, die übrigen von               die ursprüngliche Dosierung nicht               reichen meist nicht aus, eine statio-

     19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
VORTRÄGE           13

näre Therapie ist üblicherweise not-    ren und helfen dabei, auch verände-              nen auch vor allem gefragt, wenn es
wendig. Und wer es ambulant ver-        rungsbedürftige Situationen in Fami-             um die Prävention der „Sucht auf
sucht, braucht Geduld: Die Mittel       lie und Gesellschaft aufrechtzuerhal-            Rezept und aus der Apotheke“ geht.
vom Benzodiazepin-Typ dürfen nie        ten – schlucken und schweigen!                   Denn es sind nicht nur verschrei-
abrupt abgesetzt werden, weil dann                                                       bungspflichtige Mittel, die zur Ab-
Entzugserscheinungen nicht zu ver-      Frauen kompensieren ihre Probleme                hängigkeit führen können. Es sind
meiden sind. Sie müssen „ausgeschli-    anders als Männer. Sie sind in sich              auch Mittel aus der Gruppe der 630
chen“ werden: Dabei wird die bisher     gewandt und leise, introvertiert. Män-           Mio. verkauften Packungen der
eingenommene Dosierung langsam          ner richten ihre Kompensation eher               Selbstmedikation, die nicht unpro-
verringert – meist dauert es die An-    nach außen, werden aggressiv und                 blematisch sind: Abschwellende
zahl an Monaten gemessen an der         laut, extrovertiert.                             Nasentropfen können ebenso auf
Einnahmezeit in Jahren, um ganz von                                                      Dauer (nach längerer Anwendung
diesen Beruhigungs- und Schlafmit-      Die Arzneimittelabhängigkeit ist da-             als 5–7 Tage) zur Gewöhnung und
teln loszukommen.                       her die typisch weibliche Sucht –                Missbrauch führen wie alkoholhaltige
                                        unauffällig, nach innen gekehrt, leise           Stärkungs- und Grippemittel oder
Dass Frauen diese Mittel besonders      und dennoch ebenso problematisch                 auch koffeinhaltige Schmerzmittel-
häufig verordnet bekommen, hängt        wie die Abhängigkeit von Alkohol,                kombinationen wie Thomapyrin, die
vor allem auch mit ihrer sozialen       die vergleichsweise typisch bei Män-             mit dem Hinweis auf eine 15 Minu-
Lage in unserer Gesellschaft zusam-     nern vorkommt – in nahezu der                    ten schnellere Wirkung beworben
men. Sie sind – so zeigt es auch die    gleichen Häufigkeit!                             werden: Statt 80 Minuten werden
Gender-Forschung – für Harmonie                                                          50% des Schmerzes bereits nach 65
und Funktionsfähigkeit der Ehe und      Und dennoch gibt es erhebliche                   Minuten reduziert. Als ob es darauf
Familie verantwortlich. Insbesondere    Unterschiede: Arzneimittel werden                in der Selbstmedikation ankommt,
im höheren Alter, wenn die Kinder       von Ärztinnen und Ärzten verschrie-              wenn gleichzeitig das Risiko einer
aus dem Haus sind und die Arbeit        ben sowie von Apothekerinnen und                 missbräuchlich häufigen Anwendung
für den Mann im Lebensmittelpunkt       Apothekern verkauft. Es steht also               solcher Mittel wegen des leicht
steht, fühlen sie sich entwertet        nicht unbedingt die eigene Entschei-             stimulierenden Koffeins möglich ist:
(„empty-nest-syndrome“). Sie leiden     dung für einen Missbrauch dieser                 Eine Risiko-Nutzen-Bewertung wird
unter Unzufriedenheit und Ängsten,      Mittel im Vordergrund, sondern ein               deshalb negativ ausfallen!
unter Schlaflosigkeit und depressiven   Missbrauch und eine Abhängigkeits-
Verstimmungen. Arzneimittel scheinen    entwicklung, die von Expertinnen                 Nicht-rezeptpflichtige Schmerzmittel
sich in solchen Fällen als schnelle     und Experten begleitet wird. Daher               gehören aber zu den meist bewor-
Lösung anzubieten. Diese stabilisie-    ist die Verantwortung dieser Perso-              benen Mitteln in Fernsehen, Radio

                                                               19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
14   VORTRÄGE

     und Zeitschriften – rund 200 Mio.                 Publikation von Leitfäden reicht da      „synthetische Schlaumacher“ („Viagra
     Euro lassen sich die Firmen diese                 nicht aus – die Verschreibungs- und      fürs Gehirn“) beworben. Dazu gehö-
     öffentliche Darstellung kosten, 500               Beratungspraxis muss vielmehr kon-       ren meist anregende Mittel, die üb-
     Mio. für die gesamte Selbstmedika-                tinuierlich überprüft werden, zum        licherweise gegen Depressionen,
     tion. Die Werbung für Arzneimittel                einen durch die Auswertung der Re-       gegen die Alzheimer-Demenz oder
     mit einem möglichen Missbrauchs-                  zepte, zum anderen durch Testkäufe       gegen ADHS eingesetzt werden. Sol-
     potenzial sollte daher grundsätzlich              in Apotheken (pseudo-customer).          che Hinweise verführen. Sie geben
     verboten werden – übrigens auch in                                                         vor, die Leistungsfähigkeit und Kon-
     den Schaufenstern der Apotheken.                  Die Auswertung der Rezepte stößt         zentration fördern und Prüfungen
                                                       aber mehr und mehr auf Probleme:         besser bestehen zu können. Diese
     Die Bundesärztekammer hat 2007                    Der Anteil der privat verordneten        Mittel sind nie für Gesunde oder für
     einen Leitfaden für die ärztliche                 Mittel steigt ständig an! Während im     das „Alltagsdoping“ zugelassen wor-
     Praxis zum Umgang mit abhängig-                   Arzneiverordnungs-Report Jahr für        den. Nur: Das Internet bietet all diese
     keitsfördernden Arzneimitteln publi-              Jahr darauf hingewiesen wird, dass       Mittel an und sie werden bei dubi-
     ziert, die Apothekerinnen und Apo-                z.B. bei den Schlafmitteln das Pro-      osen Händlern bestellt, ohne richtige
     theker haben im Jahre 2008 für ihren              blem der Verordnung abhängigkeits-       Information und oft gefälscht!
     Bereich nachgezogen, die Drogen-                  induzierender Arzneimittel deutlich
     beauftragte der Bundesregierung,                  zurückgeht (angeblich aufgrund           Die wirksamste Prävention ist letzt-
     Sabine Bätzing, hat dieses Thema                  wirksamer Informationen), zeigt der      lich die Vermeidung der „Neben-
     zum Schwerpunkt 2008 gemacht.                     Packungsverbrauch in Deutschland         wirkung“ Abhängigkeit durch die
     Dies ist nachdrücklich zu unter-                  insgesamt kaum Veränderungen:            richtige Anwendung von und Em-
     stützen. Es muss aber auch möglich                Die Menge der Packungen, die von         pfehlung für Arzneimittel. Fachleute
     sein, Verstöße gegen eine gute Ver-               der Industrie verkauft und über die      wie Ärztinnen und Ärzte sowie
     schreibungs- oder gegen eine gute                 Großhandlungen in die Apotheken          Apothekerinnen und Apotheker
     Beratungspraxis zu ahnden. Einzelne               gelangen, ist seit Jahren relativ        haben daher eine besondere Ver-
     Prozesse, die abhängig gemachte                   konstant geblieben. Die Ärztinnen        antwortung, um die Patientinnen
     Personen gegen ihre Ärztinnen und                 und Ärzte verordnen solche Mittel        und Patienten vor Missbrauch und
     Ärzte anstrengen und tatsächlich                  offensichtlich schlicht und ergreifend   Abhängigkeit zu schützen. Das
     auch „Schmerzensgeld wegen ihrer                  auf Privatrezepten. Die Mittel werden    Angebot solcher Arzneimittel durch
     erlittenen seelischen Leiden“ ein-                dann von den Patientinnen und            pharmazeutische Hersteller erzwingt
     klagen konnten, sind da nur ein                   Patienten selbst bezahlt und die         schließlich noch keine Verordnung
     Tropfen auf dem heißen Stein. Die                 Transparenz über die dauerhafte Ver-     und keinen Verkauf. Vor allem bei
     für die „Ethik“ verantwortlichen                  ordnung von Arzneimitteln mit Sucht-     der im Zusammenhang mit der Ab-
     Ärzte- und Apothekenkammern sind                  potenzial wird damit verschleiert.       hängigkeitsentwicklung noch immer
     hier ebenso in der Pflicht wie die für                                                     wichtigsten Gruppe, den Benzodia-
     die Ökonomie zuständigen Kassen-                  Ein letzter Aspekt, der den Missbrauch   zepin-haltigen Mitteln und den Z-
     ärztlichen Vereinigungen und Apo-                 mit Arzneimitteln fördert: Derzeit       Drugs, sollte die 4 K-Regel immer
     thekerverbände. Eine einmalige                    werden auch in vielen Zeitschriften      beachtet werden:

     19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
VORTRÄGE       15

• Klare Indikation (das Medikament                 Dieser Hinweis sollte in allen Arzt-                 bestimmter Arzneimittel besteht,
 nur einnehmen, wenn eine medi-                    praxen und Apotheken aushängen                       immer vor Augen haben.
 zinische Notwendigkeit besteht)                   und in den Beipackzettel aufgenom-
• Kleinste notwendige Dosis                        men werden, damit sowohl Fach-
• Kurze Anwendung                                  personal als auch Patientinnen und
 (maximal 14 Tage)                                 Patienten die Gefährdung, die
• Kein abruptes Absetzen                           durch das Abhängigkeitspotenzial

Anhang

   TABELLE 1 DIE MEIST VERKAUFTEN SCHLAF- UND BERUHIGUNGSMITTEL 2007

   Rang     Name                           Wirkstoff(e)               Packg. in (Mio.)        Missbrauchs-/                      Rezeptpflicht
                                                                                              Abhängigkeitspotenzial
   1        Hoggar N                       Doxylamin                  2,35                    Eher nicht*)                       nein
   2        Vivinox SLEEP                  Diphenhydramin             1,31                    Eher nicht*)                       nein
   3        Zopiclon ratio                 Zopiclon                   0.99                    ++ (bis +++)                       ja
   4        Zolpidem-ratio                 Zolpidem                   0,69                    ++ (bis +++)                       ja
   5        Stilnox                        Zolpidem                   0,67                    ++ (bis +++)                       ja
   6        Betadorm D                     Diphenhydramin             0,66                    Eher nicht*)                       nein
   7        Schlafsterne ret.              Doxylamin                  0,59                    Eher nicht*)                       nein
   8        Noctamid                       Lormetazepam               0,55                    +++                                ja
   9        Zolpidem Stada                 Zolpidem                   0,55                    ++ (bis +++)                       ja
   10       Zopiclon AL                    Zopiclon                   0,54                    ++ (bis +++)                       nein
   11       Lendormin                      Brotizolam                 0,52                    +++                                ja
   12       Radedorm                       Nitrazepam                 0,51                    +++                                ja
   13       Planum                         Temazepam                  0,47                    +++                                ja
   14       Zopiclon ct                    Zopiclon                   0,40                    ++ (bis +++)                       ja
   15       Zopiclon AL                    Zopiclon                   0,40                    ++ (bis +++)                       nein
   16       ZOP                            Zopiclon                   0,38                    ++ (bis +++)                       nein
   17       Zopiclon Stada                 Zopiclon                   0,38                    ++ (bis +++)                       ja
   18       Rohypnol                       Flunitrazepam              0,34                    +++                                ja
   19       Flunitrazepam ratio            Flunitrazepam              0,34                    +++                                ja
   20       Remestan                       Temazepam                  0,34                    +++                                nein

   *) Diese „eher-nicht-Einschätzung“ bezieht sich auf den „bestimmungsgemäßen Gebrauch“. Bei missbräuchlich hoch dosiertem Dauerkonsum
   von Diphenhydramin und Doxylamin (z.B. >200 mg) kann es aber zu Toleranzentwicklung und Entzugssyndromen kommen.

                                                                             19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
16   VORTRÄGE

     1. Schlaf- und Beruhigungsmittel                  verordnet (78 Tsd. Packungen                Panikattacken, gegen Fieberkrämpfe
                                                       (0,1%)). Häufig verkaufte pflanzliche       (v.a. bei Kindern) und zur Muskel-
     Im Jahre 2007 wurden insgesamt                    Mittel wie z.B. „Baldriparan stark für      entspannung (v.a. vor Operationen)
     29,5 Mio. Packungen Schlaf- und                   die Nacht“, Mittel zur Beruhigung           eingesetzt werden, dominieren im
     Beruhigungsmittel verkauft (–2%                   (zusammen 2,1 Mio. Packungen)               Gegensatz zu den Schlaf- und Be-
     gegenüber 2005), darunter vor                     oder Mittel wie „Kytta Sedativum“           ruhigungsmitteln noch immer die
     allem Mittel, die Benzodiazepin- und              (480 Tsd. Packungen) sind in der            klassischen Benzodiazepine, die
     Benzodiazepin-ähnliche Wirkstoffe                 Übersicht nicht aufgeführt, da sie          sich allesamt von den im Jahre 1960
     (19,9 Mio. oder 57% aller Packun-                 kein substanzspezifisches Miss-             bzw. 1963 erstangebotenen Mitteln
     gen) oder pflanzliche Extrakte wie                brauchspotenzial mit sich bringen.          Librium und Valium der Firma
     z.B. Baldrian-, Hopfen- oder Passions-            Allerdings ist eine schlafanstoßende        Hoffmann LaRoche herleiten. Im
     blumenextrakte enthalten (9,6 Mio.                Wirkung nur bedingt von solchen             Jahre 2007 wurden knapp 11,2 Mio.
     Packungen oder 43% aller Packun-                  Mitteln zu erwarten.                        Packungen verkauft, rund 2%
     gen). Der Industrieumsatz beträgt                                                             weniger als noch im Jahre 2006.
     etwa 126 Mio. Euro, welcher einem                 2. Tranquilizer                             Der Umsatz für die Hersteller be-
     Apothekenumsatz von rund 380 Mio.                                                             trug etwa 34 Mio. Euro, nach Apo-
     Euro entspricht. Mittel mit Barbitur-             Bei den als Tranquilizer verordneten        thekenverkaufspreisen etwa 300 Mio.
     säurederivaten werden kaum noch                   Arzneimitteln, die gegen Angst- und         Euro.

         TABELLE 2: DIE MEIST VERKAUFTEN TRANQUILIZER 2007 (ALLE REZEPTPFLICHTIG)

         Rang    Name                          Wirkstoff(e)             Packg. in (Mio.)   Missbrauchs-/Abhängigkeitspotenzial
         1       Diazepam-ratiopharm           Diazepam                 1,51               +++
         2       Tavor                         Lorazepam                1,19               +++
         3       Bromazanil-Hexal              Bromazepam               0,84               +++
         4       Oxazepam-ratiopharm Oxzepam                            0,76               +++
         5       Adumbran                      Oxazepam                 0,71               +++
         6       Lorazepam-neurax              Lorazepam                0,49               +++
         7       Normoc                        Bromazepam               0,32               +++
         8       Lexotanil 6                   Bromazepam               0,30               +++
         9       Lorazepam ratio               Lorazepam                0,30               +++
         10      Faustan                       Diazepam                 0,28               +++
         11      Oxazepam AL                   Oxazepam                 0,25               +++
         12      Tranxilium                    Dikaliumclorazepat 0,25                     +++
         13      Tafil                         Alprazolam               0,22               +++
         14      Durazanil                     Bromazepam               0,21               +++
         15      Lorazepam Dura                Lorazepam                0,18               +++

     19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
VORTRÄGE           17

3. Andere Psychopharmaka

Insgesamt sind die im weitesten
Sinne „aktivierenden“ oder atypi-
schen Psychopharmaka deutlich
„im Aufwind“. Sie legen bei den
Packungsverkäufen deutlich zu. Dies
mag auch daran liegen, dass be-
stimmte Antidepressiva (v.a. SSRIs)
oder auch Psychostimulanzien
keineswegs nur von Patientinnen
und Patienten eingenommen wer-
den, sondern auch Gesunde meinen,
sich mit diesen Mitteln eine bessere
Konzentrations- und Denkfähigkeit
verschaffen zu können. Zu den
Psychostimulanzien gehören vor
allem die Wirkstoffe (Schulz, 2008):
                                         z.B. in der Juni-Ausgabe der Studen-           4. Ausgewählte Beispiele aus der
• Methylphenidat in Ritalin,             tenzeitschrift „Unicum“. Dies ist ein          Selbstmedikation
 Concerta oder Medikinet                 Aufruf zum Missbrauch – für die
 (Betäubungsmittel v.a. zur Therapie     Anwendung bei Gesunden wurden                  Im Jahre 2007 wurden insgesamt
 hyperkinetischer Störungen              diese Mittel weder geprüft noch                149,3 Mio. Packungen Schmerzmittel
 („Zappelphilipp“)),                     zugelassen. Dubiose Anbieter im                verkauft, davon 122 Mio. ohne Re-
                                         Internet verschicken solche Produkte           zept (rund 80%). Die Schmerz-
• Modafinil in Vigil                     allerdings auch ohne Rezept – ein              behandlung in Deutschland ist damit
 (verschreibungspflichtiges Mittel       gefährlicher Pillenklick.                      vor allem eine Behandlung im
 bei Narkolepsie oder Schicht-                                                          Rahmen der Selbstmedikation –
 arbeitersyndrom),                       Besondere Aufmerksamkeit muss                  allein 80 Mio. Packungen entfallen
                                         auch den neuen Antidepressiva aus              auf die in der Tabelle 1 genannten
• Amfepramon, Cathin und Phenyl-         der Gruppe der Serotoninwiederauf-             Mittel. Nur wenige dieser nicht-
 propanolamin (alle verschrei-           nahmehemmer (SSRI) geschenkt                   rezeptpflichtigen Mittel werden auch
 bungspflichtig als Appetitzügler)       werden. Diese Mittel (viel verkauft            verordnet, z.B. Mittel mit Parazetamol
 und                                     werden z.B. Mittel mit den Wirk-               zur Fiebersenkung bei Kindern. Die
                                         stoffen Citalopram, Fluoxetin, Paro-           Rangfolge der Mittel ist seit vielen
• Ephedrin (in Zubereitungen             xetin oder Sertralin) führen bei               Jahren ähnlich, mit Ausnahme von
 >10mg zum Schlucken                     längerer Anwendung offensichtlich              Thomapyrin, einer Schmerzmittel-
 verschreibungspflichtig).               wegen einer möglicherweise ent-                kombination aus Azetylsalizylsäure,
                                         standenen psychischen Abhängigkeit             Parazetamol und Koffein (Stiftung
Die Mittel werden offen als              zu Problemen beim Absetzen –                   Warentest: „Wenig geeignet, nicht
„synthetische Schlaumacher“              daher ist das „Ausschleichen“ der              sinnvolle Kombination“): Im letzten
beschrieben, als „Viagra fürs Gehirn“,   Mittel dringend anzuraten.                     Jahr stand dieses Mittel noch auf

                                                              19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
18   VORTRÄGE

     Platz drei, in diesem Jahr ist es auf
     Platz sechs abgerutscht, die verkauf-
     ten Packungsmengen sind deutlich
     gesunken – ein erwünschter Effekt.
     Dennoch: Die Werbemaßnahmen der
     Herstellerfirma Boehringer-Ingelheim
     sind nicht zu übersehen. Die Firma
     will von dieser missbrauchsbelaste-
     ten Kombination mit dem psychisch
     anregenden Coffein nicht lassen.
     Schwer verständlich ist in diesem
     Zusammenhang auch eine Empfeh-
     lung der Deutschen Migräne- und
     Kopfschmerzgesellschaft, die zuletzt
     Anfang September 2003 zugunsten
     dieses unnötigen Kombinations-
     schmerzmittels publiziert wurde.
     Ein sinnvoller Wirkstoff reicht in der
     Selbstmedikation für ein Schmerz-
     mittel (z.B. wie in Parazetamol-ratio-
     pharm, Aspirin, ASS-ratiopharm                    kopfschmerz kommen (Dauer bis            oder Codein, enthalten. Es gibt kei-
     oder Dolormin).                                   zum Auftreten bei frei verkäuflichen     nen wissenschaftlichen Nachweis
                                                       Schmerzmitteln im Mittel 4,7 Jahre,      dafür, dass die Wirkung von Azetyl-
     In einem 2007 erschienenen Leit-                  bei Triptanen 1,7 Jahre). Hatte man      salizylsäure oder von Parazetamol
     faden der Bundesärztekammer mit                   ursprünglich angenommen, dass nur        durch die Kombination mit Koffein
     dem Titel „Medikamente – schäd-                   ergotaminhaltige Präparate zum           oder Codein verstärkt wird.
     licher Gebrauch und Abhängigkeit“                 Dauerkopfschmerz führten, so hat
     (BÄK 2007) wird auf den Seiten 26                 sich inzwischen herausgestellt, dass     Der Gebrauch von Mischanalgetika
     und 27 (in der online-Version) in                 alle Medikamente zur Behandlung          ist in der Bevölkerung weithin ver-
     diesem Zusammenhang folgendes                     von Migräne und Kopfschmerzen            breitet, zumal einige von ihnen frei
     ausgeführt:                                       einen medikamenteninduzierten            verkäuflich sind (Schmerzmittel mit
                                                       Kopfschmerz hervorrufen können.          Koffein). Motor der Einnahme ist
     „Prädisponiert für einen Analgetika-              Zwischen 1 und 2% der Bevölkerung        zunächst der analgetische Effekt, zur
     Abusus sind Patienten, die ur-                    sind davon betroffen.                    Aufrechterhaltung der Medikation
     sprünglich an Migräne und/oder                                                             kann die psychische Situation bei-
     Spannungskopfschmerz litten. (…)                  Besonders problematisch sind anal-       tragen. Ist nach länger dauerndem
     Bei häufiger Einnahme von Anal-                   getische Mischpräparate. Mischanal-      Gebrauch eine Gewöhnung einge-
     getika – d.h. an mehr als der Hälfte              getika sind Arzneimittel, die ein oder   treten, rufen die im Entzug auftre-
     aller Tage eines Monats – kann es                 mehrere peripher wirksame Schmerz-       tenden vegetativen Symptome, ins-
     schon nach wenigen Wochen, meis-                  mittel sowie zusätzlich einen oder       besondere der Entzugskopfschmerz,
     tens aber erst nach Jahren zu einem               mehrere Kombinationspartner mit          ein starkes Bedürfnis nach erneuter
     medikamenteninduzierten Dauer-                    Wirkung auf das ZNS, z.B. Koffein        Einnahme des Mittels hervor.“

     19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
VORTRÄGE           19

Indizien für Analgetika-Kopfschmerz:
Verdacht auf Ergotamin-, Triptan- oder Analgetikakopfschmerz bei

• mehr als 20 Kopfschmerztabletten im Monat
• täglichem Kopfschmerz von mehr als 10 Stunden
• regelmäßiger Einnahme von Analgetika oder Ergotamin, Dihydroergotamin oder Triptanen
 (Ergotamin und Dihydroergotamin sind wenig geeignete Mittel zur Behandlung von Migräne, Triptane sind
 dagegen geeignete Mittel zur Migränebehandlung)
• Einnahme in Kombination mit Codein, anderen Opioiden, Coffein, Antihistaminika
• fehlendem Zusammenhang zwischen ursprünglichen Kopfschmerzen (z.B. Spannungskopfschmerzen, Migräne)
 und derzeitigem Kopfschmerzsyndrom

Daher auf Anwendungsbeschränkungen achten, um den analgetikainduzierten Kopfschmerz
zu vermeiden:

• Kopfschmerz- und Migränemittel
 nicht länger als 3 Tage hintereinander und nicht häufiger als an 10 Tagen im Monat einnehmen
• Triptane:
 max. 2 x pro 24 Stunden
 max. 3 x pro Attacke (nach Verordnung)
 max. 2 x pro Attacke (Selbstmedikation, z.B. mit Formigran) und nicht häufiger als an 10 Tagen pro Monat

  LITERATUR BEIM VERFASSER

                                                        19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
20   VORTRÄGE
                                                       IRMGARD VOGT 1

     Ältere Drogenabhängige in Deutschland
     und anderen europäischen Ländern
     Sachstand und Ausblick 2

     Ausgangslage und Problemdefinition

     Mit Drogenkonsum und Drogenpro-                   Darüber vergehen Jahre; die einst-         u. U. eine Gefängnisstrafe. Zudem
     blemen verbindet man im Allgemei-                 mals jungen Konsumenten von                entfallen bei verbotenen Stoffen
     nen jungendlichen Leichtsinn, also                Drogen werden entsprechend älter.          automatisch Qualitätskontrollen:
     generell Jugendliche und junge                    Wer den Absprung in den kontrol-           Drogenabhängige gehen also bei
     Erwachsene – nicht Menschen, die                  lierten Konsum oder die Abstinenz          jedem Erwerb einer verbotenen
     sich dem Rentenalter nähern oder                  nicht schafft, altert mit der Krankheit.   Substanz ein erhebliches gesundheit-
     schon Rentner bzw. Rentnerinnen                                                              liches Risiko ein, da sie nicht wirklich
     sind. Das liegt u.a. daran, dass Alko-            Die Folgen für die Betroffenen sind        wissen, welchen Stoff in welcher Zu-
     hol- und Drogenexzesse von Jugend-                ganz unterschiedlich und variieren         sammensetzung sie erworben haben.
     lichen und jungen Erwachsenen von                 systematisch mit den Substanzen.           Wirkstoffgehalt und Streckmittel sind
     den Medien oft begierig aufgegriffen              Mit den legalen psychoaktiven Stof-        also unbekannt; entsprechend hoch
     und ausgiebig im Fernsehen, im                    fen Alkohol und Nikotin sind sehr          ist das gesundheitliche Risiko für die
     Internet und in den Zeitungen und                 hohe gesundheitliche Risiken asso-         Konsumenten. Dazu kommt, dass
     Zeitschriften diskutiert werden. Dabei            ziiert. Eher gering sind hingegen die      auch die Hilfsmittel, die sie zum Kon-
     wird oft vergessen, dass auch junge               Risiken bei Zigarettenabhängigen           sum benutzen – zum Beispiel Sprit-
     Menschen, die nicht nur einmal,                   oder auch Alkoholabhängigen ein-           zen zur Injektion in die Vene (im Fol-
     sondern immer wieder psychoaktive                 zuschätzen, mit der Justiz in Konflikt     genden: i.v. Konsum) oder spezielle
     Substanzen exzessiv konsumieren,                  zu gelangen. Im Vergleich dazu sind        Rauchpfeifen – unrein oder infektiös
     ein hohes Risiko haben, von diesen                die Risiken der Konsumenten von            sein können. Konsumenten von
     abhängig zu werden. Alkohol- und                  illegalen Drogen ganz anders verteilt.     verbotenen Drogen lassen sich also
     Drogenabhängigkeit sind psychische                Im Vordergrund stehen Probleme,            auf ein doppeltes Risiko mit ent-
     Störungen, die oft einen chronischen              die mit dem Verbot selbst unmittel-        sprechenden Folgen für ihre Lebens-
     Verlauf haben: Auf anfängliche eher               bar verbunden sind. In Deutschland         führung und ihre Gesundheit ein.
     vereinzelte Konsumexzesse folgen                  gilt die Beschaffung von verbotenen
     Phasen mit hohem täglichen Konsum,                Drogen als krimineller Akt, der mit        Dieser Beitrag konzentriert sich auf
     die von Versuchen der Konsumre-                   Strafe bedroht ist. Beim Kauf bzw.         ältere Konsumenten und Abhängige
     duktion und zeitweiser Abstinenz                  Verkauf besteht die Gefahr, bei der        von Opiaten allein (F11-Diagnosen3)
     unterbrochen sein können. Kommt                   Transaktion der Drogen von der Po-         oder in Kombinationen mit anderen
     es zum Rückfall, folgt erneut eine                lizei aufgegriffen zu werden, was          Stoffen (F19-Diagnosen)4. Ältere Kon-
     (lange) Phase mit hohem täglichen                 wiederum eine Anzeige nach sich            sumenten und Abhängige von Kokain,
     Konsum. Die Abstinenzphasen                       zieht. Geht es um die so genannten         von (illegal gehandelten) psychoakti-
     werden mit der Zeit immer kürzer                  harten Drogen wie z.B. Heroin, Kokain      ven Medikamenten oder von anderen
     und bleiben schließlich ganz aus.                 usw. droht ein Gerichtsverfahren und       Stoffen werden nicht berücksichtigt.

     19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
VORTRÄGE           21

Bislang hat sich die Forschung und                  die systematisch anwachsen. Unklar           daher nicht einfach, die Problem-
die Praxis der Suchthilfe mit der Tat-              ist ebenfalls, welche Probleme mit           gruppe, definiert als Konsumenten
sache, dass der demographische                      dem Altern von Drogenkonsumenten             und Abhängige von Opiaten, mit
Wandel auch Drogenkonsumenten                       verbunden sein können. Darauf soll           einer entsprechenden Krankheits-
erreicht, wenig auseinandergesetzt.                 im Folgenden genauer eingegangen             diagnose (F11 oder F19), die 35
Das liegt auch daran, dass lange Zeit               werden.                                      Jahre und älter sind 5, aus den Daten-
davon ausgegangen worden ist, dass                                                               pools herauszufiltern. Ich beschränke
die Überlebenschancen von i.v. Hero-                                                             mich daher auf Deutschland mit
inkonsumenten eher schlecht sind,                   Epidemiologie:                               Schätzungen der Größenordnung
und dass daher die meisten von ih-                  Schätzungen zur Größen-                      der Problemgruppe.
nen relativ jung sterben. Tatsächlich               ordnung der Problem-
ist das relative Risiko von Heroinkon-              gruppe und Angaben
sumenten, frühzeitig an den Folgen                  zur Lebenssituation
ihres Konsums zu sterben, hoch. Eine                ausgewählter Untergruppen
Reihe von Studien belegt jedoch
auch, dass es immer mehr Menschen                   Im Rahmen eines von der Europäi-
gibt, die in den USA in den 1960er                  schen Union, EAHC, mitfinanzierten
oder in Deutschland in den 1970er                   Projektes haben wir für die Länder
Jahren mit dem i.v. Konsum von Opi-                 Deutschland, Schottland, Österreich
aten angefangen, alle Widrigkeiten                  und Polen untersucht, welche Daten
überlebt haben und entsprechend                     zur Einschätzung der Größenordnung
altern (Boeri et al., 2003; Hser et al.,            des Problems vorliegen und zugäng-
2007a und b; Smyth et al., 2007).                   lich sind, und wie wir die Zielgruppe
Diese Menschen sind heute zwischen                  genauer beschreiben können. Es hat
50 und 70 Jahre alt. Unklar ist bis-                sich herausgestellt, dass die Daten-
lang, ob es sich dabei um Einzelfälle               lage auf der jeweiligen nationalen
oder um Personengruppen handelt,                    Ebene sehr problematisch ist. Es ist

   TABELLE 1: SCHÄTZUNGEN ZUR GRÖßENORDNUNG DER PROBLEMGRUPPE IN DEUTSCHLAND 6 FÜR DAS JAHR
   2006, AUFGESCHLÜSSELT NACH DEN ALTERSGRUPPEN 35 JAHRE UND ÄLTER SOWIE 40 JAHRE UND ÄLTER

   Schätzungen für 2006                       Problemgruppe           Davon in Behandlung*                 Davon in der DHS/
                                              gesamt                                                       DRV-Statistik
   35 Jahre und älter                         ca. 60.000              ca. 35.000                           ca. 12.000
   40 Jahre und älter                         ca. 40.000              ca. 25.000 – 30.000                  ca. 8.000
   Prognosen für 2016**
   35 Jahre und älter                         ca. 120.000             ca. 70.000                           ca. 24.000
   40 Jahre und älter                         ca. 80.000              ca. 50.000 – 60.000                  ca. 16.000

    * Medizinische und/oder psychosoziale Behandlung bzw. Betreuung
    ** In Anlehnung an Gfoerer et al., 2002, 2003

                                                                       19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
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