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Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ 09 | 2009 Lebensabend Sucht? Süchte älterer Menschen und Handlungsmöglichkeiten in der Suchthilfe Berichte zur Suchtkrankenhilfe Niedersachsen
19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ Berichte zur Suchtkrankenhilfe 09 . 2009 VORTRÄGE Lebensabend Sucht? Süchte älterer Menschen und Handlungsmöglichkeiten in der Suchthilfe Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit
Impressum Herausgegeben vom Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit Hinrich-Wilhelm-Kopf-Platz 2 30159 Hannover in Zusammenarbeit mit der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V. Fenskeweg 2 30165 Hannover Redaktion: Sabine Hillmann Melanie Bremer Sabine Brägelmann-Tan Thomas Altgeld Layoutkonzept und Gestaltung: Homann Güner Blum, Visuelle Kommunikation, Hannover Druck: Unidruck, Hannover Fotos: © fotolia.com (Irina Fischer, Alta.C, bilderbox, Konstantin Sutyagin, Danny Meyer, Alexey Klementiev, Pixstore)
INHALT VORWORT SABINE BRÄGELMANN-TAN Lebensabend Sucht? 04 Süchte älterer Menschen und Handlungsmöglichkeiten in der Suchthilfe VORTRÄGE PD DR. HANS-JÜRGEN RUMPF Problematischer Alkoholkonsum im Alter: 06 Häufigkeit und Behandlungsmöglichkeit PROF. DR. GERD GLAESKE Die Tablette ist für mich wie ein Freund 12 Medikamentengebrauch, -missbrauch und -abhängigkeit im Alter PROF. DR. IRMGARD VOGT Ältere Drogenabhängige in Deutschland und anderen 20 europäischen Ländern Sachstand und Ausblick DR. DIETER GEYER Es lohnt sich! 28 Erfahrungen in der Behandlung älterer suchtkranker Menschen HARTWIG VON KUTZSCHENBACH Zwischen allen Stühlen? 42 ELKE KLÖS Über die Notwendigkeit der Zusammenarbeit von Altenhilfe, Suchthilfe und Gerontopsychiatrie VERZEICHNIS DER REFERENTINNEN 49 UND REFERENTEN 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
4 VORWORT SABINE BRÄGELMANN-TAN Landesdrogenbeauftragte Lebensabend Sucht? Süchte älterer Menschen und Handlungsmöglichkeiten in der Suchthilfe Bei Begriffen wie Missbrauch, Sucht dass der Missbrauch und die Ab- zwischen Alt und Jung werden sich und Abhängigkeit denken die meis- hängigkeit von Alkohol, Tabak und damit erheblich verändern. Für das ten Menschen an Bilder von jungen psychoaktiven Medikamenten ein Jahr 2050 – wenn die Baby-Boom- Heroinabhängigen, Showstars, die gravierendes Problem im höheren Generation in die Jahre gekommen kokainabhängig sind und auch – Lebensalter darstellt. ist – wird mit einem Anteil von mehr leider zu Recht – an Jugendliche, als einem Drittel über 65-Jähriger an die massiv Alkohol trinken. Die Deutsche Hauptstelle für Sucht- der Gesamtbevölkerung gerechnet. fragen (DHS) geht aufgrund verschie- Bei obdachlosen Alkoholkranken in dener Studien und Datenerhebungen Positiv ist anzumerken, dass diese der Fußgängerzone wird das „Alt davon aus, dass knapp 16% der ältere Generation wohl gesünder und aussehen“ eher der Erkrankung und Männer und 7% der Frauen ab 60 aktiver sein wird als ihre Elterngene- dem sozialen Elend zugerechnet. Jahren rauchen. Schätzungsweise ration. Anstatt vom Ruhestand wird Die Lebensphase Alter dagegen wird 2–3% der Männer und 0,5–1% der hier in den Medien auch schon mal in der Regel nicht mit Sucht und Frauen ab 60 Jahren haben ein vom Unruhestand gesprochen. Wel- Abhängigkeit in Zusammenhang schwerwiegendes Alkoholproblem che Herausforderungen stellen sich gebracht. Im Gegensatz zu Jugend- und zwischen 5 und 10% weisen angesichts der demographischen lichen fallen ältere Menschen auf- einen problematischen Gebrauch Entwicklung aber für die Sucht- grund ihres Suchtverhaltens in der von psychoaktiven Medikamenten krankenhilfe und die Suchtpräven- Öffentlichkeit meist nicht negativ auf. bzw. von Schmerzmitteln auf. tion? Widerlegt ist beispielsweise die Suchtprobleme, Vereinsamung und Ansicht, abhängige Menschen hören Isolation zeigen sich zu Hause im Die demographische Entwicklung in mit dem Älterwerden einfach auf, privaten Umfeld. Sucht im Alter exis- Deutschland wird dazu führen, dass süchtiges Verhalten zu zeigen. Wir tiert deshalb als Problemlage kaum der Anteil an älteren Menschen in müssen davon ausgehen, dass die in der öffentlichen Wahrnehmung. der Gesamtbevölkerung zunimmt Menschen ihr persönliches lebens- bei einer insgesamt schrumpfenden geschichtliches Konsummuster für Dabei ist das Problem von Substanz- Bevölkerungszahl für das Gebiet Tabak- und Alkoholmissbrauch, aber missbrauch und -abhängigkeit im der Bundesrepublik. 2006 hatte auch für den Missbrauch von Medi- höheren Erwachsenenalter kein Deutschland ca. 82 Millionen Ein- kamenten oder illegalen Drogen, wie Problem von Randgruppen. Aller- wohner. Für 2050 werden in demo- Heroin oder Kokain, mit in das Alter dings verfügen wir kaum über ver- graphischen Hochrechnungen 69 hineintragen. lässliche Daten zum Ausmaß des bis 74 Millionen angegeben. Die Problems. Genaue Erhebungen, Gründe hierfür sind vielfältig und Darüber hinaus steht fest, dass ältere die belegen, wie viele Menschen komplex. Menschen für bestimmte Konsum- im Alter ab 65 Jahren tatsächlich formen besonders empfänglich sind. von Suchtmittelmissbrauch und Abnehmende Geburtenzahlen stehen Sie können schleichend in eine -abhängigkeit betroffen sind, liegen einer zunehmenden Lebenserwar- Abhängigkeit geraten – ohne, dass nicht vor. Einzelstudien zeigen aber, tung gegenüber. Die Relationen ihr Umfeld dieses bemerkt. Es ist 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
VORWORT 5 nämlich schwierig abzuschätzen, in- dahinter die Möglichkeit einer an- kunft vor große Herausforderungen wieweit Medikamente und Alkohol deren Erkrankung – hier einer Sucht stellen. bei älteren Menschen hilfreiche – nicht sieht oder manchmal auch Mittel zur Bewältigung des Alltags nicht sehen will. Gerade auch weil Wir wissen, dass diese neue Genera- und zur Erhaltung der Lebensqualität sich die Suchtentwicklung und die tion älterer Menschen deutlich mehr sind und wann sie beginnen, Alltag Sucht bei älteren Menschen häufig Ressourcen für therapeutische An- und Lebensqualität zu beeinträchti- im privaten Raum abspielt, ist es sätze mitbringt. Die Prognose für gen. Die Grenzen zwischen notwen- besonders schwierig, sie frühzeitig eine Behandlung ist gut, vor allem, diger und sinnvoller Anwendung und zu erkennen. wenn die Hilfeangebote speziell auf zur Abhängigkeit führendem Miss- die älteren Patientinnen und Patien- brauch von Psychopharmaka können Die Bereitschaft von älteren Men- ten zugeschnitten werden. Eine gute im Alter fließend sein. schen mit substanzbedingten Pro- Zusammenarbeit und Vernetzung blemen, Beratung und Behandlung zwischen den Einrichtungen im am- Deshalb ist davon auszugehen, dass in Anspruch zu nehmen, ist allerdings bulanten und stationären Bereich, die Zahl der älteren Abhängigkeits- bisher vergleichsweise eher gering zwischen Akutmedizin und Sucht- kranken in den nächsten Jahren stark ausgeprägt. Der hohe Anteil von hilfe, Altenhilfe und Gerontopsychia- zunehmen wird. Die Probleme wer- suchtgefährdeten und suchtabhängi- trie ist notwendig, um hier den älte- den größer und der Bedarf nach gen älteren Menschen spiegelt sich ren Menschen mit Suchtproblemen einer adäquaten gesundheitlichen bislang nicht in den Behandlungs- gerecht zu werden. und sozialen Versorgung komplexer. zahlen im Suchthilfesystem wider. Außerdem ergeben sich ganz neue Dies kann nur bedeuten, dass diese Die wichtigste Voraussetzung, damit Bedarfe nach effektiven Präventions- Klientel bislang nicht ausreichend Suchttherapie, aber auch Suchtprä- strategien für das mittlere und von den Angeboten der Suchthilfe vention im Alter gelingen kann, ist höhere Lebensalter. erreicht wird. Hier existieren Hand- die Enttabuisierung des Themas lungsbedarfe. Sucht im Alter und die Sensibilisie- Die Folgen von chronischem Sucht- rung für diese wachsende Problema- mittelkonsum sind uns bekannt. Es Zusammenfassend stellt Sucht im tik. Die 19. Niedersächsische Sucht- sind multiple Organschäden und Alter nach wie vor ein unterschätztes konferenz und diese Dokumentation psychische Erkrankungen. Problem dar, dem es so früh wie sollen dazu einen Beitrag leisten. Psychische Folgen der Abhängigkeit möglich in angemessener Weise können Verwirrungszustände, Ver- zu begegnen gilt. Aufgrund der wahrlosung, aber auch Demenz, demographischen Entwicklung Depression, Verlust an persönlicher gewinnt das Thema in unserer Ge- Autonomie und eine erhöhte Suizid- sellschaft zunehmend an Brisanz. rate sein. Dies sind aber Folgen, die Die Folgekosten von Suchterkran- die Gesellschaft häufig dem „Alt kungen bei älteren Menschen wer- werden“ als solches zuschreibt und den das Gesundheitssystem in Zu- 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
6 VORTRÄGE PD DR. HANS-JÜRGEN RUMPF Problematischer Alkoholkonsum im Alter: Häufigkeit und Behandlungsmöglichkeit Einleitung Aufgrund der demographischen Vor- 1. Riskanter Alkoholkonsum be- 3. Die Alkoholabhängigkeit be- hersagen zu den Veränderungen der deutet, dass die durchschnittlichen inhaltet eine Reihe von Kriterien, Altersstruktur der Bevölkerung tritt täglichen Trinkmengen ein erhöhtes die kennzeichnen, dass das Verhal- die Behandlung von substanzbezo- Risiko für das Auftreten von Erkran- ten eine Form angenommen hat, genen Problemen im Alter zuneh- kungen darstellen. Für Menschen ab welche durch eine Einschränkung mend in den Vordergrund. Es wird 65 Jahren gilt dabei, dass im Durch- des kontrollierten Verhaltens ge- vorausgesagt, dass die Zahl der schnitt pro Tag nicht mehr als ein kennzeichnet ist. Dazu gehört nach Menschen über 65 Jahren in den alkoholisches Getränk zu sich ge- ICD-10 ein starker Wunsch / Zwang, kommenden Dekaden deutlich an- nommen werden sollte (National Alkohol zu trinken, eine verminderte steigen wird. Dadurch entsteht eine Institute on Alcohol Abuse and Alco- Kontrolle darüber, wie viel und wie neue Herausforderung für das Be- holism, 2005). Darüber hinaus wird lange konsumiert wird, ein körper- handlungs- und Versorgungssystem, empfohlen, bei einer Gelegenheit liches Entzugssyndrom oder das welches derzeit noch wenig auf diese nicht mehr als drei Getränke zu Vermeiden von Entzugserscheinun- Zielgruppe ausgerichtet ist. Bereits in konsumieren. gen durch erneuten Konsum, die den 1990er Jahren war die Rate der Entwicklung von Toleranz (es wird Hospitalisierungen bei Menschen 2. Der Alkoholmissbrauch nach mehr Alkohol vertragen), die Ver- über 65 aufgrund von Alkoholproble- DSM-IV (Saß, Wittchen & Zaudig, nachlässigung von Aktivitäten oder men ähnlich hoch wie aufgrund von 1996) oder der schädliche Gebrauch Interessen zugunsten des Alkohol- Herzinfarkt (Adams, Yuan, Barboriak nach ICD-10 (Dilling, Mombour, konsums und ein anhaltender & Rimm, 1993). Weiterhin stellt pro- Schmidt & Schulte-Markwort, 1994) Konsum trotz schädlicher Folgen. blematischer Alkoholkonsum ein setzen voraus, dass bereits ein tat- Bei Vorliegen von drei Kriterien erhöhtes Risiko für die Notwendig- sächlicher Schaden durch den Alko- innerhalb der letzten 12 Monate keit von stationärer Langzeitpflege holkonsum eingetreten ist; dieser wird eine Alkoholabhängigkeit dar (Adams & Cox, 1995). kann physischer, psychischer oder diagnostiziert. Zum Teil sind diese Insgesamt müssen drei verschiedene sozialer Natur sein. In der jeweiligen Kriterien bei älteren Personen Formen problematischen Alkohol- Gewichtung unterscheiden sich dabei schwieriger zu beurteilen (Rumpf, konsums unterschieden werden: die beiden Klassifikationssysteme. 2007). 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
VORTRÄGE 7 ABB. 1: PRÄVALENZ RISKANTEN ALKOHOLKONSUMS ABB. 2: PRÄVALENZ PROBLEMATISCHEN ALKOHOL- (MÄNNER >30G, FRAUEN >20G DURCHSCHNITTLICH KONSUMS (SCREENING POSITIV IM AUDIT-C*) PRO TAG) Daten des Robert Koch-Instituts (Hapke et al., im Druck) Daten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Bühringer et al. 2000) A Alkoholkonsum in g Alkoholkonsum in g 40 55 52,9 35 50 33,7 45 30 31 40 38,4 38,6 26,9 37,7 25 24,7 35 33,3 34 22,6 32,6 20 22,4 30 29 16,7 25 15 15,4 24,6 25,3 22,5 11,7 20 18,6 13,8 10 15 8,6 7,7 5 10 5 0 0 30–39 40–49 50–59 >59 Alter 18–29 30–39 40–49 50–59 60–69 ab 70 Alter *AUDIT-C: Alcohol Use Disorders Identification Test – Consumption Questions (AUDIT-C; Bradley et al., 1998) Häufigkeit problematischen Alkoholkonsums im Alter Die epidemiologische Datenbasis für Disorders Identification Test – Con- gende Remissionsrate. In der Epide- das Vorliegen von problematischem sumption Questions (AUDIT-C; miologic Catchment Area Study wie- Alkoholkonsum in Deutschland ist Bradley et al., 1998). Ältere Daten sen die Daten einen stetigen Anstieg unbefriedigend (Rumpf & Weyerer, auf Basis von Grenzwerten riskanten der Remittierten über die Lebensjahre 2006). Insgesamt geht die jeweilige Konsums kommen auf etwas gerin- auf und erreichten bei den über 65- Häufigkeit zurück, bleibt jedoch auf gere Raten (Bühringer et al., 2000). Jährigen 77% bei den Männern und einem Niveau, welches die Versor- Der insgesamt zu verzeichnende 69% bei den Frauen (Robins & Regier, gungsnotwendigkeit deutlich macht Rückgang des allgemeinen sowie des 1991). Ein Teil davon ist auf Behand- (Abb. 1 und Abb. 2). So zeigen Daten problematischen Alkoholkonsums im lung zurückzuführen, der größere einer bundesweiten Befragung des Alter ist auf Veränderung des Stoff- Anteil davon erfolgt allerdings ohne Robert Koch-Instituts auf, dass bei wechsels, eine Verschlechterung der formelle Hilfe (vgl. Rumpf, Bischof, Männern ab 70 Jahren bei 34% der Gesundheit, die Entstehung chroni- Hapke, Meyer & John, 2009). In einer Hinweis auf einen problematischen scher Erkrankungen und die Zunahme Stichprobe von 51- bis 65-Jährigen Alkoholkonsum vorlag (Hapke, eines gesundheitsorientierten Lebens- waren bei Nachuntersuchungen nach Hanisch, Ohlmeier, Rumpf & Scheidt- stils sowie auf alkoholbezogene Mor- 4 und 10 Jahren insgesamt 73% ohne Nave, im Druck). Die Einschätzung talität zurückzuführen. Ein weiterer formelle Hilfen remittiert (Schutte, erfolgte mit Hilfe des Alcohol Use Faktor ist jedoch ebenso die anstei- Moos & Brennan, 2006). 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
8 VORTRÄGE Wirksamkeit von Interventionen Die folgenden Ausführungen basieren auf einer aktuellen Übersichtsarbeit (Rumpf, John, Hapke & Bischof, im Druck). Hinsichtlich der pharmako- therapeutischen Behandlung liegen nur wenige Daten für ältere Men- schen mit problematischem Alkohol- konsum vor. Dabei wird Antabus (Disulfiram) wegen der Unverträg- lichkeitsreaktionen als nicht empfeh- lenswert angesehen (s. Lieb, Rosien, Bonnet & Scherbaum, 2008). Zu dem Anticraving-Medikament Campral (Acamprosat) liegen keine Studien vor. Die zweite insgesamt gut unter- suchte Substanz in diesem Bereich, Naltrexon, wurde in zwei Studien bei älteren Personen geprüft. Es konnte bei den älteren Patientinnen und Patienten eine bessere Compliance gefunden werden, insgesamt zeigte sich die gleiche Wirksamkeit ver- glichen zu Jüngeren (Oslin, Liberto, O’Brien, Krois & Norbeck, 1997; Oslin, Pettinati & Volpicelli, 2002). In Bezug auf suchtspezifisch-psycho- Outcome-Raten in den älteren Stich- Drogenproblematik hatten und ein therapeutische Behandlung findet proben besser als bei jüngeren geringeres Ausmaß an Problemen sich hinsichtlich des kurzfristigen (Lemke & Moos, 2003; Oslin et al., mit dem Gesetz oder Problemen im Therapieerfolgs bei älteren Patien- 2002; Weisner, Ray, Mertens, Satre & familiären Bereich zeigten (Satre, tinnen und Patienten eine mindes- Moore, 2003). Dabei unterscheiden Mertens, Arean & Weisner, 2004). tens vergleichbar gute Erfolgsquote sich jüngere und ältere Patientinnen Auch konnte bei ihnen eine längere (Rice, Longabaugh, Beattie & Noel, und Patienten in der Form, dass die Behandlungsdauer verzeichnet wer- 1993; Satre, Mertens, Arean & Weis- älteren häufiger verheiratet waren, den. Als Prädiktor für die Abstinenz ner, 2003). Bei längerfristigen Follow- eine schlechtere Gesundheit auf- nach 5 Jahren hatte das Alter keine up-Zeiträumen erwiesen sich die wiesen, seltener eine komorbide eigenständige signifikante Bedeu- 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
VORTRÄGE 9 tung, hingegen waren die Länge des unbehandelten Kontrollgruppe eine Aufenthalts in der Behandlungsein- um 34% höhere Abnahme des Kon- richtung und das Fehlen von Freun- sums und eine um 75% höhere den oder Familienmitgliedern, welche Reduktion der Anzahl von Episoden zum Trinken oder Drogenkonsum er- mit Rauschtrinken (Fleming et al., mutigten, bedeutsam (Satre et al., 1999). 2004). Hinsichtlich der altersspezifi- schen Anpassung von Therapiepro- grammen sind wenige Daten vor- handen. Es zeigen sich dabei jedoch Fazit bessere Haltequoten (Liberto, Oslin & Ruskin, 1992; Schonfeld & Dupree, Insgesamt nehmen der allgemeine 1995) und es besteht auch ein Hin- wie auch der riskante Alkoholkon- weis auf bessere Abstinenzraten sum sowie Missbrauch und Abhän- (Kashner, Rodell, Ogden, Guggen- gigkeit im Alter ab, dennoch wird die heim & Karson, 1992). Zahl der Menschen mit problemati- schem Alkoholkonsum aufgrund der Da insgesamt nur wenige Menschen Bevölkerungsentwicklung deutlich suchtspezifische Hilfen aufsuchen zunehmen. Therapeutische Maß- (Dawson, Grant, Stinson & Chou, nahmen sind insgesamt wirksam, 2006; Rumpf, Meyer, Hapke, Bischof hinsichtlich des längerfristigen Er- & John, 2000) und dieses in mindes- folges zeigen sich sogar bessere tens gleicher Weise für ältere Perso- Raten bei älteren Personen. Eine nen anzunehmen ist, erscheinen Anpassung der Therapieprogramme Frühinterventionsmaßnahmen – an die Bedürfnisse und Lebenssitua- insbesondere in Einrichtungen der tionen der älteren Menschen er- medizinischen Versorgung – not- scheint sinnvoll. Insbesondere stellt wendig, um hier proaktiv Kurzinter- jedoch die bessere Versorgung der ventionen anzubieten. Insgesamt älteren Menschen mit adäquaten konnten sich solche Maßnahmen Hilfen oder Interventionen eine be- in bislang vier Studien als wirksam sondere Herausforderung dar. Hier erweisen (Fink, Elliott, Tsai & Beck, erscheinen Maßnahmen der Früh- 2005; Fleming, Manwell, Barry, entdeckung und Kurzintervention Adams & Stauffacher, 1999; Gordon in der medizinischen Versorgung et al., 2003; Oslin et al., 2006). besonders aussichtsreich und not- So zeigte sich z.B. im Vergleich zur wendig. 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
10 VORTRÄGE Literatur ADAMS, W. L. & COX, N. S. (1995). Epidemiology FLEMING, M. F., MANWELL, L. B., BARRY, K. L., OSLIN, D., LIBERTO, J. G., O’BRIEN, J., KROIS, S. of problem drinking among elderly people. ADAMS, W. & STAUFFACHER, E. A. (1999). Brief & NORBECK, J. (1997). Naltrexone as an adjunctive The International Journal of the Addictions, 30, physician advice for alcohol problems in older treatment for older patients with alcohol dependence. 1693–1716. adults: a randomized community-based trial. Am J Geriatr Psychiatry, 5, 324–332. ADAMS, W. L., YUAN, Z., BARBORIAK, J. J. & RIMM, J Fam Pract, 48, 378–384. OSLIN, D. W., GRANTHAM, S., COAKLEY, E., MAX - A. A. (1993). Alcohol-related hospitalizations of GORDON, A. J., CONIGLIARO, J., MAISTO, S. A., WELL, J., MILES, K., WARE, J., BLOW, F. C., KRAHN, elderly people. Journal of the American Medical MCNEIL, M., KRAEMER, K. L. & KELLEY, M. E. (2003). D. D., BARTELS, S. J., ZUBRITSKY, C., OLSEN, E., Association, 270, 1222–1225. Comparison of consumption effects of brief inter - KIRCHNER, J. E. & LEVKOFF, S. (2006). PRISM-E: BRADLEY, K. A., MCDONELL, M. B., BUSH, K., ventions for hazardous drinking elderly. Subst Use comparison of integrated care and enhanced KIVLAHAN, D. R., DIEHR, P. & FIHN, S. D. (1998). Misuse, 38, 1017–1035. specialty referral in managing at-risk alcohol use. The AUDIT alcohol consumption questions: HAPKE, U., HANISCH, C., OHLMEIER, C., RUMPF, Psychiatr Serv, 57, 954–958. reliability, validity, and responsiveness to change H.-J. & SCHEIDT-NAVE, C. (im Druck). Ergebnisse OSLIN, D. W., PETTINATI, H. & VOLPICELLI, J. R. in older male primary care patients. Alcoholism: zur Epidemiologie des Alkoholkonsums bei in (2002). Alcoholism treatment adherence: older age Clinical and Experimental Research, 22, 1842–1849. Privathaushalten lebenden älteren Menschen. Sucht. predicts better adherence and drinking outcomes. BÜHRINGER, G., AUGUSTIN, R., BERGMANN, E., KASHNER, T. M., RODELL, D. E., OGDEN, S. R., Am J Geriatr Psychiatry, 10, 740–747. BLOOMFIELD, K., FUNK, W., JUNGE, B., KRAUS, L., GUGGENHEIM, F. G. & KARSON, C. N. (1992). RICE, C., LONGABAUGH, R., BEATTIE, M. & NOEL, N. MERFERT-DIETE, C., RUMPF, H.-J., SIMON, R. & Outcomes and costs of two VA inpatient treatment (1993). Age group differences in response to treat- TÖPPICH, J. (2000). Alkoholkonsum und alkohol- programs for older alcoholic patients. Hosp Com- ment for problematic alcohol use. Addiction, 88, bezogene Störungen in Deutschland. Baden Baden: munity Psychiatry, 43, 985–989. 1369–1375. Nomos Verlagsgesellschaft. LEMKE, S. & MOOS, R. H. (2003). Outcomes at 1 and ROBINS, L. N. & REGIER, D. A. (Eds.). (1991). DAWSON, D. A., GRANT, B. F., STINSON, F. S. & 5 years for older patients with alcohol use disorders. Psychiatric disorders in America. The Epidemiologic CHOU, P. S. (2006). Estimating the effect of help- Journal of Substance Abuse Treatment, 24, 43–50. Catchment Area Study. New York: The Free Press. seeking on achieving recovery from alcohol LIBERTO, J. G., OSLIN, D. W. & RUSKIN, P. E. (1992). RUMPF, H.-J., MEYER, C., HAPKE, U., BISCHOF, G. & dependence. Addiction, 101, 824–834. Alcoholism in older persons: a review of the litera- JOHN, U. (2000). Inanspruchnahme suchtspezifischer DILLING, H., MOMBOUR, W., SCHMIDT, M. H. & ture. Hosp Community Psychiatry, 43, 975–984. Hilfen von Alkoholabhängigen und -mißbrauchern: SCHULTE-MARKWORT, E. (Eds.). (1994). Internatio- LIEB, B., ROSIEN, M., BONNET, U. & SCHERBAUM, N. Ergebnisse der TACOS Bevölkerungsstudie. Sucht, 46, nale Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10, (2008). Alkoholbezogene Störungen im Alter – 9–17. Kapitel V (F); Forschungskriterien. Bern: Huber. Aktueller Stand zu Diagnostik und Therapie. RUMPF, H. J. (2007). Diagnostik von alkoholbezo- FINK, A., ELLIOTT, M. N., TSAI, M. & BECK, J. C. Fortschritte der Neurologie Psychiatrie, 76, 75–85. genen Störungen im Alter. Zeitschrift für Geronto- (2005). An evaluation of an intervention to assist NATIONAL INSTITUTE ON ALCOHOL ABUSE AND psychologie und -psychiatrie, 19, 201–206. primary care physicians in screening and educating ALCOHOLISM. (2005). Helping patients who drink RUMPF, H. J., BISCHOF, G., HAPKE, U., MEYER, C. older patients who use alcohol. J Am Geriatr Soc, 53, too much. A Clinician’s Guide: National Institute on & JOHN, U. (2009). Remission ohne formelle Hilfe 1937–1943. Alcohol Abuse and Alcoholism. bei Alkoholabhängigkeit: Der Stand der Forschung. Sucht, 55, 75–85. 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
VORTRÄGE 11 RUMPF, H. J., JOHN, U., HAPKE, U. & BISCHOF, G. (im Druck). Möglichkeiten der Intervention bei Alkoholproblemen im höheren Lebensalter. Sucht. RUMPF, H. J. & WEYERER, S. (2006). Suchterkran- kungen im Alter. In Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (Ed.), Jahrbuch Sucht (pp. 189–199). Geesthacht: Neuland. SAß, H., WITTCHEN, H.-U. & ZAUDIG, M. (1996). Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen DSM-IV. Göttingen: Hogrefe. SATRE, D. D., MERTENS, J., AREAN, P. A. & WEISNER, C. (2003). Contrasting outcomes of older versus middle-aged and younger adult chemical dependency patients in a managed care program. J Stud Alcohol, 64, 520–530. SATRE, D. D., MERTENS, J. R., AREAN, P. A. & WEISNER, C. (2004). Five-year alcohol and drug treatment outcomes of older adults versus middle- aged and younger adults in a managed care program. Addiction, 99, 1286–1297. SCHONFELD, L. & DUPREE, L. W. (1995). Treatment approaches for older problem drinkers. Int J Addict, 30, 1819–1842. SCHUTTE, K. K., MOOS, R. H. & BRENNAN, P. L. (2006). Predictors of untreated remission from late- life drinking problems. J Stud Alcohol, 67, 354–362. WEISNER, C., RAY, G. T., MERTENS, J. R., SATRE, D. D. & MOORE, C. (2003). Short-term alcohol and drug treatment outcomes predict long-term outcome. Drug Alcohol Depend, 71, 281–294. 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
12 VORTRÄGE PROF. DR. GERD GLAESKE Universität Bremen Die Tablette ist für mich wie ein Freund Medikamentengebrauch, -missbrauch und -abhängigkeit im Alter Jeden Tag das gleiche Ritual, seit starken Schmerz- und Migränemitteln, einmal gesteigert werden muss 14 Jahren: Eine 63-jährige Lehrerin von Hustenmitteln und Psychostimu- („low-dose-dependency“), sind keine kommt mittags nach Hause, bereitet lanzien. Die Zahlen sind seit vielen Absetz- oder Entzugssymptome zu sich einen Tee und nimmt dazu ein Jahren relativ konstant. Es sind vor bemerken. Wenn aber diese Mittel Beruhigungsmittel vom Benzodiaze- allem die verschreibungspflichtigen nach einer solchen Zeit drei oder vier pin-Typ ein – zur Entspannung, wie Mittel, die zu einem Abhängigkeits- Tage nicht eingenommen werden, sie sagt, zum Abschalten. Die Frage, problem führen können. 4–5% aller kommt es zu typischen Symptomen ob sie abhängig von diesem Mittel ärztlich verordneten Präparate dieser für einen Entzug, z.B. zu Unruhe, ist, würde sie entrüstet verneinen. Gruppe (rd. 35 von 690 Mio. im Schweißausbrüchen, Schlaflosigkeit Zum einen hat sie nie die Dosis Jahre 2007, zusätzlich werden etwa oder Aggressionen. Die fortgesetzte steigern müssen, zum anderen ver- 140 Mio. Packungen rezeptfreier Verschreibung und Einnahme be- schreibt ihr eine Ärztin das rezept- Arzneimittel verordnet) haben ein deutet damit auch ein „Entzugsver- pflichtige Mittel seit vielen Jahren eigenes Abhängigkeitspotenzial. Die meidungsverhalten“ – eine thera- und der Apotheker händigt ihr die Mittel sind – für sich betrachtet – peutische Wirkung ist nach einer Packung kommentarlos aus – diese nach wie vor wichtig in der Behand- solchen Einnahmezeit nicht mehr zu Expertinnen und Experten müssten lung: So wirken Benzodiazepine, die erwarten. Zu den problematischen die „Nebenwirkung“ Abhängigkeit seit 1960 auf dem Markt angeboten Arzneimitteln gehören auch die doch kennen und sie darauf hin- werden – Librium (1960) und Valium Folgeprodukte der Benzodiazepin- weisen. Nein, abhängig fühlt sie sich (1963) waren die ersten Produkte – Schlafmittel, die sog. Z-Drugs, vor überhaupt nicht. Sie fühlt sich wohl gut bei Angst- und Panikattacken, bei allem Zopiclon oder Zolpidem. Zu- mit diesem Mittel, das ihr hilft, den Schlafstörungen, bei Krämpfen oder nächst wurde davon ausgegangen, Alltag zu bewältigen. zur Muskelentspannung vor Opera- mit diesen Mitteln risikoärmere tionen. Der Missbrauch in der Ver- Varianten verschreiben zu können. So wie dieser Lehrerin geht es noch schreibung beginnt aber dann, wenn Diese Hoffnung hat sich jedoch immer vielen Menschen in Deutsch- diese Mittel über zu lange Zeiträume, nicht unbedingt bewahrheitet. land: Schätzungen zum Grund der z.B. länger als drei Monate aufein- Konsummuster bei Arzneimitteln mit ander folgend verschrieben und Es sind vor allem ältere Menschen Abhängigkeitspotenzial weisen da- geschluckt werden – in diesen Fällen und darunter als Hauptanteil Frauen, rauf hin, dass 1,5 Mio., viele Fach- ist eine Abhängigkeitsentwicklung die unter der Arzneimittelabhängig- leute meinen sogar 1,9 Mio. Men- kaum noch zu vermeiden. Solange keit leiden, von der sie allein nur in schen, bei uns abhängig sind von diese Mittel eingenommen werden, den seltensten Fällen loskommen. Arzneimitteln, 2/3 von Schlaf- und wobei bei den meisten Menschen Ambulante Entzugsbehandlungen Beruhigungsmitteln, die übrigen von die ursprüngliche Dosierung nicht reichen meist nicht aus, eine statio- 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
VORTRÄGE 13 näre Therapie ist üblicherweise not- ren und helfen dabei, auch verände- nen auch vor allem gefragt, wenn es wendig. Und wer es ambulant ver- rungsbedürftige Situationen in Fami- um die Prävention der „Sucht auf sucht, braucht Geduld: Die Mittel lie und Gesellschaft aufrechtzuerhal- Rezept und aus der Apotheke“ geht. vom Benzodiazepin-Typ dürfen nie ten – schlucken und schweigen! Denn es sind nicht nur verschrei- abrupt abgesetzt werden, weil dann bungspflichtige Mittel, die zur Ab- Entzugserscheinungen nicht zu ver- Frauen kompensieren ihre Probleme hängigkeit führen können. Es sind meiden sind. Sie müssen „ausgeschli- anders als Männer. Sie sind in sich auch Mittel aus der Gruppe der 630 chen“ werden: Dabei wird die bisher gewandt und leise, introvertiert. Män- Mio. verkauften Packungen der eingenommene Dosierung langsam ner richten ihre Kompensation eher Selbstmedikation, die nicht unpro- verringert – meist dauert es die An- nach außen, werden aggressiv und blematisch sind: Abschwellende zahl an Monaten gemessen an der laut, extrovertiert. Nasentropfen können ebenso auf Einnahmezeit in Jahren, um ganz von Dauer (nach längerer Anwendung diesen Beruhigungs- und Schlafmit- Die Arzneimittelabhängigkeit ist da- als 5–7 Tage) zur Gewöhnung und teln loszukommen. her die typisch weibliche Sucht – Missbrauch führen wie alkoholhaltige unauffällig, nach innen gekehrt, leise Stärkungs- und Grippemittel oder Dass Frauen diese Mittel besonders und dennoch ebenso problematisch auch koffeinhaltige Schmerzmittel- häufig verordnet bekommen, hängt wie die Abhängigkeit von Alkohol, kombinationen wie Thomapyrin, die vor allem auch mit ihrer sozialen die vergleichsweise typisch bei Män- mit dem Hinweis auf eine 15 Minu- Lage in unserer Gesellschaft zusam- nern vorkommt – in nahezu der ten schnellere Wirkung beworben men. Sie sind – so zeigt es auch die gleichen Häufigkeit! werden: Statt 80 Minuten werden Gender-Forschung – für Harmonie 50% des Schmerzes bereits nach 65 und Funktionsfähigkeit der Ehe und Und dennoch gibt es erhebliche Minuten reduziert. Als ob es darauf Familie verantwortlich. Insbesondere Unterschiede: Arzneimittel werden in der Selbstmedikation ankommt, im höheren Alter, wenn die Kinder von Ärztinnen und Ärzten verschrie- wenn gleichzeitig das Risiko einer aus dem Haus sind und die Arbeit ben sowie von Apothekerinnen und missbräuchlich häufigen Anwendung für den Mann im Lebensmittelpunkt Apothekern verkauft. Es steht also solcher Mittel wegen des leicht steht, fühlen sie sich entwertet nicht unbedingt die eigene Entschei- stimulierenden Koffeins möglich ist: („empty-nest-syndrome“). Sie leiden dung für einen Missbrauch dieser Eine Risiko-Nutzen-Bewertung wird unter Unzufriedenheit und Ängsten, Mittel im Vordergrund, sondern ein deshalb negativ ausfallen! unter Schlaflosigkeit und depressiven Missbrauch und eine Abhängigkeits- Verstimmungen. Arzneimittel scheinen entwicklung, die von Expertinnen Nicht-rezeptpflichtige Schmerzmittel sich in solchen Fällen als schnelle und Experten begleitet wird. Daher gehören aber zu den meist bewor- Lösung anzubieten. Diese stabilisie- ist die Verantwortung dieser Perso- benen Mitteln in Fernsehen, Radio 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
14 VORTRÄGE und Zeitschriften – rund 200 Mio. Publikation von Leitfäden reicht da „synthetische Schlaumacher“ („Viagra Euro lassen sich die Firmen diese nicht aus – die Verschreibungs- und fürs Gehirn“) beworben. Dazu gehö- öffentliche Darstellung kosten, 500 Beratungspraxis muss vielmehr kon- ren meist anregende Mittel, die üb- Mio. für die gesamte Selbstmedika- tinuierlich überprüft werden, zum licherweise gegen Depressionen, tion. Die Werbung für Arzneimittel einen durch die Auswertung der Re- gegen die Alzheimer-Demenz oder mit einem möglichen Missbrauchs- zepte, zum anderen durch Testkäufe gegen ADHS eingesetzt werden. Sol- potenzial sollte daher grundsätzlich in Apotheken (pseudo-customer). che Hinweise verführen. Sie geben verboten werden – übrigens auch in vor, die Leistungsfähigkeit und Kon- den Schaufenstern der Apotheken. Die Auswertung der Rezepte stößt zentration fördern und Prüfungen aber mehr und mehr auf Probleme: besser bestehen zu können. Diese Die Bundesärztekammer hat 2007 Der Anteil der privat verordneten Mittel sind nie für Gesunde oder für einen Leitfaden für die ärztliche Mittel steigt ständig an! Während im das „Alltagsdoping“ zugelassen wor- Praxis zum Umgang mit abhängig- Arzneiverordnungs-Report Jahr für den. Nur: Das Internet bietet all diese keitsfördernden Arzneimitteln publi- Jahr darauf hingewiesen wird, dass Mittel an und sie werden bei dubi- ziert, die Apothekerinnen und Apo- z.B. bei den Schlafmitteln das Pro- osen Händlern bestellt, ohne richtige theker haben im Jahre 2008 für ihren blem der Verordnung abhängigkeits- Information und oft gefälscht! Bereich nachgezogen, die Drogen- induzierender Arzneimittel deutlich beauftragte der Bundesregierung, zurückgeht (angeblich aufgrund Die wirksamste Prävention ist letzt- Sabine Bätzing, hat dieses Thema wirksamer Informationen), zeigt der lich die Vermeidung der „Neben- zum Schwerpunkt 2008 gemacht. Packungsverbrauch in Deutschland wirkung“ Abhängigkeit durch die Dies ist nachdrücklich zu unter- insgesamt kaum Veränderungen: richtige Anwendung von und Em- stützen. Es muss aber auch möglich Die Menge der Packungen, die von pfehlung für Arzneimittel. Fachleute sein, Verstöße gegen eine gute Ver- der Industrie verkauft und über die wie Ärztinnen und Ärzte sowie schreibungs- oder gegen eine gute Großhandlungen in die Apotheken Apothekerinnen und Apotheker Beratungspraxis zu ahnden. Einzelne gelangen, ist seit Jahren relativ haben daher eine besondere Ver- Prozesse, die abhängig gemachte konstant geblieben. Die Ärztinnen antwortung, um die Patientinnen Personen gegen ihre Ärztinnen und und Ärzte verordnen solche Mittel und Patienten vor Missbrauch und Ärzte anstrengen und tatsächlich offensichtlich schlicht und ergreifend Abhängigkeit zu schützen. Das auch „Schmerzensgeld wegen ihrer auf Privatrezepten. Die Mittel werden Angebot solcher Arzneimittel durch erlittenen seelischen Leiden“ ein- dann von den Patientinnen und pharmazeutische Hersteller erzwingt klagen konnten, sind da nur ein Patienten selbst bezahlt und die schließlich noch keine Verordnung Tropfen auf dem heißen Stein. Die Transparenz über die dauerhafte Ver- und keinen Verkauf. Vor allem bei für die „Ethik“ verantwortlichen ordnung von Arzneimitteln mit Sucht- der im Zusammenhang mit der Ab- Ärzte- und Apothekenkammern sind potenzial wird damit verschleiert. hängigkeitsentwicklung noch immer hier ebenso in der Pflicht wie die für wichtigsten Gruppe, den Benzodia- die Ökonomie zuständigen Kassen- Ein letzter Aspekt, der den Missbrauch zepin-haltigen Mitteln und den Z- ärztlichen Vereinigungen und Apo- mit Arzneimitteln fördert: Derzeit Drugs, sollte die 4 K-Regel immer thekerverbände. Eine einmalige werden auch in vielen Zeitschriften beachtet werden: 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
VORTRÄGE 15 • Klare Indikation (das Medikament Dieser Hinweis sollte in allen Arzt- bestimmter Arzneimittel besteht, nur einnehmen, wenn eine medi- praxen und Apotheken aushängen immer vor Augen haben. zinische Notwendigkeit besteht) und in den Beipackzettel aufgenom- • Kleinste notwendige Dosis men werden, damit sowohl Fach- • Kurze Anwendung personal als auch Patientinnen und (maximal 14 Tage) Patienten die Gefährdung, die • Kein abruptes Absetzen durch das Abhängigkeitspotenzial Anhang TABELLE 1 DIE MEIST VERKAUFTEN SCHLAF- UND BERUHIGUNGSMITTEL 2007 Rang Name Wirkstoff(e) Packg. in (Mio.) Missbrauchs-/ Rezeptpflicht Abhängigkeitspotenzial 1 Hoggar N Doxylamin 2,35 Eher nicht*) nein 2 Vivinox SLEEP Diphenhydramin 1,31 Eher nicht*) nein 3 Zopiclon ratio Zopiclon 0.99 ++ (bis +++) ja 4 Zolpidem-ratio Zolpidem 0,69 ++ (bis +++) ja 5 Stilnox Zolpidem 0,67 ++ (bis +++) ja 6 Betadorm D Diphenhydramin 0,66 Eher nicht*) nein 7 Schlafsterne ret. Doxylamin 0,59 Eher nicht*) nein 8 Noctamid Lormetazepam 0,55 +++ ja 9 Zolpidem Stada Zolpidem 0,55 ++ (bis +++) ja 10 Zopiclon AL Zopiclon 0,54 ++ (bis +++) nein 11 Lendormin Brotizolam 0,52 +++ ja 12 Radedorm Nitrazepam 0,51 +++ ja 13 Planum Temazepam 0,47 +++ ja 14 Zopiclon ct Zopiclon 0,40 ++ (bis +++) ja 15 Zopiclon AL Zopiclon 0,40 ++ (bis +++) nein 16 ZOP Zopiclon 0,38 ++ (bis +++) nein 17 Zopiclon Stada Zopiclon 0,38 ++ (bis +++) ja 18 Rohypnol Flunitrazepam 0,34 +++ ja 19 Flunitrazepam ratio Flunitrazepam 0,34 +++ ja 20 Remestan Temazepam 0,34 +++ nein *) Diese „eher-nicht-Einschätzung“ bezieht sich auf den „bestimmungsgemäßen Gebrauch“. Bei missbräuchlich hoch dosiertem Dauerkonsum von Diphenhydramin und Doxylamin (z.B. >200 mg) kann es aber zu Toleranzentwicklung und Entzugssyndromen kommen. 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
16 VORTRÄGE 1. Schlaf- und Beruhigungsmittel verordnet (78 Tsd. Packungen Panikattacken, gegen Fieberkrämpfe (0,1%)). Häufig verkaufte pflanzliche (v.a. bei Kindern) und zur Muskel- Im Jahre 2007 wurden insgesamt Mittel wie z.B. „Baldriparan stark für entspannung (v.a. vor Operationen) 29,5 Mio. Packungen Schlaf- und die Nacht“, Mittel zur Beruhigung eingesetzt werden, dominieren im Beruhigungsmittel verkauft (–2% (zusammen 2,1 Mio. Packungen) Gegensatz zu den Schlaf- und Be- gegenüber 2005), darunter vor oder Mittel wie „Kytta Sedativum“ ruhigungsmitteln noch immer die allem Mittel, die Benzodiazepin- und (480 Tsd. Packungen) sind in der klassischen Benzodiazepine, die Benzodiazepin-ähnliche Wirkstoffe Übersicht nicht aufgeführt, da sie sich allesamt von den im Jahre 1960 (19,9 Mio. oder 57% aller Packun- kein substanzspezifisches Miss- bzw. 1963 erstangebotenen Mitteln gen) oder pflanzliche Extrakte wie brauchspotenzial mit sich bringen. Librium und Valium der Firma z.B. Baldrian-, Hopfen- oder Passions- Allerdings ist eine schlafanstoßende Hoffmann LaRoche herleiten. Im blumenextrakte enthalten (9,6 Mio. Wirkung nur bedingt von solchen Jahre 2007 wurden knapp 11,2 Mio. Packungen oder 43% aller Packun- Mitteln zu erwarten. Packungen verkauft, rund 2% gen). Der Industrieumsatz beträgt weniger als noch im Jahre 2006. etwa 126 Mio. Euro, welcher einem 2. Tranquilizer Der Umsatz für die Hersteller be- Apothekenumsatz von rund 380 Mio. trug etwa 34 Mio. Euro, nach Apo- Euro entspricht. Mittel mit Barbitur- Bei den als Tranquilizer verordneten thekenverkaufspreisen etwa 300 Mio. säurederivaten werden kaum noch Arzneimitteln, die gegen Angst- und Euro. TABELLE 2: DIE MEIST VERKAUFTEN TRANQUILIZER 2007 (ALLE REZEPTPFLICHTIG) Rang Name Wirkstoff(e) Packg. in (Mio.) Missbrauchs-/Abhängigkeitspotenzial 1 Diazepam-ratiopharm Diazepam 1,51 +++ 2 Tavor Lorazepam 1,19 +++ 3 Bromazanil-Hexal Bromazepam 0,84 +++ 4 Oxazepam-ratiopharm Oxzepam 0,76 +++ 5 Adumbran Oxazepam 0,71 +++ 6 Lorazepam-neurax Lorazepam 0,49 +++ 7 Normoc Bromazepam 0,32 +++ 8 Lexotanil 6 Bromazepam 0,30 +++ 9 Lorazepam ratio Lorazepam 0,30 +++ 10 Faustan Diazepam 0,28 +++ 11 Oxazepam AL Oxazepam 0,25 +++ 12 Tranxilium Dikaliumclorazepat 0,25 +++ 13 Tafil Alprazolam 0,22 +++ 14 Durazanil Bromazepam 0,21 +++ 15 Lorazepam Dura Lorazepam 0,18 +++ 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
VORTRÄGE 17 3. Andere Psychopharmaka Insgesamt sind die im weitesten Sinne „aktivierenden“ oder atypi- schen Psychopharmaka deutlich „im Aufwind“. Sie legen bei den Packungsverkäufen deutlich zu. Dies mag auch daran liegen, dass be- stimmte Antidepressiva (v.a. SSRIs) oder auch Psychostimulanzien keineswegs nur von Patientinnen und Patienten eingenommen wer- den, sondern auch Gesunde meinen, sich mit diesen Mitteln eine bessere Konzentrations- und Denkfähigkeit verschaffen zu können. Zu den Psychostimulanzien gehören vor allem die Wirkstoffe (Schulz, 2008): z.B. in der Juni-Ausgabe der Studen- 4. Ausgewählte Beispiele aus der • Methylphenidat in Ritalin, tenzeitschrift „Unicum“. Dies ist ein Selbstmedikation Concerta oder Medikinet Aufruf zum Missbrauch – für die (Betäubungsmittel v.a. zur Therapie Anwendung bei Gesunden wurden Im Jahre 2007 wurden insgesamt hyperkinetischer Störungen diese Mittel weder geprüft noch 149,3 Mio. Packungen Schmerzmittel („Zappelphilipp“)), zugelassen. Dubiose Anbieter im verkauft, davon 122 Mio. ohne Re- Internet verschicken solche Produkte zept (rund 80%). Die Schmerz- • Modafinil in Vigil allerdings auch ohne Rezept – ein behandlung in Deutschland ist damit (verschreibungspflichtiges Mittel gefährlicher Pillenklick. vor allem eine Behandlung im bei Narkolepsie oder Schicht- Rahmen der Selbstmedikation – arbeitersyndrom), Besondere Aufmerksamkeit muss allein 80 Mio. Packungen entfallen auch den neuen Antidepressiva aus auf die in der Tabelle 1 genannten • Amfepramon, Cathin und Phenyl- der Gruppe der Serotoninwiederauf- Mittel. Nur wenige dieser nicht- propanolamin (alle verschrei- nahmehemmer (SSRI) geschenkt rezeptpflichtigen Mittel werden auch bungspflichtig als Appetitzügler) werden. Diese Mittel (viel verkauft verordnet, z.B. Mittel mit Parazetamol und werden z.B. Mittel mit den Wirk- zur Fiebersenkung bei Kindern. Die stoffen Citalopram, Fluoxetin, Paro- Rangfolge der Mittel ist seit vielen • Ephedrin (in Zubereitungen xetin oder Sertralin) führen bei Jahren ähnlich, mit Ausnahme von >10mg zum Schlucken längerer Anwendung offensichtlich Thomapyrin, einer Schmerzmittel- verschreibungspflichtig). wegen einer möglicherweise ent- kombination aus Azetylsalizylsäure, standenen psychischen Abhängigkeit Parazetamol und Koffein (Stiftung Die Mittel werden offen als zu Problemen beim Absetzen – Warentest: „Wenig geeignet, nicht „synthetische Schlaumacher“ daher ist das „Ausschleichen“ der sinnvolle Kombination“): Im letzten beschrieben, als „Viagra fürs Gehirn“, Mittel dringend anzuraten. Jahr stand dieses Mittel noch auf 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
18 VORTRÄGE Platz drei, in diesem Jahr ist es auf Platz sechs abgerutscht, die verkauf- ten Packungsmengen sind deutlich gesunken – ein erwünschter Effekt. Dennoch: Die Werbemaßnahmen der Herstellerfirma Boehringer-Ingelheim sind nicht zu übersehen. Die Firma will von dieser missbrauchsbelaste- ten Kombination mit dem psychisch anregenden Coffein nicht lassen. Schwer verständlich ist in diesem Zusammenhang auch eine Empfeh- lung der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft, die zuletzt Anfang September 2003 zugunsten dieses unnötigen Kombinations- schmerzmittels publiziert wurde. Ein sinnvoller Wirkstoff reicht in der Selbstmedikation für ein Schmerz- mittel (z.B. wie in Parazetamol-ratio- pharm, Aspirin, ASS-ratiopharm kopfschmerz kommen (Dauer bis oder Codein, enthalten. Es gibt kei- oder Dolormin). zum Auftreten bei frei verkäuflichen nen wissenschaftlichen Nachweis Schmerzmitteln im Mittel 4,7 Jahre, dafür, dass die Wirkung von Azetyl- In einem 2007 erschienenen Leit- bei Triptanen 1,7 Jahre). Hatte man salizylsäure oder von Parazetamol faden der Bundesärztekammer mit ursprünglich angenommen, dass nur durch die Kombination mit Koffein dem Titel „Medikamente – schäd- ergotaminhaltige Präparate zum oder Codein verstärkt wird. licher Gebrauch und Abhängigkeit“ Dauerkopfschmerz führten, so hat (BÄK 2007) wird auf den Seiten 26 sich inzwischen herausgestellt, dass Der Gebrauch von Mischanalgetika und 27 (in der online-Version) in alle Medikamente zur Behandlung ist in der Bevölkerung weithin ver- diesem Zusammenhang folgendes von Migräne und Kopfschmerzen breitet, zumal einige von ihnen frei ausgeführt: einen medikamenteninduzierten verkäuflich sind (Schmerzmittel mit Kopfschmerz hervorrufen können. Koffein). Motor der Einnahme ist „Prädisponiert für einen Analgetika- Zwischen 1 und 2% der Bevölkerung zunächst der analgetische Effekt, zur Abusus sind Patienten, die ur- sind davon betroffen. Aufrechterhaltung der Medikation sprünglich an Migräne und/oder kann die psychische Situation bei- Spannungskopfschmerz litten. (…) Besonders problematisch sind anal- tragen. Ist nach länger dauerndem Bei häufiger Einnahme von Anal- getische Mischpräparate. Mischanal- Gebrauch eine Gewöhnung einge- getika – d.h. an mehr als der Hälfte getika sind Arzneimittel, die ein oder treten, rufen die im Entzug auftre- aller Tage eines Monats – kann es mehrere peripher wirksame Schmerz- tenden vegetativen Symptome, ins- schon nach wenigen Wochen, meis- mittel sowie zusätzlich einen oder besondere der Entzugskopfschmerz, tens aber erst nach Jahren zu einem mehrere Kombinationspartner mit ein starkes Bedürfnis nach erneuter medikamenteninduzierten Dauer- Wirkung auf das ZNS, z.B. Koffein Einnahme des Mittels hervor.“ 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
VORTRÄGE 19 Indizien für Analgetika-Kopfschmerz: Verdacht auf Ergotamin-, Triptan- oder Analgetikakopfschmerz bei • mehr als 20 Kopfschmerztabletten im Monat • täglichem Kopfschmerz von mehr als 10 Stunden • regelmäßiger Einnahme von Analgetika oder Ergotamin, Dihydroergotamin oder Triptanen (Ergotamin und Dihydroergotamin sind wenig geeignete Mittel zur Behandlung von Migräne, Triptane sind dagegen geeignete Mittel zur Migränebehandlung) • Einnahme in Kombination mit Codein, anderen Opioiden, Coffein, Antihistaminika • fehlendem Zusammenhang zwischen ursprünglichen Kopfschmerzen (z.B. Spannungskopfschmerzen, Migräne) und derzeitigem Kopfschmerzsyndrom Daher auf Anwendungsbeschränkungen achten, um den analgetikainduzierten Kopfschmerz zu vermeiden: • Kopfschmerz- und Migränemittel nicht länger als 3 Tage hintereinander und nicht häufiger als an 10 Tagen im Monat einnehmen • Triptane: max. 2 x pro 24 Stunden max. 3 x pro Attacke (nach Verordnung) max. 2 x pro Attacke (Selbstmedikation, z.B. mit Formigran) und nicht häufiger als an 10 Tagen pro Monat LITERATUR BEIM VERFASSER 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
20 VORTRÄGE IRMGARD VOGT 1 Ältere Drogenabhängige in Deutschland und anderen europäischen Ländern Sachstand und Ausblick 2 Ausgangslage und Problemdefinition Mit Drogenkonsum und Drogenpro- Darüber vergehen Jahre; die einst- u. U. eine Gefängnisstrafe. Zudem blemen verbindet man im Allgemei- mals jungen Konsumenten von entfallen bei verbotenen Stoffen nen jungendlichen Leichtsinn, also Drogen werden entsprechend älter. automatisch Qualitätskontrollen: generell Jugendliche und junge Wer den Absprung in den kontrol- Drogenabhängige gehen also bei Erwachsene – nicht Menschen, die lierten Konsum oder die Abstinenz jedem Erwerb einer verbotenen sich dem Rentenalter nähern oder nicht schafft, altert mit der Krankheit. Substanz ein erhebliches gesundheit- schon Rentner bzw. Rentnerinnen liches Risiko ein, da sie nicht wirklich sind. Das liegt u.a. daran, dass Alko- Die Folgen für die Betroffenen sind wissen, welchen Stoff in welcher Zu- hol- und Drogenexzesse von Jugend- ganz unterschiedlich und variieren sammensetzung sie erworben haben. lichen und jungen Erwachsenen von systematisch mit den Substanzen. Wirkstoffgehalt und Streckmittel sind den Medien oft begierig aufgegriffen Mit den legalen psychoaktiven Stof- also unbekannt; entsprechend hoch und ausgiebig im Fernsehen, im fen Alkohol und Nikotin sind sehr ist das gesundheitliche Risiko für die Internet und in den Zeitungen und hohe gesundheitliche Risiken asso- Konsumenten. Dazu kommt, dass Zeitschriften diskutiert werden. Dabei ziiert. Eher gering sind hingegen die auch die Hilfsmittel, die sie zum Kon- wird oft vergessen, dass auch junge Risiken bei Zigarettenabhängigen sum benutzen – zum Beispiel Sprit- Menschen, die nicht nur einmal, oder auch Alkoholabhängigen ein- zen zur Injektion in die Vene (im Fol- sondern immer wieder psychoaktive zuschätzen, mit der Justiz in Konflikt genden: i.v. Konsum) oder spezielle Substanzen exzessiv konsumieren, zu gelangen. Im Vergleich dazu sind Rauchpfeifen – unrein oder infektiös ein hohes Risiko haben, von diesen die Risiken der Konsumenten von sein können. Konsumenten von abhängig zu werden. Alkohol- und illegalen Drogen ganz anders verteilt. verbotenen Drogen lassen sich also Drogenabhängigkeit sind psychische Im Vordergrund stehen Probleme, auf ein doppeltes Risiko mit ent- Störungen, die oft einen chronischen die mit dem Verbot selbst unmittel- sprechenden Folgen für ihre Lebens- Verlauf haben: Auf anfängliche eher bar verbunden sind. In Deutschland führung und ihre Gesundheit ein. vereinzelte Konsumexzesse folgen gilt die Beschaffung von verbotenen Phasen mit hohem täglichen Konsum, Drogen als krimineller Akt, der mit Dieser Beitrag konzentriert sich auf die von Versuchen der Konsumre- Strafe bedroht ist. Beim Kauf bzw. ältere Konsumenten und Abhängige duktion und zeitweiser Abstinenz Verkauf besteht die Gefahr, bei der von Opiaten allein (F11-Diagnosen3) unterbrochen sein können. Kommt Transaktion der Drogen von der Po- oder in Kombinationen mit anderen es zum Rückfall, folgt erneut eine lizei aufgegriffen zu werden, was Stoffen (F19-Diagnosen)4. Ältere Kon- (lange) Phase mit hohem täglichen wiederum eine Anzeige nach sich sumenten und Abhängige von Kokain, Konsum. Die Abstinenzphasen zieht. Geht es um die so genannten von (illegal gehandelten) psychoakti- werden mit der Zeit immer kürzer harten Drogen wie z.B. Heroin, Kokain ven Medikamenten oder von anderen und bleiben schließlich ganz aus. usw. droht ein Gerichtsverfahren und Stoffen werden nicht berücksichtigt. 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
VORTRÄGE 21 Bislang hat sich die Forschung und die systematisch anwachsen. Unklar daher nicht einfach, die Problem- die Praxis der Suchthilfe mit der Tat- ist ebenfalls, welche Probleme mit gruppe, definiert als Konsumenten sache, dass der demographische dem Altern von Drogenkonsumenten und Abhängige von Opiaten, mit Wandel auch Drogenkonsumenten verbunden sein können. Darauf soll einer entsprechenden Krankheits- erreicht, wenig auseinandergesetzt. im Folgenden genauer eingegangen diagnose (F11 oder F19), die 35 Das liegt auch daran, dass lange Zeit werden. Jahre und älter sind 5, aus den Daten- davon ausgegangen worden ist, dass pools herauszufiltern. Ich beschränke die Überlebenschancen von i.v. Hero- mich daher auf Deutschland mit inkonsumenten eher schlecht sind, Epidemiologie: Schätzungen der Größenordnung und dass daher die meisten von ih- Schätzungen zur Größen- der Problemgruppe. nen relativ jung sterben. Tatsächlich ordnung der Problem- ist das relative Risiko von Heroinkon- gruppe und Angaben sumenten, frühzeitig an den Folgen zur Lebenssituation ihres Konsums zu sterben, hoch. Eine ausgewählter Untergruppen Reihe von Studien belegt jedoch auch, dass es immer mehr Menschen Im Rahmen eines von der Europäi- gibt, die in den USA in den 1960er schen Union, EAHC, mitfinanzierten oder in Deutschland in den 1970er Projektes haben wir für die Länder Jahren mit dem i.v. Konsum von Opi- Deutschland, Schottland, Österreich aten angefangen, alle Widrigkeiten und Polen untersucht, welche Daten überlebt haben und entsprechend zur Einschätzung der Größenordnung altern (Boeri et al., 2003; Hser et al., des Problems vorliegen und zugäng- 2007a und b; Smyth et al., 2007). lich sind, und wie wir die Zielgruppe Diese Menschen sind heute zwischen genauer beschreiben können. Es hat 50 und 70 Jahre alt. Unklar ist bis- sich herausgestellt, dass die Daten- lang, ob es sich dabei um Einzelfälle lage auf der jeweiligen nationalen oder um Personengruppen handelt, Ebene sehr problematisch ist. Es ist TABELLE 1: SCHÄTZUNGEN ZUR GRÖßENORDNUNG DER PROBLEMGRUPPE IN DEUTSCHLAND 6 FÜR DAS JAHR 2006, AUFGESCHLÜSSELT NACH DEN ALTERSGRUPPEN 35 JAHRE UND ÄLTER SOWIE 40 JAHRE UND ÄLTER Schätzungen für 2006 Problemgruppe Davon in Behandlung* Davon in der DHS/ gesamt DRV-Statistik 35 Jahre und älter ca. 60.000 ca. 35.000 ca. 12.000 40 Jahre und älter ca. 40.000 ca. 25.000 – 30.000 ca. 8.000 Prognosen für 2016** 35 Jahre und älter ca. 120.000 ca. 70.000 ca. 24.000 40 Jahre und älter ca. 80.000 ca. 50.000 – 60.000 ca. 16.000 * Medizinische und/oder psychosoziale Behandlung bzw. Betreuung ** In Anlehnung an Gfoerer et al., 2002, 2003 19. NIEDERSÄCHSISCHE SUCHTKONFERENZ | Berichte zur Suchtkrankenhilfe 2009
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