Lumboradikuläre Syndrome: Hinweise für die klinische und radiologische Diagnostik, Differentialdiagnose, Therapie

 
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Lumboradikuläre Syndrome: Hinweise für die klinische und
          radiologische Diagnostik, Differentialdiagnose, Therapie

Zusammenfassung
1. Wichtigste Anamnese-Elemente
       Allgemein-Erkrankungen?
       Frühere Schübe
       Aktueller Schub
2. Untersuchungsgang
       Allgemeinuntersuchung
       Wirbelsäule
       Stehen und Gehen
       Im Liegen: Segmentale Prüfung
3. Spezielle Hinweise für Anamnese und Untersuchung
4. Lumbale Diskushernien: Höhenlokalisation, Frequenz
5. Operationsindikationen
6. Claudicatio von Cauda und Wurzeln
7. DD der Lumbalen Diskushernie

1. Anamnese
1.1. Allgemeinerkrankungen (Diabetes, PAVK, Malignom)
    • Prodromi: Malaise, Fieber, Hautveränderungen
    • Zeckenbiss?
    • Antikoagulation?

1.2. Frühere Schübe
    • Lumbal?
    • Schmerzaustrahlung ins Bein?
    • Auslöser?
    • Lähmungen / Sensibilitätsstörungen?
    • Dauer?
    • Welche Therapie?

1.3. Aktueller Schub
    • Auslöser?
    • Seit wann lumbal bzw. im Bein?
    • Schmerzweg? (s. Abb.1)
    • Schmerzverstärkung Positionsabhänging? (Liegen, Stehen, Gehen, Bücken)
    • Schmerzlinderung durch welche Massnahme bzw. welche Haltung?
    • Reizsymptome (Husten-, Nies- und Press-Schmerz mit Ausstrahlung ins Bein)
    • Lähmungen?
    • Sensibilitätsstörungen/Parästhesien? Wo? Wann?
    • Miktionsstörungen? Potenzstörung?
    • Bisherige Therapie? (Ruhigstellung, Schmerzmittel, Physiotherapie)

2. Untersuchungsgang / Befunde
2.1. Allgemein
    • Zirkulation, Hüftmotilität, ISG, Haut, lokale Tendomyosen, Lymphome
2
2.2. Wirbelsäule / paravertebrale Muskulatur
    • Haltung in Ruhe / in Bewegung: Ausweichsskoliose?
    • Entfaltung beim Bücken und bei Seitenneigung: Schmerzen jetzt wo?
    • Lumbaler Schober, FBA (Finger-Boden-Abstand)

2.3. Gangbild
    • Schonhaltung?
    • Trendelenburg? (s. Abb. 2)
    • Fussspitzengang? Einbein-Zehenstand?
    • Fersengang, Einbeinstand auf Ferse, Hüpfen auf einem Bein?
    • Stuhlsteigen

2.4. Im Liegen
    • Reflexe
    • Systematik der Motorik
    • Sensibilität
    • Lasègue, gekreuzter Lasègue (Hinweis auf Sequestrierung)
    • Femoralis-Dehnungsschmerz (s. Abb. 3)

3. Spezielle Hinweise für Anamnese und Untersuchung
3.1. Der Schmerz
    • Wurzelschmerz entsteht bei Kompression / Zug mit ev. Entzündung der Wurzel
    • Schmerz oft so im Vordergrund, dass der Patient eine Lähmung nicht bemerkt
    • Schemata der Schmerzausbreitung bei verschiedenen Wurzelsyndromen (Abb.1)
    • zum Teil unvollständige Schmerzausbreitung, z.B. nur distal
    • Wechsel in der Schmerzausbreitung
    • Überlagerung durch sekundäre Tendomyosen häufig
    • Der radikuläre Schmerz kann bei perakuter Kompression fehlen
    • Wurzeltod: Intensive Ischialgie verschwindet plötzlich, dafür massive Paresen und Sensi-
    • bilitätsstörungen (absolute neurochir. Notfallsituation!)

3.2. Die Dehnungszeichen
    • Das Fehlen von Dehnungsschmerz schliesst die radikuläre Ursache nicht aus
    • Die Wichtigkeit des Femoralisdehnungsschmerzes: Hinweis für hohe LDH!
    • Bei L4-Syndrom: Lasègue und FDS können beide schwach ausgeprägt vorhanden sein

3.3. Die segmentale Prüfung (Motorik, Reflexe, Sensibilität)
    • Nur wenige monoradikulär versorgte Muskeln
    • Variabiliät der motorischen Ausfälle wegen Aufteilung der motorischen Fasern bereits weit
        proximal (Analogie zum N. ischiadicus: Faszikel für den N. peroneus und N.  tibialis schon
        auf Gesässhöhe getrennt verlaufend)
    • Sensible Ausfälle können trotz deutlichen Paresen fehlen

   •   L2: Vorwiegend M.iliopsoas
          - Adduktoren nicht so wichtig, da L2 - L4
          - DD Obturatorius-Läsion (L2 - L4) mit Adductorenlähmung
          - PSR symmetrisch
          - Sensibilität s. Schema (Abb. 4 und 5)

   •   L3: M.quadriceps, häufig zusätzlich M.iliopsoas
          - PSR abgeschwächt
          - Sensibel sind L2 und L3 oft nicht gut abgrenzbar
3

   •   L4: M.tibialis anterior, oft zusätzlich M.quadriceps
          - PSR stark abgeschwächt, oft fehlend
          - Sensibel: Proximaler Unterschenkel, medial der Tibiakante
          - FDS und Lasègue können beide schwach vorhanden sein oder beide fehlen

   •   L5: M.tibialis anterior und Zehenheber, speziell M.ext.hallucis longus, M.extensor digitorum
       brevis, M.peroneus longus, M.glutäus medius, M.tibialis posterior
          - Tibialis-posterior-reflex (oft schwer auszulösen, nur dann verwertbar, wenn er auf der
               gesunden Seite gut auslösbar ist
          - Sensibel: Medialer Fussrand und lateraler Unterschenkel. Nicht immer ist das ganze
               Segment betroffen.

   •   S1: Fuss- und Zehenbeuger, M.biceps femoris, M.glutäus maximus
           - ASR
           - Sensibel: Lateraler Fussrand, evtl. Wade

4. Höhenlokalisation und Frequenz von lumbalen Diskushernien
4.1. Abb. 6 - 8

   •   L1/2 - L3/4 sind sogenannte hohe lumbale Diskushernien (7,26 %)
   •   L4/5 + L5/1 weitaus überwiegend
   •   Foraminale / extraforaminale Diskushernien: Grösserer Anteil der hohen LDH (28,1 %)
   •   Allgemein hat jeder zehnte Patient ein femoralgiformes Schmerzbild.
   •   Davon sind knapp 50 % foraminale / extraforaminale Hernien
   •   Je höher die lumboradikuläre Klinik, desto wahrscheinlicher handelt es sich um eine foraminale
       oder extraforaminale Hernie.
   •   Bessere Spontanprognose der foraminalen / extraforaminalen Hernien (nicht alle müssen
        operiert werden)

   •   z.B. L3-Syndrom:
           - 45 - 70 % sind foraminal
           - deshalb zuerst im CT nach einer foraminalen Läsion im Segment L3/L4 suchen, dann
              erst im Segment L2/L3 nach mediolateraler Hernie

4.2. Daraus folgt:
    • Mehr als 10% der lumboradikulären Syndrome entsprechen hohen LDH
    • jeder 10. Patient beschreibt nicht die typische Ischialgie sondern mehr ein femoralgiformes Bild
       mit Knie- und zum Teil Leistenschmerz
    • Je höher desto foraminaler ist wahrscheinlich die Hernie (vermehrte Beweglichkeit der LWS in
       den cranialen Segmenten
    • Von den L4-Syndromen sind die Hälfte foraminal / extraforaminal
    • Von den L3-Syndromen sind es bis 2/3

4.3. Besonderheiten der foraminalen / extraforaminalen Hernien (im Vergleich zu den
     intrakanalikulären medialen bzw. mediolateralen Hernien) (Abb. 8)
    • Oft wenig Reflexstörungen
    • Oft fehlende oder geringfügige Sensibilitätsstörungen
    • Häufig perakuter Beginn
    • Manchmal ungewohnte Schmerzlokalisationen
    • Lumbalgie fehlt häufig
    • Lasegue oft negativ
4
     •   Nachts oft quälende Schmerzen, die auf Kyphoselagerung nicht ansprechen
     •   Andere Prognose als bei intrakanalikulären Hernien
     •   Freiluxierte Hernien sind abgestossene Sequester. Einmal abgeheilt, ist kein späterer Schub mehr
         zu befürchten

4.4. Warum werden heute die hohen LDH häufiger gesehen als früher?
    • Bessere apparative Diagnostik
    • Bessere Kenntnis dieses speziellen Krankheitsbilds
    • Vermehrte Abklärung und Operation von älteren Patienten
    • Im höheren Alter mehr hohe und speziell foraminale Hernien
    • Früher verpasste Diagnosen:
      - Negative Myelographie
      - CT nur auf Höhe des Bandscheibenraumes

4.5. Differentialdiagnose der hohen lumbalen Hernien
    • Neuralgien im Oberschenkel-Leistenbereich (Nn. Ilioinguinalis, genito-femoralis, Meralgia
        parästhetica)
    • Asymmetrisch proximale diabetische Neuropathie
    • Periarthropathia coxae

5.   Indikationen zur operativen/konservativen Therapie
     Allgemein gilt: Je länger die Paresen dauern, desto schlechter ist die Prognose für deren
     Rückbildung und desto länger braucht die Erholung.

5.1. Wichtigsten Indikationen zur Operation
    • Die akute / perakute radikuläre Kompression mit ausgeprägten mot. Ausfällen (foraminale oder
       intrakanalikuläre Hernie)
    • Progrediente Paresen
    • Der anhaltende radikuläre Schmerz mit unveränderten radikulären Reizzeichen bei der
       Untersuchung, nach erfolgloser konservativer Therapie
    • Der chron. belastungsabhängige Schmerz im Sinne einer monoradikulären Claudicatio, die auf
       peridurale Infiltrationen nicht anspricht bzw. trotzdem rezidiviert
    • Wiederholte radikuläre Reizschübe mit positiven Dehnungszeichen (relative Ind.)
    • Op.-Indikation immmer auch abhängig von: Toleranz des Pat., NW der Therapie,
         Sozialstatus, Arbeitsunfähigkeit etc.

5.2. Operation zwingend
    • Blasen/Darmstörungen (intrakanalikuläre Hernien mit Massenprolaps: sehr selten)
    • Bei intra-/extraforaminalen Hernien: Schwere Paresen, z.B. M. quadriceps oder Fussheber bzw.
       Glutäus medius
    • (L4/5-Hernien mit rezessalem Luxat)

5.3. Keine Operation
    • Radiologischer Nachweis einer Hernie, aber keine Beschwerden
    • Wenn neurologischer Befund und Topographie der im CT beschriebenen Läsion nicht
       übereinstimmen (Cave: Segmentvarianten)
    • Regrediente Schmerzen, kurze Anamnese, ungenügende konservative Therapie
    • Merke: Pathologisches CT / MRI in bis zu 1/3 einer gesunden Vergleichspopulation

5.4. Foraminale Hernien
    • Bei leichteren Ausfällen: Nach Abklingen der Schmerzphase oft gute Prognose mit Rückgang
       der Paresen
5
   •   Quälende nächtliche Schmerzbilder mit geringen Ausfällen: Klassische Indikation zur
       konservativen Therapie
   •   Aber: Ruhigstellung führt zur Vermehrung der nächtlichen Schmerzen, Kreuzschmerzen im
       Hintergrund
   •   Indikation für peridurale Steroidinfiltrationen, bei foraminaler Pathologie oft günstiger Effekt

5.5. Sonderfall: L5-Syndrom durch Segmentkollaps L5 / S1
    • Osteochondrose mit Höhenverminderung auf Höhe L5 /S1
    • Im MRI in der seitliuchen T1-Aufnahme verschlossenes Foramen intervertebrale
    • (Therapie: Distraktionsspondylodese)

6. Die Claudicatio der Cauda Equina bzw. von einzelnen Wurzeln

   •   Monoradikulär bei rezessaler Stenose oder lateraler Hernie:
       Gehdistanz-abhängiger Schmerz im Bereich einer Wurzel, begleitet oder gefolgt von
       Parästhesien und / oder Paresen

   •   Polyradikulär-bilateral bei Hernien und / oder spinaler Stenose bzw. Spondylolistesis:
       Schmerzen, Paresen, Parästhesien, sensible Ausfälle (ev. inkl. Reithose) bei längerem Stehen /
       Gehen. Stehenbleiben alleine hilft nicht. Kauern oder Bücken ("Schuhe binden"),         ev. auch
       Abliegen nötig.

    (DD: vaskuläre Claudicatio der Beine; vaskuläre Rückenmarks-Claudicatio = Claudicatio spinalis.)
    Der Ausdruck "Claudicatio spinalis" wird oft falsch gebraucht und sollte wirklich nur dann
    verwendet werden, wenn sie das Rückenmark und nicht die Cauda Equina betrifft.

7. Differentialdiagnose
7.1. DD Diskushernie L4/L5-Peroneusparese

    Diskushernie:
   • Bei perakuter Kompression kann der Schmerz fehlen
   • Lumbovertebrales Syndrom kann bei lateraler Hernie fehlen
   • Lasègue kann bei L4/5-Hernie fehlen

    Peronäusläsion:
   • Peroneusparese meistens schmerzarm
   • Bei chron. Irritation evtl. doch Schmerzen im L4/5-Bereich
   • Bei Schädigung des N. peroneus profundus oft keine Sensibilitätsstörungen (fakultativ im ersten
      Spatium interosseum dorsal)
   • Bei Beteiligung des N. peroneus superficialis: Kann aussehen wie eine distale L5-Läsion
   • Wichtig: Bei der Peronäusläsion sind die Mm. tibialis posterior und glutäus medius nicht von
      den Paresen betroffen.

7.2. Ischiadicusläsion:
    • Kann gelegentlich wie eine Peroneusläsion aussehen (Aufteilung der Faszikel schon weit
        proximal)

7.3. Asymmetrisch proximale diabetische Neuropathie
    • Femoralgie
    • Nachtschmerzen
    • Dehnungsschmerz oft positiv
    • PSR kann fehlen
6
   •   Sensibilitätsstörungen oft fehlend

7.4. Tibialis anterior-Logensyndrom:
    • Schwellung, Rötung, evtl. vorher Belastung oder Trauma

7.5. Psoasblutung (Antikoagulation):
    • Femoralisläsion inkl. N. saphenus
    • Femoralgie
    • Häufigste Fehldiagnosen: Nierenkolik, Appendicitis, Hüftproblem, Aortenaneurysma
    • Diagnose mittels CT

7.6. PAVK versus (mono-)radikulärer Claudicatio (S. 6.)

7.7. Borreliose:
    • Monoradiculäre Syndrome
    • Polyradiculäre Syndrome

7.8. Lumbaler Herpes zoster

7.9. Tumor/Metastasen im Plexusbereich
    • Gynäkologische Tumoren, colorectale Tumoren, Hodenmalignome

7.10. Beinplexusneuritis

8. CT oder MRI?
8.1. Bei äquivalenter Qualität:
    • MRI: Unklar, welche Wurzel, Verdacht auf foraminale H., hohe Wurzelläsion, lumbale Stenose,
       Adipositas (CT-Qualität sinkt rapid ab), Frauen in gebärfähigen Alter mit Kinderwunsch
    • CT: Hernien L4/5 bis L5/S1 bei relativ mageren Patienten

J.G. Magun 6.4.98
Revision 21.8.2000 (Durchsicht und Korrekturen: PD Dr. med. Ch. Hamburger)
2. Revision 20.11.2002

Anhang: Abbildungen Nr. 1 - 8
7

                       Abb. 1 Schmerzwege: a) L3 b) L4 c) L5 d) S1

Abb. 2 Trendelenburghinken (M.glutaeus medius: L 5)

                             Abb. 3 Femoralisdehnungsschmerz
8

          Abb. 4 Sensible Dermatome ab L 1

Abb. 5 Sensible radikuläre Prädilektionsareale L2 bis S1
9

                             Abb. 6 Wurzeltopographie L 3 bis S1

     Abb. 7 Zentral = medial; exzentrisch = mediolateral; c = foraminal und extraforaminal

Abb. 8 Lokalisation von Diskushernien: a) (intra-)foraminal b) extraforaminal
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