Schmerz ARZNEIMITTELINTERAKTIONEN
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
forum schmerz 13.−14. Mai, Baden-Baden 27.−28. Mai, Nürnberg 2011 bulletin 22.−23. Juli, Freising ARZNEIMITTELINTERAKTIONEN Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Therapie chronischer Schmerzen stellt uns in der täglichen Praxis immer wieder vor neue Herausforder Wechselwirkungen in der Schmerztherapie mit Opioiden ungen. Denn Schmerz ist ein komplexer Bewusst seinsinhalt, an dessen Entstehung und Verarbeitung die verschiedensten Gehirnareale beteiligt sind. Des halb sind zur Schmerztherapie interdisziplinäre und Wechselwirkungen seien in der Schmerztherapie aufgrund der engen therapeutischen Breite mechanismenorientierte Ansätze erforderlich. Ein häufiges Problem, mit dem wir immer wieder vieler Substanzen und dem hohen Anteil an älteren Patienten mit multiplen Begleiterkrankung konfrontiert werden, sind Nebenwirkungen, die bei en eine häufige Herausforderung für den Behandler, erläuterte Prof. Dr. med. Walter E. Haefeli der Gabe von hochpotenten Analgetika auftreten von der Abteilung Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiologie in Heidelberg. Um und die Compliance gefährden. Wir stehen hier im Wechselwirkungen zu vermeiden, sei es deshalb wichtig, die Stoffwechselwege der Opioide mer wieder vor der Herausforderung, die richtige genau zu kennen und die Arzneimitteldosierungen in der Verordnungspraxis der Schmerzthe Balance zwischen ausreichender Wirksamkeit und rapie dementsprechend gegebenenfalls anzupassen. Besonders abhängig ist die Sicherheit akzeptablen Nebenwirkungen zu finden. Neben ei und Wirksamkeit vieler Schmerzmittel dabei von einer Komedikation, die zu ihrer Akkumu ner bestmöglichen medikamentösen Therapie sollten lation oder ihrer beschleunigten Elimination führen kann. Insbesondere Analgetika, die über Schmerzpatienten im Rahmen eines multimodalen Cytochrom-P450-Stoffwechselwege in der Leber metabolisiert werden, weisen im Allgemei Therapiekonzeptes auch nichtmedikamentöse Thera nen ein größeres Interaktionspotenzial auf als Substanzen, die über die Uridin-5-Diphospho- piemaßnahmen erhalten. Glucuronosyl-Transferase (UGT) zu ihren Glucuroniden abgebaut werden. Aktuelle Umfragen bei chronischen Schmerzpatien ten zeigen, dass die Kontrolle von Schmerzen immer noch oft unzureichend ist. Es ist deshalb an der Zeit, rapie besonders zu beachten und gegebenenfalls umzudenken und die neuen Erkenntnisse aus der die Dosierung von Analgetika anzupassen. Hierzu Forschung in die praktische Schmerztherapie zu in sei jedoch eine genaue Kenntnis der wichtigsten tegrieren. Doch wie setzen wir die aktuellen Erkennt Prinzipien von pharmakokinetischen und phar- nisse aus der Schmerzforschung in unsere klinische makodynamischen Arzneimittelinteraktionen von Praxis um? Welche Therapiemöglichkeiten gibt es für großer Bedeutung. Schmerzen mit einer neuropathischen Komponente? Baden-Baden Für diese und viele andere Fragen ist der kollegiale Prof. Dr. med. Arzneimittelinteraktionen – pharmako Austausch enorm wichtig. Hierfür boten uns die von Walter E. Haefeli kinetische Arzneimittelinteraktionen der Firma Grünenthal organisierten Symposien „Fo sind häufig, Konzentrationsänderung rum Schmerz 2011“ in Baden-Baden, Nürnberg und Freising reichlich Gelegenheit. Wir bedanken uns da Arzneimittelwechselwirkungen sind eine häufige beeinflusst die Wirkung her bei allen Kolleginnen und Kollegen für die aktive Ursache für unerwünschte Arzneimittelwirkungen Teilnahme an den Diskussionen und für den gemein (UAWs). So sind circa fünf Prozent aller Kranken- Die Wirkung eines Arzneimittels ist von verschie- samen Erfahrungsaustausch. hauseinweisungen auf eine UAW zurückzufüh- denen Prozessen abhängig und weist eine hohe Diese Broschüre fasst alle wichtigen Inhalte der drei ren.1 Dies war auch Gegenstand des Vortrages interindividuelle Variabilität auf. Neben der korrek- Veranstaltungen nochmals zusammen. von Prof. Dr. med. Walter E. Haefeli von der Abtei- ten Einnahme (Verabreichungsprozess) und der Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre und viel lung Klinische Pharmakologie und Pharmakoepi- Freisetzung aus der Galenik (pharmazeutischer Erfolg für Ihre tägliche Arbeit in der Praxis. demiologie an der Universitätsklinik Heidelberg. Er Prozess) tragen insbesondere die Verteilung zum Mit kollegialen Grüßen erläuterte, dass gerade in der Schmerztherapie, Wirkungsort und die Elimination aus dem Körper bei der häufig Substanzen mit einer engen the- (pharmakokinetischer Prozess) sowie die Wirkun- rapeutischen Breite eingesetzt werden, die Be- gen am Wirkort (pharmakodynamischer Prozess) handler sehr oft mit Arzneimittelinteraktionen kon- zum therapeutischen Resultat (therapeutischer frontiert sind. Vor allem die Polypharmazie ist laut Prozess) bei.2 Für eine UAW sind häufig pharma- Haefeli mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten kokinetische Wechselwirkungen, bei denen es zu einer UAW assoziiert. Da es sich bei Schmerzpati- Änderungen der Konzentrations-Zeit-Profile der enten in vielen Fällen um ältere Patienten mit mul- gleichzeitig verabreichten Arzneimittel kommt, Dr. med. U. Köster, Prof. Dr. med. C. Maihöfner, tiplen Begleiterkrankungen handle, sei es wichtig, verantwortlich. In Folge davon wird die Wirkung Stuttgart Erlangen Arzneimittelwechselwirkungen in der Schmerzthe- einer Substanz beeinflusst. Davon unterschieden 1
ARZNEIMITTELINTERAKTIONEN werden pharmakodynamische Arzneimittelinter- beteiligt. Man solle zudem daran denken, dass Gabe eines CYP-Induktors ohne eine Dosiser- aktionen, bei denen es zu Wirkungsänderungen bei den drei Isoformen CYP2C9, CYP2C19 so- höhung des Opioids Entzugssymptome auftreten der verabreichten Substanz kommt, ohne dass wie CYP2D6 bei circa fünf bis zehn Prozent der können. Wichtige CYP3A4-Induktoren seien das deren Konzentration verändert wurde. Bevölkerung genetische Varianten vorkämen, die Tuberkulostatikum Rifampicin, die Antiepileptika eine stark verminderte Enzymaktivität aufwiesen. Carbamazepin, Phenytoin und Phenobarbital, das Opioid-Clearance ist oft abhängig von Als Folge davon würden Medikamente, die an Virustatikum Efavirenz, der Endothelin-Rezeptor Cytochrom-P450-Stoffwechselwegen diese drei Isoformen bänden, nur sehr langsam antagonist Bosentan sowie Johanniskraut. Da es metabolisiert. Bei der Arzneimitteltherapie von sich bei Letzterem um ein frei verkäufliches pflanz- Pharmakokinetische Arzneimittelinteraktionen Patienten mit diesen CYP-Varianten, sogenann- liches Präparat handelt, werde es häufig bei der können die Ausscheidung (Clearance) einer ten langsamen Metabolisierern, sei zu berück- Anamnese nicht erfasst. Die Inhaltsstoffe von Jo- Substanz aus dem Organismus beeinträchtigen. sichtigen, dass bei allen Medikamenten aufgrund hanniskraut lassen sich aber laut Haefeli bei circa Somit beeinflussen sie den Dosisbedarf eines einer erhöhten Arzneimittelkonzentration bereits fünf Prozent aller Patienten im Blut nachweisen. Arzneimittels. Die Elimination eines Arzneimittels in der Standarddosierung mit einem geringerem Bei der CYP-Inhibition wird das Enzym durch den und seiner Abbauprodukte aus dem Organismus Dosisbedarf und oft auch mit vermehrten Neben- Hemmstoff entweder reversibel oder irreversibel erfolgt in den meisten Fällen über die Nieren (re- wirkungen gerechnet werden müsse, so Haefeli. gehemmt, woraus ein verminderter Abbau eines nale Clearance) und/oder metabolisch in der Le- Arzneimittels resultiert. Die reversible Hemmung ber (hepatische Clearance) anhand einer Phase- Einfluss einer Komedikation auf die CYP- ist dadurch gekennzeichnet, dass das Substrat 1-Reaktion über die Cytochrom-P450-(CYP-) Stoffwechselwege durch den CYP-Inhibitor kompetitiv von der Bin- Isoenzyme und mittels einer Phase-2-Konjuga- dungsstelle verdrängt wird. Der Effekt der Inhibi- tion zum Beispiel über die Uridin-5-Diphospho- Die Aktivität der CYP-Enzyme kann durch be- tion ist konzentrationsabhängig und setzt rasch Glucuronosyl-Transferase (UGT) (Abb.1). Viele stimmte Arzneimittel sowohl erhöht (Enzymindu- ein. Bei der irreversiblen Hemmung kommt es Arzneimittel werden in der Leber über die CYP1-, ktion) als auch vermindert (Enzyminhibition) wer- hingegen zu einer kovalenten Bindung an das CYP2- und CYP3-Familien metabolisiert. Von be- den. Die CYP-Induktion erfolgt dabei über eine Enzym oder zur Zerstörung der CYP-Enzyme. sonderer Bedeutung für Arzneimittelinteraktionen Aktivierung nukleärer Rezeptoren im Zellkern der Der inhibitorische Effekt erreicht dann erst verzö- ist dabei die CYP3A-Familie, da fast die Hälfte Leberzelle, die zu einer vermehrten Transkription gert nach einigen Tagen sein Maximum. Die En- aller Arzneimittel über dieses Enzym abgebaut und damit zur verstärkten Enzymsynthese führt.4 zymaktivität ist bei einer irreversiblen Hemmung wird (Abb. 2). Daneben werden circa 20 Prozent Dieser Prozess dauert in der Regel mehrere Tage, erst nach einer Neubildung der CYP-Enzyme – in der Arzneimittel über die CYP2C-Familie verstoff- sodass ein maximaler induktiver Effekt erst ein der Regel nach zwölf Tagen – wiederhergestellt.4 wechselt, wozu beispielsweise das Phenprocou- bis zwei Wochen nach der Verabreichung eines Haefeli betonte, dass diese zeitlichen Verzöge- mon (Marcumar®) gehört. Wichtig sind zudem die induzierenden Arzneimittels zu erwarten ist. Die rungen bei Dosisanpassungen unbedingt zu be- Enzyme der CYP2D-Familie. Sie bauen circa 25 Folge einer CYP-Induktion ist ein beschleunigter rücksichtigen seien. Prozent der Arzneimittel ab, während Enzyme der Abbau von Arzneimitteln im Organismus und da- CYP1A-Familie mit nur fünf Prozent eine geringe mit ein erhöhter Dosisbedarf. Laut Haefeli kann CYP-Inhibition – Einfluss auf Opioide, die Rolle spielen.3 In seinem Vortrag wies Haefeli da- die Clearance dabei sogar um das bis zu 20-Fa- als Prodrug vorliegen rauf hin, dass man sich für die Schmerztherapie che erhöht werden. Das bedeute, dass auch bis mit Opioiden insbesondere zwei CYP-Isoformen zu 20-fach höher dosiert werden müsse. Für die Die Effekte einer CYP-Inhibition auf Opioide hän- merken solle: Das CYP3A4 sowie das CYP2D6. Schmerztherapie mit Opioiden heißt dies, wie gen von deren pharmakokinetischen Eigenschaf- Beide seien an der Metabolisierung von Opioiden Haefeli erläuterte, dass bei einer gleichzeitigen ten ab. So liegen einige Opioide wie das Tramadol 50% aller 5% metabolisierten Arzneimittel Opioide Bioverfügbarkeit F Phase I Phase II (Red/Ox) (Konjugation) CYP3A4 30% CYP1A2 13% CYP UGT Trsp UGT 20% CYP2C9 20% Phase III Trsp, CYP2C19 CYP2E1 7% (gerichteter Filtration Transport) CYP2D6 2% Trsp 25% CYP: Cytochrom-P450-Isoenzyme UGT: Uridin-5-Diphospho-Glucuronosyl-Transferase (in-)aktive Metaboliten Trsp: aktiver Transport Opioide Abb. 1: Die meisten Arzneimittel werden vor der Ausscheidung über die Niere Abb. 2: Wichtigste CYP-Isoformen des Arzneistoffwechsels. Für die Schmerz- in der Leber durch eine Phase-1-Reaktion über die CYP-Enzyme und/oder eine therapie mit Opioiden sind insbesondere CYP3A4 und CYP2D6 von Bedeutung. Phase-2-Konjugation über die UGTs metabolisiert und anschließend entweder Modifiziert nach Shimada T et al., J Pharmacol Exp Ther 1994. biliär oder renal eliminiert. Einige Stoffe werden auch direkt über die Nieren aus- geschieden. 2
ARZNEIMITTELINTERAKTIONEN oder das Codein als sogenanntes Prodrug vor, eine Glucuronidierung über die UGTs. Arzneimit- was bedeutet, dass sie ihre pharmakologische CYP2D6 CYP3A4 telinteraktionen an den UGTs sind laut Haefeli Wirkung erst nach einer Metabolisierung über Amiodaron Amiodaron im Gegensatz zu den CYP-Enzymen sehr selten das CYP2D6 zum jeweiligen aktiven Metaboli- Bupropion Cimetidin (Abb. 3). Eine hemmende Wirkung auf die UGTs ten entfalten. Wird nun Tramadol gemeinsam mit Chlorpheniramin Clarithromycin haben, wie Haefeli erläuterte, zum Beispiel das einem Inhibitor des CYP2D6, wie zum Beispiel Cimetidin Diltiazem Urikosurikum Probenecid und das NSAID Nap- mit dem Antidepressivum Paroxetin, verabreicht, roxen. Eine der wenigen Substanzen, die nach Clomipramin Erythromycin dann können weniger aktive Tramadolmetabo- Umwandlung durch die UGTs in der Phase-2- Doxepin Fluconazol liten ((+)-O-Desmethyl-tramadol, ein µ-Agonist) Konjugation weiterhin als aktiver Metabolit in Duloxetin Grapefruitsaft gebildet werden und das Prodrug akkumuliert. Form von Morphin-6-Glucuronid vorliege, ist laut Die Folge davon ist eine Wirkungsminderung Fluoxetin Indinavir Haefeli Morphin. Da dieser Metabolit fast aus- oder -verlust des Tramadols.5 Eine vergleichbare Haloperidol Itraconazol schließlich über die Niere eliminiert werde, könne Situation liegt bei Patienten mit einer genetischen Methadon Ketoconazol im Falle einer Niereninsuffizienz das pharmakolo- Variante des CYP2D6, den langsamen Metaboli- Paroxetin Nelfinavir gisch aktive Morphin-6-Glucuronid akkumulieren. sierern, vor.6 Dadurch, dass weniger oder lang- Ritonavir Ritonavir Da bei circa 14 Prozent der internistischen Pati- samer aktive Metabolite gebildet werden können, Verapamil enten eine Niereninsuffizienz vorliege, sollte man, kommt es bei einer Standarddosierung zu einer Voriconazol forderte Haefeli, insbesondere bei älteren Patien- beschränkten Response auf Tramadol. Auch das ten bei akuter Einschränkung der Nierenfunktion Codein wird über das CYP2D6 in seinen aktiven Tab. 1: Klinisch relevante Inhibitoren der beiden für Morphin vorsichtig dosieren. Eine Niereninsuffizi- Metaboliten, das Morphin, umgewandelt. Unge- den Opioidmetabolismus wichtigen CYP-Enzyme enz könne, so Haefeli, auch bei der Bildung von CYP2D6 und CYP3A4. Modifiziert nach Hafner V et fähr neun Prozent der Bevölkerung sind langsa- toxischen Metaboliten problematisch werden. al., Internist 2010. me Metabolisierer im CYP2D6. Bei diesen Pati- Dies sei zum Beispiel beim Pethidin der Fall, das enten ist die Halbwertszeit von Codein um das bitoren sind Azol-Fungistatika (z. B. Itraconazol) in der Leber zu Normeperidin abgebaut werde. circa Zehnfache erhöht.7 Sowohl bei langsamen und Cimetidin sowie Makrolide, wie Erythromycin Denn Normeperidin wirkt neurotoxisch und kann Metabolisierern, als auch bei Patienten, die als und Clarithromycin (Tab. 1).9 Letztere binden sich bei Akkumulation im Organismus Epilepsien aus- Komedikation einen CYP2D6-Inhibitor erhalten, als irreversible Hemmstoffe kovalent an CYP3A4, lösen.12 Pethidin eigne sich deshalb nicht für eine kann mit Codein keine ausreichende Analgesie sodass mit einer erneuten Enzymaktivität von Langzeittherapie und sollte bei einer Niereninsuf- erreicht werden. Um Wirkungsverluste zu vermei- CYP3A4 erst nach der Neubildung des Enzyms fizienz nicht verabreicht werden. den, müsse man folglich beim Einsatz von Opio- (nach vielen Tagen) gerechnet werden kann. Ha- iden in der Schmerztherapie die Inhibitoren von efeli betonte, dass es im Zusammenhang mit der Tapentadol – geringes Interaktionspotenzial CYP2D6 kennen, erklärte Haefeli. Dazu gehörten durch eine CYP-Inhibition auftretenden Wirkungs- durch Metabolisierung über UGTs zum Beispiel die selektiven Serotonin-Wiederauf- verstärkung von Opioiden wichtig sei, zwischen nahmehemmer Paroxetin und Fluoxetin (Tab. 1). Dosis und Konzentration zu unterscheiden. So Das zentral wirksame Analgetikum Tapentadol Wichtig sei jedoch auch zu wissen, dass es sich könne beispielsweise durch eine Komedikation vereint in einem Molekül zwei unterschiedliche bei pharmakokinetischen Wechselwirkungen mit Ritonavir die Exposition gegenüber Fenta- Wirkmechanismen − den µ-Opioidrezeptor-Ago nicht um einen Klasseneffekt handelt. Somit habe nyl um bis zu 170 Prozent ansteigen, was einer nismus (MOR) sowie die Noradrenalin-Wiederauf man, so Haefeli, oft die Möglichkeit, auf eine an- 2,7-fachen Steigerung der ursprünglichen Dosis nahmehemmung (NRI).13 Im Gegensatz zu vie- dere Substanz derselben Klasse, wie zum Bei- entspricht.10 Auch bei einer topischen Applikation len anderen Opioiden spielt der Metabolismus spiel auf Citalopram, auszuweichen. von Opioiden, wie zum Beispiel bei Verabreichung über das Cytochrom-P450-System (CYP2D6, von Fentanyl über ein Pflaster, führe eine Kome- CYP3A4, CYP2C9, CYP2C19) nur eine unter- „Eine Kenntnis der wichtigsten CYP-Isoenzy- dikation mit CYP3A4-Inhibitoren zur Akkumulation geordnete Rolle.14 Der Abbau erfolgt hingegen me ist für die Abklärung von Wechselwirkun- von Fentanyl und damit zu einer Wirkungsverstär- hauptsächlich über die UGTs, über die es in sei- gen in der Schmerztherapie und insbesonde- kung.10 Interessanterweise scheine die topische ne inaktiven Metaboliten metabolisiert wird. Die re für den Einsatz von Opioiden sehr hilfreich.“ Applikation von Buprenorphin nicht davon betrof- Ausscheidung erfolgt nahezu ausschließlich über Prof. Dr. Walter E. Haefeli fen zu sein.11 die Nieren.15 Da die Metaboliten inaktiv seien, sei wahrscheinlich auch eine Niereninsuffizienz CYP-Inhibition – Einfluss auf Opioide, die „Eine bestimmte Dosis muss deshalb nicht unproblematisch, vermutete Haefeli. Eine Hem- als aktive Muttersubstanz vorliegen immer zur selben Wirkstoff-Konzentration im mung der UGTs durch die beiden UGT-Hemmer Menschen führen; vielmehr können beson- Probenecid und Naproxen führten zu einem Die Opioide Fentanyl, Methadon und Oxycodon dere Rahmenbedingungen wie Komedikati- Anstieg der Wirksubstanz (AUC) um 57 bezie- liegen im Gegensatz zu Tramadol und Codein on und Zustand der Eliminationsorgane die hungsweise 17 Prozent.16,17 Laut Haefeli wird bereits als aktive Muttersubstanz vor. Sie werden Exposition ganz massiv verändern.“ Prof. Dr. dies in der Regel als nicht klinisch relevant ange- über das CYP3A4 in ihre vorwiegend inaktiven Walter E. Haefeli sehen. Tapentadol selbst habe, betonte Haefeli, Metaboliten abgebaut. Erhält ein Patient unter in vitro nur einen leichten hemmenden Effekt auf einer Therapie mit diesen Opioiden als Komedi- Opioide und Niereninsuffizienz – Akkumula CYP2D6 gehabt und an den anderen CYP-Enzy- kation einen CYP3A4-Inhibitor, wie zum Beispiel tion von aktiven und toxischen Metaboliten men weder ein hemmendes noch induzierendes den HIV-Protease-Inhibitor Ritonavir, kommt es Potenzial aufgewiesen.16 Die gleichzeitige Ver- in Folge des verminderten Abbaus zu einer Ak- Bevor eine Substanz über die Niere ausgeschie- abreichung des CYP2C19-Inhibitors Omeprazol kumulation des aktiven Wirkstoffes und damit zu den werden kann, wird sie oft über die Enzyme ebenso wie eine begleitende Paracetamol- und einer Wirkungsverstärkung mit der Gefahr einer der Phase-2-Konjugation in der Leber wasser- Aspiringabe hatten laut Haefeli keinen Einfluss auf Überdosierung.8 Weitere wichtige CYP3A4-Inhi- löslich gemacht. Dies erfolgt zum Großteil durch die Pharmakokinetik von Tapentadol.17 3
ARZNEIMITTELINTERAKTIONEN viele Interaktionen kaum Interaktionen Phase-1-Enzyme Phase-2-Enzyme vor allem CYP2D6 und CYP3A4 Prodrug Aktives Prinzip Aktive Metaboliten Inaktive Metaboliten (metabolische Aktivierung (eigentliche Wirksubstanz) (mit aktivem Beitrag zur (ohne Beitrag zur Wirkung) erforderlich) Wirkung) Codein Morphin M-6-G M-3-Glucuronid Dihydrocodein Dihydromorphin Nordihydrocodein Tilidin Nortilidin Bisnortilidin (Tramadol) O-Desmethyl-Tramadol Buprenorphin Norbuprenorphin Buprenorphin Fentanyl Norfentanyl Hydrocodon Hydromorphon inaktive Glucuronide Hydromorphon inaktive Glucuronide UGT Morphin M-6-Glucuronid Morphin-3-Glucuronid Methadon ? Oxycodon (Oxymorphon) Noroxycodon Pethidin Normeperidin Glucuronide Piritramid ? Tapentadol inaktive Glucuronide Abb. 3: Insbesondere die Opioide, die in der Phase-1-Reaktion über die CYP-Enzyme abgebaut werden, weisen ein erhöhtes Interaktionspotenzial auf. Modifiziert nach Haefeli WE 2011. „Nach den bisherigen Daten zu Tapentadol Schmerztherapie spielt dies beispielsweise eine teraktion, vor der auch in den Fachinformationen sind Probleme mit Wechselwirkungen nicht Rolle, wenn zu einem vollen Opioidagonisten, wie gewarnt wird, ist das Auftreten von Kreislauf-, zu erwarten.“ Prof. Dr. Walter E. Haefeli zum Beispiel Morphin, Fentanyl, Oxycodon oder Atem- und ZNS-Störungen im Rahmen eines Se- Pethidin, zusätzlich ein partieller Opioidagonist, rotoninsyndroms bei der Kombination von MAO- Pharmakodynamische Interaktionen in der wie zum Beispiel Nalbuphin oder Buprenorphin, Hemmern und Pethidin. Obwohl diese Interaktion Schmerztherapie verabreicht wird.18,19 Dies könne, so Haefeli, zu zwar nur für Pethidin eindeutig nachgewiesen einer Abschwächung der starken analgetischen wurde, ist die Kombination eines Monoaminoxi- Bei pharmakodynamischen Interaktionen führt Wirkung des vollen Agonisten durch den partiel- dase-(MAO-)Hemmers mit einem Opioid kontra- die Anwesenheit zweier Substanzen am glei- len Agonisten führen. In Einzelfällen kann es da- indiziert. Es wird deshalb allgemein empfohlen, chen Wirkort zu Wirkungsänderungen, ohne durch zu ungenügender Analgesie kommen.20,21 einen MAO-Hemmer mindestens zwei Wochen dass deren Konzentration verändert wird. In der Eine weitere wichtige pharmakodynamische In- vor einer Opioidtherapie abzusetzen (Abb. 4). 14 Tage Pause Opioide Tranylcypromin 5 HWZ Pause 5 HWZ Pause 14 Tage 14 Tage Pause Pause 14 Tage Pause 7 Tage Pause 14 Tage Pause 14 Tage Pause überlappend ein- SSNRI überlappend ein- TZA (Venlafaxin) SSRI bzw. ausschleichend bzw. ausschleichend 5 HWZ 1 Tag Pause 7 Tage Pause 14 Tage Pause 2 Tage Pause Pause MAO-B-Hemmer 1 Tag Pause MAO-A-Hemmer 5 HWZ Pause (Selegilin, Rasagilin) 5 HWZ Pause (Moclobemid) HWZ: Halbwertszeit SSRI: Selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer überlappend ein- bzw. ausschleichend SSNRI: Selektiver Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer TZA: Trizyklische Antidepressiva Abb. 4: Empfehlungen zum Ein- und Ausschleichen von MAO-Hemmern bei Trizyklika sowie Opioidtherapie. Modifiziert nach Bienentreu A et al., Ther Umschau 2008 und Haefeli WE 2011. 4
THERAPIE CHRONISCHER SCHMERZEN Mechanismenorientierte Schmerztherapie bei Nichttumorpatienten Die Behandlung chronischer Schmerzen stellt eine große Herausforderung dar. Die Erfahrun gen der letzten Jahre zeigen, dass eine erfolgreiche Therapie von chronischen Schmerzen sich an den zugrundeliegenden Schmerzmechanismen orientieren sollte. Tiefere Einblicke in die Mechanismen der Schmerzentstehung und -chronifizierung geben die neuen Erkennt nisse aus der (bildgebenden) Schmerzforschung. Neben kortikalen Reorganisationsphäno menen, Aktivitätszunahmen in definierten Gehirnarealen und Veränderungen der Neurochemie scheint insbesondere auch eine fehlende endogene Schmerzhemmung für die Schmerzchro nifizierung von Bedeutung zu sein. Analgetika können über verschiedene Wirkmechanismen Baden-Baden in die pathophysiologischen Vorgänge bei der Schmerzchronifizierung eingreifen. Mit Tapen Dr. med. Ulrich Köster tadol steht ein zentral wirksames Analgetikum zur Verfügung, das zwei Wirkmechanismen in einem Molekül vereint: Es bindet nicht nur an µ-Opioidrezeptoren, sondern hemmt auch gleichzeitig die neuronale Wiederaufnahme des Noradrenalins. Damit verstärkt es die Wir kung der endogenen Schmerzhemmung. Mindestens 19 Prozent der erwachsenen Bevöl- Therapie chronischer Schmerzen – Bedeu kerung in Europa leiden an chronischen nicht- tung der körpereigenen Schmerzhemmung Nürnberg Dr. med. tumorbedingten Schmerzzuständen.23 Dies de- Stefan Schramm monstrierte der Pain-in-Europe-Survey, bei dem Für eine mechanismenorientierte Schmerztherapie die Daten von über 46.000 Teilnehmern aus 15 sind genaue Kenntnisse über die Entstehung no- europäischen Ländern und Israel erhoben wur- zizeptiver und neuropathischer Schmerzen sowie den. Damit gehören chronische Schmerzen zu über die an der Schmerzweiterleitung und ‑modula- den häufigsten Erkrankungen. Dr. med. Stefan tion beteiligten Schmerzbahnen erforderlich. Durch Schramm vom Schmerztherapie Zentrum in die aufsteigenden (aszendierenden) Nervenbahnen Mannheim wies in seinem Vortrag darauf hin, wird das vom Nozizeptor gesendete Schmerzsig- Nürnberg und Freising dass jedoch trotz der Häufigkeit von chroni- nal über das Rückenmark in das Gehirn weiterge- Prof. Dr. med. schen Schmerzzuständen in der klinischen Pra- leitet. Im zerebralen Kortex und in verschiedenen Christian Maihöfner xis die Qualität der Schmerzreduktion zu wün- anderen Kerngebieten wird der Schmerz wahr- schen übrig lasse. Er bezog sich hierbei auf den genommen und emotional bewertet. Eine wich- Pain-in-Europe-Survey in dem 64 Prozent der tige Bedeutung für die Schmerzverarbeitung hat Studienteilnehmer angaben, dass der Schmerz zudem die körpereigene Schmerzhemmung über unter der verordneten Schmerzmedikation nach absteigende (deszendierende) Schmerzbahnen, eigenen Aussagen nur unzulänglich kontrolliert die zu einer vermehrten Freisetzung der beiden wäre. Eine der Ursachen für eine unzureichen- Neurotransmitter Noradrenalin (inhibitorisch) und Freising de Schmerzkontrolle sind Nebenwirkungen, die Serotonin (inhibitorisch und exzitatorisch) im Rü- Prof. Dr. med. Marcus Schiltenwolf eine Dosisreduktion des Analgetikums erfor- ckenmark führen. Wie Schramm ausführte, gibt derlich machen oder gar zum Therapieabbruch es inzwischen auch Hinweise darauf, dass ein führen. Laut eines systematischen Reviews Ausfall der körpereigenen Schmerzhemmung eine menorientierten Schmerztherapie eine gute Ori- brechen chronische Schmerzpatienten unter wichtige Rolle bei der Entstehung von chronischen entierung bieten.26 Mithilfe eines übersichtlichen einer Therapie mit WHO-III-Opioiden eine Be- Schmerzerkrankungen, wie beispielsweise der Fi- Schemas können der Schmerzcharakter und die handlung häufiger wegen Nebenwirkungen ab bromyalgie, spielt. In den nächsten Jahren sei es Symptome des Patienten eingeordnet werden. als wegen ungenügender Wirksamkeit.24 Eine deshalb möglich, dass therapeutische Ansätze, die Danach kann der Arzt eine medikamentöse The- unzureichende Schmerzlinderung kann aber in die körpereigene Schmerzhemmung über des- rapie auswählen, die sich an den zugrundeliegen- auch die Folge einer unzulänglichen Wirkung zendierende Schmerzbahnen eingreifen, weiter an den Mechanismen orientiert. Leidet der Patient des verwendeten Schmerzmittels auf die vor- Bedeutung gewinnen. beispielsweise im Rahmen einer Arthrose oder herrschende Schmerzart sein. Experten fordern eines myofaszialen Schmerzsyndroms an einem deshalb seit längerem eine mechanismenorien- „Eine spezifische Schmerztherapie kann ich belastungsabhängigen lokalen Druckschmerz tierte Schmerztherapie, die sich an den zugrun- als Schmerztherapeut nur beginnen, wenn ich ohne Anzeichen einer Entzündung, dann handelt deliegenden pathophysiologischen Vorgängen die spezifischen Schmerzmechanismen ken- es sich in der Regel um einen rein nozizeptiven orientiert. ne.“ Dr. med. Stefan Schramm Schmerz. Dieser sollte mit Nichtopioiden (NSAR, Auch die WHO arbeitet im Moment an neuen Paracetamol), Muskelrelaxanzien oder – bei star- Leitlinien für die Therapie chronischer gutartiger Pain Router® – Hilfe bei der Schmerzdiffe ken Schmerzzuständen – mit Opioiden therapiert Schmerzen, die eine individuellere und spezi- renzierung und Therapieauswahl werden. Bei einer diabetischen Polyneuropathie fisch auf den Patienten und seine Schmerzsym- hingegen klagt der Patient über brennende und ptomatik zugeschnittene Therapie ermöglichen In der klinischen Praxis kann der Pain Router® dem einschießende Schmerzen – insbesondere auch soll.25 Arzt bei der Auswahl einer geeigneten mechanis- in Ruhe. Bei diesen rein neuropathischen Schmer- 5
THERAPIE CHRONISCHER SCHMERZEN zen kommt es durch die periphere Nervenläsion Bahnen die Konzentration von Noradrenalin im Tapentadol – Schmerzreduktion bei nozi zur Neubildung von Rezeptoren und Ionenkanä- synaptischen Spalt erhöht und damit die kör- zeptiven und neuropathischen Schmerzen len, die zu einer Veränderung des Ruhepotenzials pereigene Schmerzhemmung verstärkt (Abb. 1). und damit zu einer vermehrten Spontanaktivität Studien demonstrierten, dass die relative Betei- Die Wirksamkeit von Tapentadol-Retardtabletten der Nervenzellen führt. Zur Therapie des neuro- ligung der beiden Wirkmechanismen dabei von wurde in klinischen Studien bei unterschiedli- pathischen Schmerzes kommen deshalb memb- der zugrundeliegenden Schmerzart abhängt. chen chronischen Schmerzzuständen unter- ranstabilisierende Substanzen, wie Antikonvulsiva Während im nozizeptiven Schmerzmodell die sucht.31,34,35,36 Bei nozizeptiven Schmerzen zeigte (Natrium- und Kalzium-Kanalblocker) oder An- schmerzhemmende Wirkung verstärkt über den Tapentadol bei Patienten mit starken chronischen tidepressiva, zum Einsatz. Von Bedeutung sind MOR-Agonismus vermittelt wird, hat die NRI im Schmerzen aufgrund einer Gonarthrose eine hier auch Wirkstoffe, die über eine noradrener- neuropathischen Schmerzmodell eine bedeu- wirksame und gleich starke Schmerzlinderung ge und serotonerge Wiederaufnahmehemmung tendere Rolle bei der Schmerzhemmung als die wie Oxycodon.34 Im Vergleich zu Placebo än- in die endogene Schmerzhemmung eingreifen. µ-Rezeptorwirkung.30 Trotz dieser Gewichtung derten sich die durchschnittlichen Schmerzin- Hierzu gehören bestimmte Antidepressiva wie sind immer beide Mechanismen gleichzeitig wirk- tensitätswerte für Tapentadol retard signifikant die selektiven Serotonin- und Noradrenalin-Wie- sam und an der Schmerzinhibition beteiligt. Ta- (p < 0,001). Für Patienten mit chronischen, rein deraufnahmehemmer (SSNRI) oder das zentral pentadol weist somit ein breites Wirkspektrum auf nozizeptiven Schmerzen kann deshalb Tapen- wirksame Analgetikum Tapentadol. und eignet sich deshalb sowohl für die Therapie tadol eine wirksame Therapieoption sein (siehe von nozizeptiven und neuropathischen Schmer- Kasuistik 1). „Über 70 Prozent der Ärzte verordnen bei zen als auch von gemischten Schmerzen (Mixed Die Wirksamkeit von Tapentadol konnte auch bei neuropathischen Schmerzen ein NSAR.“ Dr. Pain). Da die Affinität zum µ-Rezeptor im Vergleich rein neuropathischen Schmerzen demonstriert med. Stefan Schramm zu Morphin um das 50-Fache geringer ist, kommt werden. In einer Studie zur diabetischen Poly- es, basierend auf den Erfahrungen des Entwick- neuropathie führte Tapentadol retard während Tapentadol vereint zwei Wirkmechanismen lungsprogramms, unter Tapentadol zudem zu der dreiwöchigen offenen Titrationsphase zu ei- in einer Substanz deutlich weniger opioidtypischen Nebenwirkun- ner deutlichen Schmerzreduktion (Abnahme der gen wie beispielsweise Übelkeit und Obstipation, mittleren Schmerzintensität (SE) von NSR 7,3 auf Tapentadol vereint zwei Wirkmechanismen – als unter Oxycodon – bei allerdings vergleichbarer 3,5). In der doppelblinden Erhaltungsphase stieg µ-Rezeptor-Agonismus (MOR) und Noradrena- Wirksamkeit beider Wirkstoffe.31 Ein weiterer Vor- die durchschnittliche Schmerzintensität in der lin-Wiederaufnahmehemmung (NRI) in einem teil im Hinblick auf Neben- und Wechselwirkun- Placebogruppe wieder an (mittlere Änderung der Molekül. Beide Mechanismen beteiligen sich auf gen ist die günstige Pharmakokinetik von Tapen- SE 1,3), wohingegen die Schmerzintensität in der synergistische Weise am analgetischen Effekt von tadol. Seine absolute Bioverfügbarkeit wird durch Tapentadol-retard-Gruppe auf einem stabilen Ni- Tapentadol.27 Aufgrund dieser einzigartigen Phar- eine gleichzeitige Nahrungsaufnahme nur unbe- veau blieb (mittlere Änderung der SE -0,1).35 Die makologie wurde Tapentadol von einem interna- deutend beeinflusst. Tapentadol kann deshalb Wirksamkeit von Tapentadol zeigte sich auch in tionalen pharmakologischen Advisory Board als unabhängig von den Mahlzeiten eingenommen Verbesserungen der gesundheitsbezogenen Le- erster Vertreter der Substanzklasse „MOR-NRI“ werden. Da es eine niedrige Bindungsaffinität für bensqualität. Die Therapie mit Tapentadol führte zugeordnet.28,29 Der MOR-Agonismus hemmt Plasmaproteine aufweist und weitgehend über zu numerischen Verbesserungen aller SF-36- spinal über die Stimulation der prä- und postsy- CYP-unabhängige Stoffwechselwege abgebaut Scores.38 naptischen Opioidrezeptoren die Schmerzleitung wird, ist das Interaktionspotenzial gering. Weil an den aufsteigenden Bahnen und moduliert den beim Abbau von Tapentadol keine aktiven Meta- Tapentadol – Analgetische Wirkung auch Schmerz supraspinal. Über die NRI wird hinge- bolite gebildet werden, ist zudem das Risiko für auf gemischte Schmerzsyndrome gen in den absteigenden schmerzhemmenden eine Kumulation sehr gering.32,33,29 Daneben wurde die analgetische Wirksamkeit Steuerung der Schmerzweiterleitung über Schmerzbahnen von Tapentadol retard bei gemischten Schmerz- syndromen mit nozizeptivem und neuropathi- Aszendierende Deszendierende schem Anteil untersucht. In einer klinischen Schmerzbahnen Schmerzbahnen Studie bei Patienten mit chronischen Rücken- schmerzen verbesserten sich unter Tapentadol Schmerzweiterleitung endogene Hemmung der zum Gehirn Schmerzweiterleitung retard (100–250 mg zweimal täglich) sowie Oxy- (deszendierende Regulation) codon CR während der gesamten Titrations- und Erhaltungsphase (15 Wochen) die durchschnitt- → Hemmung der → über Aktivierung des lichen Schmerzintensitätswerte signifikant im Schmerzweiterleitung α2-Rezeptors durch Vergleich zu Placebo.36 Tapentadol retard war im über µ-Opioid- Noradrenalinfreisetzung Vergleich zu Oxycodon CR besser verträglich, Rezeptoraktivierung MOR NRI insbesondere hinsichtlich opioidtypischer gast- rointestinaler Nebenwirkungen. Die bessere Ver- Tapentadol = Tapentadol = Noradrenalin- träglichkeit von Tapentadol retard im Vergleich zu µ-Opioid-Rezeptor-Agonist Wiederaufnahmehemmer Oxycodon CR zeigte sich auch an einer deutlich reduzierten Rate an Studienabbrüchen aufgrund behandlungsassoziierter unerwünschter Neben- wirkungen (TEAEs).36 Mit retardiertem Tapentadol Abb. 1: Tapentadol vereinigt zwei Wirkmechanismen in einem Molekül. Es beeinflusst somit über den MOR sowohl die Schmerzweiterleitung an den aszendierenden Schmerzbahnen als auch über den NRI die endo steht somit eine Behandlungsoption in Form einer gene Hemmung der Schmerzweiterleitung über die deszendierenden Bahnen. Modifiziert nach Tzschentke Monotherapie zur Verfügung, die sowohl die nozi- TM et al., Drugs Fut 2006 und Tzschentke TM et al., JPET 2007. zeptive als auch die neuropathische Komponen- 6
THERAPIE CHRONISCHER SCHMERZEN und dem sekundären somatosensorischen Kor- i Tapentadol – Fakten für die Praxis tex (S2).39 Beide Areale verarbeiteten vorwiegend die sensorisch-diskriminativen Subkomponenten • Seit 15. September 2010 als Palexia® retard in Deutschland erhältlich der Schmerzempfindung. Das mediale Schmerz- • Untersteht der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung system sei an der affektiv-motivationalen Verar- • Formulierung: retardierte Filmtabletten beitung des Schmerzes beteiligt und setze sich • Wirkstärken: 50, 100, 150, 200, 250 mg • Dosierung: zweimal täglich bis 500 mg/Tag aus dem anterioren Cingulum (ACC) und dem • Indikation: starke chronische Schmerzen, die eine Therapie mit Opioiden erfordern präfrontalen Kortex (PFC) (Abb. 5a) zusammen. Eine Zwischenstellung bei der Schmerzverarbei- tung nehme, so Maihöfner, die Inselrinde (Insula) Empfehlungen für den Therapiestart: ein. Da Aktivierungen der Insel mit sympathischen •O pioidnaive und opioiderfahrene Patienten mit Morphinäquivalent von < 80 mg: Antworten einhergehen, werde vermutet, dass Startdosis von 50 mg zweimal täglich (circa alle zwölf Stunden) •O pioiderfahrene Patienten mit Morphinäquivalent von ≥ 80 mg: die Insel ein wichtiger Bestandteil bei der autono- Startdosis von 100 mg zweimal täglich (circa alle zwölf Stunden) men Subdimension der menschlichen Schmerz- •T herapieüberprüfung und Steigerung der Dosis (falls notwendig): erfahrung sei. circa alle drei Tage •A ls Bedarfsmedikation sind schnell freisetzende Analgetika, auch Kombinationen mit anderen Opioiden möglich „Schmerz ist ein komplexer Bewusstseinsin- •E ine adjuvante Therapie mit Antiemetika und Laxanzien ist in der Regel halt, das Gefühl „Schmerz“ entsteht erst im nicht erforderlich Gehirn.“ Prof. Dr. med. Christian Maihöfner Kortikale Reorganisationsphänomene bei te von chronischen Schmerzen behandelt (siehe venfasern führe im ZNS zu dauerhaften neuro- neuropathischen Schmerzen Kasuistik 2). plastischen Veränderungen – ein sogenanntes Schmerzgedächtnis bilde sich aus. Ein wesent- Bei chronischen neuropathischen Schmerzen „Gerade auch bei nicht auf Dauer opioid- licher Teil der Chronifizierungsmechanismen kann laut Maihöfner die Schmerzverarbeitung in pflichtigen Schmerzzuständen ist Tapentadol beim chronischen Schmerz findet laut Maihöfner den beteiligten Gehirnarealen deutlich verändert gut geeignet, da es in der Regel beim Abset- im Gehirn statt. Neue spektakuläre Einblicke in sein (Abb. 5b). Hierzu gehörten beispielsweise zen keine Probleme bereitet“ Dr. med. Ulrich die Schmerzverarbeitung und in die Entstehung Reorganisationen der somatotopischen Karten Köster des Schmerzgedächtnisses seien in den letzten in den sensorischen und motorischen Arealen Jahren durch moderne, nichtinvasive bildgeben- der Hirnrinde. Diese Phänomene beobachte man Auf das Problem einer Chronifizierung beim de Methoden, wie die Magnetenzephalografie insbesondere bei Phantomschmerzen und kom- neuropathischen Schmerz ging Prof. Dr. med. (MEG), das funktionelle MRT (fMRT) sowie die plexen regionalen Schmerzsyndromen (CRPS). Christian Maihöfner von der Neurologischen Uni- Positronenemissionstomografie (PET), ermög- So zeigten CRPS-Patienten eine erhebliche Ab- versitätsklinik in Erlangen in seinem Vortrag ein. licht worden. Maihöfner betonte, dass es nicht weichung der Körperrepräsentationen im sensori- Er berichtete, dass das Risiko hier aufgrund der wie früher angenommen nur „ein Schmerzzent- schen Kortex. Maihöfner und seine Arbeitsgruppe durch die Nervenläsion induzierten morphologi- rum“ gebe, sondern dass durch Schmerzreize ein konnten zeigen, dass bei Patienten mit CRPS die schen Veränderungen an den Neuronen höher komplexes Netzwerk an Hirnarealen aktiviert wer- kortikale Ausdehnung der Handrepräsentati- zu sein scheint als beim nozizeptiven Schmerz. de – zum Beispiel das laterale Schmerzsystem. on kontralateral zur CRPS-Seite schrumpft und Die anhaltende Aktivität der geschädigten Ner- Es besteht laut Maihöfner aus dem primären (S1) sich zudem das Handareal in Richtung Lippe 1 Kasuistik 74-jährige Patientin mit schwerer Gonarthrose Therapie: Dr. med. Stefan Schramm, Schmerztherapie Zentrum Mannheim Die Patientin wurde äquianalgetisch auf Tapentadol retard umgestellt. Un- ter der aktuellen Therapie mit retardiertem Tapentadol in einer Dosierung Anamnese: von 500 mg/Tag weist die Patientin nur noch eine mäßig eingeschränkte Die 74-jährige Patientin stellte sich – bei schwerster Gonarthrose und De- Funktionskapazität bei guter Verträglichkeit auf. Die subjektive Schmerz- formitäten in beiden Knien – aufgrund von starken chronischen Schmer- wahrnehmung auf der VAS wird mit 3 von 10 angegeben. zen im Schmerzzentrum vor. Wegen einer begleitenden Kardiomyopathie war eine kausale Therapie mit einer Knie-TEP nicht möglich. Fazit: • Mit Tapentadol konnte bei der Patientin mit rein nozizeptiven chronischen Diagnose: Schmerzen eine gute Schmerzkontrolle bei guter Verträglichkeit erzielt Bei der Untersuchung zeigte sich eine rein bewegungsabhängige werden. Schmerzsituation ohne Hinweis auf eine neuropathische Schmerzkom- • In der Regel ist bei älteren Patienten über 65 Jahre der bisherigen Studi- ponente. Trotz einer analgetischen Therapie mit Fentanylpflastern (200 enlage zufolge keine Dosisanpassung notwendig.37 µg/h, Wechsel alle drei Tage) konnte bei der Patientin keine ausreichende • Im Hinblick auf die bestehende Kardiomyopathie sollte die kardiovas- Schmerzreduktion erzielt werden. Die subjektive Schmerzwahrnehmung kuläre Verträglichkeit einer Schmerzmedikation berücksichtigt werden. auf der visuellen Analogskala (VAS) wurde mit 7 von 10 angegeben. Die Tapentadol führte in therapeutischen Dosierungen in den klinischen Funktionskapazität war relevant eingeschränkt. Zudem klagte die Patientin Studien nicht zu Veränderungen der EKG-Parameter – insbesondere zu über opioidbedingte Nebenwirkungen mit Obstipation und Schwindel. keiner Verlängerung des QT-Intervalls.37 7
THERAPIE CHRONISCHER SCHMERZEN 2 Kasuistik 76-jährige Patientin mit chronischer Lumboischialgie nach Band Im Rahmen der durchgeführten Untersuchungen wurde die Schmerz- scheibenoperation diagnose eines L5-Syndroms links mit vorwiegend neuropathischem Dr. med. Ulrich Köster, Klinik für Anästhesiologie, Spezielle Schmerzthera- Schmerzcharakter (pain detect 20) bei einer subjektiven Schmerzstärke pie, Marienhospital Stuttgart auf der VAS (0–10) in Ruhe von 5 sowie 9 unter Belastung gestellt. Im MRT stellte sich eine multisegmentale lumbale Spinalkanalstenose (L4 bis Anamnese: S1 mit absoluter spinaler Enge), eine Protrusion von Bandscheibenmate- Bei der 76-jährigen berenteten Patientin wurde im Dezember 2010 auf- rial L4/5 beiderseits intraforaminal und L5 links neuroforaminal sowie eine grund einer chronischen Lumbalgie und eines sensomotorischen L5- Hypertrophie der Facettengelenke dar. Daneben zeigte sich eine fortge- Syndroms links bei Spinalkanalstenose L4 bis S1, multisegmentaler Fa- schrittene lipomatöse Umwandlung der autochthonen Rückenmuskulatur. cettengelenkshypertrophie lumbal und Bandscheibenprotrusionen (L4/5 neuroforaminal beiderseits sowie L5/S1 neuroforaminal links) eine mik- Therapie: rochirurgische Entfernung des Bandscheibenvorfalls bei L5/S1 durchge- Die Patientin führte eine 18-tägige stationäre multimodale Schmerzthera- führt. Daraufhin kam es zu einer nahezu vollständigen Rückbildung der pie durch. An den Wurzeln L5 und S1 links wurde zudem eine periradiku- Radikulopathie L5 links. Nach sechs Wochen traten erneut Beschwerden läre Therapie durchgeführt. auf, worauf die Patientin im März 2011 stationär zur konservativen, multi- Medikation bei Entlassung: modalen Schmerztherapie aufgenommen wurde. • Gabapentin 300 mg 1-1-1 • Tapentadol retard 100 mg 1-0-1 Diagnose: • Concor 5 mg 1-0-0 Bei der Aufnahmeuntersuchung zeigten sich bis auf einen brennenden • Novastatin 40 mg 0-0-1 Streifen links, der vom Gesäß bis ans Sprunggelenk reichte, keine neuro- Die subjektive Schmerzstärke bei der Entlassung wurde mit 2 von 10 (VAS) logischen Defizite. Es lag jedoch eine schmerzhafte Bewegungseinschrän- angegeben. kung des linken Beines vor. Die subjektive Schmerzwahrnehmung auf der visuellen Analogskala (VAS) wurde mit 9 von 10 angegeben. Das Lasègue- Fazit: Zeichen war beiderseits negativ, der Zehen- und Hackengang nur unter Die Patientin zeigte ein gemischtes Schmerzsyndrom mit nozizeptiver und Schmerzen demonstrierbar. überwiegend neuropathischer Komponente, das unter Medikation mit ei- Medikation bei Aufnahme: nem Muskelrelaxans, einem NSAR und einem Glukokortikoid nur unzurei- • Tolperison 50 mg 1-0-1 chend kontrolliert war. • Novaminsulfon 20 Tropfen bei Bedarf Mit der die multimodale Therapie begleitenden Umstellung auf Gabapentin • Prednisolon 20 mg 1-0-0 und Tapentadol retard, bei der auch die neuropathische Komponente des • Omeprazol 20 mg 1-0-0 Schmerzsyndroms berücksichtigt wurde, konnte eine gute Schmerzre- • Bisoprolol 10 mg ½-0-0 duktion erzielt werden. verschoben hatte. Sowohl bei CRPS als auch Veränderungen und der Schmerzstärke feststel- änderungen und somit die Schmerzentstehung bei Phantomschmerzen konnte er eine positive len.40,41,42 Kortikale Reorganisationsphänomene im Gehirn positiv beeinflusst werden sollen (siehe Korrelation zwischen dem Ausmaß der kortikalen seien mittlerweile auch bei anderen Erkrankun- Kasuistik 3). Durch Studien seien die positiven Ef- gen, wie chronischen Rückenschmerzen sowie fekte der Spiegeltherapie bei Phantomschmerzen bei Nervenläsionen, nachgewiesen worden, so und CRPS mit einer deutlichen Schmerzreduktion Maihöfner. In der Zwischenzeit sei bekannt, dass und einer verbesserten Kontrolle der erkrankten kortikale Reorganisationsphänomene durch mul- Extremität oder des Phantomglieds bereits de- timodale Therapieprogramme, die eine suffizi- monstriert worden, berichtete Maihöfner44,45 ente Schmerztherapie sowie neurorehabilitative Therapieverfahren umfassen, wieder verbessert Aktivierung von emotionalen Gehirnarealen werden können.41,43 Zu den neurorehabilitativen und fehlende Schmerzhemmung Therapieverfahren gehöre die sogenannte Spie- geltherapie, bei der durch das Spiegelbild der ge- Neben kortikalen Reorganisationsphänomenen in a sunden Extremität und einem sensomotorischen den somatotopischen Hirnrindenkarten beobach- Training die krankheitsbedingten kortikalen Ver- te man, so Maihöfner, bei chronischen Schmerz- syndromen zudem eine vermehrte Aktivierung von emotionalen Gehirnarealen wie dem dorso- Abb. 5: a) Hirnaktivierung bei experimentellen Schmerzreizen: li. laterales Schmerzsystem mit S1 lateralen präfrontalen Kortex (PFC). Diese Akti- (primärer somatosensorischer Kortex) und S2 (se- vierung werde von multiplen Faktoren, wie einem kundärer somatosensorischer Kortex), re. mediales zugrundeliegenden pathologischen Schmerzzu- Schmerzsystem mit ACC (anteriorer cingulärer Kor- stand, Erwartungshaltungen, Aufmerksamkeit, tex) und PFC (präfrontaler Kortex). b) Hirnaktivierung Affekt und Stimmung beeinflusst und somit auch bei neuropathischen Schmerzen. Die Inzidenz der Aktivierungen entspricht den Größendarstellungen als „individuelle Schmerzsignatur“ bezeichnet. b der jeweiligen Kortexareale. Modifiziert nach Mai- Mehrere tierexperimentelle Studien haben, wie höfner C et al., Schmerz 2010. Maihöfner berichtete, gezeigt, dass bei chroni- 8
THERAPIE CHRONISCHER SCHMERZEN 3 Kasuistik 34-jähriger Patient mit CRPS I Stadium 3 nach Mittelhand ben. Der HADS (Hospitality Anxiety and Depression Scale) Angst lag bei trümmerbruch (MHK 2) rechts 21 Punkten (Grenzwert 11 Punkte), der HADS Depression bei 14 Punk- Prof. Dr. med. Marcus Schiltenwolf, Universitätsklinikum Heidelberg, ten (Grenzwert 11 Punkte). Der Wert der freien Rückenfunktion nach dem Stiftung Orthopädische Universitätsklinik, Heidelberg Funktionsfragebogen Hannover (FfbH-R) lag bei 35 Prozent. Auffällig war ein deutlich angespannter Gesichtsausdruck mit Anzeichen für Ärger und Anamnese: Wut über die Situation. Die psychosomatische Untersuchung ergab ge- Der 34-jährige Patient, von Beruf Stukkateur im Bauhauptgewerbe, hemmte Aggressionstendenzen gegenüber dem strengen Vater und der klemmte sich im Oktober 2008 die rechte Hand in der Autotür ein, nach- Tochter, die der Patient für den Unfall verantwortlich machte. Nach der dem die Tochter die Tür unerwartet zugeschlagen hatte. Dabei erlitt er Befunderhebung wurden die folgenden Diagnosen gestellt: einen Trümmerbruch des zweiten Mittelhandköpfchens. Die Fraktur wurde • CRPS, Stadium 3 operativ mit einer Osteosynthese versorgt. Nach der Metallentfernung im • Somatoforme Schmerzstörung Januar 2009 konnte der Patient wieder in das Berufsleben eingegliedert • Panikstörung mit Panikattacken werden. Im April 2009 fiel während der Arbeit eine Gerüstbauklappe auf • Anpassungsstörung die operierte rechte Hand. Im Mai wurde der Patient aufgrund zunehmen- der Beschwerden stationär aufgenommen. Im Rahmen der dort durchge- Therapie: führten Untersuchungen wurde ein CRPS I Stadium 3 der rechten Hand Zur Refunktionalisierung des rechten Armes wurden eine Spiegeltherapie sowie eine Anpassungsstörung diagnostiziert und eine medikamentöse und eine Ergotherapie veranlasst. Daneben erhielt der Patient eine nor- Schmerztherapie begonnen. Im November 2009 erhielt der Patient zudem male Physiotherapie und ein Belastungstraining. Zur Therapie der psy- eine ambulante Psychotherapie, die im Januar 2010 aufgrund der weiter chosomatischen Komponente wurde bei dem Patienten eine begleitende bestehenden Schmerzsymptomatik mit einer tagesstationären Schmerz- Psychotherapie (vier psychotherapeutische Einzelgespräche pro Woche therapie ergänzt wurde. Parallel dazu erfolgten erste Rentengutachten und drei Gruppengespräche) durchgeführt. Zweieinhalb Wochen nach (handchirurgisch, neurologisch, psychiatrisch), die eine Minderung der Therapiebeginn fühlte sich der Patient bereits deutlich besser und war mit Erwerbsfähigkeit von 40 Prozent sowie eine Empfehlung zum Einhänder- dem Therapieergebnis zufrieden. Mit der rechten Hand konnte er wieder training aussprachen. Ab Mai 2010 erfolgte eine medizinische und berufli- einen Händedruck ausführen, der rechte Arm wurde teilweise wieder in die che Rehabilitation bei der ein Einhändertraining sowie eine berufliche Um- Psychomotorik integriert. Obwohl durch die Therapie noch eine weitere schulungsmaßnahme zur Qualitätsfachkraft durchgeführt wurden. Nach Verbesserung der rechten Hand zu erwarten gewesen wäre, wollte der einem Wegeunfall auf dem Weg zur Schulung, bei der es zu keinen neuen Patient die Therapie beenden, um sein Anrecht auf eine Umschulung und strukturellen Schäden an der Hand kam, brach der Patient die Umschu- die Unfallrente nicht einzubüßen. lung ab. Bei weiter fortbestehender Schmerzsymptomatik und deutlicher Funktionseinschränkung der rechten Hand sowie zunehmender Stress- Fazit: symptomatik mit Panikattacken stellte sich der Patient in der Ambulanz • Der Patient wies neben der Bewegungsstörung im Rahmen eines CRPS und Tagesklinik für Schmerztherapie in Heidelberg vor. psychische komorbide Störungen auf. Aufgrund der Häufigkeit von ko- morbiden psychischen Störungen sollte die Therapie des CRPS immer Diagnose: ganzheitlich orientiert sein – auch Psychotherapie und nichtmedikamen- Bei der körperlichen Untersuchung war die Spontanmotorik des rechten töse Maßnahmen sind ein Bestandteil davon. Armes kaum mehr vorhanden, nach Aufforderung war ein schwacher • Die Persönlichkeit und das Umfeld sowie der sekundäre Krankheitsge- Grobgriff und Faustschluss möglich. Der Zeigefinger wurde gestreckt ge- winn sollten immer bedacht und therapeutisch integriert werden. halten und war mehr als 2° C kühler. Die funktionellen Einschränkungen • Mit der Spiegeltherapie als einem ergotherapeutischen Verfahren, das in der Hand waren teilweise überwindbar. Daneben lagen eine Hyperhidrose den Pathomechanismus der kortikalen Reorganisation eingreift, konnte und eine mechanische Allodynie vor. Die subjektive Schmerzwahrneh- bei dem Patienten eine deutliche Verbesserung der Psychomotorik so- mung auf der visuellen Analogskala (VAS) wurde mit 5–8 von 10 angege- wie eine Schmerzreduktion erreicht werden. schen Schmerzen zudem eine verminderte Aktivi- tät des endogenen Schmerzhemmungssystems i Spiegeltherapie eine Rolle spiele. Man vermute, dass auch beim Bei der Spiegeltherapie soll der Patient anstatt der erkrankten beziehungsweise amputierten Menschen eine fehlende Schmerzhemmung für Extremität das Spiegelbild der gesunden Extremität wahrnehmen. Dazu steht vor dem Patienten die Schmerzchronifizierung relevant sei. Dane- in der Sagittalebene ein Spiegel, hinter dem sich die erkrankte oder nach einer Amputation nicht ben scheinen auch veränderte Opiatrezeptorbin- mehr vorhandene Extremität des Patienten befindet. Der Patient blickt in den Spiegel und sieht somit zwei gesunde Extremitäten. Unter ergotherapeutischer Anleitung führt er ein sensomoto- dungsprofile für die Chronifizierung von neuropa- risches Training (zum Beispiel Übungen mit dem Ball, Knetrolle, Nagelbrett) zunächst vor dem thischen Schmerzen eine Rolle zu spielen. Nach Spiegel, nach einiger Zeit dann ohne den Spiegel durch. Maihöfner gebe es Hinweise darauf, dass Fib- romyalgiepatienten eine verminderte Anzahl von Indikationsgebiete der Spiegeltherapie Opioidrezeptoren im Gehirn aufweisen.46 Deafferenzierungsschmerzen bei: • Amputationen • CRPS (M. Sudeck) • Plexusläsionen • Hirninfarkt 9
SCHMERZTHERAPIE BEI TUMORPATIENTEN Differenzierte Schmerztherapie bei Tumorpatienten Tumorschmerzen gehören zu den häufigsten und für den Patienten belastendsten Sympto Stufenschema behandelt. Man beginne dabei men einer Tumorerkrankung. Eine bestmögliche, individuell auf den Patienten ausgerichtete mit der Stufe I, also mit den bekannten Nicht Schmerztherapie ist deshalb die Grundvoraussetzung für den Erhalt der Lebensqualität von opioid-Analgetika, die NSARs sowie Paracetamol Tumorpatienten. Die Behandlung eines Mixed Pain erweist sich häufig als schwierig und er und Metamizol umfassen. Bei unzureichender fordert eine frühzeitige Kombinationstherapie aus einem Opioid und einem Koanalgetikum, Schmerzreduktion kombiniere man diese in der wie zum Beispiel einem Antidepressivum oder einem Antikonvulsivum. Die Anforderungen Stufe II mit niederpotenten Opioiden. Führe dies an eine gute Schmerztherapie umfassen neben einer effektiven Schmerzlinderung auch eine noch nicht zur akzeptablen Schmerzlinderung akzeptable Verträglichkeit. Eine mögliche Therapieoption bei Mixed Pain könne, wie PD Dr. beim Patienten, könne man die niederpotenten med. Christoph Wiese von der interdisziplinären Schmerzambulanz des Universitätsklini Opioide durch hochpotente Opioide ersetzen kums in Regensburg in seinem Vortrag erläuterte, aufgrund seines dualen Wirkmechanismus (Stufe III). In der modernen Schmerztherapie ver- auch Tapentadol sein. zichte man jedoch inzwischen mehr und mehr auf den Einsatz von niedrigpotenten Opioiden und teilten beispielsweise 75 Prozent der Patienten wende stattdessen die heutzutage auch in sehr ihre aktuelle Schmerzmedikation im Hinblick niedriger Dosierung verfügbaren hochpotenten auf die Therapie von Durchbruchschmerzen als Opioide an, so Bardenheuer. Da niedrig dosierte nur unzureichend.48 Aufgrund der vielen Facet- hochpotente Opioide häufig verträglicher sind als ten, die der Tumorschmerz in puncto Ursachen hochdosierte niedrigpotente Opoide, habe dies und Schmerzart aufweisen kann, erscheint dies vor allem im Hinblick auf die Nebenwirkungen nicht verwunderlich. Nach pathophysiologischen gewisse Vorteile. In Stufe IV des WHO-Stufen- Nürnberg Prof. Dr. med. Gesichtspunkten unterscheidet man beim Tu- schemas kämen dann in der palliativen Situation Hubert Bardenheuer morschmerz zwischen nozizeptiv-somatischen Schmerzpumpen zum Einsatz. Eine Begleitmedi- (45 Prozent), nozizeptiv-viszeralen (30 Prozent) kation mit Antiemetika und Laxanzien sei bei einer und neuropathischen (zehn Prozent) Schmer- Therapie mit Opioiden indiziert. Eine Therapie mit zen. Wiese berichtete in seinem Vortrag, dass Koanalgetika werde abhängig von der speziellen beim Tumorschmerz häufig gleichzeitig sowohl Situation des Patienten eingesetzt. Hierzu zählen ein nozizeptiver als auch ein neuropathischer laut Bardenheuer beispielsweise Antidepressi- Schmerztyp existiere – man spreche dann vom va und Antikonvulsiva, die bei neuropathischen Freising sogenannten „Mixed Pain“.49 Die Behandlung ei- Schmerzen eingesetzt werden. Bardenheuer PD Dr. med. ner Mischung aus nozizeptiven und neuropathi- betonte, dass der Patient allerdings vor dem Christoph Wiese schen Schmerzen sei – ähnlich wie beim chro- Einsatz von Antidepressiva und Antikonvulsiva nischen Nichttumorschmerz – in der klinischen vom behandelnden Arzt gut über die neben der Die Zahl von Patienten und Patientinnen, die meist Praxis häufig schwierig. Der Mixed Pain erfordere eigentlichen Indikation vorhandene analgetische für längere Zeit wegen einer Tumorerkrankung be- eine spezifisch auf beide Schmerzanteile wirken- Wirkung dieser Substanzen informiert werden handelt werden, ist seit 1990 erheblich angestie- de analgetische Therapie. Um eine differenzierte müsse, um die Compliance und das Vertrauens- gen. So erhöhte sich die Prävalenz in den letzten Schmerztherapie beim Tumorschmerz zu ermög- verhältnis zum Arzt nicht zu gefährden. 20 Jahren bei den Frauen um circa 35 Prozent, bei lichen, sei es allerdings erforderlich, zunächst den Männern sogar um 80 Prozent.47 Da rund ein eine ausführliche Schmerzdiagnostik durchzufüh- Anwendung von Opioiden in der Drittel aller Betroffenen bereits bei der Erstdiag- ren, betonte Wiese. Tumorschmerztherapie nose Schmerzen aufweist, steigt auch der Bedarf einer geeigneten Schmerztherapie für Tumorpa- „Die Diagnose „Mixed Pain“ sollte nach ei- Der Basisschmerz sollte laut Bardenheuer im- tienten. Das primäre Ziel der Tumorschmerzthe- ner korrekten Schmerzdiagnostik bei Vorlie- mer mit Retard-Opioiden behandelt werden. Viel rapie sei, die Lebenszufriedenheit des Patienten gen von nozizeptiven und neuropathischen zu häufig wende man jedoch in der klinischen zu verbessern, betonte Wiese. Eine analgetische Schmerzanteilen gestellt werden – häufig wird Praxis in der Basistherapie Tropfen, also rasch Therapie sollte dabei möglichst frühzeitig unter der Begriff jedoch in der Praxis als Verlegen- wirksame Opioide, zur Dauertherapie an. Das Nutzung von medikamentösen und nichtpharma- heitsdiagnose bei schwierig einzuordnender könne langfristig zu einer psychischen Abhän- kologischen Therapieoptionen, wie zum Beispiel klinischer Symptomatik verwendet.“ PD Dr. gigkeitsproblematik führen, mahnte Bardenheuer. Physiotherapie, Psychotherapie und transkutane med. Christoph Wiese Die Dosisfindung sollte immer titrierend erfolgen, Nervenstimulation (TENS), begonnen werden. wobei die Startdosis von der Tumorerkrankung Tumorschmerztherapie – schrittweise abhängt und je nach Vorgeschichte individuell Häufig auch neuropathische Komponente therapieren gewählt werden sollte. Die Dosierung richte sich beim Tumorschmerz vorhanden nach der Schmerzintensität, die anhand der vi- Tumorschmerzen mit rein nozizeptiven Anteilen suellen Analogskala erfasst werden könne. Für Trotz der Möglichkeiten der modernen Schmerz- werden, wie Prof. Dr. med. Hubert Bardenheuer Durchbruchschmerzen stünden rasch wirksame therapie muss vor allem die Behandlung von von der Klinik für Anästhesiologie der Universität Opioide mit einem Wirkeintritt nach drei bis fünf Tumorschmerzen verbessert werden. So beur- Heidelberg erläuterte, klassisch nach dem WHO- Minuten zur Verfügung, die oral, nasal, rektal, 10
Sie können auch lesen