MAGAZIN 06 AUSGEFALLEN - DAS SECHSTE JAHR DES HESSISCHEN STAATSBALLETTS - Hessisches Staatsballett
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E D I TO R I A L IN BEWEGUNG BLEIBEN Verehrtes Publikum, liebe Tanzfreundinnen und Tanzfreunde, eine wechselvolle Spielzeit 2019/20 liegt hinter uns. Als erste Tanzkompanie in Europa kehrte das Hessi- Mit Der Nussknacker starteten wir fulminant in sche Staatsballett im Juni 2020 auf die Bühne zurück. die Saison und sorgten für einen Publikumserfolg Vor stark dezimiertem Publikum zeigten wir an zwei für jung und alt, der den Weihnachtsklassiker in Abenden mit Startbahn I und II Kurzchoreografien die Moderne holte und mit viel Spielwitz vermischte. von Tänzer*innen unseres Ensembles. Tanz auf Distanz, der Wunsch berühren zu wollen ohne eine Rasant ging es weiter mit unseren Großproduktionen. physische Entsprechung. Ein Kaleidoskop an Ideen, Im Februar feierte der Doppelabend Le sacre du der Versuch neue Wege zu gehen, jenseits von printemps Premiere im Großen Haus des Staats Duetten, Trios und Quartetten, dafür mit viel Krea- theaters Darmstadt. Bryan Arias mit 29th May 1913 tivität und Solidarität füreinander. und Edward Clug mit seiner 2012 uraufgeführten gleichnamigen Version des berühmten Werks von Der Sog, in den unsere Gesellschaft geraten ist, Igor Strawinsky zeigten zwei sehr unterschiedliche ist auch einer der Ausgrenzung und gewaltbereiten Auseinandersetzungen mit diesem wegweisenden Auseinandersetzung. Jung gegen alt, schwarz Stück der modernen Tanzgeschichte. gegen weiß, binäre Zuschreibungen, die für Still- stand stehen, während wir uns nach einer bewegten Danach änderte ein Virus den Lauf der Welt. Als wir Welt sehnen. Bewegung steht für Entwicklung. am 13. März, einem Freitag auch noch, kurz vor der Fortschritt für das Weitergehen in eine gemeinsame Wiesbadener Premiere von Le sacre du printemps Richtung. in den durch Corona bedingten Lockdown gingen, sahen wir alle einer ungewissen Zukunft entgegen. Bevor die Pandemie im Frühjahr die Geschicke des Weltgeschehens in neue Bahnen lenkte, zog Das öffentliche Leben heruntergefahren, das der Wandel bereits in unsere Teamstruktur ein. soziale Miteinander auf eine harte Probe gestellt, gesellte sich zwischen die Diskussion um Sicher Ab der kommenden Spielzeit 2020/21 werden wir heitskonzepte und ökonomische Gedankenspiele die Rollen tauschen mit dem zukünftigen Haus- auch die Frage nach der Systemrelevanz des choreografen Tim Plegge und Bruno Heynderickx Kulturbetriebs. Welchen Wert hat Kultur und mit ihr als neuem Ballettdirektor. Zuvor werfen wir aber der Tanz in einer Gesellschaft in Zeiten der Krise? einen Blick zurück auf eine ereignisreiche Spielzeit 2019/20, die uns in vielerlei Hinsicht bewegt hat. Die Kultur ist in einem Wandel begriffen, dessen Auswirkungen wir heute noch nicht abschätzen Herzlichst, können. Während in anderen Ländern, zuletzt etwa mit Scapino Ballet in Rotterdam, renommierte Häuser von der Schließung bedroht sind, die freien Kulturschaffenden weltweit in Existenznot geraten Bruno Heynderickx und ganze Jahresdispositionen an Gastspielen ersatzlos gestrichen werden, bestimmen Hygiene konzepte und Abstandsregeln von nun an unseren Arbeitsalltag. Tim Plegge 03
DANIEL MYERS DER NUSSKNACKER von Tim Plegge Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, teilweise arrangiert von Ralph Abelein Uraufführung am 19. Oktober 2019 Hessisches Staatstheater Wiesbaden Premiere Darmstadt am 16. November 2019 Staatstheater Darmstadt ENSEMBLE 05
LUDMILA KOMKOVA JIYOUNG LEE »Wer wagt, durch das Reich der Träume zu schreiten, gelangt zur Wahrheit.« E. T. A. H O F F MAN N Mit einer Neufassung des Ballett klassikers Der Nussknacker er- öffnete Tim Plegge die Saison 2019/20 des Hessischen Staatsballetts. In Plegges Fassung sind märchen hafte Elemente und turbulenter MARCOS NOVAIS FRANCESC NELLO DEAKIN Familienweihnachtsalltag inein ander verschränkt, und auch die dunklen und skurrilen Seiten der Geschichte finden ihren Platz. »Diese Verschränkung von Fantasiewelt und Realität wollten wir MARGARET HOWARD sichtbar machen. Und das Wiederfinden der einen in der anderen Welt …« TIM PLEGGE MASAYOSHI KATORI ENSEMBLE VANESSA SHIELD 08
AURÉLIE PATRIARCA JORGE MORO ARGOTE Plegges Version des Nussknackers hält viele Überraschungsmomente bereit, die von lebensgroßen Puppen und sich wie von Geisterhand bewegenden Schränken bis zu einer Neuinterpretation der Musik von Tschaikowsky reichen. Da darf auch eine Hammond-Orgel nicht fehlen … 09
DER NUSSKNACKER MUSIK Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, teilweise arrangiert von Ralph Abelein C H O R E O G R A F I E Tim Plegge B Ü H N E Frank Philipp Schlößmann KO S T Ü M Judith Adam L I C H T Tanja Rühl D R A M AT U R G I E Karin Dietrich TATSUKI TAKADA P R O B E N L E I T U N G, C H O R E O - G R A F I S C H E AS S I S T E N Z Uwe Fischer, Gianluca Martorella AS S I S T E N Z K I N D E R BA L L E T T Nira Priore Nouak »Wir haben versucht, dem Nussknacker ENSEMBLE GAETANO VESTRIS TERRANA ganz unbefangen zu begegnen und hinzuhören, was da für uns in der Musik passiert. […] Dadurch sind wir zu einer Umstellung mancher Nummern gekommen, weil unsere Geschichte eine andere Reihenfolge braucht.« TIM PLEGGE 11
»Wie in einem Versuchslabor!« Frank Philipp Schlößmann stammt aus Bad König im Odenwald. Er studierte Eine Reise hinter am Salzburger Mozarteum Bühnen- und Kostümgestaltung. Mit den Regisseuren Andreas Homoki, Olivier Tambosi, Aron die Kulissen des Stiehl und Stephen Lawless arbeitete er an zahlreichen Opernhäusern, u. a. an den Staatsopern Berlin, München, Nussknackers Hamburg, der Semperoper Dresden, der Deutschen und der Komischen Oper in Berlin, den Opern in Köln, Leipzig, Bonn, Düsseldorf/Duisburg, Essen, Bühnenbildner Frank Philipp Schlössmann und Karlsruhe, den Nationaltheatern Kostümbildnerin Judith Adam im Gespräch Mannheim und Weimar. International war er tätig als Bühnen- und Kostüm- bildner an der Metropolitan Opera New York, an der San Francisco Opera, der Lyric Opera of Chicago, der Houston Grand Opera, der Los Angeles Opera, dem Royal Opera House London sowie Lucas Herrmann LH der English National Opera, ebenso in Lieber Frank, nach Sommernachtstraum ist Der Für mich bekommt das an einigen Stellen zuweilen Straßburg, Dublin, am Gran Teatre del Nussknacker nun Dein zweites Bühnenbild für ein einen filmischen Eindruck im Sinne von Special Liceu in Barcelona, in Florenz, Bologna, Ballett von Tim Plegge am Hessischen Staatsballett. Effects, wenn ich z. B. an die Kampfszene zwischen am »Fenice« in Venedig, in Genua, Wie hast Du Dich diesem Weihnachtsklassiker Nussknacker und Rattenkönigin denke, in der sich Catania, der Staatsoper Budapest, Amsterdam, Antwerpen, Oslo, Helsinki, konzeptionell genähert? beide auf den Schränken stehend umkreisen, oder Zürich, Basel, Bern, Linz, Graz, der Marie und der Nussknacker auf einem Schrank Wiener Volksoper sowie am Teatro Frank Philipp Schlößmann nach Zuckerland fliegen. Darüber hinaus spielst Colón in Buenos Aires, in Peking, Tokio Beim Bühnenbild konzentrieren wir uns auf ein Ele- du mit verschiedenen Größenverhältnissen. und am Mariinsky-Theater in St. Peters- ment, das bereits in der Erzählung E.T.A. Hoffmanns burg. Außerdem entwarf er Ausstat- tungen für die Innsbrucker Festwochen Nussknacker und Mausekönig von zentraler Bedeu- FPS der Alten Musik und die Händel-Fest tung ist: den Schrank. Es werden verschiedene Dimensionen der Schränke spiele in Halle, für die Bayreuther Fest- gezeigt und dadurch unterschiedliche Räume ge- spiele (Der Ring des Nibelungen 2006 LH öffnet. Mal erscheint ein überdimensionaler Schrank bis 2010 und Tristan und Isolde 2015 bis Wofür steht der Schrank in der Geschichte und in als bedrohliches Bollwerk, dann wiederum ist ein 2019), sowie für die Bregenzer Fest- spiele das Bühnenbild für Faccios ver- Deinem Bühnenbild? Schrank ein heimeliger Rückzugsort. Die Schränke gessene Oper Amleto als auch das sind dadurch nicht nur variables Bühnenelement Bühnenbild für die Uraufführung Lenua FPS und Teil der Choreografie, sondern decken auch in Zürich. Der Schrank ist das Tor, durch das Marie in die Bedeutungsebenen der Geschichte auf. Zauberwelt gelangt. In meinem Bühnenbild ist er gleichzeitig der Schlüssel für verschiedene wichtige Handlungsmomente, wie etwa den Kampf zwischen Puppen und Mäusen (bei uns: Ratten). LH Es ist ein ganzes Schrankensemble, das Du da auf- fährst. Was mich an Deinem Ansatz fasziniert, ist die Variabilität des Bühnenbilds. Es ist ja eigentlich eine leere Bühne, die wir zu Anfang und zwischen drin sehen und die durch die Schränke dann unter- schiedlich bespielt und in verschiedene Szenarien verwandelt wird. FPS Wir wollten einen dynamischen Raum schaffen. Es entstehen verschiedene Möglichkeiten für das Inter- agieren mit den Tänzer*innen. Uns war wichtig, dass die Schränke als Bühnenelement Aktionspotenzial bereithalten. Mit Fortlauf der Handlung haben wir über ein Dutzend Schränke auf der Bühne. Die Tänzer*innen können durch sie auf- und abtreten, sie bewegen, auf sie klettern. 12
LH Liebe Judith, Dich verbindet mit Tim Plegge bereits eine lange Arbeitsgemeinschaft. Was war für Dich das Besondere, mit ihm nun den Nussknacker umzusetzen? Judith Adam Der Nussknacker war für uns zusammen eine außer- gewöhnliche Reise hinein in kindliche Fantasiewelten. Wir konnten plötzlich mit spielerischer Freude den größten Unfug erträumen, und unsere Ideen griffen komplett ineinander. Alles war möglich. Spannend daran war, neben einer ganz normalen Familie leben- dige Puppen, Ratten, einen Hofstaat der Zuckerwelt, Schneeflocken und Blumen zu entwerfen. LH Wie bist Du diese Herausforderung angegangen? angefertigt, die dann optisch nahtlos in die Puppen- körper übergehen mussten. Aus der Schneiderei JA kamen diese herrlich dicken Bäuche ganz pur und Mir war wichtig, die verschiedenen Welten sehr weiß und mussten dann noch gefärbt, mit Flicken kontrastreich und möglichst aus der Perspektive bestückt, bemalt und bestickt werden. Das ist eine eines Kindes zu entwickeln. Dazu studierte ich logistische Meisterleistung. Letztlich gibt es im Unmengen an Bildern. Erst wenn ich eine genaue Stück ja auch nicht nur lebende Puppen, sondern Vorstellung habe, trage ich alle Ideen für eine Figur auch die Puppen, mit denen Marie spielt, die von in einer Zeichnung zusammen. Dabei muss man der Dekorationsabteilung angefertigt wurden. Nur bereits die Realisation – also das »Wie« – vor Augen im Zusammenspiel ist diese Illusion zu erschaffen. haben. Diese Ideen bespreche ich mit den groß- Dabei bin ich den zahlreichen Kolleg*innen des artigen Kolleg*innen in den Werkstätten, und ge- Theaters sehr dankbar, aber auch ganz besonders Judith Adam führte ihr Interesse am meinsam beginnt eine neue Reise. Es ist wie den Tänzer*innen. Die Kostüme des Nussknackers bewegten Körper und zeitgenössischen in einem Versuchslabor. sind wirklich eine Zumutung! Sie sind heiß, unbe Tanz während ihrer Studienzeit an der weglich, schwer, zum Teil mit eingeschränkter Sicht, Kunsthochschule Berlin-Weißensee zum und die Tänzer*innen haben sich kein einziges Mal Wechsel von der Mode zum Kostümbild. beschwert, sondern die Kostüme mit viel Herzblut Sie arbeitete mit der politischen Tanz- und Humor zu ihren gemacht. Wenn sich unerwartet regisseurin Helena Waldmann (We love horses, Theaterhaus Stuttgart) ebenso in der Anprobe eine Puppe, die genau so wie auf wie mit den Choreografen Reginaldo der Figurine aussieht, zärtlich über den Bauch Oliveira (Othello, Salzburger Landes- streichelt, ist das wirklich bewegend. theater) und Antoine Jully (Sacre, Oldenburgisches Staatstheater). Adam LH gestaltete Kostüme für den aus dem Breakdance stammenden Choreografen Die Puppen und auch die Ratten haben einen ganz Kadir Amigo Memis (Cabdance, HAU eigenen Charme zwischen leichtem Gruselfaktor Berlin), der analytischen Performerin und liebevoller Skurrilität. Welchen Entstehungs- Gabriele Reuter (Tourist a de-centred hintergrund haben sie? play) und der experimentellen Choreo- grafin Deborah Hay (Teancity of space, JA Tanzhaus NRW). Seit 2004 arbeitet Judith Adam intensiv mit Tim Plegge Mir war wichtig, dass Marie nicht mit Porzellan zusammen. Am Badischen Staatstheater püppchen in die Schlacht zieht, sondern mit richtig Karlsruhe schuf sie die Kostümbilder heiß und innig geliebten, wilden, abenteuerlustigen für seine Ballette Momo und Orpheus, Puppen. Puppen, die Platz für Fantasie lassen und am Hessischen Staatsballett für Aschen- puttel, Kaspar Hauser, Ein Sommernachts- witzig sind. Sie stellen das Schönheitsideal des traum, Die Winterreise und zuletzt Liliom. LH klassischen Balletts kompromisslos in Frage. Das Im Musiktheater kreierte sie Bühnen- Könntest Du dies an einem Beispiel verdeutlichen? gefällt mir. Genauso wollten wir, dass nicht gegen bilder für die RegisseurInnen Corinna Mäuse, sondern gegen richtig böse Ratten mit einer Tetzel (An unserem Fluss, Oper Frankfurt), JA Prise Clockwork Orange gekämpft wird. Letztlich Michaela Dicu (Rocky Horror Show, Deutsches Theater Göttingen) und Gerade die Überformung der Tänzerkörper bei den nehmen wir darin Kinder sehr ernst. Ihr Spiel ist lust- Axel Köhler (Die lustige Witwe, Theater Puppen und Ratten war eine große Herausforderung. voll radikal mit allen Gefühlsregungen und immer Erfurt). Wir verschieben hier die natürlichen Proportionen ungewissem Ausgang. Judith Adam ist darüber hinaus als Gast- der Körper, trotzdem muss die Bewegungsfreiheit dozentin an der Kunsthochschule Dresden erhalten bleiben. Wir probieren vieles an uns selbst tätig, wo sie derzeit über die Geschichte aus, um ein Gefühl dafür zu bekommen, und sprechen und Entwicklung des Tanzkostüms lehrt. mit den Tänzer*innen. Die Kostüme dürfen nicht zu Als Vorsitzende des Bundes der Szeno- grafen diskutiert sie künstlerische und heiß werden, müssen waschbar und schnell an- politische Fragen ihres Berufes und zuziehen sein. Hinzu kommt gerade bei den Puppen gestaltet Ausstellungen und Symposien. die Verzahnung der verschiedenen Gewerke. Die Maske hat diese wundervollen Puppenköpfe 13
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29 MAY 1913 VON BRYAN ARIAS RAMON JOHN LE SACRE DU PRINTEMPS Zweiteiliger Ballettabend von Bryan Arias und Edward Clug mit Musik von Igor Strawinsky und Dmitri Savchenko-Belski Darmstädter Premiere am 29. Februar 2020 Staatstheater Darmstadt Wiesbadener Premiere ursprünglich am 15. März 2020 Neuer Premierentermin am 13. Februar 2021 Hessisches Staatstheater Wiesbaden VANESSA SHIELD 15
LE SACRE DU PRINTEMPS VON EDWARD CLUG JORGE MORO ARGOTE GRETA DATO 16
29 MAY 1913 VON BRYAN ARIAS Die Uraufführung von Le sacre du printemps KRISTIN BJERKESTRAND markierte den Beginn des modernen Balletts und setzte wegweisende Impulse für die Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes. Mit dem Doppelabend Le sacre du printemps reiht sich das Hessische Staatsballett mit zwei zeitgenössischen Positionen von Bryan Arias und Edward Clug in die lange Auf- führungsgeschichte des »Frühlingsopfers« ein. Arias setzt sich in dem Auftragswerk 29 May 1913 mit dem skandal-umwitterten Ereignis der Pariser Uraufführung auseinander und MARCOS NOVAIS entwickelt einen vielschichtigen Blick auf die Konditionen unserer Kulturreflexion. Clug schuf in seiner 2012 am Slowenischen Nationaltheater in Maribor uraufgeführten Choreografie eine feinsinnige Symbiose aus MANON ANDRAL archaischer Grundthematik und hypno- tischer Hingabe des Tanzes an die Musik. GRETA DATO ENSEMBLE 17
29 MAY 1913 Ein Publikum, das ein Publikum dabei beobachtet, wie es ein Publikum beobachtet VON BRYAN ARIAS MASAYOSHI KATORI KRISTIN BJERKESTRAND RAMON JOHN TATSUKI TAKADA ENSEMBLE »Mich interessiert das Aufbrechen von Wahr- nehmungskonventionen, das Thematisieren von Kunst durch Kunst, das Schaffen von neuen Perspektiven.« BRYAN ARIAS ÜBER SEINE ARBEIT AN 29 MAY 1913 18
L E S A C2R9 E MDAUY P1 R9 I1N3 T E M P S VON VONEDWARD BRYAN ARIAS CLUG »Das Stück ringt dir als Choreografen Verantwortung ab, es fordert seinen Tribut ein und schärft dein Bewusst- sein für seine Historie.« EDWARD CLUG ENRIQUE LOPEZ FLORES LUDMILA KOMKOVA MARCOS NOVAIS RAMON JOHN JORGE MORO ARGOTE »Die Auserwählte ist bei mir kein Opfer im eigentlichen Sinn. Auserwählt zu sein bedeutet auch, eine Machtposition innezuhaben, der die Entscheidung vorausgeht, sich zu opfern.« EDWARD CLUG 19
DANIEL MYERS LUDMILA KOMKOVA DENISLAV KANEV JORGE MORO ARGOTE JIYOUNG LEE 20 VON EDWARD CLUG LE SACRE DU PRINTEMPS
29 MAY 1913 ENSEMBLE CHOREOGRAFIE Bryan Arias MUSIK Dmitri Savchenko-Belski B Ü H N E , P R O J E K T I O N E N Tabea Rothfuchs V I D E O T E C H N I K David Fortmann, Creative Coding KO S T Ü M E Bregje van Balen L I C H T Yu-Chen (Nick) Hung P R O B E N L E I T U N G Uwe Fischer D R A M AT U R G I E Lucas Herrmann Uraufführung am 29. Februar 2020 Staatstheater Darmstadt Premiere verlegt auf den 13. Februar 2021 Hessisches Staatstheater Wiesbaden LE SACRE DU PRINTEMPS CHOREOGRAFIE Edward Clug MUSIK Igor Strawinsky MUSIKALISCHE LEITUNG GMD Daniel Cohen CHOREOGRAFISCHE Gaj Žmavc AS S I S T E N Z BÜHNE Marko Japelj KO S T Ü M E Leo Kulaš L I C H T Tomaž Premzl Für die Darmstädter Vorstellungen spielt das Staatsorchester Darmstadt. TATSUKI TAKADA ENSEMBLE 21
Deep Sea Exploration, Flow und eine FAUST- Nominierung Bryan Arias ist einer der derzeit gefragtesten Choreografen. Mit 29 May 1913 gab der in Puerto Rico geborene und in New York City aufgewachsene US-Amerikaner sein Debüt auf den großen Bühnen unserer beiden Staatstheater. Im Rahmen des Doppelabends Le sacre du printemps wählte er mit seiner Neukreation dabei einen experimentellen Zugriff auf einen Stoff, der die Tanz- geschichte des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt hat. Bryan Arias begann eine Tanzausbildung an der La Guardia High School for the Performing Arts in New York City. Engagements führten ihn ans Neder- lands Dance Theater und nach Vancouver zu Crystal Pites Kompanie Kidd Pivot. Er tanzte in Choreo grafien u. a. von Crystal Pite, Jiří Kylián und Ohad Naharin. 2013 gründete er seine eigene Kompanie ARIAS Company, deren künstlerischer Leiter er seit- dem ist. Eigene Choreografien entstehen seit 2015 auf der gesamten Welt, wie etwa dem The Scottish Ballet, Hubbard Street 2 in Chicago, Nederlands Dance Theatre oder dem Ballett des Theaters Basel. Seine Arbeiten sind vielfach prämiert, so erhielt seine Choreografie Without Notice den 1. Preis bei der Sixth Copenhagen International Choreography Competition. Zuletzt wurde Arias mit dem Jacob’s Pillow Fellowship Award 2019 ausgezeichnet. Im Rahmen einer Residenz arbeitete Arias in der Spiel- zeit 2018/19 beim Hessischen Staatsballett an seiner Choreografie Watch. 22
LH Die Position des Zuschauens wird in deiner Arbeit explizit thematisiert. Ist es also eine Reflexion über unsere heutigen Sehgewohnheiten? BA Das Konzept, das ich mit meiner Bühnenbildnerin und Videodesignerin Tabea Rothfuchs entworfen habe, ist eigentlich recht minimalistisch. Wir haben eine Hintergrundfläche, auf die die Zuschauer*innen während der Vorstellung projiziert werden. Es entsteht eine in sich verschlungene Form der In-Beziehung-Setzung: Ein Publikum, das ein Publikum da- bei beobachtet, wie es ein Publikum beobachtet. Der Vorgang des Zuschauens ist bei uns also nicht nur Thema, sondern auch Form. LH Lucas Herrmann In welchem Verhältnis standen Tanz und Musik in deinem Kreations Was verbindet dich als Choreografen mit Le sacre prozess zueinander? du printemps? BA Bryan Arias Dmitri kommt aus dem Bereich der Filmmusik und digitalen Musik Ich bin in New York City aufgewachsen und komme bearbeitung und benutzt eine ganz andere Art der Soundgestaltung BRYAN ARIAS im Gespräch mit Dramaturg LUCAS HERRMANN eigentlich aus dem Bereich des Street und Social als in der klassischen Musik üblich. Es gab zu Beginn der Proben Dance, da erscheinen mir klassische Stoffe in diesem einige Tracks, die Dmitri in Anlehnung an Strawinskys Musik kompo Ausmaß zunächst einmal als sehr intellektualisiert. niert hat und die eine neue Perspektive auf diese Musik werfen sollten. Gerade auch in Verbindung mit der illustren Auf- Daraus entstanden erste choreografische Entwürfe, die ich filmte führungsgeschichte des Stoffes. Mir erging es beim und Dmitri schickte. Dieses tänzerische Material inspirierte ihn wiede- Reinhören in die Musik Strawinskys vielleicht ein rum für weitere musikalische Kreationen. So sind Tanz und Musik wenig so wie den Zeitgenossen der Uraufführung in einem dialogischen Prozess entstanden, der sich im weiteren Ver- 1913 in Paris, für deren Großteil es sich sehr schwie- lauf der Proben immer mehr überlagert hat. rig gestaltete, sich auf diese ungewöhnlichen Klänge einzulassen. LH Wie vollzog sich die Arbeit mit den Tänzer*innen? LH Wie bist du vorgegangen, um dich dem Stoff zu BA nähern? Was war dein Ausgangspunkt? Ich habe mit keinem aus diesem wunderbaren Ensemble bisher gearbeitet, und so ging es am Anfang um ein gemeinsames Kennen BA lernen. Der Beginn meiner Kreationsprozesse ist von Improvisationen Wenn man Le sacre du printemps heute zeigt, ist geprägt. Das kenne ich noch aus meiner eigenen Tänzerzeit. Eine damit gleich eine bestimmte Erwartungshaltung Technik, die ich dabei verwende, nenne ich »Deep Sea Exploration«. verbunden. Archaik und Skandal spielen eine Rolle. Dabei geht es darum, in sich selbst nach Bildern und Begriffen Für mich erzählt sich der Stoff über einen Begriff zu suchen und diese durch den Körper, durch Bewegungen hervor von Avantgarde. Dabei interessiert mich das Auf- zubringen. Also etwa die Frage, was ist Erde, was Frühling, was brechen von Wahrnehmungskonventionen, das bedeutet Opfer? Daran schließt sich eine weitere Improvisations Thematisieren von Kunst durch Kunst, das Schaffen phase an, die ich »Flow« nenne. Das bisher hervorgeholte Bewegungs- von neuen Perspektiven. material wird dann in erste Formen und Abfolgen gebracht, durch die Arbeit im Duett, in Trios oder in der Gruppe. Durch das gemein same Improvisieren entsteht ein Spielfeld, das zwischen den Tänzer*innen und mir Vertrauen aufbaut und jedem Beteiligten die Möglichkeit gibt, sich einzubringen. Ich bin kein Choreograf, der den Tänzer*innen Bewegungsfolgen »überstülpt«, vielmehr nutze ich die Schwarmintelligenz der Gruppe. Die Reise von 29 May 1913 geht auch in der nächsten Spielzeit weiter. Bedingt durch den Lockdown war eine Premiere des Doppelabends Le sacre du printemps im großen Haus des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden im März 2020 leider nicht möglich. Wir holen diese aber für das Wiesbadener Publikum in der kom- menden Spielzeit 2020/21 nach. Neuer Premierentermin ist der 13. Februar 2021. In der Zwischenzeit freuen wir uns sehr, dass Bryan Arias mit 29 May 1913 in der Kategorie »Choreografie« für den FAUST-Preis 2020 nominiert worden ist. Wir gratulieren ihm, seinem künstlerischen Team und unserem Ensemble zu dieser tollen Nachricht. Für das Hessische Staatsballett ist dies bereits die vierte Nominierung für einen FAUST-Preis. Im Jahr 2018 bekam Ramon John die Aus- zeichnung für seine Darstellung des »Wanderers« in Eine Winterreise von Tim Plegge. 23
Neue Wege bewährten auf Pfaden BRUNO HEYNDERICKX Als im Jahr 2014 die Idee reifte, eine städteüber– greifende Ballettkompanie an den beiden Staats theatern in Darmstadt und Wiesbaden zu installieren, fiel die Wahl für die Leitung mit dem Choreografen Tim Plegge und Bruno Heynderickx, dem damaligen Leiter der zeitgenössischen norwegischen Tanz kompanie Carte Blanche, auf zwei Persönlichkeiten des Tanzes mit unterschiedlichen Profilen. Ab der Spielzeit 2020/21 übernimmt Bruno Heynderickx die Direktion des Hessischen Staatsballetts. Tim Plegge wird fortan als Hauschoreograf die künstle- rische Handschrift der »Zwei-Städte-Kompanie« entscheidend mitprägen. Fragt man Heynderickx zum Leitungswechsel an der Spitze von Hessens größtem Ballettensemble, ist er sich mit Plegge darin einig, dass das Rad nicht neu erfunden werden muss, da es sich ja weiterhin dreht. Zumal Heynderickx in seiner bisherigen Doppelposition als Kurator und stellvertretender Ballettdirektor bereits Teil des Führungsteams war und das Konzept des Hessischen Staatsballetts entscheidend mitentwickelt hat. »Bei der Erörterung des Wandels in der Führungsstruktur des Hessischen Staatsballetts war es für mich von wesentlicher Bedeutung, dass »Der Grund, warum ich begeistert war, Teil des neu Tim Plegge zumindest in den kommenden vier Spielzeiten jeweils ein gegründeten Hessischen Staatsballetts zu werden, großes Handlungsballett entwickelt. Es war mir wichtig, weil Tims war das in Deutschland und wahrscheinlich sogar Arbeit ein Schlüsselfaktor für den Erfolg des innovativen Formats des darüber hinaus einzigartige Format, eine feste Kom- Hessischen Staatsballetts ist.« panie, deren Repertoire nicht nur auf einer choreo grafischen Stimme beruht, mit zahlreichen Gast- In der kommenden Spielzeit 20/21 wird Plegge ein neues Tanzstück choreograf*innen zu kombinieren.« mit dem Titel memento kreieren. Darin soll es um das Thema Tod, aber auch die Idee des Neuanfangs gehen. Zukünftig wird das Hessische Heynderickx möchte diesen künstlerischen Weg Staatsballett auch verstärkt aus dem Repertoire des neuen Haus weiterverfolgen. Mit Tim Plegge als neuem Haus- choreografen schöpfen. Einen Vorgeschmack darauf bietet im choreografen steht ihm hierbei ein starker künstle Dezember 2020 die Wiederaufnahme von Plegges äußerst erfolg rischer Partner zur Seite, um für ästhetische Kon- reichem Nussknacker, der in dieser Saison über seinen gesamten tinuität zu sorgen. Lauf von 26 Vorstellungen ausverkauft war. 24
Neben dieser festen choreografischen Größe werden weiterhin Gastchoreograf*innen eingeladen, um das künstlerische Profil der Kompanie weiter zu schärfen und dem Ensemble wie auch dem Publi- kum die Möglichkeit zu geben, unterschiedliche Stile kennenzulernen. Den Auftakt in der neuen Spiel- zeit geben Alexander Whitley und Sharon Eyal/ Gai Behar mit dem energetischen Doppelabend Horizonte, der mit Whitleys Auftragswerk The Butterfly Effect und Eyals/Behars Erfolgsproduktion Untitled Black von der GöteborgsOperans Dans DER KÖRPER IST EIN kompani zwei starke zeitgenössische Tanzpositionen vereint. Auch über die Eigenproduktionen hinaus soll mit dem Gastspielprogramm unter dem Label »Das Hessische KUNSTWERK, WELCHES Staatsballett lädt ein« fortgefahren werden. Die Gastspiele, die unter den bisherigen kuratorischen Verantwortungsbereich von Heynderickx fallen, sind ein wichtiger Bestandteil der Tanzplattform Rhein-Main, dem Kooperationsprojekt mit dem GEFORMT Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm. In diesem Zusammenhang geht es Heynderickx vor WERDEN WILL. allem darum, weiterhin Möglichkeiten bereitzustellen, Physiotherapeut Roland Dünow; offizieller Partner des Hessischen Staatsballetts um in einem vielfältigen Programm die Arbeiten unabhängiger Tanzschaffender zu präsentieren. Die Kuration verteilt Heynderickx aufgrund der neuen Aufgabe der Ballettdirektion dabei zukünftig auf mehreren Schultern. Neben ihm werden die Produktionsleitungen und Dramaturgie stärker in den Sichtungs- und Auswahlprozess einbezogen, wodurch die Teamstruktur vielfältiger als bisher gehandhabt wird. Der Leitungswechsel beim Hessischen Staatsballett ist also weniger im Sinne eines Umbruchs zu ver- stehen, als vielmehr ein von Kontinuität geprägter Aufbruch in eine neue Richtung. »Als Ballettdirektor werde ich den künstlerischen Weg für die Kompanie so leiten und gestalten, dass ein reichhaltiges künstlerisches Umfeld entsteht – motivierend für unser Team und inspirierend für unser Publikum.« Damit ergeht auch eine herzliche Einladung an die Zuschauer*innen, den bisherigen Weg mit dem Ensemble weiterzugehen und sich zugleich neuen Impulsen zu öffnen. WWW.MEINPHYSIO-WIESBADEN.DE Kirchgasse 62, 65183 Wiesbaden Tel.: 0611-135 55 412 E-Mail: info@pt-duenow.de
DIE SECHSTE SPIELZEIT DES H E S S I S C H E N S TA AT S BA LLE T T S Im Takt des unversiegbaren Nussknacker war da ein Paukenschlag zur Eröff nung. Eine nicht minder große Herausforderung: die Tanzes zweite Großproduktion, der Doppelabend Le sacre VON LUCAS HERRMANN du printemps mit Choreografien von Bryan Arias und Edward Clug. Bei seiner Uraufführung in Paris 1913 sorgte das Tanz- Wer sich bei einer Vorstellung von Tim Plegges Der Nussknacker schon stück von Vaslav Nijinsky zur Musik von Igor Strawinsky einmal im Seitenoff der Bühne befunden hat, kennt die vielen kleinen für einen der größten Theaterskandale des 20. Jahr- Details des Geschehens, die sich dem Publikumsblick sonst entziehen. hunderts. Tanz und Musik verschmolzen zu einem Da treten etwa Tänzer*innen aus dem Bühnenspot ab, stürmen direkt avantgardistischen Gesamtkunstwerk, das die Seh- an einem vorbei in die Umkleide, um nur wenige Minuten später als und Hörkonventionen der damaligen Zeit sprengte. »Ratten« oder »Schneeflocken« wieder zurückzukehren. Währenddessen Bryan Arias hat in seinem Auftragswerk 29 May 1913 gehen Marie, der Nussknacker, Oma Marta oder die Zuckerfee auf die Umstände dieser Uraufführungserfahrung re- der Nebenbühne ihre Schritte durch, scherzen miteinander oder be- flektiert und danach gefragt, was Avantgarde in obachten gespannt die Kolleg*innen »on stage«. Bei den vielen Auf- unserer heutigen von den Medien dominierten und Abtritten, Kostümwechseln und sozialen Interaktionen offenbaren Welt bedeutet. Der Prozess des Zuschauens, die sich die Arbeitsabläufe unserer Tanzkompanie in besonderem Maße. Erfahrungswelt, die sich im Dialog zwischen Bühne und Parkett während einer Tanzvorstellung eröffnet, Teamwork ist gefragt. Nicht nur innerhalb des Ensembles, sondern gereichte ihm zu einer zeitgenössischen Interpre- auch in den Gewerken, am Inspizientenpult, in der Licht- und Tontechnik, tation des Skandalösen in dem Stoff zur Musik seines den Masken und Umkleiden. Und nicht zu vergessen: im Orchester- Komponisten Dmitri Savchenko-Belski. Eine Arbeit, graben. Noch dazu in zwei Staatstheatern. Eine Ballettproduktion in die dem Hessischen Staatsballett die insgesamt der Größenordnung von Der Nussknacker stellt alle Beteiligten in vierte Nominierung für einen FAUST-Preis bescheren Darmstadt und Wiesbaden vor eine große Herausforderung. sollte, zum dritten Mal in der Kategorie »Choreo grafie«. Doch das ist eine andere Geschichte. Herausfordernd. So könnte man diese Spielzeit 2019/20 des Hessi Arias’ Tanzstück ist keine leichte Kost, aber sicher schen Staatsballetts im Rückblick beschreiben. Tim Plegges Der lich eine schmackhafte. Ebenso der zweite Teil des 26
Abends von Edward Clug mit seiner bildgewaltigen Gerade die Talks leiteten zu unserer letzten offiziellen Tanzproduktion Interpretation des »Frühlingsopfers« zur Original dieser Spielzeit 2019/20 über: Startbahn 2020. Nach 2017 bekamen musik mit Orchesterbegleitung. In einer in Wasser die Tänzer*innen unseres Ensembles bei diesem Projektformat die Mög- getauchten Bühne verfolgt seine Choreografie lichkeit, eigene Kurzchoreografien zu kreieren. Durch die COVID-19- aus dem Jahr 2012 in der Neuinterpretation unseres bedingte Verschiebung der für die Spielzeit geplanten Produktionen Ensembles die Wirkung der Musik in den Körpern von Tim Plegges Jugendtanzstück Rotzfrech und dem Doppelabend der Tänzer*innen minutiös nach. Sezierend wie ein Roots der beiden Nachwuchschoreografen Eyal Dadon und Martin Chirurg und gleichzeitig einen Freiraum schaffend, Harriague ergab sich daraus die Möglichkeit, Startbahn 2020 größer gibt Clug den Akteur*innen auf der Bühne individu zu denken als ursprünglich gedacht. elle Gestaltungsmöglichkeiten. Eine Aufführungs- erfahrung, die lange nachhallen wird. In zwei Teilen an zwei Abenden feierte das Hessische Staatsballett am 5. und 6. Juni im Kleinen Haus des Hessischen Staatstheaters Nachhallen. Wie ein Echo aus einer vergangenen Wiesbaden »Premiere danach« mit einem Projekt, an dem die Choreo- Zeit der tosende Applaus im Parkett, der die Pausen graf*innen aus unserem Ensemble seit Monaten gearbeitet hatten. einläutet oder die Vorstellungen beschließt, das Hinsichtlich der Aufführungsbedingungen bestanden einige Restrik- Stimmengewirr vieler hundert Menschen im Saal tionen wie ein einzuhaltender Mindestabstand, der körperliche oder Foyer, das eine Aufführung des Hessischen Berührungen weitestgehend unmöglich machte. Duette, Trios oder Staatsballetts umgibt. Die Stille auch, wenn sich anderweitige Gruppenformationen konnten damit nicht realisiert das Licht abdunkelt, der Vorhang hebt oder der werden. Eine Ausnahme bildeten lediglich Tänzer*innen, die aus einem Dramaturg das Mikrofon zur Einführung ergreift, Haushalt kommen. Viele der Choreograf*innen mussten daher ihre spannungsvoll und abrupt, mit Vorfreude auf ursprünglichen Konzepte entweder komplett verwerfen oder den ge- geladen. gebenen Umständen anpassen. Hinzu kamen staatlich angeordnete Zuschauerbeschränkungen, wodurch sich die Säle signifikant geleert Stille kann betörend sein. Sie lädt zum Innehalten ein, haben. Wir versuchten, der herausfordernden Lage aber auch etwas lässt Töne wirken durch deren Abwesenheit. Ebenso Gutes abzugewinnen und diese Einschränkungen zum Anlass zu Stillstand. Im Tanz ist Bewegung nichts ohne ihr nehmen, Tanz ganz neu zu denken. Gegenteil. Antagonismen ziehen sich durch unsere Kunst im Wechsel von Anspannung und Entspan Einer ganz anderen Art des Neudenkens sieht sich gegenwärtig die nung. Still wurde es in den Theatersälen, als ein neu- Tanzvermittlung ausgesetzt. Wir mussten in dieser Spielzeit unsere artiges Virus den sozialen Umgang hier wie überall beliebten Tanzklub-Präsentationen im Juni wie auch viele andere auf der Welt vor eine große Herausforderung stellte. Formate, die sich an der Schnittstelle von Theater und öffentlichen All die Abläufe und Gewohnheiten, Handgriffe und Einrichtungen wie etwa Schulen bewegen, ausfallen lassen. In Zeiten, Routinen galt es als solche zu überdenken und an in denen sich der Vorstellungsbetrieb auf den Bühnen allmählich die gegenwärtige Situation anzupassen. wieder einstellt, befindet sich dieser wichtige Bereich unserer Arbeit, hier wie andernorts, weiterhin im Lockdown. Die Wochen des Lockdowns im Homeoffice ver- lagerten das Miteinander vor den Bildschirm. Nicht Die Welt ist im Wandel. Nicht nur das Virus sfordert uns alle heraus. nur ein Stillstand, sondern ein Festsitzen in Küchen, Sicherheitskonzepte mögen einen Schutz gegen die exponenzielle Wohnzimmern und auf Balkonen oder mit dem Mobil- Ausbreitung von Infektionen darstellen, doch welche Vorkehrungen telefon im Freien. Eine ganz neue Art des Kennen- treffen wir für den Erhalt einer offenen und gerechten Gesellschaft? lernens. Das Persönliche zeigte sich in Einrichtungs Wirtschaftliches Ungleichgewicht, Abschottungspolitiken und rechts- stilen oder Haustieren, aber auch in neuen Ideen, gerichtete Tendenzen bestimmen ebenso unseren Alltag wie die neu- im digitalen Teilen von Tagewerk untereinander und aufgekommenen Abstandsregeln. Die Unruhen in den USA in Folge auf verschiedenen Internetkanälen. Es wurde Pasta des Todes des Afroamerikaners George Floyd durch Polizeigewalt zubereitet, die Katze choreografiert, zu Lieblings und die Rückkehr des Hashtags #BlackLivesMatter in den sozialen songs getanzt oder per Konferenzschaltung global Medien erinnerten die Welt eindringlich an eine eigentliche Selbst trainiert. verständlichkeit: die unantastbare Würde und Freiheit eines jeden Menschen, unabhängig von ethnischer Abstammung, sozialem Die Öffnung unserer kompanieinternen und im Status oder Geschlecht. Kunst jeglicher Provenienz kann nur gedeihen, hohen Maße privaten Aktivitäten für eine breitere wenn in ihrer Entstehungsweise diese Grundsätze ohne Diskussion Öffentlichkeit entsprang dem Wunsch, sich wieder den Ausgang der Arbeit bilden. Und wo diese Grundsätze angezweifelt künstlerisch zu zeigen und gleichzeitig in Kontakt werden, ist Kunst eine Möglichkeit, im Sinne ihres freiheitlichen Aus- mit unserem Publikum zu treten. drucks und ihrer gemeinschaftsstiftenden Funktion deren Unabding barkeit zu fordern. Das Hessische Staatsballett steht mit seinem In Form der Virus Dances entstanden eigene, auf Ensemble aus vielen Nationen nicht nur für ein künstlerisches Kollektiv, Video festgehaltene Kurzchoreografien, die zuvor in das sich aus vielen individuellen Einzelstimmen zusammensetzt, einer gemeinschaftlichen Ideenfindung im Ensemble sondern auch für eine Wertegemeinschaft, die gerade in diesen und Team entwickelt wurden. Auf diese Weise konnte herausfordernden Zeiten zusammenhält und diesen Zusammen- sich jede/r Einzelne kreativ einbringen. Darüber halt auch nach außen hin repräsentiert. hinaus entstand mit TTT – Talks, Trainings, Tasks ein eigenes Online-Format, das in wöchentlichem Turnus In diesem Sinne richten wir unseren Blick hoffnungsvoll nach vorne, abwechselnd Künstlergespräche mit Tänzer*innen lauschen selbstbewusst mit unseren Körpern den Klängen des zu- des Hessischen Staatsballetts, digital stattfindende künftigen Echos, bewegen uns im Takt des unversiegbaren Tanzes und öffentliche Balletttrainings und von Ensemble genießen vorher den Nachhall einer herausfordernden Spielzeit 2019/20. mitgliedern für das Publikum gestellte Wochenend aufgaben präsentierte. 27
DENISLAV KANEV 28 DisTANZiert
Während des fast zweimonatigen Lockdowns von Mitte März bis Anfang Mai wurde unser Kompanie leben von den Bühnen und Probe- bühnen vor die heimischen Bild schirme verlegt. Eine Zeit, in der wir gemerkt haben, dass Tanz von Berührung lebt, von physischer Nähe und Gemein- schaft im Raum. Trotz aller Ein schränkungen haben wir Wege gefunden mit einander und mit unserem Publi kum im kreativen Austausch zu bleiben. Dabei sind neue Formen und Formate entstanden, die so gar nichts mit »Homevideo« zu tun haben. 29
Virus Dances – 30 Manchmal hilft nur RAMON noch tanzen JOHN JIYOUNG LEE NICOLAS FRAU
SAUCO KOMKOVA ARA LUDMILA JAVIER PRIETO DEAKIN NELLO GARCIA FRANCESC NATALIA KATORI MASAYOSHI Das Tanzvideoformat Virus Dances – Manchmal hilft nur noch tanzen war SHIELD der Versuch, eine Gratwanderung zu schaffen, die Lust an der Bewegung mit den Einschränkungen der für den Tanz so wesentlichen Bedingungen von Nähe und Berührung zusammenzubringen. Es entstanden Duette und Gruppenchoreografien im Zusammenschnitt von selbstgefilmten Solos. Neue Bühnen wurden erschlossen, daheim und im öffentlichen Raum. Tanz und Bewegung im Allgemeinen wurden so nicht nur im Körper selbst entdeckt, sondern auch in der Stadt und Natur. VANESSA Es gab insgesamt sechs Virus Dances. Einige von ihnen wurden später in den Vorstellungen von Startbahn 2020 gezeigt. 31
Trainings, Tasks TTT – Talks, Einen Höhepunkt unserer Online- Aktivität stellte TTT-Talks, Trainings, Tasks dar. Mit diesem dreiteiligen Format schufen wir über einen Zeit- raum von acht Wochen hinweg ein digitales Spielzeitprogramm für das Hessische Staatsballett. 32
Immer montags und mittwochs fanden Künstlergespräche zwischen Drama DATO turg Lucas Herrmann und Tänzer*innen des Hessischen Staatsballetts statt. Bei Letztgenannten handelte es sich um die Choreograf*innen des Projekts Startbahn 2020. In insgesamt dreizehn T for Talks stellten »Ich möchte die Freiheit GRETA die Choreograf*innen ihre Ideen vor, zeigten Probenmitschnitte und Arbeits- haben, verschiedenstes skizzen aus der Zeit vor dem Lockdown Repertoire zu erkunden und gaben Einblicke in ihre aktuelle Situ- ation im Homeoffice. Auf diese Weise und zu erleben.« konnten unsere Ensemblemitglieder in einen künstlerischen Diskurs mit dem Publikum treten und das Format als Chance nutzen, die eigene Arbeit zu NOVAIS reflektieren. Die Videointerviews wurden von uns live auf unseren Social-Media-Kanälen gestreamt. Dramaturg und Moderator T für Talks »Einsamkeit Lucas Herrmann und seine jeweiligen Gesprächspartner*innen unterhielten kam wie ein sich dabei räumlich getrennt jeweils Schlag in vor einem Bildschirm über die Distanz. mein Auge.« Für unsere Zuschauer*innen gab es die Möglichkeit, den Videoraum eben MARCOS falls zu betreten und so für ein digitales Live-Feeling zu sorgen. Insgesamt eine technische Meisterleis tung, die manches Mal ein hohes Maß an Geduld und Nervenstärke forderte. TERRANA »Lange Rede, VESTRIS kurzer Sinn … ich möchte einen Tanz machen!« GAETANO 33
T für Trainings Immer dienstags und donnerstags Mit Ende des Lockdowns und luden unsere Ballettmeister Uwe Wiederaufnahme des Proben- Fischer und Gianluca Martorella betriebs änderte sich unser über sechs Wochen lang zu digi- T for Trainings-Konzept und wir talen Balletttrainings ein. Im Rahmen ließen unsere Gäste an den einer Videoschaltung hatten Zu- jeweiligen Tagen online an den schauer*innen, Tänzer*innen und Kompanietrainings am Morgen Kolleg*innen aus aller Welt die teilnehmen. Möglichkeit, sich von zu Hause aus in unseren Ballettsaal zu beamen. Stuhllehnen und Küchenzeilen wurden kurzerhand zu Ballett stangen umfunktioniert. Die On line-Trainings waren nicht nur eine gute Möglichkeit neue Men Ein großes Dankeschön an dieser Stelle schen aus dem Bereich des auch an Denislav Kanev, der neben Tanzes kennenzulernen, sondern seiner Tätigkeit als Tänzer die Virus auch, das professionelle Körper- Dances und TTT als Videospezialist bei De-Da Productions maßgeblich unter- wissen an Laien weiterzugeben. stützt hat. Nicht unerwähnt bleiben soll auch die Musik. Vielfach stammte diese bei den Virus Dances aus der Feder unseres Tänzers Javier Ara Sauco. Da- rüber hinaus steuerte unser Korrepetitor Waldemar Martynel eigene Kompositionen bei, so u. a. für die Titelmelodie unseres TTT-Trailers eine Neuinterpretation von Beethovens 9. Sinfonie in d-Moll op. 125. 34
NELLO DEAKIN FRANCESC TAULANT SHEHU MORO ARGOTE JORGE ARA SAUCO JAVIER T für Tasks LÓPEZ FLORES ENRIQUE KOMKOVA LUDMILA MEILYN KENNEDY MARCOS NOVAIS Das letzte T stand schließlich für ein Mitmachangebot, bei dem unsere Ensemblemitglieder sich selbst und TATSUKI TAKADA dem Publikum kleine Wochenendaufgaben in Form von Videobotschaften stellten. Ob multilinguale Zungen brecher, das Teilen von Lieblingssongs oder eine Bewusst- seinsübung, um die Bewegungen in der Umgebung VESTRIS TERRANA wahrzunehmen – unsere Tänzer*innen und Teammitglieder GAETANO fanden in den insgesamt fünf Tasks Wege, sich selbst herauszufordern und die Zuschauer*innen einzuladen, ihnen dabei zu folgen. 35
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PRELUDE TO ACT 1 VON MASAYOSHI KATORI MANON ANDRAL STARTBAHN 2020 Choreografien von Tänzer*innen des Hessischen Staatsballetts Uraufführung Startbahn I am 5. Juni 2020 Hessisches Staatstheater Wiesbaden Uraufführung Startbahn II am 6. Juni 2020 Hessisches Staatstheater Wiesbaden Manon Andral, Kristin Bjerkestrand, Ramon John, Sayaka Kado, Daniel Myers, Ezra Rudakova KRISTIN BJERKESTRAND Masayoshi Katori Richard Wagner, Lohengrin, Ouvertüre C H O R E O G R A F I E , KO S T Ü M E , L I C H T MUSIK TA N Z 37
AS SMALL AS A WORLD, ISIDORA MARKOVIC AS LARGE AS ALONE VON ISIDORA MARKOVIC Isidora Markovic C H O R E O G R A F I E , KO S T Ü M E , L I C H T, TA N Z MUSIK Sara Stevanović SOUND D E S I G N Fabio Grandinetti KRISTIN BJERKESTRAND DEEP ART, YOURS … VON RAMON JOHN DANIEL MYERS MARGARET HOWARD Ramon John C H O R E O G R A F I E , KO S T Ü M E , L I C H T MUSIK Noisettes, Travelling Light TA N Z Manon Andral, Kristin Bjerkestrand, Margaret Howard, Sayaka Kado, Daniel Myers 38
Erik Satie, Gnossiennes No. 1, Lent, Gymnopedie No. 1, Lent et Douloureux, Gymnopedie No. 3, RAMON JOHN Lent et Grave (das letztere Stück neuarrangiert von Waldemar Martynel) MASAYOSHI KATORI TA N Z Kristin Bjerkestrand, Ramon John, Masayoshi Katori Daniel Myers C H O R E O G R A F I E , KO S T Ü M E , L I C H T THE CIRCLE KRISTIN BJERKESTRAND VON DANIEL MYERS MUSIK MANON ANDRAL WENT WALKING THROUGH PARADISE VON EZRA RUDAKOVA MASAYOSHI KATORI C H O R E O G R A F I E , KO S T Ü M E , LICHT Ezra Rudakova Daniel Lett V I D E O I N S TA L L AT I O N MUSIK Hybrid Leisureland, water position, Rich Russell, Sound Collage, Alim Qasimov, Michel Godard, Trace of Grace, Moving Forward, Regina Spektor, The Trapper and the Furrier, Max Richter, Vladimir’s Blues TA N Z Manon Andral, Kristin Bjerkestrand, Sayaka Kado, Masayoshi Katori, Daniel Myers 39
MASK 1522 VON ALESSIO DAMIANI JIYOUNG LEE Alessio Damiani C H O R E O G R A F I E , KO S T Ü M E , L I C H T MUSIK Ólafur Arnalds, Himininn er að hrynja, en stjörnurnar fara þér vel TA N Z Nicolas Frau, Jiyoung Lee, Vanessa Shield THRESHOLD VON RITA WINDER Aeham Ahmad, Dawn, Waldemar Martynel, Claude Debussy Arabesque No. 1 MARCOS NOVAIS Rita Winder C H O R E O G R A F I E , KO S T Ü M E , L I C H T Marcos Novais, Rita Winder RITA WINDER MUSIK TA N Z 40
VANESSA SHIELD Gaetano Vestris Terrana TA N Z Greta Dato, Marcos Novais, Vanessa Shield Peter Gregson, 1.3 Courante, Bach Cello-Suiten C H O R E O G R A F I E , KO S T Ü M E , L I C H T COURANTE MUSIK VON GAETANO VESTRIS TERRANA GRETA DATO Meilyn Kennedy C H O R E O G R A F I E , KO S T Ü M E , L I C H T ISIDORA MARKOVIC MUSIK Meilyn Kennedy, The West Coast Pop Art Experimental Band, I Won’t Hurt You TA N Z Isidora Markovic, Jorge Moro Argote T W O, T H I S VON MEILYN KENNEDY JORGE MORO ARGOTE 41
NARCISSUS VON LUDMILA KOMKOVA TATSUKI TAKADA DisTANZiert. Körper in DisTANZ zu anderen Körpern. Es entsteht ein Abstand von 1,50 m zwischen meinem und deinem Körper. Auf der Bühne sind es 6 m Abstand zwischen den Tanzenden. Zwei Zahlen, die an Wichtigkeit gewinnen. Mein Körper dein Körper da drüben. Dynamisch. Vier Wochen für zwölf Choreografien. Zeitlichkeit. Abstand. Zwischenraum. Unvorhersagbarkeiten. Probenbeginn: chaotisch. Chaos ist Teil der momentanen Un-Ordnung, des Zwischenraumes von bekannter und nicht mehr gültiger sowie unbekannter Ordnung, in der sich unsere Gesellschaft aktuell befindet. Ich glaube, dass wenn man sich auf den dynamischen Zustand der Unvorhersagbarkeit einlässt, auch in dieser Zeit neue, andere, kreative Möglichkeiten entstehen können. Aus Chaos entsteht neue Ordnung. Nachtrag: Du kannst Dir nicht vorstellen, wie wichtig Socken im Tanz sind. Text von Lena Kunz 42
C H O R E O G R A F I E , KO S T Ü M E , L I C H T Ludmila Komkova MUSIK Nikolai Tscherepin, VIII. Entre Narcisse, épuisé par la fatigue, X. Narcisse se transforme en une fleur TA N Z Tatsuki Takada MARCOS NOVAIS RITA WINDER VON GRETA DATO NUANCE MUSIK 43 VON MARCOS NOVAIS BENTO DE ALMEIDA TA N Z C H O R E O G R A F I E , KO S T Ü M E , L I C H T, TA N Z Royal Crown Revue, Hey Pachuco! Greta Dato MUSIK GRETA DATO C H O R E O G R A F I E , KO S T Ü M E , L I C H T STARTBAHN 2020 D R A M AT U R G I E Lucas Herrmann Ezio Bosso, Following a Bird Marcos Novais Marcos Novais, Gaetano Vestris Terrana, Rita Winder KO O R D I N AT I O N Lena Kunz P R O D U K T I O N S - U N D KO S T Ü M AS S I S T E N Z Louise Buffetrille
Ein direktes Erleben, das auf offene Ohren und Herzen trifft Ein Interview mit Martine Nicolet und Dr. Gabriele Sophia Volmer, den beiden Vorsitzenden der Freunde des Hessischen Staatsballetts e. V. Lucas Herrmann Staatstheater Wiesbaden zu haben. Darüber Seit vier Jahren besteht die Kooperation der Freunde mit dem hinaus hatte ich mir immer einen Freundeskreis Hessischen Staatsballett. Was motiviert Euch dazu, Euch so für gewünscht. Nach der Gründung des Hessischen den Tanz einzusetzen? Staatsballetts (HSB) unter der Leitung von Tim wurde ich dann in Darmstadt nach einem solchen G abriele Sophia Volmer gefragt. Da war für mich sofort klar, bei diesem Mich hat Theater immer fasziniert, als Kind nahm ich auch Ballett- Vorhaben dabei zu sein. unterricht. Danach ist es aber eher beim passiven Erleben geblieben. Eine Anzeige mit der Anfrage nach Laientänzer*innen für das partizi LH pative Tanzprojekt Odyssee 21 von Tim Plegge gab mir dann die Eure Unterstützung der Kompanie-Belange ist sehr Möglichkeit, Kontakt in die kreative Szene zu bekommen. Der Proben vielseitig. Könnt Ihr darüber etwas sagen? prozess zu Odyssee 21 wirkte auf mich erst neu und befremdlich, im Nachhinein betrachtet war dieses gemeinsame Projekt aber MN ein großes Erlebnis. Ich habe aus dieser Erfahrung vor allem mitge Ein wichtiger Teil unserer Arbeit ist die Promotion nommen, Prozesse nicht nur analytisch, sondern auch emotional der Kompanie. Wir haben die Erfahrung gemacht, anzugehen. Dabei habe ich faszinierende Menschen kennengelernt. dass viele Menschen in Darmstadt, Wiesbaden Neben der besonders einfühlsamen Herangehensweise von Tim und der Region gar nicht wissen, dass es mit dem gefiel mir auch die Möglichkeit, Ballett politisch zu denken. Als nach HSB vor Ort ein eigenes Ballettensemble gibt. diesem Projekt die Bestrebung eines Freundeskreises aufkam, Wir zeigen Präsenz mit einem Balletttisch bei Er- wollte ich mich da auf jeden Fall einbringen. öffnungsfesten der beiden Staatstheater oder während der Vorstellungen der Kompanie, wo sich Martine Nicolet Tanzinteressierte informieren können. Uns ist es Bei mir sieht es etwas anders aus. Ich war 15 Jahre lang Tänzerin dabei vor allem ein Anliegen, mit jungen Leuten und in der Ballettkompanie des Staatstheaters Darmstadt. Nach meiner Menschen aller Schichten und Herkunft in Kontakt aktiven Laufbahn habe ich die Kompanie lange weiterhin als zu kommen, denn die Sprache des Körpers ist Zuschauerin verfolgt. Ich fand schon damals die Idee spannend, international. Wir sind darüber hinaus Ansprech eine gemeinsame Kompanie mit der Ballettsparte am Hessischen partner*innen für die Tänzer*innen und das Team des HSB und bieten individuelle und persönliche Unterstützung bei verschiedenen Belangen. GSV Diese können sowohl organisatorischer als auch finanzieller Art sein, etwa durch durch Hilfe bei der Wohnungssuche, durch Bezuschussung von Veranstaltungen, aber auch im Sinne der Inte- gration, durch die Organisation und Finanzierung von Sprachkursen. Letztere wurden von den Ensemblemitgliedern gerade im Zuge des Lock- downs durch die wunderbare Zusammenarbeit mit dem Unternehmen »Bildungsprofis-internatio nal« in Anspruch genommen. Auch die Tänzer gesundheit ist für uns ein wichtiges Thema, etwa im Zuge physiotherapeutischer Unterstützung (z. B. Osteopathie), Sprechstunden bei Orthopäden oder geplanten Ernährungsworkshops. Die Freunde des Hessischen Staatsballetts e.V. zählen mittlerweile ca. 150 Mitglieder. Das vielfältige Spielzeitprogramm reicht vom exklusiven Probenbesuch, gesonderten Einführungen und unmittelbaren Blicken hinter die Kulissen bis zum persönlichen Austausch mit Ensemblemitgliedern, Ballettdirektor Bruno Heynderickx, Hauschoreograf Tim Plegge sowie weiteren Gastchoreografen und Gastkompanien. 44
Martine Nicolet (1. v.l.) und Dr. Gabriele Sophia Volmer, (4. v.l.) LH LH Wie blickt ihr zurück auf die Spielzeiten unter der Worauf freut ihr euch am meisten im Hinblick auf die kommende Ballettdirektion von Tim Plegge? Spielzeit unter der Ballettdirektion von Bruno Heynderickx? GSV GSV Mich beeindruckt das vielfältige Programm des Zuallererst hoffe ich auf eine von Corona-Restriktionen weitest HSB in jeder Spielzeit aufs Neue. Ich hatte sehr viele gehend unbeeinträchtigte Spielzeit und Unbeschwertheit. Die Zeiten, eindrucksvolle, begeisternde Erlebnisse in den in denen wir uns befinden, sind für die Planung und Umsetzung von vergangenen Jahren, gerade auch durch die unter- Tanz und Ballett auf internationalem Spitzenniveau äußerst schwierig. schiedlichen choreografischen Stile und die ästhe- Ich freue mich auf die Fortführung des bewährten Konzepts der tische Diversität, die das HSB auszeichnet. Da zwei Säulen. Bruno hat als Kurator und stellvertretender Ballettdirektor stehen z. B. die wunderbaren Handlungsballette dieses Konzept maßgeblich mitentwickelt. Ich sehe eine große Chance von Tim wie Winterreise, Liliom oder zuletzt Der darin, mit ihm einen Ballettdirektor zu haben, der nicht selbst choreo Nussknacker neben herausragenden zeitgenössi grafiert, sondern sich komplett für Belange der Kompanie einsetzt. schen Arbeiten wie Sadeh 21 von Ohad Naharin. MN MN Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Die Wichtigkeit von Kultur ist Diese Offenheit für Stile und Ästhetiken, die sich im gerade im Zuge von Lockdown und den ganzen Restriktionen zum Konzept der zwei Säulen mit eigenen Produktionen Ausdruck gekommen. Ich wünsche dem HSB, dass die Produktionen und Gastspielen ausdrückt, ist schon sehr beein wie geplant umgesetzt werden können und Tanzvorstellungen wieder druckend und in Deutschland sowie darüber hinaus ein direktes Erleben bedeuten, das auf offene Ohren und Herzen einmalig. Mich faszinieren auch die anspruchs- stößt. Persönlich freue ich mich schon sehr auf den Doppelabend vollen Vermittlungsangebote, die von Nira Priore Horizonte, der mit Choreografien von Alexander Whitley und Sharon Nouak initiiert und organisiert werden, z. B. die Eyal/Gai Behar im Oktober in Darmstadt Premiere feiern wird. Tanzklubs. Die Sichtbarmachung des Tanzes auf und neben der Bühne, die das HSB leistet, hat eine große Aura hier in der Rhein-Main-Region. Darüber hinaus bietet die Kooperation des HSB mit dem Künstlerhaus Mousonturm im Rahmen der Tanzplattform Rhein-Main großes Entdeckungs- potenzial, sowohl was die choreografische Nach- Bildungsprofis-International – Wir sind die wuchsarbeit betrifft als auch hinsichtlich auf- Sprachexperten für anspruchsvolle Lösungen regender Gastspiele beim Tanzfestival Rhein-Main. www.bildungsprofis-international.com 45
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