Ein Virus - zwei Realitäten - Thema Theologin Dr. Margot Käßmann
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Ausgabe 02/21 Thema Ein Virus – zwei Realitäten Im Gespräch Theologin Dr. Margot Käßmann Porträt Eine Ausbildung, die Spuren hinterlässt Reportage Friedensarbeit in Jordanien
2 Inhalt und Impressum Editorial 3 Was Sie in diesem Heft erwartet Über das forumZFD 4 In eigener Sache Wir im forumZFD unterstützen Menschen in gewaltsamen Konflikten auf dem Liebe Leserin, lieber Leser, 5 Meinung Weg zum Frieden. Unsere Organisation wurde im Jahre 1996 von Friedens- und Wir brauchen Friedensziele während diese Ausgabe des Magazins entsteht, hat uns Menschenrechtsgruppen gegründet – als statt Aufrüstungsziele die Pandemie noch voll im Griff. Während immer mehr © Rene Fietzek Reaktion auf die Balkankriege. Seitdem setzen wir uns für die Überwindung von Menschen in Deutschland dank einer Impfung mehr Krieg und Gewalt ein. Sicherheit und Freiheit erhalten, erreichen Infektions- Heute arbeiten wir zusammen mit Zum Titel und Todeszahlen in anderen Ländern Höchstwerte. 6 Thema Friedensberaterinnen und -beratern in Ein Virus – zwei Realitäten Deutschland und zwölf weiteren Ländern Die Ukraine ist von einem dauer- Zwischen Israel und den besetzten palästinensischen Friedensarbeit in Israel und in Europa, dem Nahen Osten und Südost- haften Frieden weit entfernt – das Gebieten liegen Gesundheit und Freiheit, liegen Ge- Palästina in Zeiten der Pandemie asien. Ohne eine gute Ausbildung wäre hat die jüngste Zuspitzung an der unsere professionelle Arbeit in Konflik- Grenze zu Russland erneut deut- sundheitsnotstand und Unsicherheit ganz dicht beiei- ten nicht möglich. Diese bietet unsere lich gemacht. Seit nunmehr sieben nander. Über diese Situation schreibt unsere Kollegin Akademie für Konflikttransformation für Jahren ist der Konflikt ungelöst. 10 Im Gespräch Iuna Vieira in ihrem Rückblick auf ein Jahr Friedens Menschen in der internationalen Frie- Fast täglich werden militärische „Weltverbesserin“ ist für densarbeit an. Mit Kampagnen, Lobby- Manöver und gewaltsame Zu- arbeit unter Pandemiebedingungen. mich kein Schimpfwort und Öffentlichkeitsarbeit setzen wir uns sammenstöße aus dem Osten des Theologin Dr. Margot Käßmann aktiv für eine zivile Friedenspolitik ein. Landes gemeldet. Seit Beginn der Pandemie hat häusliche Gewalt gegen Die Bundesregierung hat uns als Träger- Aber auch in anderen Landestei- Frauen deutlich zugenommen. In der Reportage lesen 14 Im Fokus organisation des Zivilen Friedensdienstes len ist die Gesellschaft bis heute Sie, wie das Team des forumZFD in Jordanien zusam- anerkannt. Wir sind Unterzeichner der tief gespalten. Beispielsweise in men mit der Organisation ‚Land des Friedens‘ Frauen 16 Porträt Initiative Transparente Zivilgesellschaft. Odessa, wo das Titelbild dieses und Jugendliche stark macht, um Gewalt in der Familie Unsere Arbeit finanzieren wir über öffent- Magazins entstanden ist. Die Eine Ausbildung, liche und private Zuschüsse, Spenden multikulturelle Hafenstadt am zu verhindern. die Spuren hinterlässt und Mitgliedsbeiträge. Schwarzen Meer ist mehr als 500 Zwei Alumnae der Akademie für Kilometer von den umkämpften In dieser Ausgabe lesen Sie außerdem von drei Frauen, Konflikttransformation berichten Das forumZFD erhielt 1997 den Gebieten entfernt, aber der Kon- Gustav-Heinemann-Bürgerpreis, 2005 flikt lässt die Menschen auch hier die sich für den Frieden einsetzen: Im Porträt stellen 18 Reportage den Göttinger Friedenspreis und im Jahr nicht unberührt. wir Annika Denkmann und Marcela Herrera vor, die Hausfriedensbruch 2014 den Friedenspreis Sievershäuser die Ausbildung zur Friedensberaterin beim forumZFD Ermutigung. Doch immer wieder gibt es In Jordanien unterstützt Momente der Hoffnung. Ganz abgeschlossen haben. Margot Käßmann, weithin be- das forumZFD Betroffene Impressum vorsichtig hält das kleine Mädchen kannt für ihr öffentliches Engagement für Frieden und häuslicher Gewalt die weiße Taube in den Händen. Gerechtigkeit, erläutert im Gespräch, warum „Weltver- Herausgeber: Wir haben dieses Titelbild ausge- Forum Ziviler Friedensdienst e. V. wählt, weil es ein Symbol für die besserin“ für sie kein Schimpfwort ist. 22 Friedenspolitik Am Kölner Brett 8, 50825 Köln Hoffnung auf eine friedlichere 24 Rätsel & Rezept E-Mail: kontakt@forumZFD.de Zukunft ist. Eine Zukunft, die unse- Viel Freude beim Lesen wünscht Ihnen Internet: www.forumZFD.de re Teammitglieder in Odessa aktiv 26 Spenden Telefon: 0221 – 91 27 32-0 mitgestalten: Seit 2018 arbeiten sie gemeinsam mit den Menschen vor Redaktion: Christoph Bongard (V.i.S.d.P.), Ort daran, dass die Konflikte in der Thomas Oelerich, John Peters, Stadt ohne Gewalt gelöst werden. Hannah Sanders Sie stärken den Zusammenhalt in Gestaltung: www.sonja-kleffner.de den Nachbarschaften und schaf- Christoph Bongard Lektorat: www.lektorat.koeln fen Räume für Dialog auch über Leiter Kommunikation & Politik kontroverse Themen. Eine Arbeit, Auflage: 5.000 Stück die in Zeiten steigender Spannun- Mit finanzieller Unterstützung durch das Programm Ziviler Friedensdienst des Papier: 100 % Recyclingpapier gen wichtiger erscheint denn je. Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Fotos ohne Angaben: © forumZFD
4 In eigener Sache Meinung 5 Virtuelles Wir brauchen Friedensziele Großartige Solidarität Geburts statt Aufrüstungsziele tagsfest von Oliver Knabe Digital lässt es sich nicht gut feiern? Wir haben gelernt: Das geht doch! Am 11. Februar 2021, genau 25 Jahre nach der Gründung des f orumZFD, Die Bilanz ist bitter: Seit der Wiedervereinigung hat zu ü bernehmen. Nachhaltige Entwicklung gelingt nur kamen über 100 Gäste online keine Bundesregierung derart aufgerüstet wie die auf friedlichem Wege. Aus diesem Grund brauchen wir zusammen, um diesen besonderen beiden Großen Koalitionen. Um sagenhafte 45 % ist stringente, durchfinanzierte Friedensziele! Tag zu feiern. Darunter waren viele der Etat des Bundesverteidigungsministeriums an Menschen, die unsere Friedensar- gewachsen von 32,5 Mrd. € im Jahr 2014 auf 47 Mrd. Ziehen wir auch hier Bilanz. Auf den ersten Blick erfreu- beit seit vielen Jahren begleiten und € im Jahr 2021. 2014 haben wir als forumZFD mit der lich: Die Mittel für Abrüstung, Rüstungskontrolle und unterstützen – aber auch einige „Aktion Friedensband – Friedenspolitik statt Militär Zivile Konfliktbearbeitung stiegen auf zuletzt 6,4 Mrd. € neue Weggefährt*innen. Aus der einsätze“ vor einer solchen Entwicklung gewarnt. im Jahr 2021. Doch vom „Vorrang für Zivil“ sind wir „Party-Zentrale“ im Friedenshaus damit immer noch meilenweit entfernt. Der Blick nach führte Christoph Bongard, Leiter der Damals hatte ein Trio aus dem damaligen Bundespräsi- vorn lässt mich erst recht erschaudern: Gemäß der mit- Ein Großteil der Mitarbeitenden aus der Geschäftsstelle des forumZFD arbeitet Abteilung Kommunikation, durch denten Gauck, Außenminister Steinmeier und der Ver- telfristigen Finanzplanung des Bundes sollen die Gelder aus dem Homeoffice. So oder ähnlich sehen die Arbeitsplätze unter Corona aus. den Abend. Die Ehrenvorsitzende teidigungsministerin von der Leyen auf der Münchner für die Entwicklungszusammenarbeit sinken! Diente der und f orumZFD-Mitgründerin Helga Sicherheitskonferenz gefordert, Deutschland müsse in- Finanzschub der letzten Jahre der Beschwichtigung einer Tempel sprach einen Toast zum ternational mehr „Verantwortung“ übernehmen. Das war deutschen Öffentlichkeit, die Aufrüstung und militäri- Die Corona-Pandemie stellt uns weiter vor enorme Herausforderun 25. Geburtstag aus und vor allen ein schlecht kaschierter Aufruf nach „mehr fürs Militär“. sche Einsätze mehrheitlich ablehnt? gen. Aus unseren Einsatzländern erreichen uns besorgniserregende Bildschirmen wurde gemeinsam Als Begründung wurde Bündnissolidarität gegenüber Berichte unserer Partnerorganisationen. Unsere Friedensarbeit angestoßen. den Mitgliedern in der NATO beschworen. Eine ernsthafte Friedens- und Entwicklungspolitik stattet weltweit wie in Deutschland selbst ist wegen der Corona-Pandemie ihre Partner langfristig und verlässlich mit Finanzmit- auf besondere Unterstützung angewiesen. Ein Großteil der Mitar Diese massive Fehlallokation über Jahre hinweg macht teln aus. Ganz konkret fordern wir deshalb 10 Millionen beitenden der Geschäftsstelle in Köln koordiniert die Friedensarbeit mich wütend. Denn wir haben Zeit verloren, um an- mehr für den Zivilen Friedensdienst pro Jahr. vom Homeoffice aus. gesichts der existenziellen Bedrohungen für Mensch und Natur tatsächlich internationale Verantwortung Mehr kann – und muss – folgen: höhere Zusagen für die Viele lokale Friedensorganisationen sind in existenzbedrohende Notlagen Finanzierung multilateraler Organisationen und ihrer geraten, weil Projektfinanzierungen in der Krise gekürzt wurden. Es fehlt Friedensmissionen, allen voran für die Vereinten Nationen das Geld für laufende Personalkosten oder ganz einfach nur an Mitteln und für die OSZE, die eine wichtige Rolle im Ukraine- #friedenstarkmachen für die Zahlung der Büromiete. Die laufenden Friedensprojekte in unseren Besonders berührt waren viele Gäste Konflikt spielt, aber auch für die Afrikanische Union. Projektländern sind zum Glück aufgrund der Basisfinanzierung durch von dem Musikbeitrag: Vera Keel und öffentliche Fördermittel nicht gefährdet. Lutz Kettnaker hatten das Chanson Ich werde mir vor der Bundestagswahl genau „Youkali“, komponiert 1934 von Kurt ansehen, welche Partei handfeste, zivile Auch das forumZFD in Deutschland hat nun schon im zweiten Weill im französischen Exil, eigens Friedensziele im Angebot hat, bevor ich Jahr mit gravierenden finanziellen Einbußen (ca. 150.000 Euro für die Jubiläumsfeier aufgezeichnet. Nicht red en. meine Wahlentscheidung treffe. ! jährlich) allein durch die erzwungene Absage unserer traditio- Ein weiterer Höhepunkt war die Zeit- Handeln nellen Friedensläufe zu kämpfen. Anfang Mai haben wir unter reise in Bildern: Gründungsmitglied Denn machen wir uns nichts vor: dem Titel „SOS – Friedensarbeit gefährdet“ einen Spendenaufruf Heinz Wagner und Mareike Junge, Wer Kriege verhindern will, muss den versandt. Für die großzügige Unterstützung, die uns in Folge des stellvertretende Vorsitzende des Auf- Frieden vorbereiten. Und sagen, was er Aufrufs erreicht hat, sind wir al- sichtsrats, erzählten dazu Geschich- wert ist. Es ist höchste Zeit. len Spender*innen sehr dankbar. ten und persönliche Anekdoten aus Die Resonanz auf unseren Ihre Spenden machen es möglich, 25 Jahren Friedensarbeit. Das Video Spendenaufruf „SOS – unsere wichtige friedenspolitische des Bildervortrags sowie viele weitere Friedensarbeit gefährdet“ Bildungs- und Öffentlichkeitsar- Beiträge zum Jubiläum finden Sie auf Oliver Knabe ist war überwältigend. beit hier in Deutschland fort unserer Webseite: Vorstandsvorsitzender des forumZFD setzen zu können. Danke! www.forumZFD.de/25jahre Friedenspolitik! Wir fordern eine echte
6 Thema Thema 7 Ein Virus – Anfang März 2020 trafen sich vier internationale Kolleg*innen un- seres Israel-/Palästina-Büros zu Nach dem ersten Lockdown von März bis Mai 2020 setzten die meis- ten von uns lange keinen Fuß mehr in jedoch deutlich höher. Sowohl in Is- rael als auch in den palästinensischen Gebieten wurde insgesamt drei Mal zwei Realitäten einem letzten Spaziergang durch die Altstadt von Jerusalem. Monate- ein Lockdown verhängt. Aufgrund die Altstadt Jerusalems. Die sonst lang waren die Tore der Stadt für alle niedriger Infektionszahlen wurden so überfüllten Gassen, die Massen außer den Anwohnenden geschlos- in den Sommermonaten Schulen, an Reisenden und Pilgernden, die sen. Erst im März 2021 kehrten wir Geschäfte und Restaurants wieder Straßenverkäufer*innen, die lautstark zurück, um unsere Lieblingsläden, die geöffnet. Dies erwies sich als schwer- für ihre Souvenirs werben – all das wieder öffnen konnten, zu besuchen. wiegender Fehler, da die Infekti- war aus der Altstadt verschwun- Vieles hat sich verändert. Durch den onsraten in den folgenden Monaten Friedensarbeit in Israel und Palästina in Zeiten der Pandemie den. Stattdessen fanden sich unsere fehlenden Tourismus mussten einige ihren Höhepunkt erreichten. Teammitglieder in einer gefühlten unserer Lieblingsrestaurants dauer- von Iuna Vieira, forumZFD Jerusalem Geisterstadt wieder, mit geschlosse- haft schließen. Die Souvenirverkäu- Obwohl Israel wirtschaftlich stark nen Geschäften, hoher Polizeipräsenz fer*innen haben sich daran gewöhnt, von der Krise betroffen war, stabi- und Straßensperren rund um die dass das internationale Publikum, das lisiert sich die Arbeitslosenquote Unsere Kolleg*innen in Jerusalem blicken auf ein Jahr der Arbeit unter besonderen Umständen zurück. religiösen Stätten. Die ersten Tage sich hier noch rumtreibt, nicht die ty- derzeit. 54 Prozent der israelischen Ein Jahr geprägt von Unsicherheiten, Sorgen und steigenden Spannungen – aber auch mit Momenten der und Wochen des Lockdowns sorgten pischen Tourist*innen sind und daher Bevölkerung, einschließlich der Kreativität, Verbundenheit und Hoffnung. Kraft schöpften sie vor allem aus dem Austausch im Team und für viel Ungewissheit. Wir alle hatten keine ideale Kundschaft darstellen. palästinensischen Bewohner*in- mit den Partner*innen, die trotz allem optimistisch und aktiv blieben. noch keine Ahnung davon, wie lange Nichtsdestotrotz ist das Leben in die nen Jerusalems, haben bereits zwei dieses Gefühl ein Teil unseres Lebens Altstadt zurückgekehrt, und außer Impfdosen erhalten. Das alltägliche bleiben würde. Ein Jahr später bli- den maskierten Gesichtern kann man Leben normalisiert sich langsam, cken unsere Kolleg*innen in Jerusa- den Unterschied kaum bemerken. da Gastronomie, Fitnessstudios und lem auf diese außergewöhnliche Zeit sogar Konzerthallen ihre Türen für Alle Fotos zum Thema: ©Iuna Vieira zurück. Dies sind ihre Eindrücke: Als der erste Lockdown angekündigt diejenigen öffnen, die einen Impf- wurde, verließen viele Kolleg*in- pass haben. Unterdessen steigt die nen des Zivilen Friedensdienstes, Zahl der Corona-Fälle in Palästina Mitarbeitende von ausländischen weiter an, da Palästinenser*innen im Das berühmte Damaskustor in der Konsulaten, internationale Studie- Westjordanland und im Gazastreifen Altstadt von Jerusalem hat wieder rende und Nachrichtenkorrespon- vom israelischen Impfprogramm geöffnet. dent*innen das Land. In unserem ausgeschlossen wurden. forumZFD-Team konnte jede*r für sich entscheiden, zu bleiben oder Als weltweit führendes Land in ins Heimatland zurückzukehren. Bezug auf Impfungen schützt Israel Die meisten von uns beschlossen zu seine Grenzen streng, was die Ein- bleiben, und so erlebten wir direkt reise für Menschen ohne israelischen mit, wie sich dieses außergewöhnli- Pass fast unmöglich macht. Die che Jahr auf die politische Situation, Einreisebeschränkungen gelten auch unsere Arbeit und unser persönli- für Palästinenser*innen. Viele von ches Leben auswirkte. ihnen arbeiten in Israel und pendeln täglich durch die Checkpoints. Die Pandemie verschärft meisten ihrer Einreisegenehmigun- Spannungen gen wurden seit der Krise einge- froren, sodass Tausende Familien Die Pandemie traf Israel und die ihre Haupteinnahmequelle verloren besetzten palästinensischen Gebiete haben. Unterdessen schafft es das gleichermaßen schwer, und doch palästinensische Gesundheitssystem schuf sie zwei verschiedene Reali- kaum, die vielen Patient*innen in den täten. In Israel wurden seit Beginn Krankenhäusern zu versorgen. Die der Pandemie 829.832 Infektionen Impfstoffe, die die palästinensische und 6.131 Todesfälle im Zusammen- Regierung beschafft hat, reichen bei hang mit Covid-19 gemeldet. In den weitem nicht aus, um eine ganzheitli- besetzten palästinensischen Gebieten che Versorgung zu gewährleisten. wurden 258.297 Infektionen und 2.751 Corona-bedingte Todesfälle re- Die Krise hat die Spannungen zwi- gistriert (Stand April 2021). Medien- schen Israelis und Palästinenser*in- berichten zufolge ist die Dunkelziffer nen verschärft. International hat die
8 Thema Thema 9 Palästinenser*innen wartet er immer konnte, war die Situation für neue Unsere lokale Kollegin Noa ließ sich noch auf eine Einreisegenehmigung, Kolleg*innen beim forumZFD jedoch nicht entmutigen. Gemein- um ins Büro zu kommen und das ganz anders. Luis kam während des sam mit dem Team von Beit Hagefen Team persönlich zu treffen. zweiten Lockdowns in Jerusalem schulte sie unter anderem Lehrkräfte an. Als Friedensfachkraft in einem darin, die Angebote von Beit Hage- Für diejenigen von uns, die bereits neuen Land beginnt die Arbeit fen an Schulen umzusetzen. seit einigen Jahren für das f orumZFD normalerweise mit Erkundung, arbeiten, war es die größte Heraus- Orientierung im Land, Treffen mit Ähnlich kreativ war unsere ös- forderung, unsere Partner*innen im Kolleg*innen und dem Aufbauen terreichische Kollegin Petra. Vor Westjordanland nicht besuchen zu von Kontakten. Luis berichtet: „Ich Ausbruch der Pandemie hatte sie können. Viele Aspekte unserer Arbeit habe mein Bestes gegeben, um in einer normalen Woche etwa drei Die Corona-bedingten Einrei- erfordern eine tiefe zwischenmensch- optimistisch zu bleiben, dass all das Kulturveranstaltungen organisiert. Das Leben kehrt langsam in die Altstadt von Jerusalem zurück. sebeschränkungen nach Israel liche Verbindung und einen sicheren bald wieder möglich sein wird. Die Wie überall auf der Welt ist die gelten auch für palästinensische Raum für Austausch. Es ist deutlich Pandemie hat mich gelehrt, Unge- Kunst- und Kulturszene auch in Berufspendler*innen. schwieriger, dieses Vertrauen virtuell wissheiten zu akzeptieren und starre Israel und Palästina besonders stark herzustellen. Zeitpläne aufzugeben. Ich habe viele von der Krise und den Schließungen kleine Dörfer verstreut. Die is- betroffen sind, welche die israelische neue Möglichkeiten kennengelernt, betroffen. Petra wollte den Künst- raelischen Behörden verweigern Besatzung hervorruft. Lichtblicke in düsteren Zeiten mit denen ich Kontakte aufrecht- ler*innen trotz allem einen Raum für die Bereitstellung grundlegender Pandemie die Debatte über Israels erhalten konnte. Auch über den ihre Auftritte bieten und startete das Versorgungsleistungen und die Insgesamt hat sich die Kluft des Verantwortung als Besatzungsmacht Es gab aber auch hoffnungsvolle Computer-Bildschirm konnte ich Projekt „Kunst-Umarmungen“: eine palästinensischen Behörden haben seelischen und physischen Wohl- gegenüber der palästinensischen Momente. Im Februar 2020 führ- herzliche Kontakte zu meinen neuen Reihe kurzer Auftritte, die über sozi- in diesem Gebiet keine Befugnisse. befindens zwischen Israelis und Bevölkerung neu entfacht. Und auch te unsere Kollegin Jana gerade ein Partner*innen und dem Team ale Medien verbreitet wurde. Lokale Dies macht es natürlich deutlich Palästinenser*innen während der die Zersplitterung innerhalb der neuntägiges Training zur gewaltfrei- aufbauen. Kontinuierlich miteinan- und internationale Kulturschaffende schwieriger, online mit den Frau- Pandemie vergrößert. Unsere Part- palästinensischen Gesellschaft trat en Kommunikation mit der Partner- der zu sprechen, unsere Projekte zu reichten Videos mit Musik, Gedich- en in Kontakt zu treten. Durch ner*innen leben in einer Realität, die noch deutlicher zutage als zuvor. organisation „Combatants for Peace“ überarbeiten und darüber nachzu- ten und humorvollen Beiträgen ein. den eingeschränkten Zugang zur viel schwieriger ist als unsere eigene, Covid-19 hat die wirtschaftliche durch, als die Pandemie den Work- denken, wie wir trotz der Pandemie Zwar konnten die Online-Veran- Gesundheitsversorgung sind zudem und sie lehren uns, wie wir trotz aller Ungleichheit innerhalb Palästinas shop jäh unterbrach. Nachdem sich ‚in Bewegung‘ bleiben können, war staltungen die echten Begegnungen die Risiken, die mit einer Infektion Unsicherheiten aktiv, motiviert und weiter vergrößert. Das Virus hat die Nachricht verbreitete, Reisende eine schwierige Erfahrung – aber es bei Kulturveranstaltungen nicht einhergehen würden, noch größer. widerstandsfähig bleiben können. auch die Grenzen der Handlungs- hätten das Virus nach Palästina hat sich definitiv gelohnt!“ Wäh- ersetzen – aber sie brachten wäh- Sie ermutigen uns tagtäglich, noch spielräume der Palästinensischen gebracht, kündigte die Stadt Bethle- rend Luis‘ positive Einstellung für rend des Lockdowns Kreativität und Aufgrund der Pandemie sind nur härter zu arbeiten, Pläne für eine Autonomiebehörde aufgezeigt, die hem einen Lockdown an. Zu Janas unsere Online-Meetings eine große Inspiration in die Wohnzimmer. Die noch wenige internationale Beob- ungewisse Zukunft zu entwickeln, nach wie vor stark von der inter- Überraschung hat diese gemeinsame Bereicherung war, warteten wir sozialen Medien ermöglichten es achter*innen vor Ort, um die Lage sich weiterhin in Online-Meetings nationalen Gemeinschaft und von Erfahrung sie und ihre Partner*innen sehnsüchtig darauf, ihn persönlich zudem einem breiteren Publikum, in diesen Gemeinden zu überwa- mit instabiler Internetverbindung Entscheidungen der israelischen noch enger zusammengeschweißt: kennenzulernen und in unserem mit den Künstler*innen in Kontakt chen und zu dokumentieren. Auch einzuwählen und uns über die Regierung abhängig ist. „Über WhatsApp haben die Teilneh- Büro zu begrüßen. zu kommen und die Aufführungen die Aufmerksamkeit der Medien ist Distanz und alle Umstände hinweg menden sofort Kontakt miteinander von zu Hause aus zu genießen. gering. Dies hat zu einem Anstieg verbunden zu fühlen. Wir werden Persönliche Treffen müssen aufgenommen, um nachzuhören, Kulturszene bleibt kreativ der ohnehin zahlreichen Zerstörun- unsere Partner*innen weiterhin die warten ob es allen gut geht. Sie tauschten Ländliche Gebiete besonders gen, unrechtmäßigen Verhaftungen Führung übernehmen lassen. Mit die neuesten Informationen aus und Obwohl die Pandemie die Reisemög- betroffen von Jugendlichen durch die israeli- ihrer Kraft und Ausdauer ebnen sie Seit Beginn der Pandemie war das unterstützten einander emotional. Da lichkeiten zwischen Israel und den schen Behörden und der gewalttä- den Weg für unsere Arbeit. forumZFD-Büro in Jerusalem ent- die geplanten Aktivitäten der Com- palästinensischen Autonomiegebie- Diese neuen und kreativen Arbeits- tigen Zwischenfälle mit Ansässigen weder ganz geschlossen oder nach batants for Peace nicht in Präsenz ten stark beeinträchtigt hat, hat sie weisen haben unsere Hoffnung und geführt. Während wir darauf hoffen, einem rotierenden Zeitplan besetzt. stattfinden konnten, wechselten wir auch unsere Kreativität angeregt, als unsere Motivation im vergangenen unsere geplanten Projekte bald Die Teammitglieder arbeiteten meist schnell zu einem Online-Format. Die es darum ging, neue und innovative Jahr aufrechterhalten. Allerdings ist durchführen zu können, zeigt dieses von zu Hause aus und trafen sich nur Online-Sitzungen waren nicht nur Wege für die Fortsetzung unserer es wichtig zu erwähnen, dass nicht Beispiel, dass das Corona-Virus eine in Online-Meetings. Mittlerweile ha- ein Ort des Lernens, sondern auch Arbeit zu finden. In Haifa ist unsere alle unsere Projekte in digitale For- tiefgreifende Wirkung auf Gemein- ben fast alle Mitarbeitenden bereits der gegenseitigen Unterstützung und Partnerorganisation Beit Hagefen mate umgewandelt werden konnten. den hat, die ohnehin stark von beide Impfungen erhalten. Dennoch der Solidarität – ganz im Geiste der ansässig, ein arabisch-jüdisches Kul- Vor der Pandemie hatten wir gerade der Gewalt und den Spannungen ist es schwierig, unsere zurückge- gewaltfreien Kommunikation.“ Wäh- turzentrum. Mit Unterstützung des unsere Arbeit in Masafer al Yatta wonnenen Freiheiten zu genießen, rend der Pandemie wurde die Gruppe forumZFD hatten sie Anfang 2020, begonnen, einem ländlichen Gebiet da wir wissen, dass unsere lokalen stetig größer. Die Online-A ktivitäten vor der Pandemie, einen neuen Re- südlich der palästinensischen Stadt Partner*innen im Westjordanland waren Lichtblicke während der düste- kord bei den Besuchszahlen erreicht. Hebron, im israelisch verwalteten Während des ersten Lockdowns nicht die gleichen Möglichkeiten ren Monate des Lockdowns. Für das Team des Kulturzentrums „Bereich C“ des Westjordanlands. durften sich die Menschen in Jerusalem haben. Zuhair, einer unserer Kolle- war es ein großer Rückschlag, als sie Die Frauen, mit denen wir arbeiten, nicht weiter als 500 Meter von ihrem gen vor Ort, ist Anfang des Jahres ins Während Jana persönliche Kontakte während des ersten Lockdowns keine haben keine gesicherte Strom- und Wohnsitz entfernen. Team gekommen. Wie Tausende von zu ihren Partner*innen aufbauen Gäste mehr empfangen durften. Wasserversorgung und sind über
10 Im Gespräch Im Gespräch 11 „Weltverbesserin“ Das forumZFD feiert in diesem Jahr sein 25-jähriges Jubiläum. Als Botschafterin des forumZFD haben Sie unsere Arbeit begleitet. In zwei Sätzen: Was wünschen ist für mich kein Sie dem forumZFD für die nächsten 25 Jahre? Wenn ich die Entwicklung sehe mit der Vereinsgründung vor 25 Jahren bis hin zum etablierten Fachdienst für zivile Schimpfwort Konfliktbearbeitung heute, dann dürfen die Wünsche ruhig visionär sein: Ich wünsche dem Zivilen Friedens- dienst, dass er in 25 Jahren, also im Jahr 2046, die Rolle in der Außen- und Sicherheitspolitik übernommen hat, die heute schon – selbst von der Bundesregierung – postu- liert wird: Vorrang für Zivil. Dass zivile Maßnahmen zur Konfliktbearbeitung militärische Optionen in den Hinter- Ein Interview mit der grund gedrängt haben und Waffeneinsätze in Konflikten auf polizeiliche Maßnahmen reduziert werden konnten. Theologin Dr. Margot Käßmann Bei der Gründung des forumZFD vor 25 Jahren haben Vertreter*innen der Kirchen eine wichtige Rolle ge- spielt. Wie würden Sie heute die friedenspolitischen Herausforderungen beschreiben, vor der die Kirchen stehen? alle Bilder zu „Im Gespräch“: © Jens Schulze, forumZFD Ich sehe vor allem zwei Herausforderungen: Rüstungsex- porte und den Missbrauch von Religionen in Konflikten. eweggründe, sich dem Protest gegen die Atomwaf- B Die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung fen anzuschließen? (GKKE) gibt jedes Jahr einen Bericht zur Rüstungsex- portpolitik heraus. In dem Bericht wird nachgewiesen, Ich finde es unfassbar, dass es nach den Erfahrungen von in welchem Umfang die Bundesrepublik Deutschland Hiroshima und Nagasaki immer noch Atomwaffen gibt. Waffen in Krisengebiete exportiert und Konflikte damit Für mich sind sie keine Abschreckung, sondern es ist ein eskaliert. Aber das wird in der Gesellschaft kaum noch Schrecken, dass Nationen Waffen mit einem derart zer- wahrgenommen. Ich finde, dass die an der GKKE be- störerischen Potenzial haben und dass sie von Deutsch- teiligten Kirchen diesen Skandal wesentlich deutlicher land aus eingesetzt werden könnten. Ich habe einmal in herausstellen müssten. Hiroshima an einer Gedenkfeier am 8. August teilge- nommen und die Dokumentationen dort gesehen und Herausforderung zwei: Religionen lassen sich missbrau- Zeugenaussagen gehört. Atomwaffen müssen gebannt chen, um Konflikte wirtschaftlicher oder politischer Art werden. Mir ist nicht begreiflich, warum die Bundesre- zu verschärfen. Die Kirchen müssen im interreligiösen publik Deutschland den Verbotsvertrag bis heute nicht Dialog dieses Problem immer wieder aufgreifen. Ich bin unterzeichnet hat. seit einiger Zeit Mitglied im Zentralausschuss der „World Conference of Religions for Peace“ (WCRP). Gerade im In einer häufig zitierten Predigt beim Neujahrsgottes- November 2020 hatten wir ein Treffen unter dem Titel dienst 2010 im Berliner Dom haben Sie als damalige „Assembly on Women, Faith, and Diplomacy“ über EKD-Ratsvorsitzende gesagt: „Nichts ist gut in Afgha- Kurz vor Ostern hatte unser Aufsichtsratsmitglied die Rolle der Frauen in den Weltreligionen. Einer der nistan“ und „Wir brauchen mehr Fantasie für den Frie- DR. MARGOT KÄßMANN, Peter Tobiassen die Gelegenheit, mit der Theologin Schwerpunkte: Wie können Frauen aus den Weltreligio- den“. Hat sich an dieser Einschätzung etwas geändert Jahrgang 1958, studierte Theologie in Tübingen, und ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evange nen beitragen zur Deeskalation von Konflikten? Für mich in den letzten zwölf Jahren? Edinburgh, Göttingen und Marburg. Nach ihrer lischen Kirche in Deutschland (EKD), Dr. Margot ist das sehr hoffnungsvoll. Wir haben in Liberia gesehen, Promotion und der Tätigkeit als Pfarrerin und später Käßmann, zu sprechen. Beim Treffen in der Nähe dass es gerade die Frauen waren, die den Friedensprozess Das würde ich heute noch genauso sagen. In Afghanistan als Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen von Hannover sprach er mit ihr über die Entwick über die Religionsgrenzen hinweg energisch in Gang ist auch nach zwanzig Jahren Militäreinsatz kaum Frie- Kirchentages war sie Landesbischöfin der Evange- lung und das 25-jährige Jubiläum des forumZFD, gebracht haben. den gewachsen. Die Fantasie des Bundestages beschränkt lisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Von 2009 über aktuelle friedenspolitische Herausforderun sich im Wesentlichen auf die Mandatsverlängerung für bis 2010 war sie Vorsitzende des Rates der EKD, von gen ebenso wie über die C orona-Pandemie. Margot Im Jahr 2019 haben Sie an einem Aktionstag gegen den Bundeswehreinsatz. Mir wurde damals vorgehalten, April 2012 bis zu ihrer Pensionierung „Botschafterin der Käßmann ist in ihrer Funktion als Botschafterin seit Atomwaffen am Fliegerhorst Büchel im Hunsrück ich könne mich ja mit den Taliban in ein Zelt setzen und EKD für das Reformationsjubiläum“ 2017. vielen Jahren mit der Friedensarbeit des forumZFD teilgenommen. Dort sind taktische A tomwaffen bei Kerzenlicht beten. Seit kurzem gibt es nun Verhand- verbunden. der US-Streitkräfte gelagert. Was waren Ihre lungen mit den Taliban, weil klar ist, dass Frieden nicht
12 Im Gespräch Im Gespräch 13 durch Intervention von außen entstehen kann, sondern fachkräfte, um einen Konflikt gar nicht erst eskalieren zu Bei der Friedensfrage ist die Herausforderung, dass sie Sind die Kirchen in der Bundesrepublik klar genug? nur, wenn Frieden von innen in diesem Land entsteht. lassen. Denken wir an den Völkermord in Ruanda im Jahr akut bleibt. Wir haben den Krieg in Syrien scheinbar Dazu müssen alle Konfliktparteien an einen Tisch. 1994. Der hatte sich lange angebahnt. Viele haben „pro- akzeptiert, er gehört seit Jahren zum Alltag. Da wird 2015, als es massive Angriffe gab auf die Öffnung der phezeit“, dass der Konflikt eskalieren wird. Dann müsste nicht mehr hingeschaut, was eigentlich passiert. Wir Grenzen, haben die Kirchen für Migranten in Not einen Das Programm des Zivilen Friedensdienstes ist von ein Parlament sagen: Jetzt haben wir hier eine „Friedens- haben zurzeit neunundzwanzig Kriege, die in dieser ungeheuer wichtigen Beitrag geleistet zum sozialen Frie- anfänglich knapp 1 Million Euro (2 Millionen DM) im truppe“, die mit den Werkzeugen der zivilen Konfliktbe- Welt täglich Menschenleben zerstören. Aber es gibt kein den in diesem Land. Viele Kirchengemeinden haben Ge- Jahr 1999 auf mittlerweile 55 Millionen Euro (2021) arbeitung die unterschiedlichen Interessensgruppen an Aufbegehren in unserem Land dagegen. Auch die Politik flüchtete aufgenommen, Deutschkurse angeboten und zur angewachsen. Angesichts der enormen Steigerung einen Tisch bringt, bevor der Konflikt eskaliert. müsste doch eigentlich – insbesondere die christlichen Integration beigetragen. Da war Kirche sehr deutlich. Das des Verteidigungshaushaltes auf heute fast 47 Milli- Parteien – der Prämisse von Jesus folgen: „Selig sind, ist sie auch heute mit dem Seenotrettungsschiff Sea-Watch arden Euro ist dies aber dennoch eine eher bescheide- Kommen wir zu dem derzeit alles beherrschenden die Frieden stiften“ (Matthäus 5, 9). Das Ökonomische 4, finanziert von der Evangelischen Kirche. Das ist zwar ne Summe. Was macht das mit Ihnen, wenn Sie solche Thema: die Corona-Pandemie. Sehen Sie eine Ver- wird ständig in den Vordergrund gestellt und ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber ein Zeichen: Zahlen lesen? antwortung Deutschlands, den armen Ländern des alles schlagende Argument – das ist für mich schon sehr Wir dürfen Menschen in Not nicht ertrinken lassen. globalen Südens bei der Überwindung der Pandemie bedrückend. Ich suche das richtige Wort: Fassungslos? Enttäuschend? zu helfen? Was macht Sie optimistisch, dass die Welt die aktuel- Warum investieren wir immer noch derart unverhält- Zum Thema Flucht haben Sie oft gesagt, dass viel zu len großen Probleme in den Griff bekommt? Steuern nismäßig in Militär, sehen aber nicht, dass auch zivile Wir haben einerseits eine solidarische Verpflichtung, aber viel über Geflüchtete als Problem gesprochen würde wir auf eine finale Katastrophe zu? Friedensdienste finanziert werden müssen? Wie wäre es, andererseits ist eine solche Verantwortung durchaus auch und die Menschen dabei zusehends aus dem Blickfeld wenn es umgekehrt wäre? Würden 47 Milliarden Euro Eigennutz. Wir alle wissen: Wenn Impfungen die Länder geraten. Worin sehen Sie an dieser Stelle als Theolo- Nein, uns steht der Weltuntergang nicht bevor. Mir ist ja in zivile Konfliktbearbeitung investiert, in Mediation, in des globalen Südens nicht erreichen, werden Mutationen gin die größte Herausforderung? oft vorgeworfen worden, ich sei eine „Weltverbesserin“. Konfliktentschärfung, in Zivilgesellschaft, in Landwirt- des Virus zurück nach Europa kommen. Deshalb müssen Aber das ist für mich kein Schimpfwort. Wir sind in schaft vor Ort, wie sähe die Welt dann aus? die Patente für die Impfstoffe freigegeben werden, damit Ganz biblisch würde ich mit Jesus sagen: „Ich war fremd diese Welt gestellt, um diese Welt zu verändern, damit die Länder des globalen Südens ebenfalls Impfkampag- und obdachlos und ihr habt mich nicht aufgenommen.“ eine Spur des Reiches Gottes sichtbar ist. Das Reich Sie haben mehrfach darauf hingewiesen, dass Sie nen finanzieren können. (Mt 25,43) In der Aufnahme von Menschen in Not und Gottes kommt dann erst eines Tages in Gottes Zukunft. den Eindruck hätten, in Deutschland müssten sich Menschen auf der Flucht, da begegnen wir Jesus. Das ist Wir sollten den Mut haben, zumindest ein paar Grund- inzwischen diejenigen rechtfertigen, die dafür eintre- Sie haben kürzlich dazu aufgerufen, den Klimawandel für mich christliche Haltung und Grundüberzeugung. steine von dieser Zukunft mit Frieden, Gerechtigkeit und ten, ohne Waffen Frieden zu schaffen. Ist das immer genauso zu bekämpfen wie die Corona-Pandemie. Ist Als Theologin finde ich es schwierig, wenn wir Menschen Bewahrung der Schöpfung zu legen, sonst haben wir als noch so? denn beides vergleichbar? nicht als Subjekte sehen, denen wir auf Augenhöhe mit Christ*innen und Kirchen nicht mehr viel zu sagen. ihrer jeweiligen Geschichte, ihren Namen, ihren Erzäh- Den Eindruck habe ich weiterhin. Pazifistinnen und Pazi- Langfristig ist beides vergleichbar, weil auch der Klima- lungen begegnen, sondern sie als „die Flüchtlinge“ be- Herzlichen Dank für das Gespräch. fisten werden immer noch als naiv belächelt. Aber diejeni- wandel alle Menschen betreffen wird. Beim Coronavirus zeichnen. Das degradiert Menschen in ihrer Würde. Jeder gen, die meinen, in bestimmten Situationen – nehmen wir haben wir heute sehr akut Angst um unser Leben. Der Mensch ist Gottes Ebenbild und gleich viel wert. Es ist Libyen oder Afghanistan – durch Militärinterventionen Klimawandel wird die Generationen unserer Kinder, vor nicht „die Flüchtlingskrise“, sondern eine Lebenskrise der Die Fragen stellte Peter Tobiassen, seit acht Jahren ehrenamtli- Frieden zu schaffen, sind doch widerlegt. Ist in diesen allem aber Enkel und Urenkel genauso akut betreffen. Es einzelnen Menschen, die in die Flucht getrieben wurden. ches Aufsichtsratsmitglied des forumZFD Ländern Frieden geschaffen worden? Ich sehe das nicht. wird dramatische Nahrungs- und Trinkwasserengpässe Oder nehmen wir das Beispiel Kosovo. Hier muss jetzt geben. Menschen werden durch den Klimawandel in eigentlich deutlich investiert werden, um alte Feindbilder lebensbedrohliche Situationen kommen. Ich war vor ein zu überwinden, damit diese in ein paar Jahren nicht wie- paar Jahren in Bangladesch. Dort war das Steigen des der aufbrechen können. Das forumZFD weiß das durch Meeresspiegels schon spürbar. In Indonesien stellt sich die eigene Arbeit dort ja sehr genau. Das ist langfristige die Frage, ob die Hauptstadt Djakarta gehalten werden Kommunikations- und Bildungsarbeit in Kindergärten, kann. In dem heißen Sommer 2018 entstand auf einmal in Schulen und mit Erwachsenen, um Feindbilder zu ein Gespür dafür, dass Klimawandel nicht nur eine Zei- entschärfen und langfristig in Freundbilder zu verändern. tungsmeldung ist, sondern auch uns betrifft. In der deutschen Mehrheitsgesellschaft wird das kaum als Arbeit zur Konfliktbewältigung wahrgenommen. Soziale Gerechtigkeit, lokal wie international, war Ihnen immer ein wichtiges Anliegen und ist unmittel- Gilt das nicht insbesondere auch für die Abgeordne- bar mit dem Friedensthema verbunden. Fürchten Sie, ten des Deutschen Bundestages, die über die Maß- dass diese Anliegen in den kommenden Jahren in den nahmen zur Konfliktbewältigung entscheiden? Hintergrund geraten könnten? Ich habe den Eindruck, dass der Bundestag immer erst Bei der sozialen Gerechtigkeit ist die Herausforderung, dann reagiert, wenn ein Konflikt eskaliert ist, und dann dass es eine Art Lastenausgleich zwischen den Starken meistens meint, es könne nur noch Waffengewalt hel- und den Schwachen gibt. Einerseits in unserem Land, fen. Ein langfristiges Denken, rechtzeitig zu sehen, was aber auch international, weil klar ist, dass Krisen – wie sich anbahnt, ist dort kaum vorhanden. Es gibt kaum jetzt die Corona-Pandemie – auf sehr ungerechte Weise Entscheidungen, mit denen rechtzeitig Geld in die Hand wirken. Sie werfen Ärmere oft in existenzielle Nöte, wäh- genommen wird für Mediation, für ausgebildete Friedens- rend andere unbeschadet durch Krisen kommen.
14 Im Fokus Im Fokus 15 „Weg zum Frieden“ steht in drei Sprachen an dieser Mauer in Netiv HaAsara, einer israelischen Siedlung direkt an der © Cole Keister, Unsplash Grenze zu Gaza. Der Wall aus Beton zerschneidet das Land, trennt die Menschen. Dagegen ist der bunte Schriftzug eine Botschaft für Frieden – auf Hebräisch, Arabisch und Englisch. In diesen drei Sprachen fand auch die jährliche Gedenkzeremonie statt, zu der die „Combatants for Peace“ kürzlich einluden. 280.000 Menschen aus Israel, Palästina und der ganzen Welt riefen gemeinsam zu Versöhnung auf. Diese große Unterstützung macht Mut, auch wenn der Weg zum Frieden noch lang ist.
16 Porträt Porträt 17 Eine Ausbildung, die Spuren hinterlässt © Holger Plickert, WMDE, CC BY-SA 4.0 Zwei Alumnae der Akademie für Konflikttransformation berichten von ihren Erfahrungen Die Akademie für Konflikttrans genau das, was sie machen möchte, ben und Übungen zu setzen, erzählt im Rahmen ihrer Arbeit Workshops möglich geworden, von der sie be- Demokratie. Mehr Menschen sind formation des forumZFD bildet sagt sie. Sie arbeitet für die „Asia and Annika. Aber ihr Wunsch, sich im für junge Menschen, beispielswei- reits im beruflichen Alltag profitiert: beteiligt, die Kommunikation fließt seit 1997 Friedensfachkräfte aus. Pacific Alliance of YMCAs“, eine Bereich Friedensbildung weiterzu- se zu aktuellen Themen wie dem „Auch jetzt muss ich mir Work- mehr. Diese Beziehungsgeflechte zu Bis heute haben über 700 Men Partnerorganisation von Brot für die bilden, hat sich mit dem Kurs erfüllt. Effekt der Corona-Pandemie auf shops überlegen und einen Rahmen vertiefen und das Kapital, das nur schen unsere Weiterbildungs Welt in Hongkong, und organisiert Vor allem das Wochenende zu The- Frauen. Jährlich findet außerdem schaffen, in dem Leute aus vielen bei wenigen ist, zu erweitern – das angebote abgeschlossen und Seminare zu Friedensthemen. atermethoden in der Friedensarbeit eine Friedensschule statt, bei der der Kontinenten, unterschiedlichen Al- ist eine wichtige Aufgabe.“ Seminarangebote der Akademie sei sehr intensiv gewesen: „Das ist religionsübergreifende Austausch im ters und mit vielfältigen beruflichen angenommen. Viele der aus Nach einem Studium der interna- besonders hängengeblieben, damit Fokus steht. Es gehe darum, einen Hintergründen einander begegnen Dass ihr die Arbeit am Theater nicht gebildeten Friedensfachkräfte tionalen Politik mit einem Fokus habe ich mich auch danach noch Raum für Dialog zwischen Men- und ins Gespräch kommen kön- ausreichte, weil sie sehr hierar- arbeiten heute im internationa auf Entwicklungspolitik, moderne weiterbeschäftigt.“ Wer darf seine schen aus verschiedenen kulturel- nen.“ Die Weiterbildung helfe ihr chisch und patriarchal organisiert len Kontext der Friedens- und Sprachen und Kommunikation gab Geschichte erzählen, wer bekommt len Kontexten zu schaffen, erklärt zu verstehen, wie Gruppendynamik war, stellte sie immer wieder fest. Konfliktarbeit. Wir stellen Ihnen der Kurs an der forumZFD-Akade- den Raum und das Publikum? Das Annika. Vieles führt sie wieder zu funktioniert und welchen Stellen- Zeitweise ließ sie diese Tätigkeit zwei unserer Alumnae vor. mie Annika die Möglichkeit, sich sind zentrale Fragen, die sie um- der Frage zurück, wie es jeder Per- wert gewaltfreie Kommunikation ganz fallen. Heute sagt sie: „Ich beruflich weiterzuentwickeln: Durch treiben. Es gebe keinen Tag, an dem son ermöglicht werden kann, ihre einnimmt. konnte mich damit nur noch schwer die zusätzliche Ausbildung qualifi- sie nicht denke, dass Konfliktarbeit Geschichte zu erzählen. Wenn das identifizieren.“ Durch die Arbeit Annika Denkmann zierte sie sich für Stellen mit einem wichtig sei, so Annika. Publikum dann noch zuhöre, sei der Menschen zusammenzubringen, beim Kulturamt und schließlich speziellen Friedensfokus, jenseits der Weg für Veränderung bereitet. war ihr schon immer ein Anliegen. die Weiterbildung gewann sie aber 2018 hat Annika Denkmann den be- klassischen Bildungsarbeit. „Ich habe gelernt, dass Konflikte Nach dem Studium der Kultur- wieder Freude daran, denn auch rufsbegleitenden Kurs der Akademie nicht vermeidbar sind. Wir müssen wissenschaften in Hildesheim war Theater findet in der Weiterbildung für Konflikttransformation erfolg- Natürlich war es in einer berufsbe- deshalb schauen, welche Möglich- Marcela Herrera Marcela lange Zeit am Theater und als Methode der Friedens- und reich abgeschlossen. Heute ist sie im gleitenden Weiterbildung heraus- keiten es gibt und wie sich Kon- in Kultureinrichtungen tätig. Mit Konfliktarbeit Raum. Bereich der friedenspädagogischen fordernd, immer am Ball zu bleiben flikte hin zu einem nachhaltigen, Als studierte Regisseurin und The- Schulen, Kindergärten und Mehr- Bildung tätig und kann sich für diese und die Energie aufzubringen, sich gerechten Frieden transformieren aterpädagogin absolvierte Marcela generationenprojekten arbeitete sie In der Weiterbildung fand M arcela Tätigkeit sehr begeistern. Das sei auch nach der Arbeit an die Aufga- lassen.“ Heute organisiert Annika Herrera 2019 die berufsbegleitende stadtteilübergreifend zusammen, insbesondere die Kombination Weiterbildung zur Friedens- und um den interkulturellen Dialog aus Wissenschaft, Reflexion und Konfliktberaterin. Heute arbeitet zwischen Gruppen zu fördern, Praxis interessant. Die Einheiten zu sie für das Institut für Auslandsbe- die wenig miteinander kommu- Projektmanagement, Evaluation, ziehungen (ifa) und vernetzt junge nizieren. „Mir liegt besonders die Organisationsentwicklung und Stra- Stipendiat*innen aus aller Welt mit Arbeit mit Leuten am Herzen, die tegiebildung halfen ihr, die Dinge, deutschen Organisationen. Der lang vielleicht keine Profis sind, die aber die sie zuvor aus dem Bauch heraus ersehnte Wunsch, in einem Friedens ein wichtiges Anliegen haben und getan hatte, zu reflektieren. Die projekt in Lateinamerika zu arbeiten, wollen, dass es in ihrem Stadtteil Weiterbildungsgruppe bestand aus wächst weiter. Sobald das gemeinsam friedlicher zugeht“, erzählt sie. Ihr ganz unterschiedlichen Menschen, mit ihrer Familie umsetzbar ist, will war es wichtig, dass auf diese Weise das habe den Austausch besonders © Japanibackpacker, Pixabay sie diesen Schritt gehen. Lebenswelten geteilt und Unter- anregend gemacht, berichtet sie. schiede verstanden werden können. „Jeder ist heute so in seiner Blase Dass sie jetzt beim ifa arbeitet, be- Für Marcela kann dadurch Demo- und wir merken nicht, neben wem trachtet Marcela als „Meilenstein“. kratie gefördert werden: „Wenn Be- wir laufen. Wenn man sich aber in Dies sei erst durch die Weiterbil- ziehungsgeflechte weit und vielfältig die Augen sehen kann, dann keimt dung an der forumZFD-Akademie sind, dann hast du eine bessere Hoffnung auf.“
18 Reportage Reportage 19 elästigung, aber sexuelle Gewalt in der Ehe wird nicht B Das Haus von „Land des Friedens“ ist ein beliebter als Straftat angesehen. Auch andere Formen von Gewalt Treffpunkt für Frauen und Jugendliche. werden nicht kriminalisiert, wie beispielsweise Ein- schränkungen der Freiheit und Wahlmöglichkeiten von Frauen, wirtschaftlicher Missbrauch oder psychische Gewalt. Entsprechend unvollständig ist auch die Daten- © Julia Neumann der Generaldirektor der jordanischen Nichtregierungsor- lage. Dem jordanischen Amt für Statistik zufolge haben ganisation „Land des Friedens“, einem wichtigen Partner 26 Prozent aller verheirateten Frauen zwischen 15 und des forumZFD vor Ort. 49 Jahren körperliche, sexuelle oder emotionale Gewalt erlebt (Stand 2018). Statistisch gesehen hat nur eine von Die Organisation hat ihren Sitz in einem hellblau und fünf Frauen, die „körperliche oder eheliche Sexualgewalt“ gelb gestrichenen Gebäude, das in einem kleinen Garten erfahren hat, um Hilfe gebeten. Da die Statistik jedoch steht. Auf der Hausfassade lacht eine bunt gekleidete Frau nur verheiratete Frauen umfasst, dürfte das tatsächliche auf einem Graffiti, am Eingang ranken sich Pflanzen an Ausmaß der Gewalt viel größer sein. einem Holzgerüst empor. Das Haus ist ein beliebter Treff- punkt für Frauen und Jugendliche. In einer Küche berei- Gewalt in Familien und Beziehungen betrifft Menschen ten Frauen essen zu – sie lernen, ein eigenes Restaurant aller kulturellen und sozioökonomischen Hintergründe zu eröffnen. Beruflich auf eigenen Beinen zu stehen, ver- sowie Bildungsstufen – nicht nur in Jordanien. Die Co- spricht ihnen finanzielle Sicherheit und Unabhängigkeit. vid-19-Pandemie hat das Problem weltweit verschärft: Laut Im Nebenraum schaut eine Gruppe zu, wie ihre Trainerin den Vereinten Nationen ist das Risiko häuslicher Gewalt in eine Modellpuppe frisiert. Trockenhauben stehen dort, in vielen Ländern gestiegen. Die Betroffenen sind meist Frau- einer Vitrine liegen Lockenwickler. Im Versammlungs- en und Kinder. Existenzängste und erhöhter Stress in der raum treffen sich Jugendliche, um über ihren Alltag, aber Pandemie können Auslöser für Gewalt sein. Gleichzeitig auch ihre berufliche Zukunft zu sprechen. ist es für Betroffene aufgrund von Kontaktbeschränkun- gen schwieriger geworden, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Bereits seit 2014 arbeitet „Land des Friedens“ in Irbid. Das fünfköpfige Team ist in der Stadt sehr gut vernetzt. „Land des Friedens“ unterstützt Betroffene „Wir kennen den Verkäufer am Kiosk, besuchen Frauen Hausfriedensbruch in ihrem Zuhause“, erzählt Projektmanagerin Lana Abu Das Team von „Land des Friedens“ in Irbid kennt be- Snaneh. „Die Menschen vertrauen uns, rufen uns an, troffene Familien persönlich. Projektmanagerin Lana wenn sie Hilfe brauchen, erzählen uns ihre Geheim- Abu Snaneh erzählt, dass eine Verwandte seit Mona- nisse. Wir bewahren diese Informationen und bieten ten vergeblich um das Sorgerecht ihres Sohnes streite. Unterstützung an.“ Häusliche Gewalt ist ein großes Problem Jordanien: Friedensprojekt schützt Frauen und Kinder vor Gewalt Durch den persönlichen Austausch mit den Menschen von Julia Neumann hat die Organisation herausgefunden, dass häusliche Gewalt in Irbid ein großes Problem ist. „Seit zehn Jahren nimmt die Gewalt zu“, erzählt Generaldirektor Imad Al- Zaghoul. Die Gründe dafür seien vielfältig: Unter ande- Gewalt in Familien hat während der Corona-Pandemie in vielen Ländern weltweit zugenommen. In der rem erhöhten die geringen Chancen für junge Menschen jordanischen Stadt Irbid unterstützt die Organisation „Land des Friedens“ betroffene Frauen und Kinder. auf einen gut bezahlten Job und die große Konkurrenz Gemeinsam mit dem forumZFD hat das Team ein Pilotprojekt entwickelt, um an Schulen über das Problem auf dem schwindenden Arbeitsmarkt die Frustration bei aufzuklären und Kinder zu schützen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. den Männern. „Ein wichtiger Faktor ist auch, dass die Frauen früher die Regeln und Gesetze nicht gut kannten“, fügt Projektmanagerin Abu Snaneh hinzu. „Aber nun In den belebten Straßen reihen sich kleine Geschäfte bilden eine vielfältige Gemeinschaft mit verschiedensten kennen sie ihre Rechte und fordern diese ein. Die Männer aneinander: Cafés, ein Schreiner, eine Metzgerei. Ge- soziokulturellen Hintergründen. Geflüchtete und Arbei- jedoch denken, sie seien das stärkere Geschlecht, und müsehändler verkaufen auf Wägen frische Erdbeeren, ter*innen aus Syrien, dem Sudan oder Ägypten haben in üben umso mehr Druck aus.“ Ein weiteres Problem sei, ein Händler stapelt kunstvoll Bananen und Melonen zu der Stadt ein neues Zuhause gefunden, eine renommierte dass die bestehenden Gesetze zum Schutz von Frauen kleinen Türmen auf Kisten, der Brotgeruch des Bäckers Universität zieht junge Studierende an. Die Gebäude und Kindern nicht zur Genüge implementiert würden. nebenan mischt sich mit den Autoabgasen. An diesem sind einheitlich in Sandstein gehalten. Sie sind maximal Das Team von „Land des Friedens“ ist in Irbid gut vernetzt. © Wael Alsharu Frühlingstag im März herrscht reges Treiben in Irbid, vier, fünf Stockwerke hoch und lassen einen Blick auf die In Jordanien sind nur einige Formen von Gewalt ge- Im Bild: Generaldirektor Imad Al-Zaghoul und Projekt der zweitgrößten Stadt in Jordanien, die nördlich von Nachbarschaft zu. Auch wenn die Stadt groß ist, sind die gen Frauen unter Strafe gestellt. Kapitel 7 des Straf- managerin Lana Abu Snaneh (rechts). der Hauptstadt Amman liegt. Über 700.000 Menschen Menschen hier gut vernetzt, erzählt Imad Al-Zaghoul, gesetzbuchs kriminalisiert zwar Vergewaltigung und
20 Reportage Reportage 21 Diese Herangehensweise leitet die gesamte Friedensarbeit © Julia Neumann © Wael Alsharu des forumZFD: Anstatt lokalen Gemeinden ein vorge- fertigtes Projekt überzustülpen, werden die konkreten Bedarfe zusammen mit den Partnerorganisationen und den Menschen vor Ort ermittelt. Anschließend werden gemeinsam Lösungen entwickelt und umgesetzt. Das forumZFD begleitet und unterstützt den Prozess von Anfang an, erläutert Landesdirektor Thabet: „Unsere Partnerorganisationen bekommen zunächst ein Training dazu, wie sie in die Gemeinden hineingehen und welche Fragen sie stellen können. Beispielsweise diskutieren sie in kleinen Gesprächsgruppen mit den Anwohner*innen verschiedene Themen und erfahren so, wo die Probleme liegen.“ Bei solchen Gesprächen in Irbid wurde klar, dass Zubehör für die Handyreparatur: Frauen bekommen häusliche Gewalt ein Problem ist, das viele Frauen und praktische Hilfe für den Alltag. Kinder in der Stadt betrifft. Jedoch hat „Land des Frie- Die Schulsozialarbeiterinnen Dareen Mustafa, Iman Sawalha, Itaf Dhoun berichten, was sie in dem Training gelernt haben. dens“ nicht genügend Mitarbeitende, um das Thema in den Familien direkt zu adressieren. Zusammen mit dem forumZFD entwickelte das Team deshalb eine andere bwohl ihr rechtlich nach einer Trennung das Sorgerecht O Idee: Sie wollten in den Schulen ansetzen. S chul-Arbeitsgemeinschaften positive Erlebnisse und konkrete Initiativen entwickelt, die sie zunächst über zustünde, vertagten die Gerichte ihre Entscheidung. Hin- ein paar ruhige Minuten bringen, ergänzt der 41-jährige einen Zeitraum von drei Monaten an ihren Schulen zu komme der Druck der Familie: Sie forderten, das Kind Sozialarbeiter*innen können helfen Khalil Akram Khalil, Sozialarbeiter und Angestellter im umsetzen. Sie wollen zum Beispiel stärker über die solle beim Vater bleiben, und die Frau habe Angst, ihr Bildungsministerium: „Soziale und körperliche Aktivitä- Auswirkungen von häuslicher Gewalt aufklären und Kind nach einer Scheidung nicht mehr wiederzusehen. In Jordanien gibt es an vielen Schulen Sozialarbeiter*in- ten, die in den Schulen durchgeführt werden, leiten nega- regelmäßige Treffen mit der Schulleitung, den Eltern und „Deshalb überlegt sie nun, bei ihrem gewalttätigen Mann nen, die die Kinder und Jugendlichen sowie ihre Familie tive Energie ab und tragen zur psychischen Gesundheit den Schüler*innen anbieten. Das forumZFD und „Land zu bleiben.“ beraten. Doch das Personal ist nicht ausreichend geschult bei.“ Manchmal kontaktieren die Sozialarbeiter*innen des Friedens“ begleiten die Umsetzung dieser Ideen. und weiß kaum, wie es Gewalt in Familien erkennen und auch die Familien direkt, um Hilfe anzubieten. Dareen Und auch darüber hinaus bleiben beide Organisationen Ein verbreitetes Problem sei die Erpressung von Frauen, angehen kann. Deshalb entwickelte das Team von „Land Mustafa erzählt von einer Schülerin, die von ihrem Vater gemeinsam am Thema dran: Als Nächstes will das Team erzählt Snaneh weiter und gibt ein Beispiel: „Wir haben des Friedens“ eine Trainingsreihe speziell für die Sozialar- missbraucht wurde. Als Mustafa davon erfuhr, nahm sie unter anderem die rechtlichen Lücken und die Implemen- von mehreren Frauen erfahren, dass sie mit privaten Fo- beiter*innen an Schulen. Im Konferenzsaal in Irbid sitzen Kontakt zur Stiefmutter auf – die das Kind vor erneuten tierung der Gesetze zum Schutz von Frauen und Kindern tos erpresst werden. Die Betreiber von Handyläden sind einige der Teilnehmenden zusammen und sprechen darü- Übergriffen schützen konnte. „Das Mädchen ist nun ak- angehen. Geplant ist, ein Netzwerk in Irbid aufzubauen, meist Männer. Wenn die Frauen ihr Gerät in Reparatur ber, was sie in den Trainings gelernt haben. Die 45-jährige tiv im Schulradio. Dadurch gewinnt sie Selbstbewusstsein das auch die zuständigen Behörden einschließt. „Wir geben, kommt es häufig vor, dass die Männer private Itaf Dhoun ist Direktorin einer Grundschule. „Ich erhielt und positive Energie.“ wollen diejenigen ansprechen, die juristisch tätig sind Fotos herunterladen.“ Damit erpressen sie die Frauen und einige Beschwerden im Zusammenhang mit Gewaltfällen und Gesetze umsetzen“, erklärt Projektmanagerin Lana drohen, die Bilder öffentlich zu machen. Deshalb stehen in den Familien. Im Kurs habe ich mehr Informationen Viele Ideen für die Zukunft Abu Snaneh. „Wir wollen die Schwachstellen im Gesetz auf Tischen in den Räumen von „Land des Friedens“ nun bekommen, wie ich das soziale Umfeld der Kinder genau- ausfindig machen und gemeinsam herausfinden, wie wir Lötkolben, Kontaktspray und Spannungsmessgeräte. er verstehen und möglicherweise verbessern kann.“ In der Zukunft möchte „Land des Friedens“ seine Arbeit eingreifen können.“ Die Organisation hat Frauen beigebracht, wie sie selbst an den Schulen weiter ausbauen. „Wir werden eine Einheit Verbindungen löten oder Displays austauschen können. Die 41-jährige Dareen Mustafa arbeitet als Seelsorgerin bilden, die auf Schulunterricht spezialisiert ist, in der „Einige reparieren nun Handys von anderen Frauen in an einer Grundschule für Mädchen. Sie sagt, sie kenne psychologische Ausbilder*innen unter unserer Aufsicht Die Autorin Julia Neumann ist freie Journalistin in Beirut und ihrem Zuhause. Eine Workshop-Teilnehmerin hat ihr die theoretischen Definitionen, Typen, sogar Gründe die Leitung übernehmen“, berichtet Generaldirektor Imad berichtet aus dem Libanon, aber auch aus anderen Ländern eigenes Handygeschäft eröffnet“, erzählt Snaneh stolz. und Auswirkungen von Gewalt in Familien. „Aber das Al-Zaghoul von den Plänen. Mit ihrer Arbeit trägt die Or- der Region. Training hat mir geholfen, einen Plan aufzustellen, und ganisation zu einem sicheren Lernumfeld für die Kinder Bedarfsanalyse statt vorgefertigter Themen es hat mir praktischen Input gegeben, wie ich mit den und Jugendlichen bei – und somit zu einer friedlicheren Betroffenen umgehen kann. Außerdem haben sie mich Gesellschaft insgesamt, in der Konflikte ohne Gewalt aus- Doch die Organisation wollte das Problem von Gewalt darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Opfer recht- getragen werden. Ein Engagement, dass das f orumZFD Hinweis: Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ in Familien breiter angehen. Das forumZFD unterstützt lich wehren können.“ gerne unterstützt: „Es ist wichtig, dass wir das Thema in In Deutschland gibt es ein Beratungsangebot für sie dabei. Die Räume des forumZFD in der Hauptstadt einen institutionellen Rahmen gebracht haben“, betont Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Amman geben einen weiten Blick frei auf das Stadtpano- In der Trainingsreihe haben die Sozialarbeiter*innen forumZFD-Landesdirektor Karim Thabet. „Die Lehrkräf- Unter der Nummer 08000 116 016 und via Online- rama, darunter die historische Zitadelle. Hier hat Karim außerdem gelernt, wie sie Vertrauen zwischen den te und die Sozialarbeiter*innen werden über ihre normale Beratung unterstützt das Netzwerk Betroffene aller Thabet, Landesdirektor des forumZFD in Jordanien, sein Schulkindern und den Lehrkräften aufbauen und ein Ausbildung hinaus geschult, bekommen Infos und Wissen Nationalitäten, mit und ohne Behinderung – 365 Tage Büro. „Wir geben nicht einfach Geld, damit eine Idee von sicheres Umfeld schaffen können. Iman Sawalha, die an an die Hand. Sie informieren auch die Schulleitungen, die im Jahr, rund um die Uhr. Die Menschen am Hilfetelefon uns implementiert wird“, erklärt Thabet. „Stattdessen einem privaten Gymnasium für Jungen arbeitet, erzählt: dadurch die Problematik besser im Blick haben.“ sprechen insgesamt 17 verschiedene Sprachen. Auch stärken wir die Kapazitäten unserer Partnerorganisati- „Es ist wichtig, die Kinder zu motivieren und ihnen für Angehörige, Freund*innen und Fachkräfte ist die onen, diskutieren mit ihnen mögliche Vorgehensweisen Aktivitäten anzubieten, durch die sie sich von ihrer Das Pilotprojekt zeigt bereits Wirkungen über das erste Beratung anonym und kostenfrei. und Lösungen und helfen dann bei der Umsetzung.“ Gewalterfahrung erholen können.“ Zum Beispiel könnten Training hinaus: Zwölf der Kursteilnehmenden haben
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