Ein Virus - zwei Realitäten - Thema Theologin Dr. Margot Käßmann

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Ein Virus - zwei Realitäten - Thema Theologin Dr. Margot Käßmann
Ausgabe 02/21

Thema
Ein Virus – zwei Realitäten
Im Gespräch
Theologin Dr. Margot Käßmann

Porträt
Eine Ausbildung,
die Spuren hinterlässt

Reportage
Friedensarbeit in Jordanien
Ein Virus - zwei Realitäten - Thema Theologin Dr. Margot Käßmann
2     Inhalt und Impressum                                                                                                                                                                                               Editorial   3

    Was Sie in diesem Heft erwartet                                                Über das forumZFD
      4 In eigener Sache
                                                                                   Wir im forumZFD unterstützen Menschen
                                                                                   in gewaltsamen Konflikten auf dem
                                                                                                                                                                         Liebe Leserin, lieber Leser,
      5 Meinung                                                                    Weg zum Frieden. Unsere Organisation
                                                                                   wurde im Jahre 1996 von Friedens- und
          Wir brauchen Friedensziele                                                                                                                                     während diese Ausgabe des Magazins entsteht, hat uns
                                                                                   Menschenrechtsgruppen gegründet – als
          statt Aufrüstungsziele                                                                                                                                         die Pandemie noch voll im Griff. Während immer mehr

                                                                                                                                © Rene Fietzek
                                                                                   Reaktion auf die Balkankriege. Seitdem
                                                                                   setzen wir uns für die Überwindung von                                                Menschen in Deutschland dank einer Impfung mehr
                                                                                   Krieg und Gewalt ein.                                                                 Sicherheit und Freiheit erhalten, erreichen Infektions-
                                                                                   Heute arbeiten wir zusammen mit                Zum Titel                              und Todeszahlen in anderen Ländern Höchstwerte.
      6 Thema
                                                                                   Friedensberaterinnen und -beratern in
          Ein Virus – zwei Realitäten                                              Deutschland und zwölf weiteren Ländern         Die Ukraine ist von einem dauer-       Zwischen Israel und den besetzten palästinensischen
          Friedensarbeit in Israel und                                             in Europa, dem Nahen Osten und Südost-         haften Frieden weit entfernt – das
                                                                                                                                                                         Gebieten liegen Gesundheit und Freiheit, liegen Ge-
          Palästina in Zeiten der Pandemie                                         asien. Ohne eine gute Ausbildung wäre          hat die jüngste Zuspitzung an der
                                                                                   unsere professionelle Arbeit in Konflik-       Grenze zu Russland erneut deut-        sundheitsnotstand und Unsicherheit ganz dicht beiei-
                                                                                   ten nicht möglich. Diese bietet unsere         lich gemacht. Seit nunmehr sieben      nander. Über diese Situation schreibt unsere Kollegin
                                                                                   Akademie für Konflikttransformation für        Jahren ist der Konflikt ungelöst.
    10 Im Gespräch                                                                                                                                                       Iuna Vieira in ihrem Rückblick auf ein Jahr Friedens­
                                                                                   Menschen in der internationalen Frie-          Fast täglich werden militärische
          „Weltverbesserin“ ist für                                                densarbeit an. Mit Kampagnen, Lobby-           Manöver und gewaltsame Zu-             arbeit unter Pandemiebedingungen.
          mich kein Schimpfwort                                                    und Öffentlichkeitsarbeit setzen wir uns       sammenstöße aus dem Osten des
          Theologin Dr. Margot Käßmann                                             aktiv für eine zivile Friedenspolitik ein.     Landes gemeldet.                       Seit Beginn der Pandemie hat häusliche Gewalt gegen
                                                                                   Die Bundesregierung hat uns als Träger-        Aber auch in anderen Landestei-
                                                                                                                                                                         Frauen deutlich zugenommen. In der Reportage lesen
    14 Im Fokus                                                                    organisation des Zivilen Friedensdienstes      len ist die Gesellschaft bis heute     Sie, wie das Team des forumZFD in Jordanien zusam-
                                                                                   anerkannt. Wir sind Unterzeichner der          tief gespalten. Beispielsweise in      men mit der Organisation ‚Land des Friedens‘ Frauen
    16 Porträt                                                                     Initiative Transparente Zivilgesellschaft.     Odessa, wo das Titelbild dieses
                                                                                                                                                                         und Jugendliche stark macht, um Gewalt in der Familie
                                                                                   Unsere Arbeit finanzieren wir über öffent-     Magazins entstanden ist. Die
          Eine Ausbildung,                                                         liche und private Zuschüsse, Spenden           multikulturelle Hafenstadt am          zu verhindern.
          die Spuren hinterlässt                                                   und Mitgliedsbeiträge.                         Schwarzen Meer ist mehr als 500
          Zwei Alumnae der Akademie für                                                                                           Kilometer von den umkämpften
                                                                                                                                                                         In dieser Ausgabe lesen Sie außerdem von drei Frauen,
          Konflikttransformation berichten                                         Das forumZFD erhielt 1997 den                  Gebieten entfernt, aber der Kon-
                                                                                   Gustav-Heinemann-Bürgerpreis, 2005             flikt lässt die Menschen auch hier     die sich für den Frieden einsetzen: Im Porträt stellen
    18 Reportage                                                                   den Göttinger Friedenspreis und im Jahr        nicht unberührt.                       wir Annika Denkmann und Marcela Herrera vor, die
          Hausfriedensbruch                                                        2014 den Friedenspreis Sievershäuser                                                  die Ausbildung zur Friedensberaterin beim forumZFD
                                                                                   Ermutigung.                                    Doch immer wieder gibt es
          In Jordanien unterstützt                                                                                                Momente der Hoffnung. Ganz
                                                                                                                                                                         abgeschlossen haben. Margot Käßmann, weithin be-
          das forumZFD Betroffene                                                  Impressum                                      vorsichtig hält das kleine Mädchen     kannt für ihr öffentliches Engagement für Frieden und
          häuslicher Gewalt                                                                                                       die weiße Taube in den Händen.         Gerechtigkeit, erläutert im Gespräch, warum „Weltver-
                                                                                   Herausgeber:                                   Wir haben dieses Titelbild ausge-
                                                                                   Forum Ziviler Friedensdienst e. V.             wählt, weil es ein Symbol für die
                                                                                                                                                                         besserin“ für sie kein Schimpfwort ist.
    22 Friedenspolitik
                                                                                   Am Kölner Brett 8, 50825 Köln                  Hoffnung auf eine friedlichere
    24 Rätsel & Rezept                                                             E-Mail: kontakt@forumZFD.de                    Zukunft ist. Eine Zukunft, die unse-   Viel Freude beim Lesen wünscht Ihnen
                                                                                   Internet: www.forumZFD.de                      re Teammitglieder in Odessa aktiv
    26 Spenden
                                                                                   Telefon: 0221 – 91 27 32-0                     mitgestalten: Seit 2018 arbeiten sie
                                                                                                                                  gemeinsam mit den Menschen vor
                                                                                   Redaktion: Christoph Bongard (V.i.S.d.P.),     Ort daran, dass die Konflikte in der
                                                                                   Thomas Oelerich, John Peters,                  Stadt ohne Gewalt gelöst werden.
                                                                                   Hannah Sanders                                 Sie stärken den Zusammenhalt in
                                                                                   Gestaltung: www.sonja-kleffner.de              den Nachbarschaften und schaf-
                                                                                                                                                                         Christoph Bongard
                                                                                   Lektorat: www.lektorat.koeln                   fen Räume für Dialog auch über         Leiter Kommunikation & Politik
                                                                                                                                  kontroverse Themen. Eine Arbeit,
                                                                                   Auflage: 5.000 Stück                           die in Zeiten steigender Spannun-
    Mit finanzieller Unterstützung durch das Programm Ziviler Friedensdienst des   Papier: 100 % Recyclingpapier                  gen wichtiger erscheint denn je.
    Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.         Fotos ohne Angaben: © forumZFD
Ein Virus - zwei Realitäten - Thema Theologin Dr. Margot Käßmann
4     In eigener Sache                                                                                                                                                                                                                       Meinung     5

                                                                                      Virtuelles                                Wir brauchen Friedensziele
    Großartige Solidarität                                                            Geburts­                                  statt Aufrüstungsziele
                                                                                      tagsfest
                                                                                                                                von Oliver Knabe
                                                                                      Digital lässt es sich nicht gut feiern?
                                                                                      Wir haben gelernt: Das geht doch!
                                                                                      Am 11. Februar 2021, genau 25 Jahre
                                                                                      nach der Gründung des f­ orumZFD,         Die Bilanz ist bitter: Seit der Wiedervereinigung hat        zu ü­ bernehmen. Nachhaltige Entwicklung gelingt nur
                                                                                      kamen über 100 Gäste online               keine Bundesregierung derart aufgerüstet wie die             auf friedlichem Wege. Aus diesem Grund brauchen wir
                                                                                      zusammen, um diesen besonderen            beiden Großen Koalitionen. Um sagenhafte 45 % ist            ­stringente, durchfinanzierte Friedensziele!
                                                                                      Tag zu feiern. Darunter waren viele       der Etat des Bundesverteidigungsministeriums an­
                                                                                      Menschen, die unsere Friedensar-          gewachsen von 32,5 Mrd. € im Jahr 2014 auf 47 Mrd.           Ziehen wir auch hier Bilanz. Auf den ersten Blick erfreu-
                                                                                      beit seit vielen Jahren begleiten und     € im Jahr 2021. 2014 haben wir als forumZFD mit der          lich: Die Mittel für Abrüstung, Rüstungskontrolle und
                                                                                      unterstützen – aber auch einige           „Aktion Friedensband – Friedenspolitik statt Militär­        Zivile Konfliktbearbeitung stiegen auf zuletzt 6,4 Mrd. €
                                                                                      neue Weggefährt*innen. Aus der            einsätze“ vor einer solchen Entwicklung gewarnt.             im Jahr 2021. Doch vom „Vorrang für Zivil“ sind wir
                                                                                      „Party-Zentrale“ im Friedenshaus                                                                       damit immer noch meilenweit entfernt. Der Blick nach
                                                                                      führte Christoph Bongard, Leiter der      Damals hatte ein Trio aus dem damaligen Bundespräsi-         vorn lässt mich erst recht erschaudern: Gemäß der mit-
      Ein Großteil der Mitarbeitenden aus der Geschäftsstelle des forumZFD arbeitet   Abteilung Kommunikation, durch            denten Gauck, Außenminister Steinmeier und der Ver-          telfristigen Finanzplanung des Bundes sollen die Gelder
      aus dem Homeoffice. So oder ähnlich sehen die Arbeitsplätze unter Corona aus.   den Abend. Die Ehrenvorsitzende           teidigungsministerin von der Leyen auf der Münchner          für die Entwicklungszusammenarbeit sinken! Diente der
                                                                                      und f­ orumZFD-Mitgründerin Helga         Sicherheitskonferenz gefordert, Deutschland müsse in-        Finanzschub der letzten Jahre der Beschwichtigung einer
                                                                                      Tempel sprach einen Toast zum             ternational mehr „Verantwortung“ übernehmen. Das war         deutschen Öffentlichkeit, die Aufrüstung und militäri-
    Die Corona-Pandemie stellt uns weiter vor enorme Herausforderun­                  25. Geburtstag aus und vor allen          ein schlecht kaschierter Aufruf nach „mehr fürs Militär“.    sche Einsätze mehrheitlich ablehnt?
    gen. Aus unseren Einsatzländern erreichen uns besorgniserregende                  Bildschirmen wurde gemeinsam              Als Begründung wurde Bündnissolidarität gegenüber
    Berichte unserer Partnerorganisationen. Unsere Friedensarbeit                     angestoßen.                               den Mitgliedern in der NATO beschworen.                      Eine ernsthafte Friedens- und Entwicklungspolitik stattet
    weltweit wie in Deutschland selbst ist wegen der Corona-Pandemie                                                                                                                         ihre Partner langfristig und verlässlich mit Finanzmit-
    auf besondere Unterstützung angewiesen. Ein Großteil der Mitar­                                                             Diese massive Fehlallokation über Jahre hinweg macht         teln aus. Ganz konkret fordern wir deshalb 10 Millionen
    beitenden der Geschäftsstelle in Köln koordiniert die Friedensarbeit                                                        mich wütend. Denn wir haben Zeit verloren, um an-            mehr für den Zivilen Friedensdienst pro Jahr.
    vom Homeoffice aus.                                                                                                         gesichts der existenziellen Bedrohungen für Mensch
                                                                                                                                und Natur tatsächlich internationale Verantwortung           Mehr kann – und muss – folgen: höhere Zusagen für die
    Viele lokale Friedensorganisationen sind in existenzbedrohende Notlagen                                                                                                                  Finanzierung multilateraler Organisationen und ihrer
    geraten, weil Projektfinanzierungen in der Krise gekürzt wurden. Es fehlt                                                                                                                Friedensmissionen, allen voran für die Vereinten Nationen
    das Geld für laufende Personalkosten oder ganz einfach nur an Mitteln                                                                                                                    und für die OSZE, die eine wichtige Rolle im Ukraine-­

                                                                                                                                           #friedenstarkmachen
    für die Zahlung der Büromiete. Die laufenden Friedensprojekte in unseren          Besonders berührt waren viele Gäste                                                                    Konflikt spielt, aber auch für die Afrikanische Union.
    Projektländern sind zum Glück aufgrund der Basisfinanzierung durch                von dem Musikbeitrag: Vera Keel und
    öffentliche Fördermittel nicht gefährdet.                                         Lutz Kettnaker hatten das Chanson                                                                      Ich werde mir vor der Bundestagswahl genau
                                                                                      „Youkali“, komponiert 1934 von Kurt                                                                    ansehen, welche Partei handfeste, zivile
              Auch das forumZFD in Deutschland hat nun schon im zweiten               Weill im französischen Exil, eigens                                                                    Friedensziele im Angebot hat, bevor ich
              Jahr mit gravierenden finanziellen Einbußen (ca. 150.000 Euro           für die Jubiläumsfeier aufgezeichnet.                                                 Nicht red
                                                                                                                                                                                     en.     meine Wahlentscheidung treffe.
                                                                                                                                                                                        !
              jährlich) allein durch die erzwungene Absage unserer traditio-          Ein weiterer Höhepunkt war die Zeit-                                                  Handeln
              nellen Friedensläufe zu kämpfen. Anfang Mai haben wir unter             reise in Bildern: Gründungsmitglied                                                                    Denn machen wir uns nichts vor: ­
              dem Titel „SOS – Friedensarbeit gefährdet“ einen Spendenaufruf          Heinz Wagner und Mareike Junge,                                                                        Wer Kriege verhindern will, muss den
               versandt. Für die großzügige Unterstützung, die uns in Folge des       stellvertretende Vorsitzende des Auf-                                                                  Frieden vorbereiten. Und sagen, was er
                                              Aufrufs erreicht hat, sind wir al-      sichtsrats, erzählten dazu Geschich-                                                                   wert ist. Es ist höchste Zeit.
                                              len Spender*innen sehr dankbar.         ten und persönliche Anekdoten aus
               Die Resonanz auf unseren       Ihre Spenden machen es möglich,         25 Jahren Friedensarbeit. Das Video
                Spendenaufruf „SOS –          unsere wichtige friedenspolitische      des Bildervortrags sowie viele weitere
                Friedensarbeit gefährdet“     Bildungs- und Öffentlichkeitsar-        Beiträge zum Jubiläum finden Sie auf                                                                     Oliver Knabe ist
                war überwältigend.            beit hier in Deutschland fort­          unserer Webseite:                                                                                        Vorstandsvorsitzender des forumZFD
                                              setzen zu können. Danke!                www.forumZFD.de/25jahre
                                                                                                                                                                          Friedenspolitik!
                                                                                                                                                 Wir fordern eine echte
Ein Virus - zwei Realitäten - Thema Theologin Dr. Margot Käßmann
6    Thema                                                                                                                                                                                                                                                        Thema     7

    Ein Virus –                                                                                                                                 Anfang März 2020 trafen sich vier
                                                                                                                                                internationale Kolleg*innen un-
                                                                                                                                                seres Israel-/Palästina-Büros zu
                                                                                                                                                                                         Nach dem ersten Lockdown von
                                                                                                                                                                                         März bis Mai 2020 setzten die meis-
                                                                                                                                                                                         ten von uns lange keinen Fuß mehr in
                                                                                                                                                                                                                                   jedoch deutlich höher. Sowohl in Is-
                                                                                                                                                                                                                                   rael als auch in den palästinensischen
                                                                                                                                                                                                                                   Gebieten wurde insgesamt drei Mal

    zwei Realitäten
                                                                                                                                                einem letzten Spaziergang durch          die Altstadt von Jerusalem. Monate-       ein Lockdown verhängt. Aufgrund
                                                                                                                                                die Altstadt Jerusalems. Die sonst       lang waren die Tore der Stadt für alle    niedriger Infektionszahlen wurden
                                                                                                                                                so überfüllten Gassen, die Massen        außer den Anwohnenden geschlos-           in den Sommermonaten Schulen,
                                                                                                                                                an Reisenden und Pilgernden, die         sen. Erst im März 2021 kehrten wir        Geschäfte und Restaurants wieder
                                                                                                                                                Straßenverkäufer*innen, die lautstark    zurück, um unsere Lieblingsläden, die     geöffnet. Dies erwies sich als schwer-
                                                                                                                                                für ihre Souvenirs werben – all das      wieder öffnen konnten, zu besuchen.       wiegender Fehler, da die Infekti-
                                                                                                                                                war aus der Altstadt verschwun-          Vieles hat sich verändert. Durch den      onsraten in den folgenden Monaten
    Friedensarbeit in Israel und Palästina in Zeiten der Pandemie                                                                               den. Stattdessen fanden sich unsere      fehlenden Tourismus mussten einige        ihren Höhepunkt erreichten.
                                                                                                                                                Teammitglieder in einer gefühlten        unserer Lieblingsrestaurants dauer-
    von Iuna Vieira, forumZFD Jerusalem                                                                                                         Geisterstadt wieder, mit geschlosse-     haft schließen. Die Souvenirverkäu-       Obwohl Israel wirtschaftlich stark
                                                                                                                                                nen Geschäften, hoher Polizeipräsenz     fer*innen haben sich daran gewöhnt,       von der Krise betroffen war, stabi-
                                                                                                                                                und Straßensperren rund um die           dass das internationale Publikum, das     lisiert sich die Arbeitslosenquote
    Unsere Kolleg*innen in Jerusalem blicken auf ein Jahr der Arbeit unter besonderen Umständen zurück.                                         religiösen Stätten. Die ersten Tage      sich hier noch rumtreibt, nicht die ty-   derzeit. 54 Prozent der israelischen
    Ein Jahr geprägt von Unsicherheiten, Sorgen und steigenden Spannungen – aber auch mit Momenten der                                          und Wochen des Lockdowns sorgten         pischen Tourist*innen sind und daher      Bevölkerung, einschließlich der
    Kreativität, Verbundenheit und Hoffnung. Kraft schöpften sie vor allem aus dem Austausch im Team und                                        für viel Ungewissheit. Wir alle hatten   keine ideale Kundschaft darstellen.       palästinensischen Bewohner*in-
    mit den Partner*innen, die trotz allem optimistisch und aktiv blieben.                                                                      noch keine Ahnung davon, wie lange       Nichtsdestotrotz ist das Leben in die     nen Jerusalems, haben bereits zwei
                                                                                                                                                dieses Gefühl ein Teil unseres Lebens    Altstadt zurückgekehrt, und außer         Impfdosen erhalten. Das alltägliche
                                                                                                                                                bleiben würde. Ein Jahr später bli-      den maskierten Gesichtern kann man        Leben normalisiert sich langsam,
                                                                                                                                                cken unsere Kolleg*innen in Jerusa-      den Unterschied kaum bemerken.            da Gastronomie, Fitnessstudios und
                                                                                                                                                lem auf diese außergewöhnliche Zeit                                                sogar Konzerthallen ihre Türen für

                                                                                                           Alle Fotos zum Thema: ©Iuna Vieira
                                                                                                                                                zurück. Dies sind ihre Eindrücke:        Als der erste Lockdown angekündigt        diejenigen öffnen, die einen Impf-
                                                                                                                                                                                         wurde, verließen viele Kolleg*in-         pass haben. Unterdessen steigt die
                                                                                                                                                                                         nen des Zivilen Friedensdienstes,         Zahl der Corona-Fälle in Palästina
                                                                                                                                                                                         Mitarbeitende von ausländischen           weiter an, da Palästinenser*innen im
                                                                                                                                                  Das berühmte Damaskustor in der        Konsulaten, internationale Studie-        Westjordanland und im Gazastreifen
                                                                                                                                                  Altstadt von Jerusalem hat wieder      rende und Nachrichtenkorrespon-           vom israelischen Impfprogramm
                                                                                                                                                  geöffnet.                              dent*innen das Land. In unserem           ausgeschlossen wurden.
                                                                                                                                                                                         forumZFD-Team konnte jede*r für
                                                                                                                                                                                         sich entscheiden, zu bleiben oder         Als weltweit führendes Land in
                                                                                                                                                                                         ins Heimatland zurückzukehren.            Bezug auf Impfungen schützt Israel
                                                                                                                                                                                         Die meisten von uns beschlossen zu        seine Grenzen streng, was die Ein-
                                                                                                                                                                                         bleiben, und so erlebten wir direkt       reise für Menschen ohne israelischen
                                                                                                                                                                                         mit, wie sich dieses außergewöhnli-       Pass fast unmöglich macht. Die
                                                                                                                                                                                         che Jahr auf die politische Situation,    Einreisebeschränkungen gelten auch
                                                                                                                                                                                         unsere Arbeit und unser persönli-         für Palästinenser*innen. Viele von
                                                                                                                                                                                         ches Leben auswirkte.                     ihnen arbeiten in Israel und pendeln
                                                                                                                                                                                                                                   täglich durch die Checkpoints. Die
                                                                                                                                                                                         Pandemie verschärft                       meisten ihrer Einreisegenehmigun-
                                                                                                                                                                                         Spannungen                                gen wurden seit der Krise einge-
                                                                                                                                                                                                                                   froren, sodass Tausende Familien
                                                                                                                                                                                         Die Pandemie traf Israel und die          ihre Haupteinnahmequelle verloren
                                                                                                                                                                                         besetzten palästinensischen Gebiete       haben. Unterdessen schafft es das
                                                                                                                                                                                         gleichermaßen schwer, und doch            palästinensische Gesundheitssystem
                                                                                                                                                                                         schuf sie zwei verschiedene Reali-        kaum, die vielen Patient*innen in den
                                                                                                                                                                                         täten. In Israel wurden seit Beginn       Krankenhäusern zu versorgen. Die
                                                                                                                                                                                         der Pandemie 829.832 Infektionen          Impfstoffe, die die palästinensische
                                                                                                                                                                                         und 6.131 Todesfälle im Zusammen-         Regierung beschafft hat, reichen bei
                                                                                                                                                                                         hang mit Covid-19 gemeldet. In den        weitem nicht aus, um eine ganzheitli-
                                                                                                                                                                                         besetzten palästinensischen Gebieten      che Versorgung zu gewährleisten.
                                                                                                                                                                                         wurden 258.297 Infektionen und
                                                                                                                                                                                         2.751 Corona-bedingte Todesfälle re-      Die Krise hat die Spannungen zwi-
                                                                                                                                                                                         gistriert (Stand April 2021). Medien-     schen Israelis und Palästinenser*in-
                                                                                                                                                                                         berichten zufolge ist die Dunkelziffer    nen verschärft. International hat die
Ein Virus - zwei Realitäten - Thema Theologin Dr. Margot Käßmann
8     Thema                                                                                                                                                                                                                                       Thema       9

                                             Palästinenser*innen wartet er immer       konnte, war die Situation für neue      Unsere lokale Kollegin Noa ließ sich
                                             noch auf eine Einreisegenehmigung,        Kolleg*innen beim forumZFD              jedoch nicht entmutigen. Gemein-
                                             um ins Büro zu kommen und das             ganz anders. Luis kam während des       sam mit dem Team von Beit Hagefen
                                             Team persönlich zu treffen.               zweiten Lockdowns in Jerusalem          schulte sie unter anderem Lehrkräfte
                                                                                       an. Als Friedensfachkraft in einem      darin, die Angebote von Beit Hage-
                                             Für diejenigen von uns, die bereits       neuen Land beginnt die Arbeit           fen an Schulen umzusetzen.
                                             seit einigen Jahren für das f­ orumZFD    normalerweise mit Erkundung,
                                             arbeiten, war es die größte Heraus-       Orientierung im Land, Treffen mit       Ähnlich kreativ war unsere ös-
                                             forderung, unsere Partner*innen im        Kolleg*innen und dem Aufbauen           terreichische Kollegin Petra. Vor
                                             Westjordanland nicht besuchen zu          von Kontakten. Luis berichtet: „Ich     Ausbruch der Pandemie hatte sie
                                             können. Viele Aspekte unserer Arbeit      habe mein Bestes gegeben, um            in einer normalen Woche etwa drei
       Die Corona-bedingten Einrei-          erfordern eine tiefe zwischenmensch-      optimistisch zu bleiben, dass all das   Kulturveranstaltungen organisiert.         Das Leben kehrt langsam in die Altstadt von Jerusalem zurück.
       sebeschränkungen nach Israel          liche Verbindung und einen sicheren       bald wieder möglich sein wird. Die      Wie überall auf der Welt ist die
       gelten auch für palästinensische      Raum für Austausch. Es ist deutlich       Pandemie hat mich gelehrt, Unge-        Kunst- und Kulturszene auch in
       Berufspendler*innen.                  schwieriger, dieses Vertrauen virtuell    wissheiten zu akzeptieren und starre    Israel und Palästina besonders stark
                                             herzustellen.                             Zeitpläne aufzugeben. Ich habe viele    von der Krise und den Schließungen       kleine Dörfer verstreut. Die is-            betroffen sind, welche die israelische
                                                                                       neue Möglichkeiten kennengelernt,       betroffen. Petra wollte den Künst-       raelischen Behörden verweigern              Besatzung hervorruft.
                                             Lichtblicke in düsteren Zeiten            mit denen ich Kontakte aufrecht-        ler*innen trotz allem einen Raum für     die Bereitstellung grundlegender
    Pandemie die Debatte über Israels                                                  erhalten konnte. Auch über den          ihre Auftritte bieten und startete das   Versorgungsleistungen und die               Insgesamt hat sich die Kluft des
    Verantwortung als Besatzungsmacht        Es gab aber auch hoffnungsvolle           Computer-Bildschirm konnte ich          Projekt „Kunst-Umarmungen“: eine         palästinensischen Behörden haben            seelischen und physischen Wohl-
    gegenüber der palästinensischen          Momente. Im Februar 2020 führ-            herzliche Kontakte zu meinen neuen      Reihe kurzer Auftritte, die über sozi-   in diesem Gebiet keine Befugnisse.          befindens zwischen Israelis und
    Bevölkerung neu entfacht. Und auch       te unsere Kollegin Jana gerade ein        Partner*innen und dem Team              ale Medien verbreitet wurde. Lokale      Dies macht es natürlich deutlich            Palästinenser*innen während der
    die Zersplitterung innerhalb der         neuntägiges Training zur gewaltfrei-      aufbauen. Kontinuierlich miteinan-      und internationale Kulturschaffende      schwieriger, online mit den Frau-           Pandemie vergrößert. Unsere Part-
    palästinensischen Gesellschaft trat      en Kommunikation mit der Partner-         der zu sprechen, unsere Projekte zu     reichten Videos mit Musik, Gedich-       en in Kontakt zu treten. Durch              ner*innen leben in einer Realität, die
    noch deutlicher zutage als zuvor.        organisation „Combatants for Peace“       überarbeiten und darüber nachzu-        ten und humorvollen Beiträgen ein.       den eingeschränkten Zugang zur              viel schwieriger ist als unsere eigene,
    Covid-19 hat die wirtschaftliche         durch, als die Pandemie den Work-         denken, wie wir trotz der Pandemie      Zwar konnten die Online-Veran-           Gesundheitsversorgung sind zudem            und sie lehren uns, wie wir trotz aller
    Ungleichheit innerhalb Palästinas        shop jäh unterbrach. Nachdem sich         ‚in Bewegung‘ bleiben können, war       staltungen die echten Begegnungen        die Risiken, die mit einer Infektion        Unsicherheiten aktiv, motiviert und
    weiter vergrößert. Das Virus hat         die Nachricht verbreitete, Reisende       eine schwierige Erfahrung – aber es     bei Kulturveranstaltungen nicht          einhergehen würden, noch größer.            widerstandsfähig bleiben können.
    auch die Grenzen der Handlungs-          hätten das Virus nach Palästina           hat sich definitiv gelohnt!“ Wäh-       ersetzen – aber sie brachten wäh-                                                    Sie ermutigen uns tagtäglich, noch
    spielräume der Palästinensischen         gebracht, kündigte die Stadt Bethle-      rend Luis‘ positive Einstellung für     rend des Lockdowns Kreativität und       Aufgrund der Pandemie sind nur              härter zu arbeiten, Pläne für eine
    Autonomiebehörde aufgezeigt, die         hem einen Lockdown an. Zu Janas           unsere Online-Meetings eine große       Inspiration in die Wohnzimmer. Die       noch wenige internationale Beob-            ungewisse Zukunft zu entwickeln,
    nach wie vor stark von der inter-        Überraschung hat diese gemeinsame         Bereicherung war, warteten wir          sozialen Medien ermöglichten es          achter*innen vor Ort, um die Lage           sich weiterhin in Online-Meetings
    nationalen Gemeinschaft und von          Erfahrung sie und ihre Partner*innen      sehnsüchtig darauf, ihn persönlich      zudem einem breiteren Publikum,          in diesen Gemeinden zu überwa-              mit instabiler Internetverbindung
    Entscheidungen der israelischen          noch enger zusammengeschweißt:            kennenzulernen und in unserem           mit den Künstler*innen in Kontakt        chen und zu dokumentieren. Auch             einzuwählen und uns über die
    Regierung abhängig ist.                  „Über WhatsApp haben die Teilneh-         Büro zu begrüßen.                       zu kommen und die Aufführungen           die Aufmerksamkeit der Medien ist           Distanz und alle Umstände hinweg
                                             menden sofort Kontakt miteinander                                                 von zu Hause aus zu genießen.            gering. Dies hat zu einem Anstieg           verbunden zu fühlen. Wir werden
    Persönliche Treffen müssen               aufgenommen, um nachzuhören,              Kulturszene bleibt kreativ                                                       der ohnehin zahlreichen Zerstörun-          unsere Partner*innen weiterhin die
    warten                                   ob es allen gut geht. Sie tauschten                                               Ländliche Gebiete besonders              gen, unrechtmäßigen Verhaftungen            Führung übernehmen lassen. Mit
                                             die neuesten Informationen aus und        Obwohl die Pandemie die Reisemög-       betroffen                                von Jugendlichen durch die israeli-         ihrer Kraft und Ausdauer ebnen sie
    Seit Beginn der Pandemie war das         unterstützten einander emotional. Da      lichkeiten zwischen Israel und den                                               schen Behörden und der gewalttä-            den Weg für unsere Arbeit.
    forumZFD-Büro in Jerusalem ent-          die geplanten Aktivitäten der Com-        palästinensischen Autonomiegebie-       Diese neuen und kreativen Arbeits-       tigen Zwischenfälle mit Ansässigen
    weder ganz geschlossen oder nach         batants for Peace nicht in Präsenz        ten stark beeinträchtigt hat, hat sie   weisen haben unsere Hoffnung und         geführt. Während wir darauf hoffen,
    einem rotierenden Zeitplan besetzt.      stattfinden konnten, wechselten wir       auch unsere Kreativität angeregt, als   unsere Motivation im vergangenen         unsere geplanten Projekte bald
    Die Teammitglieder arbeiteten meist      schnell zu einem Online-Format. Die       es darum ging, neue und innovative      Jahr aufrechterhalten. Allerdings ist    durchführen zu können, zeigt dieses
    von zu Hause aus und trafen sich nur     Online-Sitzungen waren nicht nur          Wege für die Fortsetzung unserer        es wichtig zu erwähnen, dass nicht       Beispiel, dass das Corona-Virus eine
    in Online-Meetings. Mittlerweile ha-     ein Ort des Lernens, sondern auch         Arbeit zu finden. In Haifa ist unsere   alle unsere Projekte in digitale For-    tiefgreifende Wirkung auf Gemein-
    ben fast alle Mitarbeitenden bereits     der gegenseitigen Unterstützung und       Partnerorganisation Beit Hagefen        mate umgewandelt werden konnten.         den hat, die ohnehin stark von
    beide Impfungen erhalten. Dennoch        der Solidarität – ganz im Geiste der      ansässig, ein arabisch-jüdisches Kul-   Vor der Pandemie hatten wir gerade       der Gewalt und den Spannungen
    ist es schwierig, unsere zurückge-       gewaltfreien Kommunikation.“ Wäh-         turzentrum. Mit Unterstützung des       unsere Arbeit in Masafer al Yatta
    wonnenen Freiheiten zu genießen,         rend der Pandemie wurde die Gruppe        forumZFD hatten sie Anfang 2020,        begonnen, einem ländlichen Gebiet
    da wir wissen, dass unsere lokalen       stetig größer. Die Online-­A ktivitäten   vor der Pandemie, einen neuen Re-       südlich der palästinensischen Stadt
    Partner*innen im Westjordanland          waren Lichtblicke während der düste-      kord bei den Besuchszahlen erreicht.    Hebron, im israelisch verwalteten          Während des ersten Lockdowns
    nicht die gleichen Möglichkeiten         ren Monate des Lockdowns.                 Für das Team des Kulturzentrums         „Bereich C“ des Westjordanlands.           durften sich die Menschen in Jerusalem
    haben. Zuhair, einer unserer Kolle-                                                war es ein großer Rückschlag, als sie   Die Frauen, mit denen wir arbeiten,        nicht weiter als 500 Meter von ihrem
    gen vor Ort, ist Anfang des Jahres ins   Während Jana persönliche Kontakte         während des ersten Lockdowns keine      haben keine gesicherte Strom- und          Wohnsitz entfernen.
    Team gekommen. Wie Tausende von          zu ihren Partner*innen aufbauen           Gäste mehr empfangen durften.           Wasserversorgung und sind über
Ein Virus - zwei Realitäten - Thema Theologin Dr. Margot Käßmann
10   Im Gespräch                                                                                                                                                                                                                                                                              Im Gespräch    11

                                         „Weltverbesserin“
                                                                                                                                                                                 Das forumZFD feiert in diesem Jahr sein 25-jähriges
                                                                                                                                                                                 Jubiläum. Als Botschafterin des forumZFD haben Sie
                                                                                                                                                                                 unsere Arbeit begleitet. In zwei Sätzen: Was wünschen

                                           ist für mich kein
                                                                                                                                                                                 Sie dem forumZFD für die nächsten 25 Jahre?

                                                                                                                                                                                 Wenn ich die Entwicklung sehe mit der Vereinsgründung
                                                                                                                                                                                 vor 25 Jahren bis hin zum etablierten Fachdienst für zivile

                                               Schimpfwort
                                                                                                                                                                                 Konfliktbearbeitung heute, dann dürfen die Wünsche
                                                                                                                                                                                 ruhig visionär sein: Ich wünsche dem Zivilen Friedens-
                                                                                                                                                                                 dienst, dass er in 25 Jahren, also im Jahr 2046, die Rolle in
                                                                                                                                                                                 der Außen- und Sicherheitspolitik übernommen hat, die
                                                                                                                                                                                 heute schon – selbst von der Bundesregierung – postu-
                                                                                                                                                                                 liert wird: Vorrang für Zivil. Dass zivile Maßnahmen zur
                                                                                                                                                                                 Konfliktbearbeitung militärische Optionen in den Hinter-
                                                                                    Ein Interview mit der                                                                        grund gedrängt haben und Waffeneinsätze in Konflikten
                                                                                                                                                                                 auf polizeiliche Maßnahmen reduziert werden konnten.
                                                                          Theologin Dr. Margot Käßmann
                                                                                                                                                                                 Bei der Gründung des forumZFD vor 25 Jahren haben
                                                                                                                                                                                 Vertreter*innen der Kirchen eine wichtige Rolle ge-
                                                                                                                                                                                 spielt. Wie würden Sie heute die friedenspolitischen
                                                                                                                                                                                 Herausforderungen beschreiben, vor der die Kirchen
                                                                                                                                                                                 stehen?

                                                                                                                        alle Bilder zu „Im Gespräch“: © Jens Schulze, forumZFD
                                                                                                                                                                                 Ich sehe vor allem zwei Herausforderungen: Rüstungsex-
                                                                                                                                                                                 porte und den Missbrauch von Religionen in Konflikten.
                                                                                                                                                                                                                                                 ­ eweggründe, sich dem Protest gegen die Atomwaf-
                                                                                                                                                                                                                                                 B
                                                                                                                                                                                 Die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung                 fen anzuschließen?
                                                                                                                                                                                 (GKKE) gibt jedes Jahr einen Bericht zur Rüstungsex-
                                                                                                                                                                                 portpolitik heraus. In dem Bericht wird nachgewiesen,           Ich finde es unfassbar, dass es nach den Erfahrungen von
                                                                                                                                                                                 in welchem Umfang die Bundesrepublik Deutschland                Hiroshima und Nagasaki immer noch Atomwaffen gibt.
                                                                                                                                                                                 Waffen in Krisengebiete exportiert und Konflikte damit          Für mich sind sie keine Abschreckung, sondern es ist ein
                                                                                                                                                                                 eskaliert. Aber das wird in der Gesellschaft kaum noch          Schrecken, dass Nationen Waffen mit einem derart zer-
                                                                                                                                                                                 wahrgenommen. Ich finde, dass die an der GKKE be-               störerischen Potenzial haben und dass sie von Deutsch-
                                                                                                                                                                                 teiligten Kirchen diesen Skandal wesentlich deutlicher          land aus eingesetzt werden könnten. Ich habe einmal in
                                                                                                                                                                                 herausstellen müssten.                                          Hiroshima an einer Gedenkfeier am 8. August teilge-
                                                                                                                                                                                                                                                 nommen und die Dokumentationen dort gesehen und
                                                                                                                                                                                 Herausforderung zwei: Religionen lassen sich missbrau-          Zeugenaussagen gehört. Atomwaffen müssen gebannt
                                                                                                                                                                                 chen, um Konflikte wirtschaftlicher oder politischer Art        werden. Mir ist nicht begreiflich, warum die Bundesre-
                                                                                                                                                                                 zu verschärfen. Die Kirchen müssen im interreligiösen           publik Deutschland den Verbotsvertrag bis heute nicht
                                                                                                                                                                                 Dialog dieses Problem immer wieder aufgreifen. Ich bin          unterzeichnet hat.
                                                                                                                                                                                 seit einiger Zeit Mitglied im Zentralausschuss der „World
                                                                                                                                                                                 Conference of Religions for Peace“ (WCRP). Gerade im            In einer häufig zitierten Predigt beim Neujahrsgottes-
                                                                                                                                                                                 November 2020 hatten wir ein Treffen unter dem Titel            dienst 2010 im Berliner Dom haben Sie als damalige
                                                                                                                                                                                 „Assembly on Women, Faith, and Diplomacy“ über                  EKD-Ratsvorsitzende gesagt: „Nichts ist gut in Afgha-
                                                                Kurz vor Ostern hatte unser Aufsichtsratsmitglied                                                                die Rolle der Frauen in den Weltreligionen. Einer der           nistan“ und „Wir brauchen mehr Fantasie für den Frie-
      DR. MARGOT KÄßMANN,                                       Peter Tobiassen die Gelegenheit, mit der Theologin                                                               Schwerpunkte: Wie können Frauen aus den Weltreligio-            den“. Hat sich an dieser Einschätzung etwas geändert
     Jahrgang 1958, studierte Theologie in Tübingen,            und ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evange­                                                                      nen beitragen zur Deeskalation von Konflikten? Für mich         in den letzten zwölf Jahren?
     ­Edinburgh, Göttingen und Marburg. Nach ihrer              lischen Kirche in Deutschland (EKD), Dr. Margot                                                                  ist das sehr hoffnungsvoll. Wir haben in Liberia gesehen,
      Promotion und der Tätigkeit als Pfarrerin und später      ­Käßmann, zu sprechen. Beim Treffen in der Nähe                                                                  dass es gerade die Frauen waren, die den Friedensprozess        Das würde ich heute noch genauso sagen. In Afghanistan
      als Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen          von Hannover sprach er mit ihr über die Entwick­                                                                über die Religionsgrenzen hinweg energisch in Gang              ist auch nach zwanzig Jahren Militäreinsatz kaum Frie-
      Kirchentages war sie Landesbischöfin der Evange-           lung und das 25-jährige Jubiläum des forumZFD,                                                                  gebracht haben.                                                 den gewachsen. Die Fantasie des Bundestages beschränkt
     lisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Von 2009         über aktuelle friedenspolitische Herausforderun­                                                                                                                                sich im Wesentlichen auf die Mandatsverlängerung für
     bis 2010 war sie Vorsitzende des Rates der EKD, von         gen ebenso wie über die C ­ orona-Pandemie. Margot                                                              Im Jahr 2019 haben Sie an einem Aktionstag gegen                den Bundeswehreinsatz. Mir wurde damals vorgehalten,
     April 2012 bis zu ihrer Pensionierung „Botschafterin der    Käßmann ist in ihrer Funktion als Botschafterin seit                                                            Atomwaffen am Fliegerhorst Büchel im Hunsrück                   ich könne mich ja mit den Taliban in ein Zelt setzen und
     EKD für das Reformationsjubiläum“ 2017.                     vielen Jahren mit der Friedensarbeit des ­forumZFD                                                              teilgenommen. Dort sind taktische A­ tomwaffen                  bei Kerzenlicht beten. Seit kurzem gibt es nun Verhand-
                                                                 verbunden.                                                                                                      der US-Streitkräfte gelagert. Was waren Ihre                    lungen mit den Taliban, weil klar ist, dass Frieden nicht
Ein Virus - zwei Realitäten - Thema Theologin Dr. Margot Käßmann
12     Im Gespräch                                                                                                                                                                                                                              Im Gespräch    13

     durch Intervention von außen entstehen kann, sondern         fachkräfte, um einen Konflikt gar nicht erst eskalieren zu   Bei der Friedensfrage ist die Herausforderung, dass sie      Sind die Kirchen in der Bundesrepublik klar genug?
     nur, wenn Frieden von innen in diesem Land entsteht.         lassen. Denken wir an den Völkermord in Ruanda im Jahr       akut bleibt. Wir haben den Krieg in Syrien scheinbar
     Dazu müssen alle Konfliktparteien an einen Tisch.            1994. Der hatte sich lange angebahnt. Viele haben „pro-      akzeptiert, er gehört seit Jahren zum Alltag. Da wird        2015, als es massive Angriffe gab auf die Öffnung der
                                                                  phezeit“, dass der Konflikt eskalieren wird. Dann müsste     nicht mehr hingeschaut, was eigentlich passiert. Wir         Grenzen, haben die Kirchen für Migranten in Not einen
     Das Programm des Zivilen Friedensdienstes ist von            ein Parlament sagen: Jetzt haben wir hier eine „Friedens-    haben zurzeit neunundzwanzig Kriege, die in dieser           ungeheuer wichtigen Beitrag geleistet zum sozialen Frie-
     anfänglich knapp 1 Million Euro (2 Millionen DM) im          truppe“, die mit den Werkzeugen der zivilen Konfliktbe-      Welt täglich Menschenleben zerstören. Aber es gibt kein      den in diesem Land. Viele Kirchengemeinden haben Ge-
     Jahr 1999 auf mittlerweile 55 Millionen Euro (2021)          arbeitung die unterschiedlichen Interessensgruppen an        Aufbegehren in unserem Land dagegen. Auch die Politik        flüchtete aufgenommen, Deutschkurse angeboten und zur
     angewachsen. Angesichts der enormen Steigerung               einen Tisch bringt, bevor der Konflikt eskaliert.            müsste doch eigentlich – insbesondere die christlichen       Integration beigetragen. Da war Kirche sehr deutlich. Das
     des Verteidigungshaushaltes auf heute fast 47 Milli-                                                                      Parteien – der Prämisse von Jesus folgen: „Selig sind,       ist sie auch heute mit dem Seenotrettungsschiff Sea-Watch
     arden Euro ist dies aber dennoch eine eher bescheide-        Kommen wir zu dem derzeit alles beherrschenden               die Frieden stiften“ (Matthäus 5, 9). Das Ökonomische        4, finanziert von der Evangelischen Kirche. Das ist zwar
     ne Summe. Was macht das mit Ihnen, wenn Sie solche           Thema: die Corona-Pandemie. Sehen Sie eine Ver-              wird ständig in den Vordergrund gestellt und ist das         nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber ein Zeichen:
     Zahlen lesen?                                                antwortung Deutschlands, den armen Ländern des               alles schlagende Argument – das ist für mich schon sehr      Wir dürfen Menschen in Not nicht ertrinken lassen.
                                                                  globalen Südens bei der Überwindung der Pandemie             bedrückend.
     Ich suche das richtige Wort: Fassungslos? Enttäuschend?      zu helfen?                                                                                                                Was macht Sie optimistisch, dass die Welt die aktuel-
     Warum investieren wir immer noch derart unverhält-                                                                        Zum Thema Flucht haben Sie oft gesagt, dass viel zu          len großen Probleme in den Griff bekommt? Steuern
     nismäßig in Militär, sehen aber nicht, dass auch zivile      Wir haben einerseits eine solidarische Verpflichtung, aber   viel über Geflüchtete als Problem gesprochen würde           wir auf eine finale Katastrophe zu?
     Friedensdienste finanziert werden müssen? Wie wäre es,       andererseits ist eine solche Verantwortung durchaus auch     und die Menschen dabei zusehends aus dem Blickfeld
     wenn es umgekehrt wäre? Würden 47 Milliarden Euro            Eigennutz. Wir alle wissen: Wenn Impfungen die Länder        geraten. Worin sehen Sie an dieser Stelle als Theolo-        Nein, uns steht der Weltuntergang nicht bevor. Mir ist ja
     in zivile Konfliktbearbeitung investiert, in Mediation, in   des globalen Südens nicht erreichen, werden Mutationen       gin die größte Herausforderung?                              oft vorgeworfen worden, ich sei eine „Weltverbesserin“.
     Konfliktentschärfung, in Zivilgesellschaft, in Landwirt-     des Virus zurück nach Europa kommen. Deshalb müssen                                                                       Aber das ist für mich kein Schimpfwort. Wir sind in
     schaft vor Ort, wie sähe die Welt dann aus?                  die Patente für die Impfstoffe freigegeben werden, damit     Ganz biblisch würde ich mit Jesus sagen: „Ich war fremd      diese Welt gestellt, um diese Welt zu verändern, damit
                                                                  die Länder des globalen Südens ebenfalls Impfkampag-         und obdachlos und ihr habt mich nicht aufgenommen.“          eine Spur des Reiches Gottes sichtbar ist. Das Reich
     Sie haben mehrfach darauf hingewiesen, dass Sie              nen finanzieren können.                                      (Mt 25,43) In der Aufnahme von Menschen in Not und           Gottes kommt dann erst eines Tages in Gottes Zukunft.
     den Eindruck hätten, in Deutschland müssten sich                                                                          Menschen auf der Flucht, da begegnen wir Jesus. Das ist      Wir sollten den Mut haben, zumindest ein paar Grund-
     inzwischen diejenigen rechtfertigen, die dafür eintre-       Sie haben kürzlich dazu aufgerufen, den Klimawandel          für mich christliche Haltung und Grundüberzeugung.           steine von dieser Zukunft mit Frieden, Gerechtigkeit und
     ten, ohne Waffen Frieden zu schaffen. Ist das immer          genauso zu bekämpfen wie die Corona-Pandemie. Ist            Als Theologin finde ich es schwierig, wenn wir Menschen      Bewahrung der Schöpfung zu legen, sonst haben wir als
     noch so?                                                     denn beides vergleichbar?                                    nicht als Subjekte sehen, denen wir auf Augenhöhe mit        Christ*innen und Kirchen nicht mehr viel zu sagen.
                                                                                                                               ihrer jeweiligen Geschichte, ihren Namen, ihren Erzäh-
     Den Eindruck habe ich weiterhin. Pazifistinnen und Pazi-     Langfristig ist beides vergleichbar, weil auch der Klima-    lungen begegnen, sondern sie als „die Flüchtlinge“ be-       Herzlichen Dank für das Gespräch.
     fisten werden immer noch als naiv belächelt. Aber diejeni-   wandel alle Menschen betreffen wird. Beim Coronavirus        zeichnen. Das degradiert Menschen in ihrer Würde. Jeder
     gen, die meinen, in bestimmten Situationen – nehmen wir      haben wir heute sehr akut Angst um unser Leben. Der          Mensch ist Gottes Ebenbild und gleich viel wert. Es ist
     Libyen oder Afghanistan – durch Militärinterventionen        Klimawandel wird die Generationen unserer Kinder, vor        nicht „die Flüchtlingskrise“, sondern eine Lebenskrise der   Die Fragen stellte Peter Tobiassen, seit acht Jahren ehrenamtli-
     Frieden zu schaffen, sind doch widerlegt. Ist in diesen      allem aber Enkel und Urenkel genauso akut betreffen. Es      einzelnen Menschen, die in die Flucht getrieben wurden.      ches Aufsichtsratsmitglied des forumZFD
     Ländern Frieden geschaffen worden? Ich sehe das nicht.       wird dramatische Nahrungs- und Trinkwasserengpässe
     Oder nehmen wir das Beispiel Kosovo. Hier muss jetzt         geben. Menschen werden durch den Klimawandel in
     eigentlich deutlich investiert werden, um alte Feindbilder   lebensbedrohliche Situationen kommen. Ich war vor ein
     zu überwinden, damit diese in ein paar Jahren nicht wie-     paar Jahren in Bangladesch. Dort war das Steigen des
     der aufbrechen können. Das forumZFD weiß das durch           Meeresspiegels schon spürbar. In Indonesien stellt sich
     die eigene Arbeit dort ja sehr genau. Das ist langfristige   die Frage, ob die Hauptstadt Djakarta gehalten werden
     Kommunikations- und Bildungsarbeit in Kindergärten,          kann. In dem heißen Sommer 2018 entstand auf einmal
     in Schulen und mit Erwachsenen, um Feindbilder zu            ein Gespür dafür, dass Klimawandel nicht nur eine Zei-
     entschärfen und langfristig in Freundbilder zu verändern.    tungsmeldung ist, sondern auch uns betrifft.
     In der deutschen Mehrheitsgesellschaft wird das kaum als
     Arbeit zur Konfliktbewältigung wahrgenommen.                 Soziale Gerechtigkeit, lokal wie international, war
                                                                  Ihnen immer ein wichtiges Anliegen und ist unmittel-
     Gilt das nicht insbesondere auch für die Abgeordne-          bar mit dem Friedensthema verbunden. Fürchten Sie,
     ten des Deutschen Bundestages, die über die Maß-             dass diese Anliegen in den kommenden Jahren in den
     nahmen zur Konfliktbewältigung entscheiden?                  Hintergrund geraten könnten?

     Ich habe den Eindruck, dass der Bundestag immer erst         Bei der sozialen Gerechtigkeit ist die Herausforderung,
     dann reagiert, wenn ein Konflikt eskaliert ist, und dann     dass es eine Art Lastenausgleich zwischen den Starken
     meistens meint, es könne nur noch Waffengewalt hel-          und den Schwachen gibt. Einerseits in unserem Land,
     fen. Ein langfristiges Denken, rechtzeitig zu sehen, was     aber auch international, weil klar ist, dass Krisen – wie
     sich anbahnt, ist dort kaum vorhanden. Es gibt kaum          jetzt die Corona-Pandemie – auf sehr ungerechte Weise
     Entscheidungen, mit denen rechtzeitig Geld in die Hand       wirken. Sie werfen Ärmere oft in existenzielle Nöte, wäh-
     genommen wird für Mediation, für ausgebildete Friedens-      rend andere unbeschadet durch Krisen kommen.
Ein Virus - zwei Realitäten - Thema Theologin Dr. Margot Käßmann
14     Im Fokus                                                                                                                                        Im Fokus   15

     „Weg zum Frieden“ steht in drei Sprachen an dieser Mauer in Netiv HaAsara, einer israelischen Siedlung direkt an der
                                                                                                                            © Cole Keister, Unsplash

     Grenze zu Gaza. Der Wall aus Beton zerschneidet das Land, trennt die Menschen. Dagegen ist der bunte Schriftzug
     eine Botschaft für Frieden – auf Hebräisch, Arabisch und Englisch. In diesen drei Sprachen fand auch die jährliche
     Gedenkzeremonie statt, zu der die „Combatants for Peace“ kürzlich einluden. 280.000 Menschen aus Israel, Palästina
     und der ganzen Welt riefen gemeinsam zu Versöhnung auf. Diese große Unterstützung macht Mut, auch wenn der
     Weg zum Frieden noch lang ist.
Ein Virus - zwei Realitäten - Thema Theologin Dr. Margot Käßmann
16     Porträt                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Porträt    17

     Eine Ausbildung,
     die Spuren hinterlässt

                                                                                                                                                               © Holger Plickert, WMDE, CC BY-SA 4.0
     Zwei Alumnae der Akademie für Konflikttransformation
     berichten von ihren Erfahrungen

     Die Akademie für Konflikttrans­         genau das, was sie machen möchte,          ben und Übungen zu setzen, erzählt                                                                             im Rahmen ihrer Arbeit Workshops         möglich geworden, von der sie be-         Demokratie. Mehr Menschen sind
     formation des forumZFD bildet           sagt sie. Sie arbeitet für die „Asia and   Annika. Aber ihr Wunsch, sich im                                                                               für junge Menschen, beispielswei-        reits im beruflichen Alltag profitiert:   beteiligt, die Kommunikation fließt
     seit 1997 Friedensfachkräfte aus.       Pacific Alliance of YMCAs“, eine           Bereich Friedensbildung weiterzu-                                                                              se zu aktuellen Themen wie dem           „Auch jetzt muss ich mir Work-            mehr. Diese Beziehungsgeflechte zu
     Bis heute haben über 700 Men­           Partnerorganisation von Brot für die       bilden, hat sich mit dem Kurs erfüllt.                                                                         Effekt der Corona-­Pandemie auf          shops überlegen und einen Rahmen          vertiefen und das Kapital, das nur
     schen unsere Weiterbildungs­            Welt in Hongkong, und organisiert          Vor allem das Wochenende zu The-                                                                               Frauen. Jährlich findet außerdem         schaffen, in dem Leute aus vielen         bei wenigen ist, zu erweitern – das
     angebote abgeschlossen und              Seminare zu Friedensthemen.                atermethoden in der Friedensarbeit                                                                             eine Friedensschule statt, bei der der   Kontinenten, unterschiedlichen Al-        ist eine wichtige Aufgabe.“
     Seminarangebote der Akademie                                                       sei sehr intensiv gewesen: „Das ist                                                                            religionsübergreifende Austausch im      ters und mit vielfältigen beruflichen
     angenommen. Viele der aus­              Nach einem Studium der interna-            besonders hängengeblieben, damit                                                                               Fokus steht. Es gehe darum, einen        Hintergründen einander begegnen           Dass ihr die Arbeit am Theater nicht
     gebildeten Friedensfachkräfte           tionalen Politik mit einem Fokus           habe ich mich auch danach noch                                                                                 Raum für Dialog zwischen Men-            und ins Gespräch kommen kön-              ausreichte, weil sie sehr hierar-
     arbeiten heute im internationa­         auf Entwicklungspolitik, moderne           weiterbeschäftigt.“ Wer darf seine                                                                             schen aus verschiedenen kulturel-        nen.“ Die Weiterbildung helfe ihr         chisch und patriarchal organisiert
     len Kontext der Friedens- und           Sprachen und Kommunikation gab             Geschichte erzählen, wer bekommt                                                                               len Kontexten zu schaffen, erklärt       zu verstehen, wie Gruppendynamik          war, stellte sie immer wieder fest.
     Konfliktarbeit. Wir stellen Ihnen       der Kurs an der forumZFD-Akade-            den Raum und das Publikum? Das                                                                                 Annika. Vieles führt sie wieder zu       funktioniert und welchen Stellen-         Zeitweise ließ sie diese Tätigkeit
     zwei unserer Alumnae vor.               mie Annika die Möglichkeit, sich           sind zentrale Fragen, die sie um-                                                                              der Frage zurück, wie es jeder Per-      wert gewaltfreie Kommunikation            ganz fallen. Heute sagt sie: „Ich
                                             beruflich weiterzuentwickeln: Durch        treiben. Es gebe keinen Tag, an dem                                                                            son ermöglicht werden kann, ihre         einnimmt.                                 konnte mich damit nur noch schwer
                                             die zusätzliche Ausbildung qualifi-        sie nicht denke, dass Konfliktarbeit                                                                           Geschichte zu erzählen. Wenn das                                                   identifizieren.“ Durch die Arbeit
     Annika Denkmann                         zierte sie sich für Stellen mit einem      wichtig sei, so Annika.                                                                                        Publikum dann noch zuhöre, sei der       Menschen zusammenzubringen,               beim Kulturamt und schließlich
                                             speziellen Friedensfokus, jenseits der                                                                                                                    Weg für Veränderung bereitet.            war ihr schon immer ein Anliegen.         die Weiterbildung gewann sie aber
     2018 hat Annika Denkmann den be-        klassischen Bildungsarbeit.                „Ich habe gelernt, dass Konflikte                                                                                                                       Nach dem Studium der Kultur-              wieder Freude daran, denn auch
     rufsbegleitenden Kurs der Akademie                                                 nicht vermeidbar sind. Wir müssen                                                                                                                       wissenschaften in Hildesheim war          Theater findet in der Weiterbildung
     für Konflikttransformation erfolg-      Natürlich war es in einer berufsbe-        deshalb schauen, welche Möglich-                                                                               Marcela Herrera                          Marcela lange Zeit am Theater und         als Methode der Friedens- und
     reich abgeschlossen. Heute ist sie im   gleitenden Weiterbildung heraus-           keiten es gibt und wie sich Kon-                                                                                                                        in Kultureinrichtungen tätig. Mit         Konflikt­arbeit Raum.
     Bereich der friedenspädagogischen       fordernd, immer am Ball zu bleiben         flikte hin zu einem nachhaltigen,                                                                              Als studierte Regisseurin und The-       Schulen, Kindergärten und Mehr-
     Bildung tätig und kann sich für diese   und die Energie aufzubringen, sich         gerechten Frieden transformieren                                                                               aterpädagogin absolvierte Marcela        generationenprojekten arbeitete sie       In der Weiterbildung fand M  ­ arcela
     Tätigkeit sehr begeistern. Das sei      auch nach der Arbeit an die Aufga-         lassen.“ Heute organisiert Annika                                                                              Herrera 2019 die berufsbegleitende       stadtteilübergreifend zusammen,           insbesondere die Kombination
                                                                                                                                                                                                       Weiterbildung zur Friedens- und          um den interkulturellen Dialog            aus Wissenschaft, Reflexion und
                                                                                                                                                                                                       Konfliktberaterin. Heute arbeitet        zwischen Gruppen zu fördern,              Praxis interessant. Die Einheiten zu
                                                                                                                                                                                                       sie für das Institut für Auslandsbe-     die wenig miteinander kommu-              Projektmanagement, Evaluation,
                                                                                                                                                                                                       ziehungen (ifa) und vernetzt junge       nizieren. „Mir liegt besonders die        Organisationsentwicklung und Stra-
                                                                                                                                                                                                       Stipendiat*innen aus aller Welt mit      Arbeit mit Leuten am Herzen, die          tegiebildung halfen ihr, die Dinge,
                                                                                                                                                                                                       deutschen Organisationen. Der lang       vielleicht keine Profis sind, die aber    die sie zuvor aus dem Bauch heraus
                                                                                                                                                                                                       ersehnte Wunsch, in einem Friedens­      ein wichtiges Anliegen haben und          getan hatte, zu reflektieren. Die
                                                                                                                                                                                                       projekt in Lateinamerika zu arbeiten,    wollen, dass es in ihrem Stadtteil        Weiterbildungsgruppe bestand aus
                                                                                                                                                                                                       wächst weiter. Sobald das gemeinsam      friedlicher zugeht“, erzählt sie. Ihr     ganz unterschiedlichen Menschen,
                                                                                                                                                                                                       mit ihrer Familie umsetzbar ist, will    war es wichtig, dass auf diese Weise      das habe den Austausch besonders
                                                                                                                                 © Japanibackpacker, Pixabay

                                                                                                                                                                                                       sie diesen Schritt gehen.                Lebenswelten geteilt und Unter-           anregend gemacht, berichtet sie.
                                                                                                                                                                                                                                                schiede verstanden werden können.         „Jeder ist heute so in seiner Blase
                                                                                                                                                                                                       Dass sie jetzt beim ifa arbeitet, be-    Für Marcela kann dadurch Demo-            und wir merken nicht, neben wem
                                                                                                                                                                                                       trachtet Marcela als „Meilenstein“.      kratie gefördert werden: „Wenn Be-        wir laufen. Wenn man sich aber in
                                                                                                                                                                                                       Dies sei erst durch die Weiterbil-       ziehungsgeflechte weit und vielfältig     die Augen sehen kann, dann keimt
                                                                                                                                                                                                       dung an der forumZFD-Akademie            sind, dann hast du eine bessere           Hoffnung auf.“
Ein Virus - zwei Realitäten - Thema Theologin Dr. Margot Käßmann
18     Reportage                                                                                                                                                                                                                                             Reportage   19

                                                                                                                                                                                                        ­ elästigung, aber sexuelle Gewalt in der Ehe wird nicht
                                                                                                                                                                                                        B
                                                                                                                                           Das Haus von „Land des Friedens“ ist ein beliebter           als Straftat angesehen. Auch andere Formen von Gewalt
                                                                                                                                           Treffpunkt für Frauen und Jugendliche.                       werden nicht kriminalisiert, wie beispielsweise Ein-
                                                                                                                                                                                                        schränkungen der Freiheit und Wahlmöglichkeiten von
                                                                                                                                                                                                        Frauen, wirtschaftlicher Missbrauch oder psychische
                                                                                                                                                                                                        Gewalt. Entsprechend unvollständig ist auch die Daten-

                                                                                                                         © Julia Neumann
                                                                                                                                           der Generaldirektor der jordanischen Nichtregierungsor-      lage. Dem jordanischen Amt für Statistik zufolge haben
                                                                                                                                           ganisation „Land des Friedens“, einem wichtigen Partner      26 Prozent aller verheirateten Frauen zwischen 15 und
                                                                                                                                           des forumZFD vor Ort.                                        49 Jahren körperliche, sexuelle oder emotionale Gewalt
                                                                                                                                                                                                        erlebt (Stand 2018). Statistisch gesehen hat nur eine von
                                                                                                                                           Die Organisation hat ihren Sitz in einem hellblau und        fünf Frauen, die „körperliche oder eheliche Sexualgewalt“
                                                                                                                                           gelb gestrichenen Gebäude, das in einem kleinen Garten       erfahren hat, um Hilfe gebeten. Da die Statistik jedoch
                                                                                                                                           steht. Auf der Hausfassade lacht eine bunt gekleidete Frau   nur verheiratete Frauen umfasst, dürfte das tatsächliche
                                                                                                                                           auf einem Graffiti, am Eingang ranken sich Pflanzen an       Ausmaß der Gewalt viel größer sein.
                                                                                                                                           einem Holzgerüst empor. Das Haus ist ein beliebter Treff-
                                                                                                                                           punkt für Frauen und Jugendliche. In einer Küche berei-      Gewalt in Familien und Beziehungen betrifft Menschen
                                                                                                                                           ten Frauen essen zu – sie lernen, ein eigenes Restaurant     aller kulturellen und sozioökonomischen Hintergründe
                                                                                                                                           zu eröffnen. Beruflich auf eigenen Beinen zu stehen, ver-    sowie Bildungsstufen – nicht nur in Jordanien. Die Co-
                                                                                                                                           spricht ihnen finanzielle Sicherheit und Unabhängigkeit.     vid-19-Pandemie hat das Problem weltweit verschärft: Laut
                                                                                                                                           Im Nebenraum schaut eine Gruppe zu, wie ihre Trainerin       den Vereinten Nationen ist das Risiko häuslicher Gewalt in
                                                                                                                                           eine Modellpuppe frisiert. Trockenhauben stehen dort, in     vielen Ländern gestiegen. Die Betroffenen sind meist Frau-
                                                                                                                                           einer Vitrine liegen Lockenwickler. Im Versammlungs-         en und Kinder. Existenzängste und erhöhter Stress in der
                                                                                                                                           raum treffen sich Jugendliche, um über ihren Alltag, aber    Pandemie können Auslöser für Gewalt sein. Gleichzeitig
                                                                                                                                           auch ihre berufliche Zukunft zu sprechen.                    ist es für Betroffene aufgrund von Kontaktbeschränkun-
                                                                                                                                                                                                        gen schwieriger geworden, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
                                                                                                                                           Bereits seit 2014 arbeitet „Land des Friedens“ in Irbid.
                                                                                                                                           Das fünfköpfige Team ist in der Stadt sehr gut vernetzt.     „Land des Friedens“ unterstützt Betroffene
                                                                                                                                           „Wir kennen den Verkäufer am Kiosk, besuchen Frauen

     Hausfriedensbruch
                                                                                                                                           in ihrem Zuhause“, erzählt Projektmanagerin Lana Abu         Das Team von „Land des Friedens“ in Irbid kennt be-
                                                                                                                                           Snaneh. „Die Menschen vertrauen uns, rufen uns an,           troffene Familien persönlich. Projektmanagerin Lana
                                                                                                                                           wenn sie Hilfe brauchen, erzählen uns ihre Geheim-           Abu Snaneh erzählt, dass eine Verwandte seit Mona-
                                                                                                                                           nisse. Wir bewahren diese Informationen und bieten           ten vergeblich um das Sorgerecht ihres Sohnes streite.
                                                                                                                                           Unterstützung an.“

                                                                                                                                           Häusliche Gewalt ist ein großes Problem
     Jordanien: Friedensprojekt schützt Frauen und Kinder vor Gewalt
                                                                                                                                           Durch den persönlichen Austausch mit den Menschen
     von Julia Neumann                                                                                                                     hat die Organisation herausgefunden, dass häusliche
                                                                                                                                           Gewalt in Irbid ein großes Problem ist. „Seit zehn Jahren
                                                                                                                                           nimmt die Gewalt zu“, erzählt Generaldirektor Imad Al-
                                                                                                                                           Zaghoul. Die Gründe dafür seien vielfältig: Unter ande-
     Gewalt in Familien hat während der Corona-Pandemie in vielen Ländern weltweit zugenommen. In der                                      rem erhöhten die geringen Chancen für junge Menschen
     jordanischen Stadt Irbid unterstützt die Organisation „Land des Friedens“ betroffene Frauen und Kinder.                               auf einen gut bezahlten Job und die große Konkurrenz
     Gemeinsam mit dem forumZFD hat das Team ein Pilotprojekt entwickelt, um an Schulen über das Problem                                   auf dem schwindenden Arbeitsmarkt die Frustration bei
     aufzuklären und Kinder zu schützen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind.                                                            den Männern. „Ein wichtiger Faktor ist auch, dass die
                                                                                                                                           Frauen früher die Regeln und Gesetze nicht gut kannten“,
                                                                                                                                           fügt Projektmanagerin Abu Snaneh hinzu. „Aber nun
     In den belebten Straßen reihen sich kleine Geschäfte    bilden eine vielfältige Gemeinschaft mit verschiedensten                      kennen sie ihre Rechte und fordern diese ein. Die Männer
     aneinander: Cafés, ein Schreiner, eine Metzgerei. Ge-   soziokulturellen Hintergründen. Geflüchtete und Arbei-                        jedoch denken, sie seien das stärkere Geschlecht, und
     müsehändler verkaufen auf Wägen frische Erdbeeren,      ter*innen aus Syrien, dem Sudan oder Ägypten haben in                         üben umso mehr Druck aus.“ Ein weiteres Problem sei,
     ein Händler stapelt kunstvoll Bananen und Melonen zu    der Stadt ein neues Zuhause gefunden, eine renommierte                        dass die bestehenden Gesetze zum Schutz von Frauen
     kleinen Türmen auf Kisten, der Brotgeruch des Bäckers   Universität zieht junge Studierende an. Die Gebäude                           und Kindern nicht zur Genüge implementiert würden.
     nebenan mischt sich mit den Autoabgasen. An diesem      sind einheitlich in Sandstein gehalten. Sie sind maximal                                                                                     Das Team von „Land des Friedens“ ist in Irbid gut vernetzt.
                                                                                                                         © Wael Alsharu

     Frühlingstag im März herrscht reges Treiben in Irbid,   vier, fünf Stockwerke hoch und lassen einen Blick auf die                     In Jordanien sind nur einige Formen von Gewalt ge-             Im Bild: Generaldirektor Imad Al-Zaghoul und Projekt­
     der zweitgrößten Stadt in Jordanien, die nördlich von   Nachbarschaft zu. Auch wenn die Stadt groß ist, sind die                      gen Frauen unter Strafe gestellt. Kapitel 7 des Straf-         managerin Lana Abu Snaneh (rechts).
     der Hauptstadt Amman liegt. Über 700.000 Menschen       Menschen hier gut vernetzt, erzählt Imad Al-Zaghoul,                          gesetzbuchs kriminalisiert zwar Vergewaltigung und
20     Reportage                                                                                                                                                                                                                                                                          Reportage   21

                                                                Diese Herangehensweise leitet die gesamte Friedensarbeit

                                                                                                                               © Julia Neumann

                                                                                                                                                 © Wael Alsharu
                                                                des forumZFD: Anstatt lokalen Gemeinden ein vorge-
                                                                fertigtes Projekt überzustülpen, werden die konkreten
                                                                Bedarfe zusammen mit den Partnerorganisationen und
                                                                den Menschen vor Ort ermittelt. Anschließend werden
                                                                gemeinsam Lösungen entwickelt und umgesetzt. Das
                                                                forumZFD begleitet und unterstützt den Prozess von
                                                                Anfang an, erläutert Landesdirektor Thabet: „Unsere
                                                                Partnerorganisationen bekommen zunächst ein Training
                                                                dazu, wie sie in die Gemeinden hineingehen und welche
                                                                Fragen sie stellen können. Beispielsweise diskutieren sie
                                                                in kleinen Gesprächsgruppen mit den Anwohner*innen
                                                                verschiedene Themen und erfahren so, wo die Probleme
                                                                liegen.“ Bei solchen Gesprächen in Irbid wurde klar, dass
       Zubehör für die Handyreparatur: Frauen bekommen          häusliche Gewalt ein Problem ist, das viele Frauen und
       praktische Hilfe für den Alltag.                         Kinder in der Stadt betrifft. Jedoch hat „Land des Frie-                                            Die Schulsozialarbeiterinnen Dareen Mustafa, Iman Sawalha, Itaf Dhoun berichten, was sie in dem Training gelernt haben.
                                                                dens“ nicht genügend Mitarbeitende, um das Thema in
                                                                den Familien direkt zu adressieren. Zusammen mit dem
                                                                forumZFD entwickelte das Team deshalb eine andere
     ­ bwohl ihr rechtlich nach einer Trennung das Sorgerecht
     O                                                          Idee: Sie wollten in den Schulen ansetzen.                                                        S­ chul-­Arbeitsgemeinschaften positive Erlebnisse und            konkrete Initiativen entwickelt, die sie zunächst über
     zustünde, vertagten die Gerichte ihre Entscheidung. Hin-                                                                                                      ein paar ruhige Minuten bringen, ergänzt der 41-jährige          einen Zeitraum von drei Monaten an ihren Schulen
     zu komme der Druck der Familie: Sie forderten, das Kind    Sozialarbeiter*innen können helfen                                                                 Khalil Akram Khalil, Sozialarbeiter und Angestellter im          umsetzen. Sie wollen zum Beispiel stärker über die
     solle beim Vater bleiben, und die Frau habe Angst, ihr                                                                                                        Bildungsministerium: „Soziale und körperliche Aktivitä-          Auswirkungen von häuslicher Gewalt aufklären und
     Kind nach einer Scheidung nicht mehr wiederzusehen.        In Jordanien gibt es an vielen Schulen Sozialarbeiter*in-                                          ten, die in den Schulen durchgeführt werden, leiten nega-        regelmäßige Treffen mit der Schulleitung, den Eltern und
     „Deshalb überlegt sie nun, bei ihrem gewalttätigen Mann    nen, die die Kinder und Jugendlichen sowie ihre Familie                                            tive Energie ab und tragen zur psychischen Gesundheit            den Schüler*innen anbieten. Das forumZFD und „Land
     zu bleiben.“                                               beraten. Doch das Personal ist nicht ausreichend geschult                                          bei.“ Manchmal kontaktieren die Sozialarbeiter*innen             des Friedens“ begleiten die Umsetzung dieser Ideen.
                                                                und weiß kaum, wie es Gewalt in Familien erkennen und                                              auch die Familien direkt, um Hilfe anzubieten. Dareen            Und auch darüber hinaus bleiben beide Organisationen
     Ein verbreitetes Problem sei die Erpressung von Frauen,    angehen kann. Deshalb entwickelte das Team von „Land                                               Mustafa erzählt von einer Schülerin, die von ihrem Vater         gemeinsam am Thema dran: Als Nächstes will das Team
     erzählt Snaneh weiter und gibt ein Beispiel: „Wir haben    des Friedens“ eine Trainingsreihe speziell für die Sozialar-                                       missbraucht wurde. Als Mustafa davon erfuhr, nahm sie            unter anderem die rechtlichen Lücken und die Implemen-
     von mehreren Frauen erfahren, dass sie mit privaten Fo-    beiter*innen an Schulen. Im Konferenzsaal in Irbid sitzen                                          Kontakt zur Stiefmutter auf – die das Kind vor erneuten          tierung der Gesetze zum Schutz von Frauen und Kindern
     tos erpresst werden. Die Betreiber von Handyläden sind     einige der Teilnehmenden zusammen und sprechen darü-                                               Übergriffen schützen konnte. „Das Mädchen ist nun ak-            angehen. Geplant ist, ein Netzwerk in Irbid aufzubauen,
     meist Männer. Wenn die Frauen ihr Gerät in Reparatur       ber, was sie in den Trainings gelernt haben. Die 45-jährige                                        tiv im Schulradio. Dadurch gewinnt sie Selbstbewusstsein         das auch die zuständigen Behörden einschließt. „Wir
     geben, kommt es häufig vor, dass die Männer private        Itaf Dhoun ist Direktorin einer Grundschule. „Ich erhielt                                          und positive Energie.“                                           wollen diejenigen ansprechen, die juristisch tätig sind
     Fotos herunterladen.“ Damit erpressen sie die Frauen und   einige Beschwerden im Zusammenhang mit Gewaltfällen                                                                                                                 und Gesetze umsetzen“, erklärt Projektmanagerin Lana
     drohen, die Bilder öffentlich zu machen. Deshalb stehen    in den Familien. Im Kurs habe ich mehr Informationen                                              Viele Ideen für die Zukunft                                       Abu Snaneh. „Wir wollen die Schwachstellen im Gesetz
     auf Tischen in den Räumen von „Land des Friedens“ nun      bekommen, wie ich das soziale Umfeld der Kinder genau-                                                                                                              ausfindig machen und gemeinsam herausfinden, wie wir
     Lötkolben, Kontaktspray und Spannungsmessgeräte.           er verstehen und möglicherweise verbessern kann.“                                                 In der Zukunft möchte „Land des Friedens“ seine Arbeit            eingreifen können.“
     Die Organisation hat Frauen beigebracht, wie sie selbst                                                                                                      an den Schulen weiter ausbauen. „Wir werden eine Einheit
     Verbindungen löten oder Displays austauschen können.       Die 41-jährige Dareen Mustafa arbeitet als Seelsorgerin                                           bilden, die auf Schulunterricht spezialisiert ist, in der
     „Einige reparieren nun Handys von anderen Frauen in        an einer Grundschule für Mädchen. Sie sagt, sie kenne                                             psychologische Ausbilder*innen unter unserer Aufsicht             Die Autorin Julia Neumann ist freie Journalistin in Beirut und
     ihrem Zuhause. Eine Workshop-Teilnehmerin hat ihr          die theoretischen Definitionen, Typen, sogar Gründe                                               die Leitung übernehmen“, berichtet Generaldirektor Imad           berichtet aus dem Libanon, aber auch aus anderen Ländern
     eigenes Handygeschäft eröffnet“, erzählt Snaneh stolz.     und Auswirkungen von Gewalt in Familien. „Aber das                                                Al-Zaghoul von den Plänen. Mit ihrer Arbeit trägt die Or-         der Region.
                                                                Training hat mir geholfen, einen Plan aufzustellen, und                                           ganisation zu einem sicheren Lernumfeld für die Kinder
     Bedarfsanalyse statt vorgefertigter Themen                 es hat mir praktischen Input gegeben, wie ich mit den                                             und Jugendlichen bei – und somit zu einer friedlicheren
                                                                Betroffenen umgehen kann. Außerdem haben sie mich                                                 Gesellschaft insgesamt, in der Konflikte ohne Gewalt aus-
     Doch die Organisation wollte das Problem von Gewalt        darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Opfer recht-                                             getragen werden. Ein Engagement, dass das f­ orumZFD                 Hinweis: Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“
     in Familien breiter angehen. Das forumZFD unterstützt      lich wehren können.“                                                                              gerne unterstützt: „Es ist wichtig, dass wir das Thema in            In Deutschland gibt es ein Beratungsangebot für
     sie dabei. Die Räume des forumZFD in der Hauptstadt                                                                                                          einen institutionellen Rahmen gebracht haben“, betont                Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben.
     Amman geben einen weiten Blick frei auf das Stadtpano-     In der Trainingsreihe haben die Sozialarbeiter*innen                                              forumZFD-Landesdirektor Karim Thabet. „Die Lehrkräf-                 Unter der Nummer 08000 116 016 und via Online-­
     rama, darunter die historische Zitadelle. Hier hat Karim   außerdem gelernt, wie sie Vertrauen zwischen den                                                  te und die Sozialarbeiter*innen werden über ihre normale             Beratung unterstützt das Netzwerk Betroffene aller
     Thabet, Landesdirektor des forumZFD in Jordanien, sein     Schulkindern und den Lehrkräften aufbauen und ein                                                 Ausbildung hinaus geschult, bekommen Infos und Wissen                Nationalitäten, mit und ohne Behinderung – 365 Tage
     Büro. „Wir geben nicht einfach Geld, damit eine Idee von   sicheres Umfeld schaffen können. Iman Sawalha, die an                                             an die Hand. Sie informieren auch die Schulleitungen, die            im Jahr, rund um die Uhr. Die Menschen am Hilfetelefon
     uns implementiert wird“, erklärt Thabet. „Stattdessen      einem privaten Gymnasium für Jungen arbeitet, erzählt:                                            dadurch die Problematik besser im Blick haben.“                      sprechen insgesamt 17 verschiedene Sprachen. Auch
     stärken wir die Kapazitäten unserer Partnerorganisati-     „Es ist wichtig, die Kinder zu motivieren und ihnen                                                                                                                    für Angehörige, Freund*innen und Fachkräfte ist die
     onen, diskutieren mit ihnen mögliche Vorgehensweisen       Aktivitäten anzubieten, durch die sie sich von ihrer                                              Das Pilotprojekt zeigt bereits Wirkungen über das erste              Beratung anonym und kostenfrei.
     und Lösungen und helfen dann bei der Umsetzung.“           Gewalterfahrung erholen können.“ Zum Beispiel könnten                                             Training hinaus: Zwölf der Kursteilnehmenden haben
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