MAGAZIN - 10 Jahre ZMI 10 Jahre erfolgreiche Arbeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Mehrsprachigkeit und Integration - (ZMI) Köln
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DEZEMBER 2018 MAGAZIN 10 Jahre Z MI Arbeit 10 Jahre erfolgreiche dung, in den Bereichen sprachliche Bil ion Mehrsprachigkeit und Integrat gkeit und Integration Köln KONZEPTE • NACHRICHTEN Zeitschrift des Zentrums für Mehrsprachi PROJEKTE • VERANSTALTUNGEN
Die Fotos auf dieser Seite entstanden während des Besuchs des ZMI in Norwegen. Lesen Sie hierzu den Bericht auf S. 28 Impressum Herausgeber: Redaktion: Editorial-Design, Satz & Layout: ZMI Rosella Benati Peter Liffers, agentur für unternehmenskommunikation www.liffers-webdesign.de Zentrum für Mehrsprachigkeit und Integration Elcin Ekinci c/o Petr Frantik Bildnachweis: Diversity Titelfotos, S. 40, 41, 45 C. Wengmann; S. 2 C. Hartmann; S. Kommunales Integrationszentrum Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt 11-12 J. A. Panagiotopoulou, S. 14-16 M. Triulzi; S. 18, S. 19 GGS Vincenz-Statz, S. Fredenborg; S. 20-21, 48 Kleine Sandkaul 5 bei den Autorinnen und Autoren der jeweiligen Beiträge. A. Bresges; S. 22, 23 A. Beiz © Kooperationsprojekt 50667 Köln Auflage 2.000 Sprachliche Bildung; S. 24-27 C. Schreger; S. 29 S. Siegel- www.zmi-koeln.de Köln, Dezember 2018 Kopatz; S. 30 Grafik: G. Visintainer; S. 31-32 U. Ramos, S. 34 A. Etges, alle übrigen Archiv des ZMI. zmi-Magazin | 2018
Inhalt DEZEMBER 2018 MAGAZIN Leitwort 5 10 Jahre ZMI steht für 10 Jahre erfolgreiche Arbeit in den Bereichen sprachliche Bildung, Mehrsprachigkeit und Integration. Von M. Becker-Mrotzek, M. Höhne und N. Rehberg Wissenschaft und Forschung 6 Sprache, Identität und Integration: Wie schaffen wir intakte, gesunde Gesellschaften („healthy societies“) in Zeiten von Migration? Jim Cummins Vortrag am 23. Januar 2018 zum zehnjährigen Bestehen des ZMI. Von G. Aulmann 9 Heliosschule – Inklusive Universitätsschule der Stadt Köln Von S. Falkenstörfer, L. Rosen und L. Sehnbruch 11 Inklusion und Mehrsprachigkeit: Translanguaging in Kitas und Schulen Von J. A. Panagiotopoulou 14 Die Schulen der „tulipanobeete“: Bilinguales Lernen an Kölner Grundschulen Von M. Triulzi 17 R/EQUAL: Programm für geflüchtete Lehrkräfte an der Universität zu Köln kooperiert in europäischer Hochschulpartnerschaft. Von H. Terhart, P. Frantik und S. Krieg Praxis und Projekte: Aktuelles aus dem ZMI 18 GEDICHTE DICHTEN. Von U. Heuer und B. Jankowski 20 Neue Präsentation der Exponate im Odysseum Köln. Von A. Bresges, unter Mitarbeit von I. Günthner, V. Fanroth, G. Bonucci und R. Benati 22 Ferienschule für neu zugewanderte Jugendliche. Von K. Gebala 24 Interview mit Christian Schreger, Erfinder des Langzeitprojekts „Kleine Bücher“ Die Fragen stellte M. J. Sánchez Oroquieta. 28 Das ZMI in Norwegen: – Ein fachlicher Austausch zur Förderung von Mehrsprachigkeit auf internationaler Ebene. Von R. Benati 29 Die DemeK-Literaturwochen – Prosa und Reimprosa Von R. Benati und S. Siegel-Kopatz Stadt und Land: Ideen und Projekte aus der Region 31 Sechzig neuzugewanderte Kinder und Jugendliche vertieften in den Herbstferien ihre Deutschkenntnisse. Von E. Ekinci und P. Frantik 33 Umgang mit der natürlichen Mehrsprachigkeit – Leitlinien für Kölner Grundschulen Von G. Stiels 34 Besser lesen und schreiben lernen in mehrsprachigen Klassen Ein Unterstützungsangebot für den Verbund Kölner Europäischer Grundschulen Von N. Steckenborn und P. Weber 35 Was ist eigentlich ZEBRA? Interview mit der Geschäftsführerin eines deutsch-italienischen Kita-Trägers. Die Fragen stellte R. Benati. 36 Zum Arbeitskreis „Herkunftssprachliche bilinguale Kitas“. Von T. Achahboun Zuletzt erschienen ... 37 Aktuelle Neuerscheinungen, vorgestellt vom ZMI Das ZMI-Magazin ist die Zeitschrift des Zentrums für Mehrsprachigkeit und Integration Köln: Veranstaltungen 39 Zehn Jahre ZMI Sprachfest am 23. Januar 2018 42 Fortbildungstag Deutsch 2018 43 Mehrsprachigkeit im Gespräch: Zwischen Mythos und Realität 44 Tagung des Verbundes Kölner Europäischer Grundschulen: Unsere Leitlinien für Mehrsprachigkeit 44 Bei uns ist die Mehrsprachigkeit willkommen! Fachtagung am 13. Dezember 2018 45 Mehrsprachiger Lese- und Erzählwettbewerb Interkulturelle Glosse 46 Rassismus kann sich verstärken, weil Integration gelingt Von A. El-Mafaalani zmi-Magazin | 2018
Leitwort 5 Seit 2008 initiiert und koordiniert das ZMI - Zentrum für Mehrsprachigkeit und Integration zahlreiche Angebote zur sprachlichen und in- terkulturellen Bildung in Köln durch den koope- rativen Zusammenschluss der Stadt Köln, der Bezirksregierung Köln und der Universität zu Köln. Das Sprachfest am 23. Januar 2018 im RautenstrauchJost-Museum bot daher Anlass zum Feiern. Neben einem Rückblick auf die bisherigen Aktivitäten bestärkte Prof. Dr. Jim Cummins aus Toronto in einem Fachvortrag den Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek, LRSD Manfred Höhne Nina Rehberg Kurs des ZMI und sprach seine Glückwünsche Mercator-Institut, Universität zu Bezirksregierung Köln Dienststelle Diversity, Stadt Köln aus: „Was ich in den vergangenen neunzig Mi- Köln nuten über die Arbeit des ZMI gehört habe und zunächst deutlich ohne Worte auskommen, um Weiterentwicklung und interkulturellen Öff- über die Arbeit, die hier in Köln geleistet wird, so ein didaktisch fundiertes und kreatives Spra- nung der Kölner Bildungslandschaft. Es wurde ist sehr bereichernd. chenlernen zu ermöglichen – für Schülerinnen am 04.09.2018 vom Kölner Rat beschlossen, und Schüler, aber auch für Studierende. Das der zugleich das ZMI, das Regionale Bildungs- 10 Jahre ZMI steht für 10 Jahre er folgreiche Arbeit in den Bereichen sprachlic he Bildung, Mehrsprachigkeit und Integratio n. von Prof. Dr. Michael Becker-M rotzek, Manfred Höhne und Nin a Rehberg Ich werde meinen Kollegen in Kanada viel ZMI sichert durch die Inhalte der Ferienschulen büro (RBB) und das Kommunale Integrations- berichten können über das, was hier getan ihren wesentlichen Beitrag zur interkulturellen zentrum (KI) mit der systematischen Umset- wird und was wir davon lernen können. Also: Bildung. Interkulturalität als Chance zu verste- zung der im Eckpunktepapier formulierten herzlichen Glückwunsch zu der guten Arbeit hen heißt in den Ferienschulen voneinander zu Ziele beauftragt hat. aus zehn Jahren. Hoffentlich geht sie mit noch lernen. Neben dem Sprachlernprozess entste- Das ZMI steht mit seinen mehrsprachigen und mehr Energie noch zehn Jahre weiter.“ 1 hen somit immer auch Möglichkeiten, zahlrei- interkulturellen Bildungsangeboten für eine Das ZMI steht im Kölner Raum für eine Vernet- che interkulturelle Begegnungen zu nutzen, die demokratische Stadtgesellschaft, verbunden zung der vielseitigen Sprachbildungsangebote eigenen kulturellen Wurzeln zu reflektieren und mit einem klaren Bekenntnis zur Ermöglichung für alle Altersstufen. Die Kommunikations- und etwas über die andere Person und ihren Kultur- heterogener Lebensentwürfe. Das ZMI leistet Kooperationsstrukturen schaffen wertvolle raum zu erfahren. mit seinen sprachlichen Bildungsangeboten zu- Synergien für die Elementarerziehung, für die Die zentrale Aufgabe des ZMI für die nächsten dem einen wichtigen Beitrag zur Sicherung und schulische und außerschulische Bildungsarbeit, 10 Jahre besteht darin, weiter für eine Ver- Stärkung demokratischer Strukturen, dessen für die Erwachsenenbildung und Elternarbeit, besserung der Bildungschancen aller Kinder Fundament die Selbstbestimmung und gegen- für Ausbildungs- und Fortbildungsangebote für und Jugendlichen zu kämpfen. Die verstärkte seitige Achtung aller Menschen ist. Lehrende sowie für die Forschung. Ein heraus- Zuwanderung seit 2015 stellt uns vor beson- Demokratielernen als Grundprinzip der päda- ragendes Beispiel ist die Kölner Sommerferien- dere Herausforderungen und Aufgaben, die gogischen Arbeit ist Aufgabe aller Partnerinnen schule für neu zugewanderte Schülerinnen und ein planvolles, koordiniertes und vernetztes und Partner, die mit dem ZMI kooperieren. Die Schüler. Hier wird die universitäre Lehramtsaus- Handeln aller Bildungseinrichtungen in Köln Grundhaltung der handelnden Mitstreiterinnen bildung mit schulischen Angebotsstrukturen erfordern. Um diesem Ziel näher zu kommen, und Mitstreiter in den Angeboten des ZMI be- sowohl aus der Bezirksregierung als auch aus hat das ZMI in Zusammenarbeit mit einer in- wirkt, dass auch außerhalb der Sprachbildungs- der Stadt Köln verknüpft. Die Angebote der äs- terdisziplinären Gruppe von Expertinnen und angebote eine Verantwortungsübernahme aller thetischen Bildung und Theaterpädagogik bil- Experten das Eckpunktepapier zur Integration Beteiligten gefördert wird, damit individuelle den in der Sprachförderung erfolgreiche Kom- von neu zugewanderten Kindern und Jugend- Kompetenzen für demokratische Strukturen ge- munikationsmöglichkeiten über Körpersprache, lichen in Kölner Schulen erarbeitet. Dies ist sichert werden. Blickkontakte oder szenische Darstellungen, die ein innovatives Konzept zur sprachsensiblen 1 In: Cummins, Jim: Language, Identity and Integration: Building Healthy Societies in an Era of Migration Sprache. Identität und Integration: Wie schaffen wir intakte Gesellschaften in Zeiten von Migration? Vortrag von Jim Cummins am 23. Januar 2018 aus Anlass des zehnjährigen Bestehens des ZMI. S. 3. Abrufbar unter: https://zmi-koeln.de/wp-content/uploads/2017/02/Vortrag-C.-zweisprachig_Word_3.pdf zmi-Magazin | 2018
6 Aus Wissenschaft und Forschung en tit ät un d In te gr at io n: W ie schaffen wir Sprache, Id th y societies“) e Ge se lls ch af te n („ he al intakte, gesund in Zeiten von Migration? zehnjährigen Bestehen de s ZMI* Jim Cumm ins‘ Vortrag am 23. Januar 2018 zum von Georg Aulmann Kaum zu glauben: vor achtzig Jahren – längst fuhren Autos auf den Straßen, Flugzeuge flogen, Töne wurden drahtlos übertragen, die Psychoanalyse war erfunden usw. – da sagten noch Leute, die sich als Wissenschaftler empfanden, Zwei- oder Mehrsprachigkeit könne bei Kindern zu Schizophrenie führen. Wie war das möglich? Wo doch seit Jahrhunderten und überall auf der Welt sich zwei- und mehrsprachige Kinder und Erwachsene tummeln, und zwar bei guter geistiger Gesundheit! Davon, unter anderem, berichtete Jim Cummins. Solche über- zu fordern, zu benennen, zu wünschen, zu fragen, zu behaupten, aus kuriosen Befunde gereichen der Sprachwissenschaft nicht zu jubeln, zu schimpfen, zu staunen, zu trauern usw. Ein einma- zur Ehre. Sie bestätigen Noam Chomskys Urteil aus dem Jahr liger Entwicklungsvorgang in jedem Menschen! 1986: unser heutiges Verständnis von Sprache und Sprachen, so Sprache – Identität – Integration waren die drei Leitbegriffe in sagte und schrieb er damals, habe noch längst nicht das Niveau Cummins‘ Vortrag. Leider sind sie kaum kurz und griffig zu de- erreicht, das etwa die Physik schon im 19. Jahrhundert hatte! finieren, denn alle drei enthalten recht verschiedene Bestandtei- ( Ò N. Chomsky, 1986, Language and Problems of Knowledge. The Managua Lec- le. Und welcher Bestandteil gerade im Brennpunkt des Redens tures. Cambridge (Mass.) / London: The MIT Press, p.180) steht, machen die Fachleute den Hörern, oder Lesern, nicht im- Eines wiederholte Cummins oft in seinem Vortrag: die Erstspra- mer klar. che ist keinesfalls ein Hindernis, sondern, ganz im Gegenteil, ein Aber intuitiv verstehen wir: Erwerb und Wachstum der Erst- unverzichtbares Fundament für den Erwerb weiterer Sprachen. sprache(n) in einem Kind können nicht anders als eng verwo- Warum muss man das noch heute, im Januar 2018, als neue Er- ben sein mit der Heranbildung seiner Identität, also mit seinem kenntnis explizit betonen? Selbstwertgefühl, mit seiner Welterfahrung und Selbsterfahrung, Einfach weil der Gedanke „Hindernis“ noch in vielen Köpfen mit seiner Welteinschätzung und Selbsteinschätzung. Dies alles herrscht. Wir müssen also das „Fundament Erstsprache“ weiter wird beschädigt, wenn wir die Erstsprache beiseite schieben. betonen, bis die Leute es so sicher wissen wie „vom Regen wird Solche Überlegungen fehlten in der Wissenschaft der eingangs die Erde nass“. genannten Wissenschaftler. Erstsprache, oder auch Erstsprachen: denn Kinder können Sie forderten damals, Einwanderer sollten ihre Erstsprache am durchaus zwei, manchmal sogar drei, Erstsprachen nebeneinan- besten komplett abservieren und ihr Sprachgedächtnis nur mit der erwerben, etwa wenn ihre Eltern aus zwei verschiedenen der neuen Landessprache auffüllen. Sprachwelten kommen. Entscheidend am Wort ‚Erstsprache‘ ist Aber wie kann man, in einem Menschenleben, einen langsam das ‚Erst-‘, nicht der Singular oder Plural. Kinder erwerben ihre hoch gewachsenen Eichenwald einfach umsägen, um dann hoch Erstsprache(n), wenn sie, nach der Lall-Phase und längst mit ei- gewachsene Buchen an die Stelle zu setzen? Der Vergleich ist nem hochdifferenzierten Gehör ausgestattet, nun auch begin- übertrieben, aber das Gewaltsame und Unmögliche der Maß- nen, ihren Stimmapparat für immer höher differenzierte Lautäu- nahme scheint realistisch. Wir sollten immer den Eichenwald ste- ßerungen einzusetzen, wenn sie also beginnen, mit ihrer Stimme hen lassen und die Buchen daneben pflanzen. Zwei Sprachen * Transkribiert, übersetzt, außerdem für diesen Beitrag zusammengefasst und mit ein paar Anmerkungen und Fragen versehen von Georg Aulmann. zmi-Magazin | 2018
Aus Wissenschaft und Forschung 7 sind besser als eine, so das kurze Fazit der Forschung der letzten vierzig Jahre, berichtete Cummins. Dieses ‚besser‘ ist schon auf den ersten Blick plausibel in unserer Welt, die durch Verkehr, Medien und Digitalisierung immer inter- nationaler wird. Aber auch auf den zweiten Blick. Cummins zeig- te Einzelheiten von breit angelegten Studien, die den großen Ge- winn belegen, persönlich, emotional und intellektuell, den Kinder aus der Zwei- oder Mehrsprachigkeit ziehen. Wir gefährden die- sen Gewinn ganz erheblich, wenn wir dem Kind den Gebrauch jener Sprache austreiben wollen, in der es seine Identität heran- gebildet hat. Wer die Erstsprache des Kindes respektiert und för- dert, der fördert das Kind. Wer sie ablehnt, lehnt das Kind ab. So bündig und hart formulierte es Cummins. Sehr wohl möglich, dass jene früheren Wissenschaftler Kinder im Blick hatten, die unter so einer Ablehnung litten, die dann Leistungsschwäche zeigten, Eingliederungsprobleme hatten und sich innerlich zurückzogen. Aber eben nicht, weil ihre Erstsprache zum Ballast wurde beim Erwerb der neuen Landessprache. Son- dern im Gegenteil, weil man ihnen das Fundament ihrer Erstspra- che für weiteres Lernen streitig machte. Hartes Fazit laut Cum- mins: „What those studies were looking at was the effects of racism.“ Also: nicht ihre Mehrsprachigkeit macht diesem Kindern zu schaffen, sondern vielmehr die rassistische Zurückweisung ih- rer Erstsprache. Wenn wir diesen Zusammenhang akzeptieren, dann stehen wir plötzlich vor einer neuen Verantwortung: die verschiedenen Erst- sprachen der Migranten nicht nur wohlwollend zur Kenntnis zu diese Sprachen als Erstsprachen sprechen. Diese Sprachkompe- nehmen, sondern vielmehr ihren Gebrauch, ihre weitere Anrei- tenz von Eltern könnte die Arbeit im Klassenzimmer bereichern cherung in den Kindern zu fördern, in jedem Kind die schon vor- und die Eltern ein Stück weit an die Schule binden. Aber wie? handene Erstsprache fruchtbar zu machen für den Erwerb der Warten, bis von den Schulbehörden neue Direktiven kommen neuen Landessprache. und dazu Hinweise, wie sie vielleicht befolgt werden könnten? Wie geht das im Einzelnen? Welche Methoden, Kompetenzen, Dann bleibt lange alles beim Alten! Cummins beschrieb exemp- Ressourcen müssen wir einsetzen, oder sogar neu erfinden und larisch konkrete Vorgehensweisen, allesamt Vorstöße einzelner uns aneignen? Die Englischlehrerinnen und Englischlehrer, bzw. Lehrerinnen und Lehrer oder Schulen, die ohne behördliche An- in Deutschland die Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer, kön- weisungen tätig wurden. nen ja nicht plötzlich Urdu oder Portugiesisch oder Arabisch. Etwa Hinweisschilder in den Schulen: wo sind Fachräume, To- Trotzdem sollen sie jetzt diese anderen Sprachen in ihr pädagogi- iletten, Lehrerzimmer, Sekretariat usw. Diese Schilder können sches Handeln aufnehmen. Ja, wie denn? mehrsprachig sein, sie können beschriftet sein mit (fast) allen an Die Aufgabe ist neu und keineswegs leicht. Aber zurückweisen der Schule gesprochenen Erstsprachen. Die Landessprache steht dürfen wir sie nicht mehr. Könnten Lehrkräfte der Schulen sich an an erster Stelle, aber ihr folgen weitere, natürlich auch in ande- Kollegen der Universitäten wenden, Wissensbestände anzapfen, ren Schriftzeichen, russischen, chinesischen, griechischen, arabi- die bisher weit ab vom Schulbetrieb gehegt werden? Könnten sie schen ... Dergleichen wirkt als Signal an SchülerInnen und ihre Spezialisten, die sich mit Urdu, Portugiesisch oder Arabisch aus- die Schule besuchenden Eltern: wir wissen um eure Erstsprache, kennen, zu aktuellen Schulproblemen konsultieren? wollen sie anerkennen und mit euch pflegen. Wären solche Spezialisten willens, sich für Schulprobleme zu öff- Bei allen Gelegenheiten die Lernenden und ihre Eltern deutlich nen? Man muss es einfach versuchen, vielleicht etwas hartnä- ermuntern, zuhause ihre Erst- und Familiensprache immer wei- ckig. In Kanada hat es wohl in mehreren Fällen funktioniert. ter zu sprechen, als wertvolles geistiges Kapital am Leben zu Und die neuen Kinder in den Klassen haben ja Eltern, die genau erhalten! zmi-Magazin | 2018
8 Aus Wissenschaft und Forschung Schulen könnten kleine Leihbibliotheken Englischkenntnisse hatten, eine Gruppe fühlen. Und in ihren Köpfen entstand, einrichten mit Büchern in Urdu, Türkisch, bildeten mit Neuankömmlingen aus ih- zwanglos und natürlich, ein zusätzlicher Portugiesisch, Arabisch etc. Wenn der Bi- rer Heimat, die noch kein Englisch konn- Gewinn: Einsichten über Besonderheiten bliotheksraum, an zwei oder drei Tagen, ten. Zusammen schrieben sie auf Urdu ei- und Unterschiede von Urdu und Englisch. auch außerhalb der Unterrichtszeit offen ne kleine Geschichte über ihre Migrations- All das, so Cummins am Ende, brauche steht, können Eltern und Kinder zum Vor- erlebnisse. Wo nötig, konnten die Eltern die Bereitschaft aller Beteiligten, Frem- lesen und/oder Ausleihen vorbeikommen. mit Urdu-Formulierungen helfen. Dann denhass abzubauen und durch Fremden- Ausführlich berichtete Cummins von Ein- übersetzten die Mädchen die Geschich- freundlichkeit zu ersetzen. Schon die al- zelinitiativen im Schulbezirk Toronto, in te ins Englische, die Lehrerin half mit For- ten Griechen hätten mit ihrem Begriffs- denen Herkunftssprachen der Kinder mulierungen und Korrekturen, bis die Ge- paar Xenophobie vs Philoxenie darauf auf- ganz bewusst und gezielt in die Klassen- schichte, einwandfrei formuliert in zwei merksam gemacht. Und was er in Köln ge- zimmerarbeit einbezogen wurden. Leh- Sprachen, auf der Homepage der Schule sehen habe von der Arbeit des ZMI, weise rerinnen und Lehrer sorgten etwa dafür, erscheinen konnte. Alle Mädchen, die län- genau in diese gute Richtung und sei es dass zwei oder drei Urdu-Mädchen, die ger ansässigen wie die Neuankömmlin- wert, in Kanada erzählt zu werden. schon länger in Kanada waren und gute ge, konnten sich als stolze Verfasserinnen Jim Cummins am 23. Januar 2018 zum zehnjährigen Bestehen des ZMI. Versuch einer Kurzfassung auf Deutsch, von Georg Aulmann. Sprache, Identität und Integration: Wie schaffen wir intakte, gesunde Gesellschaften („healthy societies“) in Zeiten von Migration? „Wir“ – damit meinte Cummins vor allem wurde – Erstsprache austreiben und dafür denn „Sprachen sind ein fragiler Besitz“. die Sprachlehrerinnen und Lehrer. Natür- die Landessprache eintrichtern – ist nichts Integration geht nicht ohne Landesspra- lich, allein schaffen sie keine intakte Ge- als eine Brachialmethode der schwarzen che! Wenn diese aber Zweitsprache ist, sellschaft. Aber Sprechen (miteinander) Pädagogik: zynisch und menschenverach- braucht sie, um zu wachsen, den gut be- und Sprachen (verschiedene) haben sehr tend sowieso, aber dazu noch falsch und stellten Boden der Erstsprache. Nur Erst- viel mit der Gesundheit der Gesellschaft ineffektiv. sprache plus Zweitsprache schaffen gute zu tun. Dies seinen Zuhörern ganz nahe zu bringen Integration. In unserer Erstsprache ist viel von unserer wurde Cummins nicht müde: alle wissen- Identität, unserem Selbstwertgefühl ver- schaftlichen Studien, seit mehr als drei Jahr- wurzelt. Wir brauchen sie, um uns woan- zehnten, kämen immer zu diesem gleichen info ders zu integrieren. Das müssen Sprach- Ergebnis. lehrer im Kopf behalten. Die Erstsprache, egal aus welcher Weltge- Kontakt „Wenn wir wollen, dass unsere Schüle- gend sie stammt, ist unersetzbar als Fun- Georg Aulmann rInnen nach zwölf Jahren als intelligente, dament für alle weiteren Sprachen. Wenn fantasievolle und sprachfähige Menschen sich die Erstsprache in uns umfassend ent- g.aulmann@gmx.de die Schule verlassen, dann müssen wir wickeln kann, dann können im Verbund sie vom ersten Schultag an als intelligent, mit ihr auch weitere Sprachen reichhaltig fantasievoll und sprachfähig behandeln.“ gedeihen. Und das selbst dann, wenn die Kinder am Wird die Erstsprache vernachlässigt oder ersten Schultag die Landessprache noch gar verboten, ist der Fortschritt in der gar nicht oder nur wenig beherrschen, Zweitsprache mühsam und das Ergebnis weil sie eben nur mit ihrer Erstsprache im meist dürftig. Kopf hier angekommen sind. Beide müssen – ja: müssen! – für ein Denn was noch vor vierzig Jahren gepredigt gesundes Leben aktiv gepflegt werden, zmi-Magazin | 2018
Aus Wissenschaft und Forschung 9 Heliosschule – Inklusive Universitätsschule der Stadt K öln Einblicke in das Gründungskonzept unter besonderer Berücksichtigung von Mehrsprachi gkeit von Sophia Falkenstörfer, Prof.‘in Dr. Lisa Rosen und Lucia Sehnbruch Schule ist mehr als ein Lernort, sie ist Lebensort! Im Gründungskonzept der „Heliosschule – Inklusive Universitäts- schule der Stadt Köln“ heißt es dazu programmatisch: „Grundsätzlich soll eine inklusive Schule als ein Lebens- und Arbeitsbereich konzipiert werden, der Lernenden wie Lehrenden nicht nur Instruktionsräume im Kasernenformat, sondern Raumperspektiven mit unterschiedlichen Aktions-, Sozial- und Rückzugsflächen bietet, in denen sehr un- terschiedlichen Bedürfnissen entsprochen werden kann.“ (Reich, 2014a, S. 12) Lernende sollen dort vielfältige Erfahrungen machen, sich selbstwirksam fühlen, die Möglichkeit haben, ihre Persönlichkeiten zu entwickeln und sich (Welt-)Wissen anzueignen bzw. zu konstruieren. Für die Gestaltung von Schule als lebendigen und anregenden Lernort sind in erster Linie die verantwortlichen Pädagoginnen und Pädagogen zuständig. Sie müssen eine Vielzahl von unterschiedlichen Kompetenzen be- sitzen bzw. erwerben, die weit über die Wissensvermittlung hin- aus reichen um den aktuellen gesellschaftlichen Anforderungen gerecht werden zu können. Für die Professionalisierungsprozesse von zukünftigen Lehrpersonen bedeutet dies, dass gut konzipier- te und theoretisch-reflektierte Praxisphasen schon im Hochschul- studium zentral sind. An der Universität zu Köln haben Studie- rende die Möglichkeit, ihre Praxisphasen an der „Heliosschule – Inklusive Universitätsschule der Stadt Köln“ zu absolvieren. Der inklusive Schwerpunkt ermöglicht Raum für vielfältige Syn- ergien: zukünftige Lehrkräfte lernen nicht nur den Alltag einer Architektur und Visualisierung: © Schilling Architekten von Heterogenität und Diversität aller Lebensformen geprägten Schule kennen. Im Rahmen der systematisch in das Lehramts- neren Frieden der Menschen zu ermöglichen und Diskriminierun- studium der Universität zu Köln eingebetteten Praxisphasen und gen in jeder Form als Störung eines friedlichen Zusammenlebens studentischer Forschungsarbeiten an der Praxisschule haben sie zu überwinden.“ (Reich, 2014a, S. 1f.) Die Praxisschule bildet die Möglichkeit, Impulse aus der schulischen Praxis in die Lehre- demnach einen offenen sozialen Raum, in dem Demokratiebil- rinnen- und Lehrerbildung hineinzutragen. D.h. dass hier – im dung erprobt und eingeübt wird. Partizipation und Teilhabe aller besten Sinne einer Theorie-Praxis-Verzahnung – wechselseitig am gemeinsamen Alltag, und Partizipation und Teilhabe hinsicht- die Hochschule (Theorie) direkte Impulse an die Schule (Praxis), lich der Entwicklung der Schule, prägen das Leitbild. Konkret for- und die Lebenswelt Schule (Praxis) an die Hochschule (Theorie) muliert Kersten Reich (vgl. ebd. S. 5ff.) mit Blick auf die schuli- weiterleiten kann (vgl. ZfL 2013). schen Herausforderungen zehn Merkmale als Mindeststandards Der weite Inklusionsbegriff, der dem Konzept der inklusiven Di- einer inklusiven Schule: (1) Beziehungen und Teams, (2) Demo- daktik zugrunde liegt, macht diese Schule zu einem Ort, an dem kratie und Partizipation, (3) Chancengerechte Qualifikation, (4) die menschliche Vielfalt den Schulalltag bestimmt (vgl. Reich/ Ganztag, (5) Förderliche Lernumgebung, (6) Förderbedarf ohne Asselhoven/Kargl 2015; vgl. Reich 2009, 2014a): „Inklusion, Stigmatisierung, (7) neues Beurteilungssystem, (8) neue Schular- [wie sie hier verstanden werden soll], ist eine umfassende gesell- chitektur, (9) Öffnung in die Lebenswelt, (10) Beratung, Supervi- schaftliche Verpflichtung, die helfen soll, einen äußeren und in- sion, Evaluation und neue Kriterien guten Unterrichts. zmi-Magazin | 2018
10 Aus Wissenschaft und Forschung Zukunftskonzept der Exzellenzinitiative, siehe www.sinter.uni-koeln.de) und Prof. Dr. Lisa Rosen (Wissenschaftliche Leitung der „Heliosschule – Inklusive Universitäts- schule der Stadt Köln”). Dazu eingeladen waren nicht nur die pädagogischen Fach- kräfte der Universitätsschule, sondern auch weitere Schulen und Kindertages- stätten aus dem Großraum Köln. Literatur: Architektur und Visualisierung: © Schilling Architekten Booth, Tony & Ainscow, Mel (2003): Index für Inklusion Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln. Mit Blick auf die Inklusion von Mehrspra- García (2009) verwiesen. Dieser erscheint Übersetzt, für deutschsprachige Verhältnisse bearbeitet und herausgegeben von Ines Boban & Andreas Hinz. Online chigkeit wird im Gründungkonzept der als besonders geeignet für mehrsprachige verfügbar unter http://www.csie.org.uk/resources/transla- Universitätsschule von Julie A. Panagio- Schul- und Unterrichtsentwicklung, weil tions/IndexGerman.pdf, zuletzt geprüft am 17.09.2018 topoulou und Lisa Rosen (2015) proble- García, Ofelia (2009): Bilingual education in the 21st cen- er an der sprachlichen Alltagspraxis von tury: A global perspective. Malden, Mass: Wiley-Blackwell. matisiert, dass die deutsche Schule mo- Kindern und Jugendlichen in der Migra- Panagiotopoulou, Argyro/Rosen, Lisa (2015): Migration nolinguale Ideologien (re)produziert und tionsgesellschaft anknüpft und sich ent- und Inklusion. In: Reich, Kersten/Asselhoven, Dieter/Kargl, Silke (Hrsg.): Eine inklusive Schule für alle: Das Modell der migrationsbedingter Mehrsprachigkeit im schieden gegen die Separierung und – da- Inklusiven Universitätsschule Köln. Weinheim/Basel: Beltz, pädagogischen Alltag überwiegend defi- mit oft verbunden – Hierarchisierung von S. 158-167. zit- und assimilationsorientiert begegnet Sprachen wendet (siehe dazu den Beitrag Reich, Kersten (2017): Inklusive Didaktik in der Praxis. Beispiele erfolgreicher Schulen. Weinheim/Basel: Beltz. wird: „Eine Schule, die ausgewählte Spra- von Julie A. Panagiotopoulou in diesem Reich, Kersten/Asselhoven, Dieter/Kargl, Silke (Hrsg.) chen ausschließt, erschwert systematisch Heft). (2015): Eine inklusive Schule für alle. Das Modell der Inklu- die Bildungsprozesse derjenigen, die diese Der Zusammenhang von Inklusion und siven Universitätsschule Köln. Weinheim/Basel: Beltz. Sprachen zum Denken und Handeln benö- Translanguaging sowie damit verbundene Reich, Kersten (2014a): Herausforderungen an eine inklusi- ve Didaktik. Zeitschrift: Inklusion in Schule und Unterricht. tigen“ (ebd., S. 166). Das Gründungskon- Fragen der Lehrerinnen- und Lehrer(fort) Heft 10/2014. 5. Jg. zept nimmt hier ausdrücklich Bezug auf bildung sowie der Professionalisierung Reich, Kersten (2014b): Inklusive Didaktik. Bausteine für eine inklusive Schule. Weinheim/Basel: Beltz. den Index für Inklusion für Schulen (Booth von angehenden Pädagoginnen und Päd- Reich, Kersten (2012): Inklusion und Bildungsgerechtigkeit. & Ainscow 2003), denn auch dort wird die agogen sind am 27. und 28. September an Standards und Regeln zur Umsetzung einer inklusiven Notwendigkeit der Inklusion aller Spra- der Universität zu Köln auf dem interna- Schule. Weinheim/Basel: Beltz. chen von Minderheiten sowie von Migran- tionalen Workshop „Inclusion, Education, Zentrum für LehrerInnenbildung (ZfL) (2013): Forschendes Lernen im Praxissemester. Leitfaden für die Ausbildungs- tinnen und Migranten unmissverständlich and Translanguaging: How to Promote region Köln. Materialien zum Praxissemester in der Aus- entlang konkreter Indikatoren verdeutlicht Social Justice in (Teacher) Education?“ mit bildungsregion Köln (Band 5). Universität zu Köln, zuletzt geprüft am 29.10.2018 (Panagiotopoulou & Rosen 2015, S. 163). Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- So wird etwa danach gefragt, ob alle lern aus Deutschland, Griechenland, Lu- Sprachen und Kommunikationssysteme xemburg, Frankreich, Zypern, Großbritan- als gleichwertig behandelt werden (Booth nien und den USA sowie Fachleuten aus info & Ainscow 2003, S. 83) und ob die Vielfalt der pädagogischen Praxis im frühkindli- der Sprachen, die die Lernenden mitbrin- chen und schulischen Bereich diskutiert Kontakt gen, als wesentlicher Teil des Unterrichts- und vertieft worden. Das Programm ist inhalts und als eine reichhaltige Anregung einzusehen unter: http://sinter.uni-koeln. Prof.‘in Dr. Lisa Rosen für den Sprachunterricht genutzt wird de/sites/ca5/user_upload /Int._Work- Gronewaldstr. 2, 50931 Köln lisa.rosen@uni-koeln.de (Booth & Ainscow 2003, S. 92). Um diese shop_27.-28.09.2018_Program.pdf). Die- und weitere Indikatoren zur Inklusion von ser Workshop, der insbesondere auf einen Mehrsprachigkeit im Schul- und Unter- Theorie-Praxis- bzw. Praxis-Theorie-Trans- Sophia Falkenstörfer Gronewaldstr. 2, 50931 Köln richtsalltag aufzugreifen und umzusetzen fer ausgerichtet war, wurde gemeinsam s.falkenstoerfer@uni-koeln.de wird im Gründungskonzept der Universi- ausgerichtet und organisiert von Prof. Dr. tätsschule auf den sozio-linguistisch fun- Julie A. Panagiotopoulou (Sprecherin des Dr. Lucia Sehnbruch dierten und pädagogisch-didaktischen Kompetenzfeldes SINTER – Soziale Un- Gronewaldstr. 2, 50931 Köln lucia.sehnbruch@uni-koeln.de Ansatz des Translanguaging nach Ofelia gleichheiten und Interkulturelle Bildung im zmi-Magazin | 2018
Aus Wissenschaft und Forschung 11 Inklusion und Mehrsprachig keit: Translanguaging in Kitas un d Schulen von Prof.‘in Dr. Julie Argyro Panagio topoulou Translanguaging in einer Kölner KiTa: Lena schreibt „Ich schreibe“, kündigte heute Lena erneut an, während sie sich ein Blatt Papier nahm. Sie verschriftete, wie immer flüsternd und zugleich lautierend, ihren eigenen Namen, dann die Namen ihrer Freundinnen und Freunde (z. B. „EVA“, „LEO“) anschließend die Wörter „MAMA“ und „PAPA“ sowie das griechische Wort „BABA“ mit lateinischen Buchstaben. Während sie den Großbuchstaben T schrieb, fragte sie plötzlich: „Wie geht ein Ü?“. „Was möchtest du schreiben?“, wollte ich wissen. „Tüsch!“ antwortete Lena. (Panagiotopoulou 2019, S. 52) Translanguaging in einer Kölner Grundschule: Tarik rechnet Während Tarik rechnet, setze ich mich neben ihn. Als er fertig ist, lobe ich ihn und frage: „Toll, alles richtig! Wie hast du denn das so schnell gerechnet?“ Er sieht mich an, grinst und sagt leise: „Im Kopf kann ich das in Kurdisch rechnen.“ (Schultz 2011, S. 119) Gelebte Mehrsprachigkeit im pädagogischen Alltag mischen, wird auf der Grundlage beobachtbarer Sprachpraxis in Fra- Ethnographische Beobachtungen in Kitas und Schulen ermöglichen ge gestellt. Ethnographische Studien in (offiziell) ein- oder mehrspra- einen Einblick in die Realität gelebter Mehrsprachigkeit. Durch dich- chigen Regionen der Welt sowie im Kontext von (formal) ein- oder te Beschreibungen alltäglicher Situationen betrachten wir mehr- mehrsprachigen Bildungseinrichtungen für Kinder, Jugendliche oder sprachig aufwachsende Kinder wie Lena und Tarik, die, trotz der in Erwachsene belegen nämlich eher das Gegenteil: Mehrsprachige In- deutschen Bildungseinrichtungen erwarteten Einsprachigkeit (auch) dividuen handeln zwar monolingual in monolingualen Settings, aber mehr- und quersprachig oder translingual handeln. Im Rahmen der darüber hinaus ist ihre Sprachpraxis durchgängig flexibel und dyna- Professionalisierung von (angehenden) pädagogischen Fachkräften misch. Dieses Phänomen kann mit dem Begriff „Translanguaging“ und Lehrkräften gehen wir anhand ethnographischer Beobach- (García 2009) beschrieben werden (vgl. Creese 2017). tungen konkreten Fragen nach wie zum Beispiel: Wie gebrauchen Um die Realität sprachlicher Diversität, aber auch die vielfältigen mehrsprachige Kinder ihre Sprache(n), um verbal zu kommunizieren, Lernstrategien von Kindern im Kontext von Kitas und Schulen zu um Gesprochenes schriftlich festzuhalten oder um eine mathemati- beschreiben, ohne ihr Handeln zu problematisieren oder etwa als sche Aufgabe zu bewältigen? „Halbsprachigkeit“ zu pathologisieren (zur Kritik mit Blick auf die Die Auseinandersetzung mit solchen Fragen irritiert oft unsere Schule vgl. Panagiotopoulou 2002; bezogen auf die Kita vgl. Pa- herkömmliche Vorstellung von Sprachen als quasi autonome, ab- nagiotopoulou 2017), reichen unsere alten Konzepte und Begriffe grenzbare Systeme, die in einer klaren Reihenfolge (L1, L2, L3 etc.), nicht mehr aus. Denn wenn mehrsprachig lebende Kinder sprechen, als monolinguale Codes mehr oder weniger additiv (L1 + L2 +…) schreiben oder rechnen, verwenden sie nicht einzelne Sprachen oder erworben oder gelernt werden. Auch die Vorstellung, dass Sprach- Sprachsysteme, sondern ihr ganzes – und d.h. sprachenübergreifen- mischung als Abweichung von einer sprachentmischten Norm gilt, des – linguistisches Repertoire. Um mit mehrsprachigen Menschen da kompetente Mehrsprachige ihre Sprachen angeblich nicht (mehr) zu kommunizieren, verknüpfen bereits junge Kinder sprachliche Ele- zmi-Magazin | 2018
12 Aus Wissenschaft und Forschung tion und die Bewältigung ihres Alltags. Einige (dazu gehört auch die Verfasserin des vorliegenden Beitrags) werden erst durch die Migration mehrsprachig, andere (wie die fünfjährige Lena und der sechsjährige Tarik) wachsen in einer Migrationsgesellschaft, wie der deutschen, mehrsprachig (bilingual und biliteral) auf, während andere wiederum bereits vor der Migration in mehrsprachigen Re- gionen dieser Welt lebten. Wenn Familien mit einer sogenannten Zuwanderungsgeschichte nicht nur vor Ort, sondern auch lände- rübergreifend bzw. translokal und zugleich digital (z. B. via Email oder per Skype) Beziehungen pflegen, benötigen sie ihr gesamtes sprachliches Repertoire. Ihr Sprachgebrauch ist – metaphorisch gesprochen – wie ein Schaukeln zwischen Landessprachen und Regionalsprachen, Registern oder Dialekten, aber auch zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu verstehen. Dennoch werden insbesondere Neuzugewanderte, oft auch trotz ihrer mitgebrachten Mehrsprachigkeit, vor allem im Kontext von monolingual organisierten Behörden oder Bildungsinstitutio- nen als sprachlos adressiert. Mit dem stigmatisierenden Etikett „Nullsprachler“ werden heute noch angehende deutschsprachi- ge Kinder und Jugendliche bezeichnet, die in einer mehrsprachi- gen Familie leben oder vor der (Flucht-)Migration sogar in zwei Weltsprachen, Arabisch und Englisch, alphabetisiert worden sind. Auch in Deutschland erwartet mehrsprachig lebende Kinder und Jugendliche jeden Tag erneut der Übergang von ihrer mehrspra- chigen familiären Umgebung in eine quasi einsprachige Kita oder Schule, sobald dort die Idealvorstellung einer klaren Trennung mente zu einem integrierten Ganzen, das der jeweiligen Situation und zwischen Sprachen herrscht und die sogenannte parallele Ein- dem Repertoire ihrer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner sprachigkeit favorisiert wird. Diese Praxis basiert auf folgendem, angepasst wird. Dies wirkt – aus einer einsprachigen Außenperspek- oft impliziten Sprachgebot: ‚Eine (auch mehrsprachig lebende) tive betrachtet – etwas außergewöhnlich, aus der Perspektive von Person spricht jeweils nur eine Sprache‘. In (formal) einsprachig mehrsprachig aufwachsenden Kindern, wie Lena und Tarik, ist dieser organisierten Kitas und Schulen versuchen nämlich pädagogische dynamische Sprachgebrauch jedoch eine Selbstverständlichkeit. Fachkräfte und Lehrkräfte, auch wenn sie selbst in ihrem eigenen Mit dem Begriff Translanguaging wird unsere Aufmerksamkeit auf Alltag mehrsprachig handeln, mit mehrsprachigen Kolleginnen diese authentische sprachliche Praxis (Languaging) von Kindern, und Kollegen, Eltern, Kindern und Jugendlichen möglichst ein- Jugendlichen und Erwachsenen und nicht etwa auf Sprachen als sprachig zu kommunizieren. Diese Praxis begünstigt die Exklusion getrennte Entitäten, als abgrenzbare Systeme oder Codes gelenkt. der (eigenen) Familiensprachen der Akteurinnen und Akteure und Translanguaging beschreibt außerdem, was pädagogische Fachkräf- kollidiert mit Maximen einer inklusiven mehrsprachigen Bildung te tun, wenn sie sich in der pädagogischen Praxis auf die Perspektive in Kitas und Schulen (vgl. Panagiotopoulou 2016, Montanari & mehrsprachiger Kinder einlassen. Es handelt sich um ein soziolin- Panagiotopoulou 2019). Mehrsprachige Lehramtsstudierende mit guistisches und sprachpädagogisches Konzept zum Umgang mit einer eigenen (familiären) Zuwanderungsgeschichte berichten im migrationsbedingter Mehrsprachigkeit und zur Herstellung sozialer Rahmen unserer Seminare an der Universität zu Köln ausführlich Gerechtigkeit (vgl. García & Flores 2012), das u.a. von Ofelia García darüber, wie sie als Schülerinnen und Schüler zur Einsprachigkeit seit vielen Jahren auch in Kitas und Schulen erprobt wird (vgl. García, verpflichtet wurden und fragen (sich und uns), wie sie nun ihre Johnson & Seltzer 2017). Mehrsprachigkeit in der schulischen Praxis professionell umsetzen Aber was hat dieses Konzept mit gelebter Mehrsprachigkeit im könnten (vgl. Panagiotopoulou & Rosen 2016). Erzieherinnen und Kontext von Migration zu tun? Und warum ist Translanguaging als Erzieher, die in Kölner Kitas tätig sind, zeigen sich – auch unab- ein wichtiger Ansatz Inklusiver Bildung zu betrachten (vgl. Panagio- hängig davon, ob sie selbst migrationsbedingt mehrsprachig leben topoulou & Rosen 2015)? – eher skeptisch gegenüber der Implementierung mehrsprachiger Bildungsangebote im Kita-Alltag, was u.a. auf fehlende Rahmen- bedingungen und pädagogische Konzepte zurückgeführt werden Was hat Translanguaging mit Migration zu tun? kann (vgl. Roth u.a. 2018). Genau an dieser Stelle ist hinsichtlich Durch die eigene Migration erfahren Menschen die besondere Be- der Weiterentwicklung einer inklusiven mehrsprachigen Bildung deutung von Mehrsprachigkeit für ihre gesellschaftliche Partizipa- noch viel zu erreichen. zmi-Magazin | 2018
Aus Wissenschaft und Forschung 13 Was hat Translanguaging mit inklusiver diese aus „hochsprachlichen“, „dialektalen“ Panagiotopoulou, A. (2002): „Fon höhen Bergen kommen fast jeder Tag die Wölfe“ – Ist „Halbsprachigkeit“ auch eine Bildung in Kitas und Schulen zu tun? oder „durchmischten“ Registern bestehen Folge von Migration? In: Balhorn, H. u.a. (Hrsg.): Sprachli- (List 2004, S. 133). ches Handeln in der Grundschule. Hemsbach: Grundschul- Wenn Kinder in Kitas und Schulen nicht ihr Mehrsprachig lebenden Kindern ist es nämlich verband - Arbeitskreis Grundschule, S. 360–372. Panagiotopoulou, A. (2016): Mehrsprachigkeit in der ganzes Sprachenrepertoire und ihre damit nicht möglich, ihr komplexes Repertoire aus- Kindheit: Perspektiven für die frühpädagogische Praxis. zusammenhängenden Strategien für ihr eige- einander zu dividieren, um sich nur ‚in einer WiFF-Expertise. Deutsches Jugendinstitut, Band 46. https:// nes Lernen nutzen können, dann werden sie Sprache‘ oder einem Register auszudrücken. www.weiterbildungsinitiative.de/uploads/media/Exp_Pana- giotopoulou_web.pdf ausgerechnet im Bildungskontext benachtei- Und vor allem, auch wenn sie in konkreten Panagiotopoulou, A. (2017): Mehrsprachigkeit und Diffe- ligt. Dies gilt insbesondere für ‚Newcomers’, Situationen monolingual handeln, denken renzherstellung in Einrichtungen frühkindlicher Erziehung für alle Kinder und Jugendlichen also, die den mehrsprachige Kinder multi- und translingual und Bildung. In: Diehm, I.; Kuhn, M. & Machold, C. (Hrsg.): Differenz – Ungleichheit – Erziehungswissenschaft. Wiesba- Übergang in eine neue Bildungseinrichtung (Li Wei 2018). So rechnet Tarik „im Kopf“ auf den: Springer, S. 257–274. durchlaufen, um dort eine für sie neue Spra- Kurdisch, im Wissen darum, dass seine spra- Panagiotopoulou, J. A. (2019): Mehrsprachigkeit und che zu erwerben. Auch aus diesem Grund chenübergreifenden Kompetenzen seinen in- Literacy: Gelebte Mehrschriftlichkeit. In: Montanari, G. E. & Panagiotopoulou, J. A.: Mehrsprachigkeit und Bildung in sind im Kontext von Bildungsinstitutionen, dividuellen Lernprozess beschleunigen. Und Kitas und Schulen: Eine Einführung. Narr Francke Attempto, in Kitas und Schulen, monolinguale Ideolo- Lena implementiert bei ihrem Schriftspra- S. 47–64 (im Erscheinen). gien und monolingualisierende Praktiken und chenerwerb Elemente aus ihrem gesamten Panagiotopoulou, A. & Rosen, L. (2015): Migration und Inklusion. In: Reich, K.; Asselhoven, D. & Kargl, S. (Hrsg.): Strategien in Frage zu stellen: durch entspre- Sprachenrepertoire, u.a. aus dem in der Kita Eine inklusive Schule für alle: Das Modell der Inklusiven chende sprachpolitische Entscheidungen im verwendeten Regiolekt, wenn sie z. B. das Universitätsschule Köln. Weinheim: Beltz, S. 158–167. Kollegium und durch Partizipation von mehr- gesprochene Wort „Tüsch“ in Laute zerglie- Panagiotopoulou, A. & Rosen, L. (2016): Sprachen werden sprachig lebenden Kindern, Jugendlichen und dert, um diese mit Buchstaben zu verbinden. benutzt, „um sich auch gewissermaßen abzugrenzen von anderen Menschen“ – Lehramtsstudierende mit Migrations- Eltern. Parallel dazu sollten mehrsprachig le- Beide Kinder zeigen uns, wie sie Inklusion hintergrund plädieren für einsprachiges Handeln. In: Geier, bende Fachkräfte, die in diesen Bildungsinsti- („im Kopf“) realisieren. Davon ausgehend Th. & Zaborowski, K. U. (Hrsg.): Migration: Auflösungen und Grenzziehungen – Perspektiven einer erziehungswissen- tutionen tätig sind, darin gestärkt werden, ihr sind unsere einsprachigen Bildungsangebote schaftlichen Migrationsforschung. ZSB-Reihe. Wiesbaden: VS Wissen um mehrsprachiges Leben und Ler- zu überdenken, insbesondere dann, wenn wir Verlag für Sozialwissenschaften, S. 169–190. nen in konkreten Situationen einzusetzen, um Inklusion mit Migration und Mehrsprachigkeit Roth, H. J.; Winter, Ch.; Karduck, S.; Terhart, H. & Gantefort, Ch. (2018): Mehrsprachigkeit im Elementarbereich. In: Kita Kinder (wie Lena und Tarik) bei ihrem trans- zusammendenken wollen. aktuell spezial. Mehrsprachige Frühförderung in der Kita, lingualen Lernen zu unterstützen. Gleichzeitig 1/18, S. 28–31. ist die Vorstellung von angeblich perfekt (d.h. Schultz, L.-C. (2011): ,,Im Kopf kann ich das in Kurdisch durchgängig korrekt) sprechenden Mutter- Literatur rechnen“ - vom Umgang mit Mehrsprachigkeit in einer An- fangsklasse. In: Hortsch, W. & Panagiotopoulou, A. (Hrsg.): sprachlerinnen und Muttersprachlern, die als Chilla, S. & Niebuhr-Siebert, S. (2017): Mehrsprachigkeit Sprachliche Bildung im pädagogischen Alltag - Feldstudien in der KiTa. Grundlagen – Konzepte – Bildung. Stuttgart: einsprachige Vorbilder fungieren, zu relativie- Kohlhammer. von angehenden GrundschullehrerInnen. Reihe: Entwick- lungslinien der Grundschulpädagogik, Bd. 9, Hohengehren: ren: „Mehrsprachige Bildung“– die zugleich Creese, A. (2017): Translanguaging as an Everyday Practice. Schneider Verlag, S. 115–124. als inklusive Bildung verstanden wird – „lebt In: Paulsrud, B. et al. (eds.): New Perspectives on Translan- guaging and Education. Bilingual Education & Bilingualism, von mehrsprachigen Vorbildern“ (Chilla & 108. Bristol, pp. 1-9. Niebuhr-Siebert 2017, S. 97). Vorbildhaft sind García, O. (2009): Bilingual Education in the 21st Century: A daher pädagogische Fachkräfte, welche (die Global Perspective. Malden, MA and Oxford: Basil/Blackwell. eigene) Mehrsprachigkeit als Normalität an- García, O. & Flores, N. (2012): Multilingual pedagogies. In: Martin-Jones, M.; Blackledge, A. & Creese, A. (eds.): erkennen und weder ihre eigene Sprachpraxis The Routledge Handbook of Multilingualism. New York: als durchgängig „bildungssprachlich“ imagi- Routledge, pp. 232-246. info nieren noch ihre eigene Sprachentwicklung García, O.; Johnson, S. & Seltzer, K. (2017). The Translan- guaging classroom. Leveraging student bilingualism for als „fertig“ betrachten. learning. Philadelphia: Caslon. Bevor der in der Grundschule für alle Kinder Li Wei (2018): Translanguaging as a Practical Theory of vorgesehene Fremdsprachenerwerb beginnt, Language. In Applied Linguistics, 39/1, pp. 9–30. ist bereits in der Kita die gemeinsam geteilte, List, G. (2004): Eigen-, Fremd- und Quersprachigkeit: psychologisch. In: Bausch, K.-R.; Königs, F. & Krumm, H.-J. Prof.‘in Dr. Julie Argyro Panagiotopoulou aber keinesfalls perfekte oder einsprachige, (Hrsg.): Mehrsprachigkeit im Fokus. Arbeitspapiere der 24. „Alltagssprache“ zu würdigen (List 2010). Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenun- Universität zu Köln Eine wichtige Maxime inklusiver mehrspra- terrichts. Tübingen: Gunter Narr Verlag, S. 132–138. Humanwissenschaftliche Fakultät List, G. (2010): „Bildungssprache“ in der Kita. In: Krüger- chiger Bildung, die allerdings lange bevor Department Erziehungs- und Potratz, M.; Neumann, U. & Reich, H. H. (Hrsg.): Bei Vielfalt Sozialwissenschaften die Diskussion um Inklusion in Deutschland Chancengerechtigkeit. Interkulturelle Pädagogik und Gronewaldstr. 2 begonnen hat, formuliert wurde, sehe ich Durchgängige Sprachbildung. Münster u.a.: Waxmann, S. 50931 Köln 185–196. hierin: Im pädagogischen Alltag gehen wir Montanari, G. E. & Panagiotopoulou, J. A. (2019): Mehrspra- Email: a.panagiotopoulou@uni-koeln.de mit den „familialen Sprachwelten“ aller Kin- chigkeit und Bildung in Kitas und Schulen: Eine Einführung. der „respektvoll“ um, unabhängig davon, ob Tübingen: Narr Francke Attempto (im Erscheinen). zmi-Magazin | 2018
14 mehrwert: Aus Wissenschaft und Forschung ete“: Die Schulen der „tulipanobe ales Lernen an Kölner G ru ndschulen Bilingu von Marco Triulzi GGS Westerwaldstraße, KGS Vincenz-Statz, KGS Zugweg: Diese drei Grundschulen der Stadt Köln fördern die na- türliche Mehrsprachigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler mit Bildungsangeboten in Deutsch und Italienisch. Durch seine besondere Familiengeschichte bringt jedes Kind seine besondere Mehrsprachigkeit mit; manchmal ist neben Italienisch und Deutsch noch Englisch oder Rumänisch oder Türkisch usw. dabei. An den drei Schulen wird diese Mehrsprachigkeit anerkannt, gewürdigt und ausgebaut, um die Kinder zu befähigen, mit der sprachlichen und kul- turellen Komplexität der globalisierten Welt kompetenter umzugehen. Aber diese Förderung darf, nach der Grundschule, nicht einfach abbrechen, vielmehr muss sie nach dem zehnten Le- bensjahr der Kinder, also in der Sekundarstufe, unbedingt weitergehen. Die aus der natürlichen Mehrsprachigkeit und dem bilingualen Grundschulunterricht gewonnen Fähigkeiten und Vorteile müssen weiter gepflegt werden, damit sie auch noch später, im Studium und Beruf, ihre Wirkung entfalten können. Mehrsprachigkeit als Realität bewältigen. Die Lehrkräfte vermitteln die italienische und die Aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte oder der ihrer Familien deutsche Bildungssprache und die Kinder üben sie ein, mündlich wachsen viele Kinder in einer mehrsprachigen Realität auf. Um und schriftlich. Beides ist notwendig, um kognitiv-akademische diesen Kindern gerecht zu werden, muss das Bildungssystem Sprachkompetenzen in einem mehrsprachigen Umfeld auszu- jene Realität auch widerspiegeln. bauen. Dementsprechend verläuft der Schulalltag, nicht für alle, aber Nicht nur die Eltern der italienischsprachigen Kinder, sondern für jeweils einige Klassen der genannten Kölner Grundschulen auch diese selbst wünschen ausdrücklich eine fortgesetzte För- durchgängig auf Deutsch und Italienisch. Der Buongiorno geht derung ihrer herkunftssprachlichen Kompetenzen, der mündli- mit dem Guten Morgen Arm in Arm, und das fachliche und chen wie der schriftlichen. sachliche Lernen in den zwei Sprachsystemen Italienisch und Mariagrazia Clari-Seffen, Italienischlehrerin an der GGS Wes- Deutsch ist hier ganz normale Praxis. Die Kinder hören und terwaldstraße, betont außerdem, dass „die Wertschätzung sprechen, lesen und schreiben Italienisch und Deutsch, immer aller sprachlichen Kompetenzen der Schülerinnen und Schü- nebeneinander und gleichberechtigt. So erweitern sie fortlau- ler“ sowie die Unterstützung bei der Entwicklung ihrer mehr- fend ihr Repertoire für die Alltagskommunikation und auch ihre sprachigen und -kulturellen Persönlichkeiten „das höchste Ziel Fähigkeit, Schulaufgaben und -aktivitäten sprachlich effektiv zu unserer Arbeit“ ist. Tina Minrath, Klassenlehrerin der Pferde- zmi-Magazin | 2018
Aus Wissenschaft und Forschung 15 Klasse an derselben Schule, teilt diese Vision und fördert die che Übertragungen sind kreative linguistische Lösungen, die auf Begeisterung der Kinder für die eigenen Sprachressourcen. Sie ein gewisses Maß an Sprachbewusstheit hinweisen. Kinder ver- spricht z.B. mit den Schülerinnen und Schülern ihrer Klasse ge- wenden sie, um neue Bedeutungen auszudrücken. So verwendet legentlich Italienisch und lässt sich, wenn nötig, ihre Sätze von eine Schülerin die Partizip-I-Form „lachend“, um das italienische ihnen verbessern. So können Kinder als Experten für ihre Her- Gerundium „ridendo“ wiederzugeben, weil im Deutschen eine kunftssprache agieren. eigene Verbalform Gerundium nicht existiert. Andere benutzen Auch jene Kinder, die Italienisch nicht als Herkunftssprache ha- transsprachige Kreationen, um Begriffe zu erklären, wie z.B. „re- ben, freuen sich, ihre kommunikativen Horizonte erweitern zu cinto dei fiori“ („Blumenzaun“) oder ingeniöse Mischungen wie können. Von Seiten der Familien, sagt Frau Minrath, existiere „tulipanobeet“ („Tulpenbeet“). Die sprachvergleichende Arbeit „ein Wunsch nach Mehrsprachigkeit, da solche Kompetenzen ist auch den vielen mehrsprachigen Plakaten zu entnehmen, die auch in der weiterführenden Schule behilflich sein können“. die bilingualen Klassenzimmer an den drei Grundschulen schmü- cken. Transsprachige Kompetenzen Hinzu kommen bei einigen Kindern auch mündliche Kompeten- zen in unterschiedlichen Dialekten. Einige Familien sprechen zu Natürlich wird das gesamtsprachliche Repertoire der Kinder Hause z.B. Sizilianisch (meistens in den Varietäten „licatese“ auch in klassischen mündlichen und schriftlichen Unterrichtsak- und „barrese“*): das ist ihre Herkunftssprache, die sie im Alltag tivitäten eingesetzt. Beide Sprachen werden in unterschiedlichen sprechen, und für die Kinder ein zusätzlicher Reichtum in der Lernmomenten getrennt, sind aber immer gleichzeitig in der Entwicklung ihrer mehrkulturellen Identität. „Den Eltern ist aber Klasse präsent. „Wenn die Kinder einen Begriff nicht kennen, wichtig, dass sie in der Schule die hochitalienische Bildungsspra- versuchen sie diesen mit dem Sprachmaterial zu umschreiben, che lernen“, fügt Frau Clari-Seffen hinzu, denn die Bildungsspra- das sie haben. Manchmal benutzen sie auch die Ressourcen der che stellt den Schlüssel zum Lernen dar. anderen Sprache und insgesamt unterstützen sich alle Kinder Weiter fördern, auch nach der Grundschulzeit gegenseitig in den zwei Sprachen“, erläutert Frau Minrath. Die explizite Anwendung von Transferstrategien wurde auch im Eine umfassende mehrsprachigkeitsdidaktische Arbeit an den Rahmen einer Diagnostikerhebung zu den Erzählkompetenzen Schulen braucht das Zusammenwirken mit außerschulischen in den Sprachen Italienisch und Deutsch bestätigt, die der Autor Akteuren. Für Frau Minrath und Frau Clari-Seffen ist allseitige dieses Artikels an den drei bilingualen Schulen durchführte. Sol- Kooperation wichtig; zuallererst mit den Eltern, aber auch mit * Dialekte aus den Städten Licata und Barrafranca zmi-Magazin | 2018
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