Körper repräsentation. interaktion. differenz. jahreskonferenz dramaturgische gesellschaft 26. bis 29. januar 2017 am staatstheater hannover

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zeitschrift
der
dramaturgischen
gesellschaft
01/17

körper
repräsentation.
interaktion. differenz.
jahreskonferenz
dramaturgische gesellschaft
26. bis 29. januar 2017
am staatstheater hannover
editorial

»Der Sprung in die moderne Welt kann nur körperlich sein«,
 sagt der Philosoph Rachid Boutayeb, »… und Freud hat
 zweifellos Recht, wenn er davon spricht, dass sich zunächst
 der Körper befreie, bevor der Geist folge.«
                                                                       Welche Körper sehen wir auf den Bühnen unseres Lan-
                                                                  des – und welche nicht? Welche sehen wir uns gerne an,
                                                                  und welche bereiten uns vielleicht Unbehagen? Bildet sich
                                                                  unsere Gesellschaft in all ihrer Vielfalt auch auf unseren
      Gehört uns unser Körper noch? Ist es nicht eher so,         Bühnen ab? Warum nicht? Wie haben sich Körperbilder in
 dass andere ihn überwachen und bewerten; dass andere             den vergangenen Jahren verändert? Welchen gesellschaft-
 bestimmen, wie wir aussehen, wie wir uns kleiden, was            lichen Codes, Normierungen und Zuschreibungen unter-
 wir essen, wie und vor allem wieviel wir uns bewegen? Wir        liegen unsere Körper? Wie werden die biotechnologischen
 werden daraufhin überprüft, ob wir uns fit halten oder uns       Optimierungsmöglichkeiten des Körpers unser Leben ver-
 gehen lassen, ob wir unseren Körper pflegen oder schlecht        ändern? Welche Möglichkeiten öffnen sich dem Theater
 behandeln und er vielleicht irgendwann der Allgemeinheit         durch die Erzeugung virtueller Körper? Und: Wie lässt sich
 zur Last fällt. Der Körper als letzte widerständige Bastion      dramaturgische Arbeit körperlicher denken?
 gegen die Zumutungen von außen wird immer mehr zur                    Im Handbuch Körpersoziologie (hg. von Robert Gugutzer,
 Utopie.                                                          Gabriele Klein, Michael Meuser, 2016) heißt es: »Der Körper
      Wem auch immer er gehört: Der Körper ist in unserem         ist für subjektiv sinnhaftes Handeln bedeutsam, wie er auch
 Leben omnipräsent. Nicht nur weil jeder von uns einen hat,       eine soziale Tatsache ist, die hilft, Soziales zu erklären. Der
 sondern weil die visuellen Medien uns fortwährend mit            men­schliche Körper ist Produzent, Instrument und Effekt
 Abbildungen von Körpern konfrontieren – und damit nicht          des Sozialen. Er ist gesellschaftliches und kulturelles Sym-
 nur unsere Vorstellungen davon prägen, wie ein Körper aus-       bol sowie Agent, Medium und Werkzeug sozialen Handelns.
 zusehen hat, sondern darüber hinaus auch gesellschaftliche       Soziale Strukturen schreiben sich in den Körper ein, soziale
 Konstellationen manifestieren, wie etwa das Verhältnis           Ordnung wird im körperlichen Han­deln und Interagieren
 zwischen den Geschlechtern, zwischen Angehörigen ver-            hergestellt. Sozialer Wandel wird durch körperliche Emp-
 schiedener Ethnien, zwischen Gesunden und vermeintlich           findungen motiviert und durch körperliche Aktionen ge-
 Kranken und zunehmend sogar zwischen »Leistungswilli-            staltet.« Die Autor*innen sprechen von einem »body turn«,
 gen« und »Leistungsverweigerern«.                                den die Forschung der Körpersoziologie vorantreibt. Wie
      Wie schlagen sich diese Manifestationen im Theater          zeigt sich dieser body turn im Theater? Wie manifestiert er
 und den dort agierenden Körpern nieder? Der menschliche          sich in den unterschiedlichen Sparten?
 Körper ist ein Grundelement, ja sogar eine Voraussetzung              Mit dem Themen-Schwerpunkt »Körper« setzt die dg
 des Theaters. Schließlich ist die »leibliche Ko-Präsenz«         die Reihe grundlegender Auseinandersetzungen mit den
 (Erika Fischer-Lichte), also die gleichzeitige körperliche       verschiedenen Mitteln des Theaters fort. Nach »Zeit« in
 Anwesenheit sowohl der Darstellenden als auch der Zu-            Hamburg, »Raum« in Zürich und »Sprache« in München
 schauenden, das Wesensmerkmal des Theaters, das es von           war es nur logisch, sich 2017 in Hannover mit »Körper« zu
 allen anderen Kunstformen unterscheidet.                         be­schäf­tigen. Wir danken unseren Gastgeber*innen, der
      Der Körper, der sich uns im Theater präsentiert, ist auf-   Staatsoper und dem Schauspiel Hannover. Persönlich be-
 geladen mit Bedeutungen, Zuschreibungen, Geschichten,            danken möchten wir uns bei Michael Klügl, Judith Gersten-
 Erfahrungen. Zwar handelt es sich bei den Körpern, die wir       berg und Jürgen Braasch sowie bei allen Mitarbeiter*innen
 auf der Bühne sehen, stets um individuelle Körper, doch          des Niedersächsischen Staatstheaters Hannover, die bei der
 stehen diese stellvertretend für kollektive Bilder, die wir      Vorbereitung und Durchführung der Konferenz mit­gewirkt
 vom Körper haben. Wenn wir, die Zuschauer*innen, den             haben bzw. mitwirken. Ohne das finanzielle Engagement
 Körper einer Darsteller*in, einer Sänger*in oder Tänzer*in,      des Landes Niedersachsen, der Landeshauptstadt Hannover
 ja selbst den Körper einer Puppe auf der Bühne erblicken,        sowie des Deutschen Bühnenvereins hätten wir die Konfe-
 denken wir vom ersten Moment an sämtliche Diskurse, die          renz nicht realisieren können. Hierfür ebenfalls herzlichen
 sich um den Körper ranken, mit: Ist es ein männlicher oder       Dank. Wir freuen uns zudem auf das Wiedersehen mit den
 weiblicher, kleiner oder großer, junger oder alter Körper?       Mitgliedern des Verbands Deutscher Bühnen- und Medien-
 Ist er im Vollbesitz seiner physischen Möglichkeiten oder        verlage beim neuen Format der Autor*innenbegegnungen
 krank, müde, erschöpft, beeinträchtigt? Ist er bekleidet         und dem traditionellen Verlegerempfang, sowie auf die
 oder unbekleidet? Welche Farbe hat seine Haut? Was sagt          Vorstellung der Gewinner*in des Kleist-Förderpreises für
 all das über die Person, die in diesem Körper steckt, und        junge Dramatiker*innen 2017.
 die Figur, die sie womöglich verkörpern will, aus? Und was
 sagen unsere eigenen Reaktionen, Erwartungen, Vorurteile,        Wir sind gespannt auf die leibhaftige Begegnung mit Ihnen
 Kategorisierungen, mit denen wir dem sich uns präsentie-         und Euch und auf eine inspirierende Konferenz.
 renden Körper begegnen, über uns selbst aus?                     Der dg-Vorstand

                                                                                                                                    1
inhaltsverzeichnis

                                                                 1    editorial

                                                                 5    theatergeschichte als körpergeschichte
                                                                      Barbara Gronau

                                                                 9    der sprung in die moderne welt
                                                                      kann nur körperlich sein
                                                                      Rachid Boutayeb / Michael Roes

                                                               16     parahumane konstellationen
                                                                      von körper und technik
                                                                      Karin Harrasser

                                                               23     who the fuck is jérôme bel?
                                                                      Michael Elber / Gwendolyne Melchinger

                                                               28     konferenzprogramm

                                                               30     referent*innen

                                                               33     autor*innenbegegnungen,
                                                                      internationale theaterarbeit

                                                               37     die dg

                                                               38     neues aus den arbeitsgruppen

                                                               39     dg vorstand, impressum

Theater der Zeit – Die Zeitschrift für Theater und Politik    Unser Dank gilt den Gastgebern und Förderern der Konferenz:

             Am Kiosk. Im Abo. Als App. Im Web.
                www.theaterderzeit.de/probe

                                                                                                                            3
theatergeschichte als körper-
                                                                                                                                           geschichte
                                                                                                                                               Barbara Gronau

WIR FREUEN UNS MIT DEN PREISTRÄGERN
DES DEUTSCHEN THEATERPREISES DER FAUST 2016
                                                                                                                                           d   er menschliche Körper ist seit jeher das wichtigste Aus-
                                                                                                                                               drucksmittel der darstellenden Künste. Ob im Tanz, im
                                                                                                                                               Schauspiel oder im Gesang: für jede Präsentation auf der
                                                                                                                                               Bühne ist der Körper die Basis der Darstellung. Er ist das
                                                                                                                                                                                                                und Tanztechniken wiederfinden) das Bild eines
                                                                                                                                                                                                                technischen Vehikels betont, das es zu trainieren
                                                                                                                                                                                                                und zu kontrollieren gilt, betont die Vor­stellung
                                                                                                                                                                                                                vom Körper als Medium dessen ästhetisch-trans­
                                                                                                                                               Instrument eines künstlerischen Ausdrucks und Gegen-             zendente Seite, also die Fähigkeit, etwas anderes
                                                                                                                                               stand der Zuschauerbeobachtung. Er ist die lebendige, at­        zur Erscheinung zu bringen als sich selbst. Wird
                                                                                                                                               mende, aktive Quelle von Klang, Bewegung, Rhythmus,              der Körper dagegen zum Gegenstand der Dar-
                                                                                                                                               Geruch und Sprache. Doch was genau ist ein Vorgang der           stellung (also zu deren Thema oder Sujet), lässt
                                                                                                                                                                                                                                                                      Barbara Gronau ist Professo-
                                            SÄNGERDARSTELLERIN/                                                                                »Verkör­perung«? Wer oder was setzt sich dabei in Szene?         sich in reflexiver Weise auf die Bedingungen der rin für Theorie und Geschichte
REGIE SCHAUSPIEL                            SÄNGERDARSTELLER MUSIKTHEATER               REGIE KINDER- UND JUGENDTHEATER                        Und was soll mit dem Begriff »Körper« eigentlich bezeich-        Verkörperung Bezug nehmen. Die Ak­tionskunst des Theaters an der UdK Berlin
                                                                                                                                               net werden?                                                      und Body-Art haben dies exemplarisch vorgeführt. und Sprecherin des DFG-Gradu-
Frank Castorf, „Die Brüder Karamasow“       Nicole Chevalier, Stella/Olympia/Antonia/   Liesbeth Coltof,
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin   Giulietta in „Les Contes d’Hoffmann“        „Der Junge mit dem Koffer“
                                                                                                                                                    »Die Frage, was der Körper ist, was das Lebendige ›wirk­­        »Theatergeschichte als Körpergeschichte«4 zu iertenkollegs »Das Wissen der
                                                                                                                                                                                                                                                                      Künste«. Zu ihren Forschungs-
Koproduktion der Wiener Festwochen & der    Komische Oper Berlin                        Junges Schauspielhaus Düsseldorf                       lich‹ ist«, so der Historiker Philipp Sarasin, »scheint keine    be­trachten – wie Erika Fischer-Lichte angeregt hat –
                                                                                                                                                                                                                                                                      schwerpunkten gehören
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin                                                                                                      lösbare Frage zu sein; entscheidend ist daher, welches Bild –    heißt also zu fragen, welche Körperkonzepte und Schnittstellen von Bildender
                                                                                                                                               in einem Text, als visuelle Abbildung oder als Inszenierung –    Körperbilder es in der jeweiligen Zeit gibt und wie Kunst und Theater, Theorien der
                                                                                                                                               wir uns von dem Körper machen, von dem wir sagen, es             diese sich in theatralen Prozessen niederschlagen. Agency und Performanz sowie
DARSTELLERIN/DARSTELLER
SCHAUSPIEL                                  CHOREOGRAFIE                                BÜHNE/KOSTÜM
                                                                                                                                               sei unserer.«1                                                   Wie setzen die theatralen Praktiken den Einzelnen Epistemologien des Ästheti-
                                                                                                                                                                                                                                                                      schen. Daneben Dramaturgin in
                                                                                                                                                    Ich möchte im Folgenden zeigen, dass sich am Theater        und die Gemeinschaft bzw. das Individuum und
                                                                                                                                                                                                                                                                      verschiedenen Theaterprodukti-
Edgar Selge, François in „Unterwerfung“     Alexander Ekman, „COW“                      Achim Freyer, „Esame di mezzanotte“                    in exemplarischer Weise Wissensformationen des Kör­pers,         die Masse ins Verhältnis? Welche gesellschaftli- onen und Kuratorin
Deutsches Schauspielhaus Hamburg            Sächsische Staatsoper Dresden               Nationaltheater Mannheim                               das heißt Körperdiskurse und Körperbilder zeigen und             chen und politischen Normen bzw. Normbrüche internationaler Theaterfestivals.
                                                                                                                                               kon­text­ualisieren lassen. Denn Theatergeschichte ist nicht     lassen sich an den Theaterformen der jeweiligen
                                                                                                                                               nur Dramen-, Architektur-, Schauspiel- oder Kostüm­ge­           Zeit ablesen? Und welche Dimensionen von Körperlichkeit
                                                                                                                                               schichte, sondern in diesen und durch diese hin­durch            lassen sich dabei überhaupt analysieren?
REGIE MUSIKTHEATER                          DARSTELLERIN/DARSTELLER TANZ                PREIS FÜR DAS LEBENSWERK                               vor allem Körpergeschichte. Im Theater werden wir Zu­                 Zunächst ist dies eine biologische Dimension, die im
                                                                                                                                               schau­er­ *innen zu Zeug*innen und Teilnehmer*innen von          Rahmen naturwissenschaftlicher, philosophischer, religi-
Peter Konwitschny, „La Juive“               Aloalii Naughton Tapu in                    Hans Neuenfels
                                                                                                                                               »Kör­perinszenierungen«2, das heißt von zeichen­haften           öser und medizinischer Diskurse festlegt, was innerhalb
Nationaltheater Mannheim                    „Urban Soul Café”                           Mit der Verleihung des FAUST-Preises 2016
                                            Ballhaus Ost Berlin                         würdigt die Jury ein künstlerisches Lebenswerk         und materiell-medialen Erscheinungsweisen des Kör­pers.          einer Kultur als Körper gilt und wie er zu behandeln ist. Das
                                                                                        von außergewöhnlicher Intensität, Vielfalt und         Unsere Wahrnehmung richtet sich auf Akte der Figu­ration         Katharsiskonzept der Antike ließe sich hier als ein frühes
                                                                                        öffentlicher Wirkungsmacht. Bis heute treibt           und der Performanz, also auf ein Form- oder Figur­werden         Beispiel einer humoralpathologischen Körpervorstellung
                                                                                        Hans Neuenfels als Regisseur von Schauspiel            im Akt der Darstellung im Rahmen öffentlicher Auffüh-            anführen, die zugleich als erste Wirkungstheorie des Thea­
                                                                                        und Oper, als Dichter, Schriftsteller und Filme-
                                                                                                                                               rungen. Genau diese Figurationsprozesse werden seit dem          ters gelten kann.5
                                                                                        macher die zeitgenössische Weiterentwicklung
                                                                                        der darstellenden Künste voran. Mit seinem             18. Jahrhundert mit dem Begriff »verkörpern« bezeichnet:              Darüber hinaus gilt es eine sozial-gesellschaftliche Di­
                                                                                        Wirken inspiriert er ganze Generationen von            etwas versinnlichen, verwirklichen, Gestalt anneh­men oder       mension zu entschlüsseln, die den kulturellen Stellenwert
                                                                                        Künstlern.                                             übertragen.3 Welche ästhetischen und politischen Stra­           des Körperlichen und die damit verbundenen Gren­zen,
                                                                                                                                               te­gien diesen Prozessen zugrunde liegen, lässt sich nur         Ta­bus, Restriktionen oder Utopien festlegt. Hier sei daran
                                                                                                                                               über exemplarische Analysen historischer Kon­stellationen        erinnert, dass Schau­spieler*innen von der Frühen Neuzeit
                                                                                                                                               entschlüsseln. Denn den allgemeinen Tänzer*innen- oder           bis weit in das Barockzeitalter zumeist als ständeloses, um-
WIR BEDANKEN UNS BEI ALLEN PARTNERN UND FÖRDERERN                                                                                              Schauspieler*innenkörper gibt es eben nicht. Und zwar            herfahrendes Volk – das durch die Zurschaustellung des
                                                                                                                                               nicht nur, weil Verkörperung stets ein individueller Akt         Körpers Geld verdiente – mit Prostituierten und Henkern
                                                                                                                                               ist, sondern weil zu jeder Zeit die Frage, was ein Körper        gleichgesetzt und deshalb nach ihrem Tod nicht in der »ge-
                                                                                                                                               ist und welche Funktion er für die künstlerische Darstel-        weihten Erde« christlicher Friedhöfe begraben wurden. Die
                                                                                                                                               lung hat, anders beantwortet wird. So ist es ein großer          abendländische Devaluation des Körperlichen bei gleich-
                                                                                                                                               Unterschied, ob der Körper als Material, als Gegenstand,         zeitiger Faszination für dessen Effekte schlägt sich in den
                                                                                                                                               als Instrument oder als Medium der künstlerischen Darstel-       Theaterverboten und -restriktionen der Zeit nieder.6
                                                                                                                                               lung begriffen wird. Während die Figur des instrumentel-              Des Weiteren lassen sich Erkenntnisse über die semio-
                                                                                                                                               len Gebrauchs (die wir in zahlreichen Schauspieltheorien         tische Dimension von Körperlichkeit gewinnen: Wodurch

                                                                                                                                                                                                                                                                                                       5
IEBSTEN ICH
                                                                                                                                                                                                                                                      A M L
                                                                                                                                                                                                                                                           N E RE    MICH
                                                                                                                                                                                                                                                    ERIANN DIE ZUKUNFT

                       wird ein Körper auf der Bühne zu einem Zeichen? Welchen          die Vorstellung von Erinnerung und Gedächtnis in der je-
                       semiotischen Regeln folgt die Darstellung? Wann verschie-        weiligen Kultur? (So zielen etwa die ars-memoriae-Tradition
                       ben sich diese Regeln und wodurch? Hier gibt die Analyse         der Rhetorik und das Wortgedächtnis im Theater darauf
                       historischer Schauspieltheorien wichtige Einblicke in die        ab, mittels bestimmter Techniken eine Speicherung und
                       historischen Vorstellungen von Präsenz und Repräsenta­          Weitergabe von Wissensformen im und durch den Körper
                                                                                                                                                                                                                                                                       L ZEIT
                                                                                                                                                                                                                                                                     E      7
                                                                                                                                                                                                                                                                 SPI16/201
                       tion. So spiegelt sich in der starken Kodifizierung von Kör-     zu ermöglichen.)9

                                                                                                                                                                                                                                                                  20
                       per und Bewegung, die etwa im Schauspiel des 17. Jahrhun-            Vor allem aber ist es unumgänglich, die Gender-Dimen­
                       derts üblich war, die Verbindung von antiker Rhetoriklehre       sion kör­perlicher Darstellungsprozesse zu reflek­t ieren:
                       mit der höfischen Repräsentationspolitik des Barock.            ­Welche Geschlechterbilder dominieren die Bühnen-Dar-
                             Ebenfalls gilt unser Blick der materiellen Dimension       stellung und deren Wahrnehmung? Welche kulturellen
                       des Körperlichen: Wie werden die visuellen, akustischen,         Nor­mierungen drücken sich darin aus und wodurch wer-
                       haptischen und olfaktorischen Äußerungen des Körpers             den diese befördert oder destabilisiert? Hier sei an den                                                                                                          DIE PREMIEREN
                       in Szene gesetzt? Welchen Stellenwert hat die individuelle       Zusammenhang von Natürlichkeitsdispositiv und Weiblich­
                       Leiblichkeit einer Tänzer*in, Sänger*in oder Darsteller*in?      keit im bürgerlichen Theater der Aufklärung ebenso erin-                                                                                             02.10.2016   DIE GESCHICHTE VON LENA (10+)
                                                                                                                                                                                                                                                          von Michael Ramløse & Kira Elhauge
                       Auch wenn die materielle Dimension stets als Be­dingung          nert wie an die Tradition der Diva als medialer Figur der
                       und Kon­t rapunkt des Semiotischen gelten kann, ist es           Normüber­schreitung oder an die »Verqueerung« normativer                                                                                             08.10.2016   SAMSTAG IN EUROPA (UA)
                                                                                                                                                                                                                                                          GEFÄHRLICHE BEGEGNUNGEN
                       doch auf­schlussreich, solche historische Verschiebungen         Geschlechterverhältnisse in »Possen des Performativen«.10                                                                                                         von Sedef Ecer & Dagrun Hintze
                       zu analysieren, die der Materialität des Körpers einen ho-
                                                                                                                                                                                                                                             14.10.2016   DIE STERNSTUNDE DES JOSEF BIEDER
                       hen Stellenwert gegenüber dem Semiotischen einräumen.                                                                          1 Philipp Sarasin: »Der öffentlich sichtbare Körper«, in: Ders., Jakob Tanner (Hg.):
                                                                                                                                                                                                                                                          von Eberhard Streul & Erich Syri
                                                                                                                                                      Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftli-
                       Das zeitgenössische »postdramatische Theater« hat im
                                                                                                                                                      chung des Körpers im 19. und 20 Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1998, S.                  26.11.2016   SPRICH ODER STIRB
                       An­schluss an die Körperexperimente der Body-Art eine                                                                                                                                                                              SCHEHERAZADE OHNE WORTE
                                                                                                                                                      419 – 452, hier S. 420.
                       Fülle solch repräsentationskritischer Verfahren entwickelt.7                                                                                                                                                                       Stückentwicklung
                                                                                                                                                      2 Erika Fischer-Lichte, Anne Fleig (Hg.): Körper-Inszenierungen. Präsenz und
                             Nicht zuletzt sind es die ökonomischen und energe-                                                                       kultureller Wandel, Tübingen 2000.                                                     27.11.2016   KÖNIG DER KINDER: MACIUS! (8+)
                       tischen Dimensionen des Körpers, die in thea­ter­his­to­                                                                       3 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Stichwort
                                                                                                                                                                                                                                                          von Katrin Lange nach Janusz Korczak
                       rio­grafischen Untersuchungen analy­siert werden können.                                                                       »verkörpern«, Bd. 25, Sp. 681 – 683, Stuttgart 2008.                                   11.01.2017   AGNES
                       Welche physiologische Vorstellung von Bewegung, Ener­gie                                                                       4 Vgl. Erika Fischer-Lichte: »Theatergeschichte als Körpergeschichte«, in: Dies.:                   von Peter Stamm
                       und Transformation bestimmt die jeweilige Epoche? Wel-                                                                         Theater im Prozess der Zivilisation, Tübingen/Basel 2000, S. 9 – 24.                   25.02.2017   NATHAN DER WEISE
    Der Text ist erschienen in: che Vor­stellung von Präsenz, Intensität, Verschwen-                                                                  5 Vgl. Manfred Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie,                                 von Gotthold Ephraim Lessing
Körper/Denken. Wissen und dung oder Zurückhaltung herrscht für die Bühne?                                                                             Darmstadt 1973; Matthias Luserke (Hg.): Die Aristotelische Katharsis,                  01.07.2017   MOLIÈRE
       Geschlecht in Musik, Bezeichnenderweise hat gerade das zeitgenössische                                                                         Hildesheim 1991                                                                                     Stückentwicklung
Theater, Film, hg. von Andrea
                                Theater eine Vielzahl von Gesten entwickelt, in de-                                                                   6 Vgl. dazu: Wolfgang Hartung: Die Spielleute. Eine Randgruppe der
         Ellmeier und Claudia                                                                                                                         Gesellschaft des Mittelalters, Wiesbaden 1982; Stefanie Diekmann, Gabriele
  Walkensteiner-Preschl, mdw
                                nen der Körper sich durch exzessive Bewegungen                                                                                                                                                               ab Okt. 2016 BOULEVARD ULMER STRASSE
                                                                                                                                                      Brandstetter, Christopher Wild (Hg.): Theaterfeindlichkeit, München 2012.
Gender Wissen Band 6, Wien: sichtbar energetisch verausgabt: langes, ausdauern-                                                                                                                                                                           Ganzjähriges Bürgertheater
                                                                                                                                                      7 Vgl. dazu Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.
                Böhlau Verlag des Stehen ohne sich zu rühren, das Halten des Kör-
                                                                                                                                                      M. 1999; Jenny Schrödl: Vokale Intensitäten. Zur Ästhetik der Stimme im                ab Feb. 2017 HAUSBESUCH EUROPA
                                pers im Ungleichgewicht, rhythmisches Stampfen                                                                        postdramatischen Theater, Bielefeld 2012.                                                           von Rimini Protokoll
                       und Schreien, aber auch Rennen, Klettern, Rutschen oder                                                                        8 Barbara Gronau: »Immaterialität und Übertragung. Das Energetische
                       Tanzen bis zur völligen Erschöpfung. Hier geht es um das                                                                       und seine Inszenierungen«, in: Dies. (Hg.): Szenarien der Energie. Ästhetik
                       öffentliche Austesten energetischer Transformationspro-

                                                                                                                                                                                                                                                                      25
                                                                                                                                                      und Wissenschaft des Immateriellen, Bielefeld 2013, S.111 – 130.
                       zesse, die als gesellschaftliche Resonanzen ökonomischer                                                                       9 Vgl. stellvertretend: Frances A. Yates: Gedächtnis und Erinnern, Berlin
                       Verhältnisse gewertet werden müssen.8                                                                                          2001 (The art of memory, Chicago 1966); Aleida Assmann: Erinnerungsräume.
                             Schließlich gilt es die epistemologische und mnemo-                                                                      Formen und Wandel des kulturellen Gedächtnisses, München 1999;                                                  JAHRE
                                                                                                                                                      Viktoria Tkaczyk: »Theater und Wortgedächtnis: eine Spurensuche nach der
                       technische Dimension des Körperlichen in den Blick zu
                                                                                                                                                      Gegenwart«, in Erika Fischer-Lichte et al. (Hg.): Die Aufführung: Diskurs
                       nehmen: Welches Wissen und welche kulturellen Erfah-                                                                           – Macht – Analyse, München 2012, S. 275 – 289.                                                           Künstlerische Leitung:
                       rungen werden im Körper einer Darsteller*in gespeichert?                                                                       10Vgl. Katharina Pewny: Ihre Welt bedeuten. Feminismus, Theater,                          Tonio Kleinknecht, Tina Brüggemann, Winfried Tobias
                       Wie werden Darstellungstraditionen diskursiv und habi­tu­ell                                                                   Repräsentation, Königstein 2002; Gini Müller: Possen des Performativen.
                       weiter­gegeben? Welche Rolle spielen theatrale Praktiken für                                                                   Theater, Aktivismus und queere Politiken1 Wien 2008.                                           THEATERAALEN.DE

6
der sprung in die moderne welt
kann nur körperlich sein
    Rachid Boutayeb / Michael Roes

r   achid Boutayeb: Bevor ich auf meine Vorstellung vom
    Polytheismus eingehe, möchte ich erst mal etwas über den
    Körper in der islamischen Kultur sagen. Ich möchte erklä-
                                                                    der sexuellen Beziehung. »Ein Krieg gegen die Sinne«, be-
                                                                    schreibt Farid Zahi diese Einmischung Gottes! Und er meint
                                                                    damit, dass die Befreiung bzw. die Säkularisierung des
    ren, warum ich meinen eigenen Körper erst in Europa als         Kör­pers einer Abschaffung des Göttlichen gleicht. Deshalb
    frei und souverän erlebt habe. Ich konnte meinem Körper         versucht die Religion, den Körper zu verstecken, zu
    nur im Versteckten freien Lauf lassen. Einen öffentlichen       unterdrücken und zu vermummen. Der Sprung in
    Kuss haben die Araber zum ersten Mal im Kino gesehen,           die moderne Welt kann nur körperlich sein, und
    in einem ägyptischen Film aus dem Jahr 1928 mit dem Titel       Freud hat zweifellos recht, wenn er davon spricht,
    Ein Kuss in der Wüste, und mit dem Kuss haben sie auch das      dass sich zunächst der Körper befreie, bevor der
    Kino, die Musik und den weiblichen Körper entdeckt. Der         Geist folge.
    Kontakt mit dem europäischen und amerikanischen Kino                 Nun möchte ich zu dem Kernbegriff meiner
    hat diese Entwicklung erlaubt. Um den Körper, den eige-         These zu­r ückkehren. Ich muss erst mal betonen,
                                                                                                                         Rachid Boutayeb, geboren in
    nen Körper zu entdecken, braucht man diese Begegnung            dass ich den Monotheismus nur als eine Form der
                                                                                                                         Marokko, studierte Arabistik
    mit dem Anderen. Die sozialistische Revolution sowie die        Re­li­giosität verstehe und nicht als die Religion und Islamwissenschaften,
    Ent­stehung und Verbreitung des Islamismus haben diese          schlecht­hin. Die Religion ist kein geschlossenes Philosophie, Soziologie und
    An­f änge der Freiheit im Keim erstickt. Die Revolution hat     Werk. Leben­dig ist die Religion, wenn man sie Politikwissenschaften. Er promo-
    den Körper nur als Bauteil einer Maschine verstanden. Die       immer neu schreibt und immer wieder neu ent- vierte an der Goethe-Universität
                                                                                                                         Frankfurt a. M. mit einer Arbeit
    Be­mäch­tigung des Körpers ist nicht nur religiös. Sämtliche    deckt. Wir haben eine polytheistische Entwicklung
                                                                                                                         über den französischen
    totalitären Ideologien, seien sie nun religiös oder welt­lich   inner­halb des Christentums erlebt, wie wir sie im Philosophen Emmanuel Levinas.
    geprägt, bemühen sich stets, den Körper in all seinem Tun       Islam nicht erlebt haben. Ich glaube, dass der Islam Zuletzt erschienen: German
    und Lassen zu zähmen. Der Körper hat in der sun­nitischen       in dieser Hinsicht vieles vom heutigen Christen- Dream, eine philosophische
    Orthodoxie keine Unabhängigkeit. Er ist das Un­sagbare,         tum lernen könnte. Ich bin ein Muslim, der sich Satire, Alibri 2015
    Unterdrückte, Verschwiegene. Er wird tot­geschwiegen. Im        dem heutigen Christentum näher fühlt als seiner
    Islam als einer Religion, die Göttliches und Men­schliches      eigenen Religion, wie man sie heutzutage in der
    strikt voneinander abgrenzt, kommt dem Spirituellen             arabischen Welt praktiziert.
    stets oberste Priorität zu. Diese dominante Sicht­wei­se
    wiede­r um führt zu einer Reduzierung des Körpers, des-         Michael Roes: Lieber Rachid, ich bin deinen Aus­
    sen Bän­digung und Unterwerfung sie gleichzeitig fordert,       füh­run­gen zur Stellung des Körpers in der islami-
    auf einige wenige Funktionen. Der Körper wird in dieser         schen Kultur mit Spannung gefolgt und stimme dei­
    streng bipolaren Logik folgerichtig als dem Sakralen un-        ner Deutung uneingeschränkt zu. Wider­sprechen
    tertan betrachtet, er muss diesem zu Diensten sein und          möchte ich dir aber in deiner Darstellung des Chris-
    hat sich religiösen Regeln unterzuordnen. In dieser Auf-        tentums, dem du eine Sonderrolle inner­halb der
    fassung von Körperlichkeit, wie wir sie in den gesamten         monotheistischen Religionen zusprichst, näm­lich
    klassischen Werken der großen islamischen Theologen             eine Entwicklung hin zu einem neuen Polytheismus.          Michael Roes studierte
    wie al-Ghazali, al-Siouti und Ibn Taimiya finden, geht es,      Das Gegenteil ist der Fall! Zum einen unterscheidet        Psychologie, Philosophie und
    wie unser Freund Farid Zahi schreibt, immer nur um »den         sich die Auffassung von Körperlichkeit, wie du sie         Germanistik. Als Regie- und
    Körper im Dienste des Sakralen«. Der Körper besitzt kein        in den klassischen Werken von Al-Ghazali bis Ibn           Dramaturgieassistent arbeitet er
                                                                                                                               an der Schaubühne und den
    eigenständiges Handlungsrecht und darf schon gar nicht          Taimiya findest, im Wesentlichen nicht von jener
                                                                                                                               Münchner Kammerspielen.
    seinen Launen oder Gelüsten nachgeben. Ein Körper also,         des Paulus, des Augustinus oder Benedikts XVI .            2012 – 2013 Research Fellow am
    der seine Eigenständigkeit und Freiheit gegenüber dem Sa-       Und unter dem Druck des Dialogs mit den mono-              Internationalen Forschungskol-
    kralen noch nicht entdeckt hat, der lediglich dem Ausdruck      theistischen Bruderreligionen ist die Trinitätsleh-        leg »Verflechtungen von
    einer höheren spirituellen Absicht dient. Man hat es hier       re längst in die platonische Idee des Einen, Guten         Theaterkulturen« der FU Berlin.
                                                                                                                               Mitglied des PEN-Zentrums
    mit einem »entkörperlichten« Körper zu tun. Die religiö­        eingeschmolzen. Nein, das fragwürdige Konstrukt
                                                                                                                               Deutschland; veröffentlichte
    sen Vorschriften bestimmen das Leben und den Tod die-           der Trinität ist weder der Keim eines verborgenen          Romane und Theaterstücke und
    ses Körpers. Der Gott, der Eifersüchtige, mischt sich auch      Polytheismus, noch rettet es den Körper vor sei-           führte Regie bei Dokumentar-
    beim Geschlechtsakt ein und bestimmt die Art und Weise          ner Ab- und Entwertung. Das Wort ist nur Fleisch           und Spielfilmen.

                                                                                                                                                             9
geworden, um am Kreuz zu enden. Der eine, eifersüchtige       darfst mich nicht in Frage stellen, darfst mich nicht begreifen!   dem Bett meiner Eltern habe ich mich versteckt und nach            und nicht dem Buchstaben nach!«, schreibt Paulus, der
     Gott ist kon­fessionsübergreifend, sein patriarchalischer     Da­bei ist es doch ganz einfach: Es gibt nichts zu benen-          kurzer Zeit tief geschlafen, vielleicht um die Gefahr für eine     Chefideologe einer neuen jüdischen Sekte, an die römische
     Zugriff auf unsere Körper unterscheidet sich in den gro-      nen, nichts zu befragen, nichts zu begreifen. Es gibt nur ein      Weile zu vergessen. Im Schlaf habe ich gesehen, wie ich wie        Gemeinde (Römer 2,28–29).
     ßen monotheistischen Religionen nicht. Er ist nicht nur       fun­da­mentales Interesse der Priester und Väter, diesen           ein verlorener Hund durch die Stadt rannte, verfolgt von                Zweifellos geht es also auch um eine Verletzung der
     derjenige, der uns unserer Körper entfremdet. Er selbst       Phan­tom­schmerz aufrechtzuerhalten. Was sich vom Körper           einem Hubschrauber, einem großen Hubschrauber, der                 Seele. Traditionell fand die Beschneidung ja nicht an Neu-
     ist der Große, der absolute Fremde, eben weil er selber       sagen lässt, betrifft im selben Maß die Sprache: ihre In­          mir den Himmel verdeckte. Ich werde diesen Traum – im              geborenen statt, sondern war ein vorpubertärer Akt, ein
     keinen Körper hat. Der Körper ist das Vertraute, das uns      besitznahme, Einhegung und Entkörperlichung durch die              Gegensatz zu vielen anderen Träumen und Albträumen mei-            Mannbarkeitsritus. Und bevor wir ihn psychosozial oder gar
     Menschen Gemeinsame. In ihm liegt alle Hoffnung auf           Göt­ter bzw. ihre irdischen Stellvertreter. Auch die Sprache       nes Lebens – niemals vergessen, wie ich auch den Schmerz           metaphysisch interpretieren, müssen wir uns zunächst klar
     Verständigung, auf Begreifen, Annehmen und Hingeben           hat einen Körper, bedarf einer Entsakralisierung, einer            der Beschneidung immer in mir tragen werde.                        machen, was hier eigentlich geschieht: Sie ist ein gezielt­er
     begründet, denn diese eine Körper-Erfahrung teilen wir,       Er­dung, damit wieder sagbar wird, was sagbar ist, ohne                An jenem Tag, wie ich später erfahren sollte, kehrte           ver­letzender Angriff auf das Organ unserer Lust, damit
     allen unterschiedlichen Sprachen und Kulturen zum Trotz,      (Selbst-)Zensur. Sprechverbote und Empfindungsverbote              der Friseur (im Marokko der siebziger Jahre waren es vor           fort­an Lust mit Schmerz verbunden und vom technischen
     miteinander. Deshalb sind die Götter eifersüchtig. Deshalb    gehen Hand in Hand. (…)                                            allem traditionelle Friseure, die den Beschneidungsakt aus-        Akt der Zeugung getrennt sei.
     setzt jeder Akt der Unterwerfung mit dem Schinden und                                                                            führten) in seinen Laden zurück, ohne mich beschnitten                  Verstehen kann man diesen Angriff auf unsere Lust
     Schänden des Körpers ein. Weil Gott keinen Körper hat,        Rachid Boutayeb: Lieber Freund, du willst eher über den            zu haben.                                                          nur als Resultat der eigenen sadistischen Impulse, vor al-
     und damit keinen Sinn, zwingt er auch uns zur Körperver-      Menschen reden, aber ist eine Rede über den ­Menschen                                                                                 lem aber als Angst vor dem der Lust inhärenten Veränder­
     leugnung. Die »Fleischwerdung« Gottes im Christentum          ohne das Göttliche möglich? Ich zweifle an dieser Möglich­         Michael Roes: Lieber Rachid, womöglich hast du Recht,              ungspotenzial: Das freischwebende Begehren könnte Ge-
     und ihr Ende in Folter und Hinrichtung kann drastischer       keit. Zumindest in der zirkulären Weltsicht des Monotheis-         Beschneidung trägt den doppelten Charakter eines Opfers            meinschaften sprengen und Regime stürzen, würde man
     die Totalität des Körperopfers für das Seelenheil nicht be-   mus ist der Mensch nur eine blasse Version des Göttlichen.         und einer Initiation. Was wird geopfert? Es lässt sich ge-         ihm nicht von Anfang an schmerzhafte Zügel anlegen. Nur
     schreiben. Alle Emanzipationsschritte zur Rückgewinnung       Nur in seiner Abwesenheit, in der Abwesenheit seiner Si-           nau benennen: Geopfert wird ein wesentlicher Teil unserer          durch das Einfrieren dieses Potenzials können die Macht-
     unserer körperlichen Autonomie und Integrität sind der        gnatur, wie Khatibi schreibt, in der Abwesenheit seiner            Lust / unseres Lustempfindens; geopfert wird ein Teil des          strukturen einer Gesellschaft stabil gehalten werden.
     christlichen Orthodoxie abgetrotzt. Und ihr Widerstand, ei-   Freiheit und in seiner Anwesenheit im Gläubigen erlangt            Ichs, ein Teil der alten Identität für die vollgültige Mitglied-        Eine Ordnung ohne Beschneidung indes ist nicht nur
     niger marginalisierter Dissidenten ungeachtet, ist nach wie   der Mensch seine Existenz. Nur innerhalb unseres Gedächt-          schaft im eigenen Clan.                                            denkbar, sondern für eine auf beschleunigte Veränderungs-
     vor ungebrochen. Die Beispiele, vor allem unsere Sexualität   nisses, das nicht nur Mündliches und Schriftliches, sondern             Die Beschneidung ist ein tribaler Ritus. In ihm geht es       prozesse angewiesene Gemeinschaft wie die westlich­en
     betreffend, müssen hier nicht einzeln aufgeführt werden,      auch Riten und Gebräuche wie die Beschneidung enthält,             um das Einfrieren adoleszenter Energien, um Disziplinie-           In­dus­trie­gesellschaften sogar erwünscht. So hat der Westen
     sind sie doch seit zweitausend Jahren im Wesentlichen die-    die sich in unseren Körper einschreibt.                            rung, Körperbeherrschung und Unterordnung des eigenen              einen wesentlichen Teil traditioneller Initiationsriten abge­
     selben geblieben. Eine Aufspaltung unserer Wirklichkeit           Wir erleben das Göttliche als Gewalt gegen den eigenen         Begehrens unter die Herrschaft der sozialen Gruppe, zu-            schafft oder verwässert, mit der Folge, dass es scheinbar
     in Irdisches und Transzendentes zieht unweigerlich eine       Körper. In dieser Urgewalt, die das ganze Leben zutiefst           nächst einmal verkörpert durch den eigenen Vater.                  keine eindeutigen Beschränkungen der Lust und keine kla-
     Aufspaltung unseres Selbst in einen (uns korrumpierenden)     prägt, findet jede aposteriorische Gewalt ihren Ursprung.              Abraham war der erste Beschneider, der an sich und             ren Übergänge zwischen Altersstufen und sozialen Grup-
     Körper und eine (um jeden Preis zu rettende) Seele nach       Deshalb ist die Politik innerhalb der Weltsicht des Mono­          alles Männliche in seinem Herrschaftsbereich das Mes-              pen mehr gibt. Doch frei von Übergangsriten ist auch der
     sich. Wenn wir diese Aufspal­tung un­seres Selbst heilen      theismus nur als Beschneidung zu verstehen. Alles ist Be-          ser setzte. So ist sie von ihrem Gründungsmythos an als            Westen nicht, allenfalls kommen sie in einem subtileren
     wollen, müssen wir zunächst die Zer­splitterung unserer       schneidung. Durch Beschneidung erlangt die Weltsicht des           stellvertretendes Sohnesopfer gedacht. Der Zwiespalt des           oder bunteren Gewand daher, als schulische Prüfung zum
     Wirklichkeit (in Erfahrbares und zu Glaubendes) aufheben.     Monotheismus ihre Zirkularität und damit ihre Herrschaft           Patriarchen besteht darin, dass er einerseits den eigenen          Beispiel, die bei vielen Schülern ja kaum weniger Ängste
     Gott ist es, der sich zwischen uns und unseren Körper, den    über den Körper und die Seele. Die Beschneidung stellt             Sohn tot wünscht, weil in ihm ein potenzieller Rivale heran­       und Fluchtfantasien auslöst als deine Beschneidungspanik.
     eigenen und den der anderen, stellt. Der Andere, Fremde       eine Art Körpergedächtnis dar, und ohne Gedächtnis ist die         wächst, andererseits aber in ihm fortleben und der eigenen              Wenn das Ziel der Beschneidung die körperliche und
     ist ja nicht wirklich, das heißt un­überbrückbar fremd. Das   Religion machtlos. Die Beschneidung verhindert das Ver­            Sterblichkeit entkommen will. Auf dem Beschneidungs-               seelische Traumatisierung ist, können wir uns fragen, ob
     Wesentliche zur Ver­ständigung und Nähe teilen wir mitein­    gessen, das einer Sünde gleicht, und der Körper ist nichts         messer des Mohel, des jüdischen Beschneiders, ist bis heute        nicht hinter einem Teil manifester Traumata versteckte
     ander. Er wird nur dann vollkommen fremd, wenn Gott,          anderes als ein Gedächtnis.                                        üblicherweise die Opferung Isaaks dargestellt. Und die             Beschneidungs- oder Mannbarkeitsriten stecken. Ich denke
     der absolute Fremde, ins Spiel kommt und sich zwischen            Das Leben bleibt im Gedächtnis gefangen. Wir müssen            Knie des Paten, auf denen der zu beschneidende Knabe               dabei zum Beispiel an die vielen traumatisierten Kriegs-
     uns stellt. In gewissem Sinne krankt sogar unser Dialog an    das Vergessen üben! (…)                                            festgehalten wird, symbolisieren die Altarsteine, auf denen        heimkehrer. Womöglich ist die Traumatisierung ja nicht
     dieser sinn-losen Einmischung Gottes. Ich kann deinem             Eines Tages erzählte mir ein Cousin heimlich, dass man         Abraham seinen Sohn schlachten wollte.                             nur ein bedauerlicher »Kollateralschaden«, sondern neben
     Festhalten an einer (polytheistischen) Transzendenz nur       mir den Penis beschneiden werde. Er hatte das Gleiche vor               Und von Anfang an wurde mit der Verstümmelung ei-             dem strategischen Training immer auch ein wesentlicher
     zuhören, kann ihr aber nicht folgen. Es entzieht sich mei-    drei Jahren erlebt. Einen Monat lang musste er sich sogar          nes wesentlichen Teils unseres Körpers die Beschneidung            Teil soldatischer Erziehung. In gewisser Hinsicht erscheint
     ner Sprache, damit meinem Nachdenken und, ja, meiner          auf allen Vieren bewegen. Ich hatte Angst, das zu erleben,         des Geistes mitgedacht: »Denn nicht der ist Jude, der es           mir der Soldat als die Reinform des beschnittenen Sohnes.
     Er­f ahrung. Womöglich begründet das ja das Geheimnis         was der Cousin erlebt hatte. Ich musste mich schützen.             nach außen ist, und nicht das ist Beschneidung, die nach           Einer­seits soll er alle Erwartungen an männliche Wild-
     göttlicher Virulenz: seine sprachliche und argumentative      Allein und machtlos habe ich mich gefühlt, verlassen von           außen im Fleische ist, sondern der ist Jude, der es im Innern      heit, Härte, Abenteuerlust und Todesverachtung erfüllen,
     Un­f ass­barkeit. Du darfst mich nicht beim Namen ­nennen,    der ei­genen Familie. Ich hatte aber eine geniale Idee. Unter      ist, und Beschneidung ist die des Herzens, dem Geiste              und zugleich wird er mit aller Macht zugerichtet, dieses

10                                                                                                                                                                                                                                                                       11
Poten­zial zu beherrschen und einer Fremdbestimmung zur
                    Verfügung zu stellen.
                        Ein »richtiger« Mann ist nach wie vor ein kranker
                    Mann: ein gehorsamer, amoklaufender Krieger, ein über
                    sich hinaus­wachsender, sich vergewaltigender Athlet, ein
                    furcht­loser, selbstmordgefährdeter Held.

                    Rachid Boutayeb: … und ein Selbstmordatten­t äter oder
                    ein Märtyrer! Märtyrer ist nur ein anderer Name für den
                    Mörder! Und alle – der Selbstmordattentäter aber vor allen
                    anderen – hassen die Lust; die eigene Lust und die der An­
                    deren. Der Monotheismus als lustfeindliche Religion ist ein
                    Hass auf die Anderen, weil der Monotheist die Wahrheit zu
                    besitzen glaubt, und Wahrheit ist ein Gewaltakt.
                         Lieber Freund, Deine Worte haben mir geholfen, den
                    Akt der Beschneidung, den ich als Fünf- oder Sechsjähriger
                    erlebt habe, besser zu verstehen, »ein gezielter verletzender
                    Angriff auf das Organ unserer Lust«, weil die Lust, wie du
                    es treffend beschreibst, Veränderungspotenzial beinhaltet.
                    Aber der Monotheismus lehnt jede Form der Erneuerung ab.
                         Die gewaltige Sozialisation innerhalb des Monotheis-
                    mus bezweckt am Ende die Schaffung einer gleichförmigen
                    kollektiven Identität der Gesellschaftsmitglieder und die
                    Verfestigung dieser Identität durch Beschneidung und an-
                    dere gewalttätige Mittel. Die Werte der Differenz werden
                    innerhalb dieser Weltsicht diabolisiert. Wir müssen alle
                    denselben Penis haben! Wir sind auserwählt! Das Gedächt-
                    nis besitzt in diesem Zusammenhang das erste und letzte
                    Wort. Im Ausgang dessen kann man auch die Herabstufung
                    des Weiblichen verstehen. Das Gedächtnis ist maskulin,
                    aufdringlich, herrschaftssüchtig, penisförmig! (…)

 Auszüge aus dem Buch Der
   eifersüchtige Gott: Ein
     Gespräch, Alibri 1013.
            (Seiten 29 – 34)

12
parahumane konstellationen
                von körper und technik
                     Aktive Mimesis und tumultuöse Partnerschaften
                     Karin Harrasser

         d              ie fortgesetzte Vermischung von Körpern und Maschinen,
                        wie wir sie derzeit beobachten, läuft nicht schicksalhaft auf
                        eine restlose Vertilgung des Biologischen hinaus, wie es die
                        Transhumanisten projektieren; aber Technik ist ebenso-
                                                                                        Lebens unternommen hat. Insbesondere berichtet er über
                                                                                        Reisen und Wanderausflüge, die er alleine oder mit seinem
                                                                                        Freund unternahm. Bemerkenswert an seinen Erzählungen
                                                                                        ist, dass er einen Aspekt bei Darwin betont, der gerne her-
                                                                                                                                                          und das seither gehegt, gepflegt und laufend modifiziert
                                                                                                                                                          wurde. Als die Schuhe anfangen zu zerfallen, begegnet
                                                                                                                                                          der Autor zunächst einer gut geölten sozial- und medizin­
                                                                                                                                                          technischen Maschine: Er muss eine Verschreibung vor-
                                                                                                                                                                                                                          with two spokes, his legs, and two fragments of a tire, his
                                                                                                                                                                                                                          feet. He rolls successively on each of these fragments from
                                                                                                                                                                                                                          heel to toe.« Im Text wird dann sukzessive der Unterschied
                                                                                                                                                                                                                          zwischen Organ und Apparat in einem dynamischen Vor-
                        wenig neutral. Mit Bruno Latour gesprochen: Wir delegie-        untergespielt wird, nämlich, dass »Anpassung« immer auf           weisen, damit er die neuen Schuhe bekommt, die äußerst          gang aufgehoben.
                        ren fortlaufend kognitive und physiologische Prozesse an        ein Milieu bezogen ist, es also keine allgemeine Anpassung        kurz aus­f ällt; sein Orthopäde schreibt: »Kenny Fries cannot        Die Brüder Weber hatten in ihrer Studie über Apparate
                        ganze Netzwerke von Dingen, wir tun das auch schon sehr         oder Evolu­tion gibt, sondern nur eine spezifische. Anpas-        ambulate without orthopedic shoes.« Mit Fiberglas werden        bereits darüber spekuliert, wie, von den funktionalen Prin­
                        lange und leben folglich in einem technowissenschaftlich-       sung und »Fitness« ist – auch bei Darwin – relational und         dann Abdrücke von seinen Füßen und Beinen genommen,             zipien menschlichen Gehens aus, Gehmaschinen kons­tru­
                                 biologischen Milieu, in dem diese Geschichte ein-      situa­tionsspezifisch gedacht. Fries nimmt diesen Gedanken        nach denen die neuen Schuhe nach modernsten Maßgaben            iert werden könnten. Ziel ihrer Studie war die Formulierung
                                 gelagert ist. Nichts präjudiziert jedoch, dass die     auf, wenn er beschreibt, wie er auf einer Bergtour seinem         gefertigt werden. Sie sind sehr viel leichter, sehen schick     an­wend­barer »Vorschriften zum Bau von Maschinen, wel-
                                 Technisierung des Körpers der Linie der Optimie-       Part­ner überraschend überlegen war, weil seine ortho-            aus, passen aber nicht. Nach viel erfolglosem Ausprobieren      che wie der Mensch von zwei Stützen getragen und durch
                                 rung, Leistungssteigerung und Updatekultur folgen      pädischen Schuhe sich perfekt als Hilfsgeräte auf einem           und Nachjustieren durch den Orthopädietechniker wird ein        de­ren abwechselnde Streckung und Schwingung fortbe-
                                 muss. Aktuelle Erzählungen über die Verbindung         Klettersteig nutzen ließen, während die Leitern über dem          zweiter Versuch unternommen: Die alten Schuhe werden            wegt werden«. Die Idee von kolossalen »walking
                                 von Menschen und Maschinen suggerieren das,            steilen Abhang seinen »normalkörperlichen« Freund an              in die Fabrik mitgeschickt. Sie werden dort abgegossen          machines« der Zukunft inspirierte Holmes zwar, Erschienen in der
                                 wenn sie sich ornamental um eine Auf­stiegslinie       die psychische und körperliche Belastungsgrenze brachten.         und mit dem Fußabdruck abgeglichen. Die neuen Schuhe            initiierte jedoch anderes, nämlich die Präsentati- FIfF-Kommunikation,
                                                                                                                                                                                                                                                                                  herausgegeben von
                                 von Reparatur zu Verbesserung, von Thera­pie zu        Ähnlich erging es ihm beim Rafting im Grand Canyon: In            kommen, passen erneut nicht und werden nach einigen             on von im Hier und Jetzt praktizierter Schuh- und FIfF e. V.
          Karin Harrasser ist
                                 enhancement ranken. Sie sind zudem mit ökonomi-        diesem speziellen »Milieu« hat er einen körperlichen Vorteil,     Wochen weiterer, quälender Versuche in der hintersten Ecke      Prothesenherstellung. Holmes’ Bewunderung für ISSN 0938-3476
  Professorin für Kulturwissen-
 schaft an der Kunstuniversität
                                 schen Motiven durchsetzt: Sowohl das Ethos der         weil er seine Beine gut im Kanu unterbringt und seine steife      des Schranks abgelegt. Das Problem der neuen Schuhe ist         die »unsichtbaren« Prothesen eines Dr. Palmers www.fiff.de
      Linz. Sie war an diversen unternehmerischen Selbstverbesser­ung als auch          Hüfte ihm Sta­bilität gibt. Kenny Fries widmet sich gleicher-     nicht, dass sie nicht »passen«, sie passen exakt, aber sie      hat zwei Fluchtpunkte: die soziale Integration der
        kuratorischen Projekten Utopien der Wahrnehmungssteigerung und der Ver-         maßen prä­zise wie lakonisch all den Vorgängen rund um            sind nicht in der Lage, sich, wie ihre Vorgänger, stützend      Prothesenträger und die anatomische Plausibilität der Pro-
   beteiligt, z. B. NGBK Berlin, netzung verbinden sich mit selbsterfüllenden Pro-      die Be­we­gung auf dem Fluss: Dem Ein- und Aussteigen mit         anzuschmiegen. Das neue Material kann nicht, was das alte       thesenkonstruktion. Erstere resultiert in ein Plädoyer für
Kampnagel Hamburg, TQ Wien.
                                 phezeiungen einer globalen Wachstumsideologie.         Hil­fe von improvisierten Rampen, der Logistik zwischen           Leder konnte: aktive Mimesis.                                   größtmöglichen Naturalismus der Prothese. Während die
Mit Elisabeth Timm gibt sie die
Zeitschrift für Kulturwissen-
                                                                                        Neo­prenanzug, Stock und Schuhen, dem Über-den-Fluss-                                                                             Konzeption des »human wheel« den menschlichen Gang als
        schaften heraus. LetzteErzählungen von Vermischungen                            getragen-Werden und den neuen Fertigkeiten, die ihm im            Aktive Mimesis statt Anpassung                                  funktionale Abfolge begreift und an Prothesen mit nicht-
         Publikationen: Körper Wie kann man Mensch-Maschine-Verhältnisse an-            Umgang mit Gerät, Fluss und Felsen erwachsen. Die Idee            Betrachtet man den Komplex der aktiven Mimesis technik­         men­schlicher Morphologie denken lässt (etwa an Roll­
     2.0. Über die technische  ders angehen? Mir scheint, in Kenny Fries’ Buch The      der Fitness, der Angepasstheit, ja selbst einer Über­legenheit,   historisch, kann man ihn in der Prothetik und der Kyberne-      stühle), drängt das soziale Argument auf möglichst genaue
          Erweiterbarkeit des
                               History of My Shoes and the Evolution of Darwin’s The­   kippt durch die Einschränkung auf ein bestimmtes Mili-            tik situieren. Das Prinzip der aktiven Mimesis findet sich      Nachahmung der natürlichen Morphologie. Mit Blick auf
     Menschen, Bielefeld 2013;
    Prothesen. Figuren einer
                               ory1 wird dies erahnbar. Kenny Fries wurde – ganz        eu niemals in die Entwertung von weniger »Fitten« oder            zum Beispiel in Oliver W. Holmes’ Text The Human Wheel,         die anatomische Plau­sibilität von Gehhilfen betritt Holmes
   lädierten Moderne, Berlin   ähnlich wie der inzwischen aus anderen Gründen           in einen Imperativ der Selbstverbesserung: Das »Besser«           It’s Spokes and Felloes von 18632. Der Bezugspunkt ist hier     jedoch das Terrain einer funktional-rückkoppelnden Idee
                          2016.sehr bekannte südafrikanische Läufer Oscar Pisto-        beschränkt sich selbst, bleibt situativ oder besser: situiert.    der Sezessionskrieg und die im Anschluss daran sich als         des Körpers. Er eröffnet Regionen des Nachdenkens, die
                               rius – mit erheblich deformierten unteren Extre­         Es geht stets um eine bestimmte Praxis in einem bestimmten        Industriezweig etablierende Prothesenindustrie. Das Em-         sich nicht mehr auf einen naturgegebenen menschlichen
                       mitäten geboren. Während die Eltern von Oscar P     ­ istorius   Milieu, die aber Genuss, jouissance, bringt und, ja, ein Erle-    blem seines Textes bildet ein stilisiertes Rad, das sich aus    Körper als Ursprung und Ziel von Technik zurückbeziehen
                       beschlossen, die Beine ihres Kindes amputie­ren zu lassen,       ben von Können; von Können allerdings als teilsouveränes          Beinen als Spei­chen und Füßen als Felgen zusammensetzt.        lassen, sondern auf das Gebiet nichtmenschlicher Exis-
                       um ihm ein mög­lichst »normales« Aufwachsen zu er­mög­           Verhältnis zu einer bestimmten technisch-biologischen Um-         Die bio­mechanischen Studien seiner Zeit und die Technik        tenz führen. Die sechs beidbeinig amputierten Veteranen
                       lichen – ein Kind, das von klein auf mit Prothesen zu ge-        welt. In Kenny Fries’ Erzählungen wird außerdem kenntlich,        der Schnappschussfotografie (»instantenous photography«)        (»nullipeds« in Holmes’ Sprache), die er beim Training
                       hen lernt, bewegt sich »normaler«, unauffälliger als eines       wie sich Handlungsfähigkeit auf ganz unterschiedliche             geben ihm dieses Bild ein: Aus der einschlägigen Studie         beobachtet, wür­den dank der Prothesen zu »bilignipeds«,
                       im Rollstuhl; während also die Eltern von Pistorius sich         Akteure verteilt. Manche davon sind menschlich, manche            von Wilhelm und Eduard Weber Die Mechanik der mensch­           zu »hybrids between the animal and the vegetable world.«
                       für den radikalen Eingriff und für die technische Lösung         technisch, manche gehören der gewordenen Umwelt an.               lichen Gehwerkzeuge (1836) übernimmt er die Konzeption des      Sprachlich und bildlich lässt Holmes in seiner Diskussion
                       entschieden, wählten Kenny Fries’ Eltern den langen und          All diese Agenzien wirken aufeinander ein, modifizieren           menschlichen Gangs als Pendelbewegung. Dazu kommt               der Prothetik den Menschen wie er ist hinter sich. Als Patriot
                       mühevollen Weg, mit Hilfe orthopädischer Operationen             einander und ergeben komplizierte Choreografien. Ohne             das der fotografischen Evidenz geschuldete Wissen über          fantasiert er freilich weiter von einer Verbesserung des U. S.-
                       die Beine gehfähig zu machen. Fries verbrachte sehr viel         Pathos kommt so ein Jenseits des Menschen ins Spiel: in           die Abrollbewegung von der Ferse zur Zehenspitze. Muy-          Menschen, einer Menschenart, die mit Hilfe technischer
                       Zeit seiner Kindheit im Krankenhaus, mit dem Resultat,           lyrischen Beschreibungen von Landschaften etwa, aber              bridges und Mareys visuelle Beweisführung vorwegneh-            Potenz über die »Anthropotechniken« (Peter Sloterdijk)
                       dass er sich selbstständig fortbewegen kann, aber sichtbar       auch in slapstickhaften Schilderungen von Materialwider-          mend, erstellt Holmes Zeichnungsserien Gehender, um             der Alten Welt trium­phieren soll: »We profess to make men
                       »anderskörperlich« blieb. In seinen Erzählungen und Ge-          spenstigkeiten.                                                   die verschiedenen Phasen des Gangs darzustellen. Seine          and women out of human beings better than any of the
                       dichten schreibt er über diese Reise von einem Körper in              Etwa, wenn das Paar orthopädischer Schuhe getauscht          Schlussfolgerung: »Walking, then, is a perpetual falling        joint-stock companies called dynasties have done or do it.«
                       einen anderen und über viele weitere, die er im Laufe seines     werden muss, das Fries vor 17 Jahren angepasst worden ist         with a perpetual self-recovery«. Und weiter: »Man is a wheel,

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Als ebenso zukunftsweisend wie die Prothesentechnik         Computeranwendungen. Und bis heute finden die rekur-              den prägnanten Gang ihres Vaters angeeignet, obwohl sie         er fähig gewesen sein wird. Es gilt, ihn nicht fahrlässig
     erscheint Holmes – und damit komme ich zu Kenny Fries            siven Effekte einer antizipierenden Anpassung, also der           vollkommen gesund waren. »Im Spiel bleiben« meint auch          in die Zukunft seiner Perfektionierung zu projizieren und
     zurück – ein bestimmtes Herstellungsverfahren von Schu-          Um­stand, dass durch den technischen Eingriff der Körper          die Hingabe des Vaters an seinen Beruf, die wiederum ein        damit die gegenwärtigen, konkreten Körper dem Druck der
     hen. Holmes’ Lobeshymne ist an einen gewissen Dr. Plumer         grundlegend verändert ist, zumeist wenig Beachtung. Das           ganzes Netzwerk an Technologien auf den Plan rief. Selbst       andauernden Selbstverbesserung auszuliefern.
     adressiert, der als Befreier der unterdrückten Organe (es        Sich-Einstellen-Können auf zukünftige Erfordernisse mag           nachdem seine Berufstätigkeit beendet war, verfolgte er              Mit einem Verständnis des Körpers im Futur II kommen
     geht um deformierte Zehen) gefeiert wird. Dr. Plumer sei         eine menschliche Grundkompetenz sein, es bleibt jedoch            seine Passion weiter: mithilfe einer aufwändigen Satelli-       wir in die Nähe dessen, was Thomas Macho »inklusiven
     der »Garrison of these oppressed members of the body cor-        zu fragen, was es bedeutet, wenn Körper mittels technisch-        tenanlage, durch das Kommentieren der Spiele am Telefon         Huma­nismus«5 nennt. Es wäre ein Weg, der den Humanis-
     poreal. He comes to break their chains, to lift their bowed      funk­tionaler Modellierungen für die Zukunft einge­richtet        usw. Die Worte, die Haraway für die Rolle der Technik im        mus zuallererst als historisch spezifisch bestimmt. Dabei
     fingers, to strengthen their weakness, to restore them to        werden. Der hohen Plastizität und Adapta­bilität des men­         Leben ihres Vaters findet, betonen den Ermöglichungscha­        tritt zutage, dass der Humanismus auf einer spezifisch
     the dignity of digits.« Im Krieg, den die Füße, mit schlech-     schlichen Körpers und seines Verhaltens wird eine techni-         rakter von Technik, ohne der Technik gleich alles zuzu-         abendländischen Definition des Menschen aufsetzt, die als
     tem Schuhwerk ausgestattet, gegen die Härte des Asphalts         sche Modellierung ebenso wenig gerecht werden können              trauen und zuzumuten. Die Subjektivierung des Vaters als        solche problematisch ist: Der Humanismus der Aufklärung
     auszufechten hätten, wären die plumerschen Schuhe ein            wie den je individuellen Rhythmen von Wachstum und                professioneller Sportreporter erzählt sich nicht nach dem       als »regulative Idee« (Immanuel Kant) ging vom Menschen
     großer Fortschritt. Was Holmes besonders fasziniert, ist,        Ver­f all und all jenen unvorhersehbaren Wendungen, die ein       Muster des »trotzdem«: Obwohl er behindert war, wurde           als einem rational entscheidenden, über sich selbst und sei-
     dass die Schuhe von vornherein mit Blick auf die erforder­       Leben auszeichnen. Technisch antizipieren kann man nur            er Sportreporter. Im Gegenteil, sagt sie, er habe stets seine   nen Körper verfügenden Individuum aus. Mit der Zeit konn-
     ichen wechselseitigen Anpassungsprozesse zwischen Schuh          Kör­per, deren zukünftiges Verhalten – wenigstens im Gro-         »Autonomie-in-Relation« vorgelebt. Es war eine Autonomie,       ten sich Sklaven, Frauen und Anderskörperliche ebenfalls
     und Fuß hergestellt werden: Der Schuhfabrikant lässt sich        ben – bekannt ist, Körper, die sich innerhalb vorherseh­barer     die sich innerhalb von Verhältnissen und Verbindungen her-      Zugang zu den Rechten für Menschen verschaffen, indem
     einen gut eingegangenen Schuh des Kunden geben, um               und wahrscheinlicher Zonen von Bedürfnissen bewegen.              stellte, eine Autonomie in Transaktion. An anderer Stelle       sie ihre Rationalität, Nützlichkeit und Selbstbeherrschung
     den neuen entsprechend den Abnutzungsspuren zu formen.                                                                             bezeichnet sie die assemblage aus Mensch und Apparat, die       unter Beweis stellten. Mit Macho und Haraway geht es mir
     Die zukünftige Passung wird mit Hilfe einer technischen          Partner im Tumult                                                 ihr Vater war, als mess-mates. Die Neuprägung ist schwer zu     darum, die Population der Handelnden und dabei den Hu-
     Abnahme der Geschichtlichkeit des Schuhs antizipiert –           Mein zweites Beispiel nimmt hingegen die spinozis­                übersetzten, aber man könnte sagen: Partner in Unordnung,       manismus selbst zu erweitern. Das wäre ein Humanismus,
     aktive Mimesis.                                                  tische Grund­annahme – dass wir nie wissen können, was            Partner in einem Tumult. Obwohl der Technikfeindlichkeit        der nicht von einer Definition »des Menschen« ausgeht,
          Der Passungsvorgang wird durch diese antizipative Zeit-     ein Körper vermag – zum Ausgangspunkt. Das Beispiel               unverdächtig, fällt ein Gerät in H ­ araways Erzählung aus      nicht von »Mensch-sein« als einer unveränderbaren Quali-
     struktur invertiert. Im Probierzimmer des Prothesentechni-       stammt aus Donna Haraways Buch When Species Meet.4 Darin          dem Spiel heraus: Der letzte Rollstuhl ihres Vaters, der        tät, sondern vom Humanismus als einem Horizont, in den
     kers, der »nursery of immature lignipeds« gewinnt Holmes         denkt Haraway weniger über die technisch-biologischen             technisch bei weitem fortschritt­lichste, war kein mess-mate    potenziell vieles und viele eingeschlossen sein können, die
     dann ebenfalls den Eindruck, der Anpassungsprozess liefe         Hybrid­wesen nach, die sie berühmt gemacht haben, als             mehr. Nicht, weil mit seinen technischen De­t ails etwas        gemeinhin nicht als Menschen gelten.
     so ab, »as if the artificial leg were the scholar, rather than   über die Beziehung zwischen Menschen und Tieren. Umso             nicht in Ordnung gewesen wäre, sondern weil er zu einem              Damit ist eine Arena des Handelns anvisiert, die teil-
     the person who wears it.« Im Gesichtskreis der praktischen       erstaun­licher ist, dass sich in der Mitte des Buchs ein klei-    Zeitpunkt »ins Spiel« kam, als dieses für ihren Vater »aus-     souveränen Akteuren (die wir letztlich alle sind) Raum gibt.
     Arbeit an der Verbesserung von Körpern und im weiten             nes Kapitel über ihren Vater findet, der – um beim Thema          gespielt« war. Es ging nun ums Sterben und der Rollstuhl        Es ist die Idee einer politischen Arena, in der ungezählten
     Echoraum des Konzepts der Anpassung von Organismen               zu bleiben – Sportreporter war und sich aufgrund einer            war dabei kein Partner mehr.                                    Akteuren Artikulationsfähigkeit zugetraut wird und nicht
     an ihre Umwelten sind bei Holmes soziale Passung und tech­       tuber­kulösen Knochen­in­fek­t ion Zeit seines Lebens auf              Konsequent sucht Haraway hier nach Begriffen, die          nur denjenigen, die sich vernünftig äußern und souverän
     nische Anpassung außerdem beinahe deckungsgleich. Ge­            Krücken und in Roll­stühlen fortbewegte. Haraway stellt           ihr erlauben, die Opposition von Humanismus und Post-           agieren. Ein zentrales Momentum dafür ist, wer überhaupt
     sell­schaftlicher Erfolg durch Unauffälligkeit verbindet sich    zwei Momente in den Vordergrund: Erstens das Verhältnis           humanismus zu umgehen oder zu unterlaufen. Denn nicht           gehört wird und ob Widerspruch möglich ist. Haraway ver-
     mit einer antizipierenden Passung als Herstellungsprin­          von Erzählung und Welt und die weltschaffende Kraft von           nur, was Technologien können oder wir mit ihnen können,         wendet dafür das Wort response-ability, Respons-Fähigkeit.
     zip von körpermodifizierenden Artefakten. Beides sind            Worten und zweitens den Umgang ihres Va­ters mit den              ist von Bedeutung, sondern auch die Art und Weise, wie          In jeder Situation muss es das zentrale Anliegen sein, allen
     Weg­marken in der Etablierung flexibel-normalistischer           verschiedenen technischen Hilfsmitteln. In beiden Fällen          wir darüber sprechen. Ihre Figuren, egal ob sie »Cyborg«        die Möglichkeit einer Erwiderung, eines Widerspruchs zu
     Sys­teme der Selbsteinrichtung, die ab dem ausgehenden           ginge es darum, so Haraway, »im Spiel zu bleiben«. »Im            heißen oder »Mein Vater der Sportreporter«, sind so ver-        geben. Es müssen Vorkehrungen dafür getroffen werden,
     19. Jahrhundert formalisiert und implementiert werden.3          Spiel bleiben« heißt, Beziehungen weiterzuspinnen, die            standen zuallererst Figuren, die ein Problembewusstsein         dass möglichst alles sich melden kann. Besser als der Be-
          Körpermodifizierende Artefakte antizipieren hier            kör­per­lich-zeichenhafter Natur sind. Auf diese Art und          ver­körpern. Ihr Credo ist: Wenn unsere Techno­körper eine      griff posthuman scheint mir dafür derjenige der assemblage
     al­so einen zukünftigen Körper und dessen Bedürfnisse.           Weise wird auch eine Biografie herge­stellt: Durch die Ver­       Erbschaft der modernen Wissenschaften und der kapita-           zu passen, der in den Blick nimmt, wie in heterogenen
     Die Zu­kunft des Körpers wird im Prozess der Herstellung         knüpfung von bios mit graphe, von gelebtem Leben und sei-         listischen Wertschöpfung sind, gilt es, sich in diese Abs-      Ensembles und ohne dass dabei vorneweg ein Konsens über
     des Artefakts aus seiner Vergangenheit heraus model­liert,       ner zeichenförmigen Bearbeitung. Haraway hebt darauf ab,          traktion hineinzubegeben und sie von innen zu bearbeiten.       Ziele vorliegt, Verfahren, Objekte, Erfahrungen fabriziert
     wobei – und das ist ein Problem – von einer Konti­nui­t ät       dass die spezielle Biografie ihres Vaters nicht schreibbar ist,   Ein Ja zu Technologien muss aber nicht zwingend ein Ja          werden. Vielleicht wäre, das ist mein letzter Vorschlag, aber
     zwischen vergangenen und zukünftigen Bedürfnissen und            ohne seine schreibende Beziehung zum Sport einerseits             zur Unvermeidbarkeitshypothese oder zu enhancement und          eben noch passender: parahuman, ein Begriff, der we­niger
     Bewegungsmustern ausgegangen wird. Dieses Prinzip fin-           und zu seinen Krücken und Prothesen andererseits. Diese           Selbststeigerung sein. Den Technokörper im Modus des            an eine friedliche Koexistenz als ein wildes Neben- und
     det sich bis heute in allen »selbst lernenden« technischen       hätten auch noch in die Bewegungsmuster der nächsten              Futur II zu begreifen heißt, ihn als einen zu verstehen, von    Durch­einander von unterschiedlichen Existenzfor­men
     Systemen, etwa in »intelligenten«, benutzerorientierten          Generation hineingewirkt: Ihre beiden Brüder hätten sich          dem wir immer erst hinterher gewusst haben werden, wozu         denken lässt.

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