Körper repräsentation. interaktion. differenz. jahreskonferenz dramaturgische gesellschaft 26. bis 29. januar 2017 am staatstheater hannover
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zeitschrift der dramaturgischen gesellschaft 01/17 körper repräsentation. interaktion. differenz. jahreskonferenz dramaturgische gesellschaft 26. bis 29. januar 2017 am staatstheater hannover
editorial »Der Sprung in die moderne Welt kann nur körperlich sein«, sagt der Philosoph Rachid Boutayeb, »… und Freud hat zweifellos Recht, wenn er davon spricht, dass sich zunächst der Körper befreie, bevor der Geist folge.« Welche Körper sehen wir auf den Bühnen unseres Lan- des – und welche nicht? Welche sehen wir uns gerne an, und welche bereiten uns vielleicht Unbehagen? Bildet sich unsere Gesellschaft in all ihrer Vielfalt auch auf unseren Gehört uns unser Körper noch? Ist es nicht eher so, Bühnen ab? Warum nicht? Wie haben sich Körperbilder in dass andere ihn überwachen und bewerten; dass andere den vergangenen Jahren verändert? Welchen gesellschaft- bestimmen, wie wir aussehen, wie wir uns kleiden, was lichen Codes, Normierungen und Zuschreibungen unter- wir essen, wie und vor allem wieviel wir uns bewegen? Wir liegen unsere Körper? Wie werden die biotechnologischen werden daraufhin überprüft, ob wir uns fit halten oder uns Optimierungsmöglichkeiten des Körpers unser Leben ver- gehen lassen, ob wir unseren Körper pflegen oder schlecht ändern? Welche Möglichkeiten öffnen sich dem Theater behandeln und er vielleicht irgendwann der Allgemeinheit durch die Erzeugung virtueller Körper? Und: Wie lässt sich zur Last fällt. Der Körper als letzte widerständige Bastion dramaturgische Arbeit körperlicher denken? gegen die Zumutungen von außen wird immer mehr zur Im Handbuch Körpersoziologie (hg. von Robert Gugutzer, Utopie. Gabriele Klein, Michael Meuser, 2016) heißt es: »Der Körper Wem auch immer er gehört: Der Körper ist in unserem ist für subjektiv sinnhaftes Handeln bedeutsam, wie er auch Leben omnipräsent. Nicht nur weil jeder von uns einen hat, eine soziale Tatsache ist, die hilft, Soziales zu erklären. Der sondern weil die visuellen Medien uns fortwährend mit menschliche Körper ist Produzent, Instrument und Effekt Abbildungen von Körpern konfrontieren – und damit nicht des Sozialen. Er ist gesellschaftliches und kulturelles Sym- nur unsere Vorstellungen davon prägen, wie ein Körper aus- bol sowie Agent, Medium und Werkzeug sozialen Handelns. zusehen hat, sondern darüber hinaus auch gesellschaftliche Soziale Strukturen schreiben sich in den Körper ein, soziale Konstellationen manifestieren, wie etwa das Verhältnis Ordnung wird im körperlichen Handeln und Interagieren zwischen den Geschlechtern, zwischen Angehörigen ver- hergestellt. Sozialer Wandel wird durch körperliche Emp- schiedener Ethnien, zwischen Gesunden und vermeintlich findungen motiviert und durch körperliche Aktionen ge- Kranken und zunehmend sogar zwischen »Leistungswilli- staltet.« Die Autor*innen sprechen von einem »body turn«, gen« und »Leistungsverweigerern«. den die Forschung der Körpersoziologie vorantreibt. Wie Wie schlagen sich diese Manifestationen im Theater zeigt sich dieser body turn im Theater? Wie manifestiert er und den dort agierenden Körpern nieder? Der menschliche sich in den unterschiedlichen Sparten? Körper ist ein Grundelement, ja sogar eine Voraussetzung Mit dem Themen-Schwerpunkt »Körper« setzt die dg des Theaters. Schließlich ist die »leibliche Ko-Präsenz« die Reihe grundlegender Auseinandersetzungen mit den (Erika Fischer-Lichte), also die gleichzeitige körperliche verschiedenen Mitteln des Theaters fort. Nach »Zeit« in Anwesenheit sowohl der Darstellenden als auch der Zu- Hamburg, »Raum« in Zürich und »Sprache« in München schauenden, das Wesensmerkmal des Theaters, das es von war es nur logisch, sich 2017 in Hannover mit »Körper« zu allen anderen Kunstformen unterscheidet. beschäftigen. Wir danken unseren Gastgeber*innen, der Der Körper, der sich uns im Theater präsentiert, ist auf- Staatsoper und dem Schauspiel Hannover. Persönlich be- geladen mit Bedeutungen, Zuschreibungen, Geschichten, danken möchten wir uns bei Michael Klügl, Judith Gersten- Erfahrungen. Zwar handelt es sich bei den Körpern, die wir berg und Jürgen Braasch sowie bei allen Mitarbeiter*innen auf der Bühne sehen, stets um individuelle Körper, doch des Niedersächsischen Staatstheaters Hannover, die bei der stehen diese stellvertretend für kollektive Bilder, die wir Vorbereitung und Durchführung der Konferenz mitgewirkt vom Körper haben. Wenn wir, die Zuschauer*innen, den haben bzw. mitwirken. Ohne das finanzielle Engagement Körper einer Darsteller*in, einer Sänger*in oder Tänzer*in, des Landes Niedersachsen, der Landeshauptstadt Hannover ja selbst den Körper einer Puppe auf der Bühne erblicken, sowie des Deutschen Bühnenvereins hätten wir die Konfe- denken wir vom ersten Moment an sämtliche Diskurse, die renz nicht realisieren können. Hierfür ebenfalls herzlichen sich um den Körper ranken, mit: Ist es ein männlicher oder Dank. Wir freuen uns zudem auf das Wiedersehen mit den weiblicher, kleiner oder großer, junger oder alter Körper? Mitgliedern des Verbands Deutscher Bühnen- und Medien- Ist er im Vollbesitz seiner physischen Möglichkeiten oder verlage beim neuen Format der Autor*innenbegegnungen krank, müde, erschöpft, beeinträchtigt? Ist er bekleidet und dem traditionellen Verlegerempfang, sowie auf die oder unbekleidet? Welche Farbe hat seine Haut? Was sagt Vorstellung der Gewinner*in des Kleist-Förderpreises für all das über die Person, die in diesem Körper steckt, und junge Dramatiker*innen 2017. die Figur, die sie womöglich verkörpern will, aus? Und was sagen unsere eigenen Reaktionen, Erwartungen, Vorurteile, Wir sind gespannt auf die leibhaftige Begegnung mit Ihnen Kategorisierungen, mit denen wir dem sich uns präsentie- und Euch und auf eine inspirierende Konferenz. renden Körper begegnen, über uns selbst aus? Der dg-Vorstand 1
inhaltsverzeichnis 1 editorial 5 theatergeschichte als körpergeschichte Barbara Gronau 9 der sprung in die moderne welt kann nur körperlich sein Rachid Boutayeb / Michael Roes 16 parahumane konstellationen von körper und technik Karin Harrasser 23 who the fuck is jérôme bel? Michael Elber / Gwendolyne Melchinger 28 konferenzprogramm 30 referent*innen 33 autor*innenbegegnungen, internationale theaterarbeit 37 die dg 38 neues aus den arbeitsgruppen 39 dg vorstand, impressum Theater der Zeit – Die Zeitschrift für Theater und Politik Unser Dank gilt den Gastgebern und Förderern der Konferenz: Am Kiosk. Im Abo. Als App. Im Web. www.theaterderzeit.de/probe 3
theatergeschichte als körper- geschichte Barbara Gronau WIR FREUEN UNS MIT DEN PREISTRÄGERN DES DEUTSCHEN THEATERPREISES DER FAUST 2016 d er menschliche Körper ist seit jeher das wichtigste Aus- drucksmittel der darstellenden Künste. Ob im Tanz, im Schauspiel oder im Gesang: für jede Präsentation auf der Bühne ist der Körper die Basis der Darstellung. Er ist das und Tanztechniken wiederfinden) das Bild eines technischen Vehikels betont, das es zu trainieren und zu kontrollieren gilt, betont die Vorstellung vom Körper als Medium dessen ästhetisch-trans Instrument eines künstlerischen Ausdrucks und Gegen- zendente Seite, also die Fähigkeit, etwas anderes stand der Zuschauerbeobachtung. Er ist die lebendige, at zur Erscheinung zu bringen als sich selbst. Wird mende, aktive Quelle von Klang, Bewegung, Rhythmus, der Körper dagegen zum Gegenstand der Dar- Geruch und Sprache. Doch was genau ist ein Vorgang der stellung (also zu deren Thema oder Sujet), lässt Barbara Gronau ist Professo- SÄNGERDARSTELLERIN/ »Verkörperung«? Wer oder was setzt sich dabei in Szene? sich in reflexiver Weise auf die Bedingungen der rin für Theorie und Geschichte REGIE SCHAUSPIEL SÄNGERDARSTELLER MUSIKTHEATER REGIE KINDER- UND JUGENDTHEATER Und was soll mit dem Begriff »Körper« eigentlich bezeich- Verkörperung Bezug nehmen. Die Aktionskunst des Theaters an der UdK Berlin net werden? und Body-Art haben dies exemplarisch vorgeführt. und Sprecherin des DFG-Gradu- Frank Castorf, „Die Brüder Karamasow“ Nicole Chevalier, Stella/Olympia/Antonia/ Liesbeth Coltof, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin Giulietta in „Les Contes d’Hoffmann“ „Der Junge mit dem Koffer“ »Die Frage, was der Körper ist, was das Lebendige ›wirk »Theatergeschichte als Körpergeschichte«4 zu iertenkollegs »Das Wissen der Künste«. Zu ihren Forschungs- Koproduktion der Wiener Festwochen & der Komische Oper Berlin Junges Schauspielhaus Düsseldorf lich‹ ist«, so der Historiker Philipp Sarasin, »scheint keine betrachten – wie Erika Fischer-Lichte angeregt hat – schwerpunkten gehören Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin lösbare Frage zu sein; entscheidend ist daher, welches Bild – heißt also zu fragen, welche Körperkonzepte und Schnittstellen von Bildender in einem Text, als visuelle Abbildung oder als Inszenierung – Körperbilder es in der jeweiligen Zeit gibt und wie Kunst und Theater, Theorien der wir uns von dem Körper machen, von dem wir sagen, es diese sich in theatralen Prozessen niederschlagen. Agency und Performanz sowie DARSTELLERIN/DARSTELLER SCHAUSPIEL CHOREOGRAFIE BÜHNE/KOSTÜM sei unserer.«1 Wie setzen die theatralen Praktiken den Einzelnen Epistemologien des Ästheti- schen. Daneben Dramaturgin in Ich möchte im Folgenden zeigen, dass sich am Theater und die Gemeinschaft bzw. das Individuum und verschiedenen Theaterprodukti- Edgar Selge, François in „Unterwerfung“ Alexander Ekman, „COW“ Achim Freyer, „Esame di mezzanotte“ in exemplarischer Weise Wissensformationen des Körpers, die Masse ins Verhältnis? Welche gesellschaftli- onen und Kuratorin Deutsches Schauspielhaus Hamburg Sächsische Staatsoper Dresden Nationaltheater Mannheim das heißt Körperdiskurse und Körperbilder zeigen und chen und politischen Normen bzw. Normbrüche internationaler Theaterfestivals. kontextualisieren lassen. Denn Theatergeschichte ist nicht lassen sich an den Theaterformen der jeweiligen nur Dramen-, Architektur-, Schauspiel- oder Kostümge Zeit ablesen? Und welche Dimensionen von Körperlichkeit schichte, sondern in diesen und durch diese hindurch lassen sich dabei überhaupt analysieren? REGIE MUSIKTHEATER DARSTELLERIN/DARSTELLER TANZ PREIS FÜR DAS LEBENSWERK vor allem Körpergeschichte. Im Theater werden wir Zu Zunächst ist dies eine biologische Dimension, die im schauer *innen zu Zeug*innen und Teilnehmer*innen von Rahmen naturwissenschaftlicher, philosophischer, religi- Peter Konwitschny, „La Juive“ Aloalii Naughton Tapu in Hans Neuenfels »Körperinszenierungen«2, das heißt von zeichenhaften öser und medizinischer Diskurse festlegt, was innerhalb Nationaltheater Mannheim „Urban Soul Café” Mit der Verleihung des FAUST-Preises 2016 Ballhaus Ost Berlin würdigt die Jury ein künstlerisches Lebenswerk und materiell-medialen Erscheinungsweisen des Körpers. einer Kultur als Körper gilt und wie er zu behandeln ist. Das von außergewöhnlicher Intensität, Vielfalt und Unsere Wahrnehmung richtet sich auf Akte der Figuration Katharsiskonzept der Antike ließe sich hier als ein frühes öffentlicher Wirkungsmacht. Bis heute treibt und der Performanz, also auf ein Form- oder Figurwerden Beispiel einer humoralpathologischen Körpervorstellung Hans Neuenfels als Regisseur von Schauspiel im Akt der Darstellung im Rahmen öffentlicher Auffüh- anführen, die zugleich als erste Wirkungstheorie des Thea und Oper, als Dichter, Schriftsteller und Filme- rungen. Genau diese Figurationsprozesse werden seit dem ters gelten kann.5 macher die zeitgenössische Weiterentwicklung der darstellenden Künste voran. Mit seinem 18. Jahrhundert mit dem Begriff »verkörpern« bezeichnet: Darüber hinaus gilt es eine sozial-gesellschaftliche Di Wirken inspiriert er ganze Generationen von etwas versinnlichen, verwirklichen, Gestalt annehmen oder mension zu entschlüsseln, die den kulturellen Stellenwert Künstlern. übertragen.3 Welche ästhetischen und politischen Stra des Körperlichen und die damit verbundenen Grenzen, tegien diesen Prozessen zugrunde liegen, lässt sich nur Tabus, Restriktionen oder Utopien festlegt. Hier sei daran über exemplarische Analysen historischer Konstellationen erinnert, dass Schauspieler*innen von der Frühen Neuzeit entschlüsseln. Denn den allgemeinen Tänzer*innen- oder bis weit in das Barockzeitalter zumeist als ständeloses, um- WIR BEDANKEN UNS BEI ALLEN PARTNERN UND FÖRDERERN Schauspieler*innenkörper gibt es eben nicht. Und zwar herfahrendes Volk – das durch die Zurschaustellung des nicht nur, weil Verkörperung stets ein individueller Akt Körpers Geld verdiente – mit Prostituierten und Henkern ist, sondern weil zu jeder Zeit die Frage, was ein Körper gleichgesetzt und deshalb nach ihrem Tod nicht in der »ge- ist und welche Funktion er für die künstlerische Darstel- weihten Erde« christlicher Friedhöfe begraben wurden. Die lung hat, anders beantwortet wird. So ist es ein großer abendländische Devaluation des Körperlichen bei gleich- Unterschied, ob der Körper als Material, als Gegenstand, zeitiger Faszination für dessen Effekte schlägt sich in den als Instrument oder als Medium der künstlerischen Darstel- Theaterverboten und -restriktionen der Zeit nieder.6 lung begriffen wird. Während die Figur des instrumentel- Des Weiteren lassen sich Erkenntnisse über die semio- len Gebrauchs (die wir in zahlreichen Schauspieltheorien tische Dimension von Körperlichkeit gewinnen: Wodurch 5
IEBSTEN ICH A M L N E RE MICH ERIANN DIE ZUKUNFT wird ein Körper auf der Bühne zu einem Zeichen? Welchen die Vorstellung von Erinnerung und Gedächtnis in der je- semiotischen Regeln folgt die Darstellung? Wann verschie- weiligen Kultur? (So zielen etwa die ars-memoriae-Tradition ben sich diese Regeln und wodurch? Hier gibt die Analyse der Rhetorik und das Wortgedächtnis im Theater darauf historischer Schauspieltheorien wichtige Einblicke in die ab, mittels bestimmter Techniken eine Speicherung und historischen Vorstellungen von Präsenz und Repräsenta Weitergabe von Wissensformen im und durch den Körper L ZEIT E 7 SPI16/201 tion. So spiegelt sich in der starken Kodifizierung von Kör- zu ermöglichen.)9 20 per und Bewegung, die etwa im Schauspiel des 17. Jahrhun- Vor allem aber ist es unumgänglich, die Gender-Dimen derts üblich war, die Verbindung von antiker Rhetoriklehre sion körperlicher Darstellungsprozesse zu reflekt ieren: mit der höfischen Repräsentationspolitik des Barock. Welche Geschlechterbilder dominieren die Bühnen-Dar- Ebenfalls gilt unser Blick der materiellen Dimension stellung und deren Wahrnehmung? Welche kulturellen des Körperlichen: Wie werden die visuellen, akustischen, Normierungen drücken sich darin aus und wodurch wer- haptischen und olfaktorischen Äußerungen des Körpers den diese befördert oder destabilisiert? Hier sei an den DIE PREMIEREN in Szene gesetzt? Welchen Stellenwert hat die individuelle Zusammenhang von Natürlichkeitsdispositiv und Weiblich Leiblichkeit einer Tänzer*in, Sänger*in oder Darsteller*in? keit im bürgerlichen Theater der Aufklärung ebenso erin- 02.10.2016 DIE GESCHICHTE VON LENA (10+) von Michael Ramløse & Kira Elhauge Auch wenn die materielle Dimension stets als Bedingung nert wie an die Tradition der Diva als medialer Figur der und Kont rapunkt des Semiotischen gelten kann, ist es Normüberschreitung oder an die »Verqueerung« normativer 08.10.2016 SAMSTAG IN EUROPA (UA) GEFÄHRLICHE BEGEGNUNGEN doch aufschlussreich, solche historische Verschiebungen Geschlechterverhältnisse in »Possen des Performativen«.10 von Sedef Ecer & Dagrun Hintze zu analysieren, die der Materialität des Körpers einen ho- 14.10.2016 DIE STERNSTUNDE DES JOSEF BIEDER hen Stellenwert gegenüber dem Semiotischen einräumen. 1 Philipp Sarasin: »Der öffentlich sichtbare Körper«, in: Ders., Jakob Tanner (Hg.): von Eberhard Streul & Erich Syri Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftli- Das zeitgenössische »postdramatische Theater« hat im chung des Körpers im 19. und 20 Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1998, S. 26.11.2016 SPRICH ODER STIRB Anschluss an die Körperexperimente der Body-Art eine SCHEHERAZADE OHNE WORTE 419 – 452, hier S. 420. Fülle solch repräsentationskritischer Verfahren entwickelt.7 Stückentwicklung 2 Erika Fischer-Lichte, Anne Fleig (Hg.): Körper-Inszenierungen. Präsenz und Nicht zuletzt sind es die ökonomischen und energe- kultureller Wandel, Tübingen 2000. 27.11.2016 KÖNIG DER KINDER: MACIUS! (8+) tischen Dimensionen des Körpers, die in theaterhisto 3 Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Stichwort von Katrin Lange nach Janusz Korczak riografischen Untersuchungen analysiert werden können. »verkörpern«, Bd. 25, Sp. 681 – 683, Stuttgart 2008. 11.01.2017 AGNES Welche physiologische Vorstellung von Bewegung, Energie 4 Vgl. Erika Fischer-Lichte: »Theatergeschichte als Körpergeschichte«, in: Dies.: von Peter Stamm und Transformation bestimmt die jeweilige Epoche? Wel- Theater im Prozess der Zivilisation, Tübingen/Basel 2000, S. 9 – 24. 25.02.2017 NATHAN DER WEISE Der Text ist erschienen in: che Vorstellung von Präsenz, Intensität, Verschwen- 5 Vgl. Manfred Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie, von Gotthold Ephraim Lessing Körper/Denken. Wissen und dung oder Zurückhaltung herrscht für die Bühne? Darmstadt 1973; Matthias Luserke (Hg.): Die Aristotelische Katharsis, 01.07.2017 MOLIÈRE Geschlecht in Musik, Bezeichnenderweise hat gerade das zeitgenössische Hildesheim 1991 Stückentwicklung Theater, Film, hg. von Andrea Theater eine Vielzahl von Gesten entwickelt, in de- 6 Vgl. dazu: Wolfgang Hartung: Die Spielleute. Eine Randgruppe der Ellmeier und Claudia Gesellschaft des Mittelalters, Wiesbaden 1982; Stefanie Diekmann, Gabriele Walkensteiner-Preschl, mdw nen der Körper sich durch exzessive Bewegungen ab Okt. 2016 BOULEVARD ULMER STRASSE Brandstetter, Christopher Wild (Hg.): Theaterfeindlichkeit, München 2012. Gender Wissen Band 6, Wien: sichtbar energetisch verausgabt: langes, ausdauern- Ganzjähriges Bürgertheater 7 Vgl. dazu Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. Böhlau Verlag des Stehen ohne sich zu rühren, das Halten des Kör- M. 1999; Jenny Schrödl: Vokale Intensitäten. Zur Ästhetik der Stimme im ab Feb. 2017 HAUSBESUCH EUROPA pers im Ungleichgewicht, rhythmisches Stampfen postdramatischen Theater, Bielefeld 2012. von Rimini Protokoll und Schreien, aber auch Rennen, Klettern, Rutschen oder 8 Barbara Gronau: »Immaterialität und Übertragung. Das Energetische Tanzen bis zur völligen Erschöpfung. Hier geht es um das und seine Inszenierungen«, in: Dies. (Hg.): Szenarien der Energie. Ästhetik öffentliche Austesten energetischer Transformationspro- 25 und Wissenschaft des Immateriellen, Bielefeld 2013, S.111 – 130. zesse, die als gesellschaftliche Resonanzen ökonomischer 9 Vgl. stellvertretend: Frances A. Yates: Gedächtnis und Erinnern, Berlin Verhältnisse gewertet werden müssen.8 2001 (The art of memory, Chicago 1966); Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Schließlich gilt es die epistemologische und mnemo- Formen und Wandel des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; JAHRE Viktoria Tkaczyk: »Theater und Wortgedächtnis: eine Spurensuche nach der technische Dimension des Körperlichen in den Blick zu Gegenwart«, in Erika Fischer-Lichte et al. (Hg.): Die Aufführung: Diskurs nehmen: Welches Wissen und welche kulturellen Erfah- – Macht – Analyse, München 2012, S. 275 – 289. Künstlerische Leitung: rungen werden im Körper einer Darsteller*in gespeichert? 10Vgl. Katharina Pewny: Ihre Welt bedeuten. Feminismus, Theater, Tonio Kleinknecht, Tina Brüggemann, Winfried Tobias Wie werden Darstellungstraditionen diskursiv und habituell Repräsentation, Königstein 2002; Gini Müller: Possen des Performativen. weitergegeben? Welche Rolle spielen theatrale Praktiken für Theater, Aktivismus und queere Politiken1 Wien 2008. THEATERAALEN.DE 6
der sprung in die moderne welt kann nur körperlich sein Rachid Boutayeb / Michael Roes r achid Boutayeb: Bevor ich auf meine Vorstellung vom Polytheismus eingehe, möchte ich erst mal etwas über den Körper in der islamischen Kultur sagen. Ich möchte erklä- der sexuellen Beziehung. »Ein Krieg gegen die Sinne«, be- schreibt Farid Zahi diese Einmischung Gottes! Und er meint damit, dass die Befreiung bzw. die Säkularisierung des ren, warum ich meinen eigenen Körper erst in Europa als Körpers einer Abschaffung des Göttlichen gleicht. Deshalb frei und souverän erlebt habe. Ich konnte meinem Körper versucht die Religion, den Körper zu verstecken, zu nur im Versteckten freien Lauf lassen. Einen öffentlichen unterdrücken und zu vermummen. Der Sprung in Kuss haben die Araber zum ersten Mal im Kino gesehen, die moderne Welt kann nur körperlich sein, und in einem ägyptischen Film aus dem Jahr 1928 mit dem Titel Freud hat zweifellos recht, wenn er davon spricht, Ein Kuss in der Wüste, und mit dem Kuss haben sie auch das dass sich zunächst der Körper befreie, bevor der Kino, die Musik und den weiblichen Körper entdeckt. Der Geist folge. Kontakt mit dem europäischen und amerikanischen Kino Nun möchte ich zu dem Kernbegriff meiner hat diese Entwicklung erlaubt. Um den Körper, den eige- These zur ückkehren. Ich muss erst mal betonen, Rachid Boutayeb, geboren in nen Körper zu entdecken, braucht man diese Begegnung dass ich den Monotheismus nur als eine Form der Marokko, studierte Arabistik mit dem Anderen. Die sozialistische Revolution sowie die Religiosität verstehe und nicht als die Religion und Islamwissenschaften, Entstehung und Verbreitung des Islamismus haben diese schlechthin. Die Religion ist kein geschlossenes Philosophie, Soziologie und Anf änge der Freiheit im Keim erstickt. Die Revolution hat Werk. Lebendig ist die Religion, wenn man sie Politikwissenschaften. Er promo- den Körper nur als Bauteil einer Maschine verstanden. Die immer neu schreibt und immer wieder neu ent- vierte an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. mit einer Arbeit Bemächtigung des Körpers ist nicht nur religiös. Sämtliche deckt. Wir haben eine polytheistische Entwicklung über den französischen totalitären Ideologien, seien sie nun religiös oder weltlich innerhalb des Christentums erlebt, wie wir sie im Philosophen Emmanuel Levinas. geprägt, bemühen sich stets, den Körper in all seinem Tun Islam nicht erlebt haben. Ich glaube, dass der Islam Zuletzt erschienen: German und Lassen zu zähmen. Der Körper hat in der sunnitischen in dieser Hinsicht vieles vom heutigen Christen- Dream, eine philosophische Orthodoxie keine Unabhängigkeit. Er ist das Unsagbare, tum lernen könnte. Ich bin ein Muslim, der sich Satire, Alibri 2015 Unterdrückte, Verschwiegene. Er wird totgeschwiegen. Im dem heutigen Christentum näher fühlt als seiner Islam als einer Religion, die Göttliches und Menschliches eigenen Religion, wie man sie heutzutage in der strikt voneinander abgrenzt, kommt dem Spirituellen arabischen Welt praktiziert. stets oberste Priorität zu. Diese dominante Sichtweise wieder um führt zu einer Reduzierung des Körpers, des- Michael Roes: Lieber Rachid, ich bin deinen Aus sen Bändigung und Unterwerfung sie gleichzeitig fordert, führungen zur Stellung des Körpers in der islami- auf einige wenige Funktionen. Der Körper wird in dieser schen Kultur mit Spannung gefolgt und stimme dei streng bipolaren Logik folgerichtig als dem Sakralen un- ner Deutung uneingeschränkt zu. Widersprechen tertan betrachtet, er muss diesem zu Diensten sein und möchte ich dir aber in deiner Darstellung des Chris- hat sich religiösen Regeln unterzuordnen. In dieser Auf- tentums, dem du eine Sonderrolle innerhalb der fassung von Körperlichkeit, wie wir sie in den gesamten monotheistischen Religionen zusprichst, nämlich klassischen Werken der großen islamischen Theologen eine Entwicklung hin zu einem neuen Polytheismus. Michael Roes studierte wie al-Ghazali, al-Siouti und Ibn Taimiya finden, geht es, Das Gegenteil ist der Fall! Zum einen unterscheidet Psychologie, Philosophie und wie unser Freund Farid Zahi schreibt, immer nur um »den sich die Auffassung von Körperlichkeit, wie du sie Germanistik. Als Regie- und Körper im Dienste des Sakralen«. Der Körper besitzt kein in den klassischen Werken von Al-Ghazali bis Ibn Dramaturgieassistent arbeitet er an der Schaubühne und den eigenständiges Handlungsrecht und darf schon gar nicht Taimiya findest, im Wesentlichen nicht von jener Münchner Kammerspielen. seinen Launen oder Gelüsten nachgeben. Ein Körper also, des Paulus, des Augustinus oder Benedikts XVI . 2012 – 2013 Research Fellow am der seine Eigenständigkeit und Freiheit gegenüber dem Sa- Und unter dem Druck des Dialogs mit den mono- Internationalen Forschungskol- kralen noch nicht entdeckt hat, der lediglich dem Ausdruck theistischen Bruderreligionen ist die Trinitätsleh- leg »Verflechtungen von einer höheren spirituellen Absicht dient. Man hat es hier re längst in die platonische Idee des Einen, Guten Theaterkulturen« der FU Berlin. Mitglied des PEN-Zentrums mit einem »entkörperlichten« Körper zu tun. Die religiö eingeschmolzen. Nein, das fragwürdige Konstrukt Deutschland; veröffentlichte sen Vorschriften bestimmen das Leben und den Tod die- der Trinität ist weder der Keim eines verborgenen Romane und Theaterstücke und ses Körpers. Der Gott, der Eifersüchtige, mischt sich auch Polytheismus, noch rettet es den Körper vor sei- führte Regie bei Dokumentar- beim Geschlechtsakt ein und bestimmt die Art und Weise ner Ab- und Entwertung. Das Wort ist nur Fleisch und Spielfilmen. 9
geworden, um am Kreuz zu enden. Der eine, eifersüchtige darfst mich nicht in Frage stellen, darfst mich nicht begreifen! dem Bett meiner Eltern habe ich mich versteckt und nach und nicht dem Buchstaben nach!«, schreibt Paulus, der Gott ist konfessionsübergreifend, sein patriarchalischer Dabei ist es doch ganz einfach: Es gibt nichts zu benen- kurzer Zeit tief geschlafen, vielleicht um die Gefahr für eine Chefideologe einer neuen jüdischen Sekte, an die römische Zugriff auf unsere Körper unterscheidet sich in den gro- nen, nichts zu befragen, nichts zu begreifen. Es gibt nur ein Weile zu vergessen. Im Schlaf habe ich gesehen, wie ich wie Gemeinde (Römer 2,28–29). ßen monotheistischen Religionen nicht. Er ist nicht nur fundamentales Interesse der Priester und Väter, diesen ein verlorener Hund durch die Stadt rannte, verfolgt von Zweifellos geht es also auch um eine Verletzung der derjenige, der uns unserer Körper entfremdet. Er selbst Phantomschmerz aufrechtzuerhalten. Was sich vom Körper einem Hubschrauber, einem großen Hubschrauber, der Seele. Traditionell fand die Beschneidung ja nicht an Neu- ist der Große, der absolute Fremde, eben weil er selber sagen lässt, betrifft im selben Maß die Sprache: ihre In mir den Himmel verdeckte. Ich werde diesen Traum – im geborenen statt, sondern war ein vorpubertärer Akt, ein keinen Körper hat. Der Körper ist das Vertraute, das uns besitznahme, Einhegung und Entkörperlichung durch die Gegensatz zu vielen anderen Träumen und Albträumen mei- Mannbarkeitsritus. Und bevor wir ihn psychosozial oder gar Menschen Gemeinsame. In ihm liegt alle Hoffnung auf Götter bzw. ihre irdischen Stellvertreter. Auch die Sprache nes Lebens – niemals vergessen, wie ich auch den Schmerz metaphysisch interpretieren, müssen wir uns zunächst klar Verständigung, auf Begreifen, Annehmen und Hingeben hat einen Körper, bedarf einer Entsakralisierung, einer der Beschneidung immer in mir tragen werde. machen, was hier eigentlich geschieht: Sie ist ein gezielter begründet, denn diese eine Körper-Erfahrung teilen wir, Erdung, damit wieder sagbar wird, was sagbar ist, ohne An jenem Tag, wie ich später erfahren sollte, kehrte verletzender Angriff auf das Organ unserer Lust, damit allen unterschiedlichen Sprachen und Kulturen zum Trotz, (Selbst-)Zensur. Sprechverbote und Empfindungsverbote der Friseur (im Marokko der siebziger Jahre waren es vor fortan Lust mit Schmerz verbunden und vom technischen miteinander. Deshalb sind die Götter eifersüchtig. Deshalb gehen Hand in Hand. (…) allem traditionelle Friseure, die den Beschneidungsakt aus- Akt der Zeugung getrennt sei. setzt jeder Akt der Unterwerfung mit dem Schinden und führten) in seinen Laden zurück, ohne mich beschnitten Verstehen kann man diesen Angriff auf unsere Lust Schänden des Körpers ein. Weil Gott keinen Körper hat, Rachid Boutayeb: Lieber Freund, du willst eher über den zu haben. nur als Resultat der eigenen sadistischen Impulse, vor al- und damit keinen Sinn, zwingt er auch uns zur Körperver- Menschen reden, aber ist eine Rede über den Menschen lem aber als Angst vor dem der Lust inhärenten Veränder leugnung. Die »Fleischwerdung« Gottes im Christentum ohne das Göttliche möglich? Ich zweifle an dieser Möglich Michael Roes: Lieber Rachid, womöglich hast du Recht, ungspotenzial: Das freischwebende Begehren könnte Ge- und ihr Ende in Folter und Hinrichtung kann drastischer keit. Zumindest in der zirkulären Weltsicht des Monotheis- Beschneidung trägt den doppelten Charakter eines Opfers meinschaften sprengen und Regime stürzen, würde man die Totalität des Körperopfers für das Seelenheil nicht be- mus ist der Mensch nur eine blasse Version des Göttlichen. und einer Initiation. Was wird geopfert? Es lässt sich ge- ihm nicht von Anfang an schmerzhafte Zügel anlegen. Nur schreiben. Alle Emanzipationsschritte zur Rückgewinnung Nur in seiner Abwesenheit, in der Abwesenheit seiner Si- nau benennen: Geopfert wird ein wesentlicher Teil unserer durch das Einfrieren dieses Potenzials können die Macht- unserer körperlichen Autonomie und Integrität sind der gnatur, wie Khatibi schreibt, in der Abwesenheit seiner Lust / unseres Lustempfindens; geopfert wird ein Teil des strukturen einer Gesellschaft stabil gehalten werden. christlichen Orthodoxie abgetrotzt. Und ihr Widerstand, ei- Freiheit und in seiner Anwesenheit im Gläubigen erlangt Ichs, ein Teil der alten Identität für die vollgültige Mitglied- Eine Ordnung ohne Beschneidung indes ist nicht nur niger marginalisierter Dissidenten ungeachtet, ist nach wie der Mensch seine Existenz. Nur innerhalb unseres Gedächt- schaft im eigenen Clan. denkbar, sondern für eine auf beschleunigte Veränderungs- vor ungebrochen. Die Beispiele, vor allem unsere Sexualität nisses, das nicht nur Mündliches und Schriftliches, sondern Die Beschneidung ist ein tribaler Ritus. In ihm geht es prozesse angewiesene Gemeinschaft wie die westlichen betreffend, müssen hier nicht einzeln aufgeführt werden, auch Riten und Gebräuche wie die Beschneidung enthält, um das Einfrieren adoleszenter Energien, um Disziplinie- Industriegesellschaften sogar erwünscht. So hat der Westen sind sie doch seit zweitausend Jahren im Wesentlichen die- die sich in unseren Körper einschreibt. rung, Körperbeherrschung und Unterordnung des eigenen einen wesentlichen Teil traditioneller Initiationsriten abge selben geblieben. Eine Aufspaltung unserer Wirklichkeit Wir erleben das Göttliche als Gewalt gegen den eigenen Begehrens unter die Herrschaft der sozialen Gruppe, zu- schafft oder verwässert, mit der Folge, dass es scheinbar in Irdisches und Transzendentes zieht unweigerlich eine Körper. In dieser Urgewalt, die das ganze Leben zutiefst nächst einmal verkörpert durch den eigenen Vater. keine eindeutigen Beschränkungen der Lust und keine kla- Aufspaltung unseres Selbst in einen (uns korrumpierenden) prägt, findet jede aposteriorische Gewalt ihren Ursprung. Abraham war der erste Beschneider, der an sich und ren Übergänge zwischen Altersstufen und sozialen Grup- Körper und eine (um jeden Preis zu rettende) Seele nach Deshalb ist die Politik innerhalb der Weltsicht des Mono alles Männliche in seinem Herrschaftsbereich das Mes- pen mehr gibt. Doch frei von Übergangsriten ist auch der sich. Wenn wir diese Aufspaltung unseres Selbst heilen theismus nur als Beschneidung zu verstehen. Alles ist Be- ser setzte. So ist sie von ihrem Gründungsmythos an als Westen nicht, allenfalls kommen sie in einem subtileren wollen, müssen wir zunächst die Zersplitterung unserer schneidung. Durch Beschneidung erlangt die Weltsicht des stellvertretendes Sohnesopfer gedacht. Der Zwiespalt des oder bunteren Gewand daher, als schulische Prüfung zum Wirklichkeit (in Erfahrbares und zu Glaubendes) aufheben. Monotheismus ihre Zirkularität und damit ihre Herrschaft Patriarchen besteht darin, dass er einerseits den eigenen Beispiel, die bei vielen Schülern ja kaum weniger Ängste Gott ist es, der sich zwischen uns und unseren Körper, den über den Körper und die Seele. Die Beschneidung stellt Sohn tot wünscht, weil in ihm ein potenzieller Rivale heran und Fluchtfantasien auslöst als deine Beschneidungspanik. eigenen und den der anderen, stellt. Der Andere, Fremde eine Art Körpergedächtnis dar, und ohne Gedächtnis ist die wächst, andererseits aber in ihm fortleben und der eigenen Wenn das Ziel der Beschneidung die körperliche und ist ja nicht wirklich, das heißt unüberbrückbar fremd. Das Religion machtlos. Die Beschneidung verhindert das Ver Sterblichkeit entkommen will. Auf dem Beschneidungs- seelische Traumatisierung ist, können wir uns fragen, ob Wesentliche zur Verständigung und Nähe teilen wir mitein gessen, das einer Sünde gleicht, und der Körper ist nichts messer des Mohel, des jüdischen Beschneiders, ist bis heute nicht hinter einem Teil manifester Traumata versteckte ander. Er wird nur dann vollkommen fremd, wenn Gott, anderes als ein Gedächtnis. üblicherweise die Opferung Isaaks dargestellt. Und die Beschneidungs- oder Mannbarkeitsriten stecken. Ich denke der absolute Fremde, ins Spiel kommt und sich zwischen Das Leben bleibt im Gedächtnis gefangen. Wir müssen Knie des Paten, auf denen der zu beschneidende Knabe dabei zum Beispiel an die vielen traumatisierten Kriegs- uns stellt. In gewissem Sinne krankt sogar unser Dialog an das Vergessen üben! (…) festgehalten wird, symbolisieren die Altarsteine, auf denen heimkehrer. Womöglich ist die Traumatisierung ja nicht dieser sinn-losen Einmischung Gottes. Ich kann deinem Eines Tages erzählte mir ein Cousin heimlich, dass man Abraham seinen Sohn schlachten wollte. nur ein bedauerlicher »Kollateralschaden«, sondern neben Festhalten an einer (polytheistischen) Transzendenz nur mir den Penis beschneiden werde. Er hatte das Gleiche vor Und von Anfang an wurde mit der Verstümmelung ei- dem strategischen Training immer auch ein wesentlicher zuhören, kann ihr aber nicht folgen. Es entzieht sich mei- drei Jahren erlebt. Einen Monat lang musste er sich sogar nes wesentlichen Teils unseres Körpers die Beschneidung Teil soldatischer Erziehung. In gewisser Hinsicht erscheint ner Sprache, damit meinem Nachdenken und, ja, meiner auf allen Vieren bewegen. Ich hatte Angst, das zu erleben, des Geistes mitgedacht: »Denn nicht der ist Jude, der es mir der Soldat als die Reinform des beschnittenen Sohnes. Erf ahrung. Womöglich begründet das ja das Geheimnis was der Cousin erlebt hatte. Ich musste mich schützen. nach außen ist, und nicht das ist Beschneidung, die nach Einerseits soll er alle Erwartungen an männliche Wild- göttlicher Virulenz: seine sprachliche und argumentative Allein und machtlos habe ich mich gefühlt, verlassen von außen im Fleische ist, sondern der ist Jude, der es im Innern heit, Härte, Abenteuerlust und Todesverachtung erfüllen, Unf assbarkeit. Du darfst mich nicht beim Namen nennen, der eigenen Familie. Ich hatte aber eine geniale Idee. Unter ist, und Beschneidung ist die des Herzens, dem Geiste und zugleich wird er mit aller Macht zugerichtet, dieses 10 11
Potenzial zu beherrschen und einer Fremdbestimmung zur Verfügung zu stellen. Ein »richtiger« Mann ist nach wie vor ein kranker Mann: ein gehorsamer, amoklaufender Krieger, ein über sich hinauswachsender, sich vergewaltigender Athlet, ein furchtloser, selbstmordgefährdeter Held. Rachid Boutayeb: … und ein Selbstmordattent äter oder ein Märtyrer! Märtyrer ist nur ein anderer Name für den Mörder! Und alle – der Selbstmordattentäter aber vor allen anderen – hassen die Lust; die eigene Lust und die der An deren. Der Monotheismus als lustfeindliche Religion ist ein Hass auf die Anderen, weil der Monotheist die Wahrheit zu besitzen glaubt, und Wahrheit ist ein Gewaltakt. Lieber Freund, Deine Worte haben mir geholfen, den Akt der Beschneidung, den ich als Fünf- oder Sechsjähriger erlebt habe, besser zu verstehen, »ein gezielter verletzender Angriff auf das Organ unserer Lust«, weil die Lust, wie du es treffend beschreibst, Veränderungspotenzial beinhaltet. Aber der Monotheismus lehnt jede Form der Erneuerung ab. Die gewaltige Sozialisation innerhalb des Monotheis- mus bezweckt am Ende die Schaffung einer gleichförmigen kollektiven Identität der Gesellschaftsmitglieder und die Verfestigung dieser Identität durch Beschneidung und an- dere gewalttätige Mittel. Die Werte der Differenz werden innerhalb dieser Weltsicht diabolisiert. Wir müssen alle denselben Penis haben! Wir sind auserwählt! Das Gedächt- nis besitzt in diesem Zusammenhang das erste und letzte Wort. Im Ausgang dessen kann man auch die Herabstufung des Weiblichen verstehen. Das Gedächtnis ist maskulin, aufdringlich, herrschaftssüchtig, penisförmig! (…) Auszüge aus dem Buch Der eifersüchtige Gott: Ein Gespräch, Alibri 1013. (Seiten 29 – 34) 12
parahumane konstellationen von körper und technik Aktive Mimesis und tumultuöse Partnerschaften Karin Harrasser d ie fortgesetzte Vermischung von Körpern und Maschinen, wie wir sie derzeit beobachten, läuft nicht schicksalhaft auf eine restlose Vertilgung des Biologischen hinaus, wie es die Transhumanisten projektieren; aber Technik ist ebenso- Lebens unternommen hat. Insbesondere berichtet er über Reisen und Wanderausflüge, die er alleine oder mit seinem Freund unternahm. Bemerkenswert an seinen Erzählungen ist, dass er einen Aspekt bei Darwin betont, der gerne her- und das seither gehegt, gepflegt und laufend modifiziert wurde. Als die Schuhe anfangen zu zerfallen, begegnet der Autor zunächst einer gut geölten sozial- und medizin technischen Maschine: Er muss eine Verschreibung vor- with two spokes, his legs, and two fragments of a tire, his feet. He rolls successively on each of these fragments from heel to toe.« Im Text wird dann sukzessive der Unterschied zwischen Organ und Apparat in einem dynamischen Vor- wenig neutral. Mit Bruno Latour gesprochen: Wir delegie- untergespielt wird, nämlich, dass »Anpassung« immer auf weisen, damit er die neuen Schuhe bekommt, die äußerst gang aufgehoben. ren fortlaufend kognitive und physiologische Prozesse an ein Milieu bezogen ist, es also keine allgemeine Anpassung kurz ausf ällt; sein Orthopäde schreibt: »Kenny Fries cannot Die Brüder Weber hatten in ihrer Studie über Apparate ganze Netzwerke von Dingen, wir tun das auch schon sehr oder Evolution gibt, sondern nur eine spezifische. Anpas- ambulate without orthopedic shoes.« Mit Fiberglas werden bereits darüber spekuliert, wie, von den funktionalen Prin lange und leben folglich in einem technowissenschaftlich- sung und »Fitness« ist – auch bei Darwin – relational und dann Abdrücke von seinen Füßen und Beinen genommen, zipien menschlichen Gehens aus, Gehmaschinen konstru biologischen Milieu, in dem diese Geschichte ein- situationsspezifisch gedacht. Fries nimmt diesen Gedanken nach denen die neuen Schuhe nach modernsten Maßgaben iert werden könnten. Ziel ihrer Studie war die Formulierung gelagert ist. Nichts präjudiziert jedoch, dass die auf, wenn er beschreibt, wie er auf einer Bergtour seinem gefertigt werden. Sie sind sehr viel leichter, sehen schick anwendbarer »Vorschriften zum Bau von Maschinen, wel- Technisierung des Körpers der Linie der Optimie- Partner überraschend überlegen war, weil seine ortho- aus, passen aber nicht. Nach viel erfolglosem Ausprobieren che wie der Mensch von zwei Stützen getragen und durch rung, Leistungssteigerung und Updatekultur folgen pädischen Schuhe sich perfekt als Hilfsgeräte auf einem und Nachjustieren durch den Orthopädietechniker wird ein deren abwechselnde Streckung und Schwingung fortbe- muss. Aktuelle Erzählungen über die Verbindung Klettersteig nutzen ließen, während die Leitern über dem zweiter Versuch unternommen: Die alten Schuhe werden wegt werden«. Die Idee von kolossalen »walking von Menschen und Maschinen suggerieren das, steilen Abhang seinen »normalkörperlichen« Freund an in die Fabrik mitgeschickt. Sie werden dort abgegossen machines« der Zukunft inspirierte Holmes zwar, Erschienen in der wenn sie sich ornamental um eine Aufstiegslinie die psychische und körperliche Belastungsgrenze brachten. und mit dem Fußabdruck abgeglichen. Die neuen Schuhe initiierte jedoch anderes, nämlich die Präsentati- FIfF-Kommunikation, herausgegeben von von Reparatur zu Verbesserung, von Therapie zu Ähnlich erging es ihm beim Rafting im Grand Canyon: In kommen, passen erneut nicht und werden nach einigen on von im Hier und Jetzt praktizierter Schuh- und FIfF e. V. Karin Harrasser ist enhancement ranken. Sie sind zudem mit ökonomi- diesem speziellen »Milieu« hat er einen körperlichen Vorteil, Wochen weiterer, quälender Versuche in der hintersten Ecke Prothesenherstellung. Holmes’ Bewunderung für ISSN 0938-3476 Professorin für Kulturwissen- schaft an der Kunstuniversität schen Motiven durchsetzt: Sowohl das Ethos der weil er seine Beine gut im Kanu unterbringt und seine steife des Schranks abgelegt. Das Problem der neuen Schuhe ist die »unsichtbaren« Prothesen eines Dr. Palmers www.fiff.de Linz. Sie war an diversen unternehmerischen Selbstverbesserung als auch Hüfte ihm Stabilität gibt. Kenny Fries widmet sich gleicher- nicht, dass sie nicht »passen«, sie passen exakt, aber sie hat zwei Fluchtpunkte: die soziale Integration der kuratorischen Projekten Utopien der Wahrnehmungssteigerung und der Ver- maßen präzise wie lakonisch all den Vorgängen rund um sind nicht in der Lage, sich, wie ihre Vorgänger, stützend Prothesenträger und die anatomische Plausibilität der Pro- beteiligt, z. B. NGBK Berlin, netzung verbinden sich mit selbsterfüllenden Pro- die Bewegung auf dem Fluss: Dem Ein- und Aussteigen mit anzuschmiegen. Das neue Material kann nicht, was das alte thesenkonstruktion. Erstere resultiert in ein Plädoyer für Kampnagel Hamburg, TQ Wien. phezeiungen einer globalen Wachstumsideologie. Hilfe von improvisierten Rampen, der Logistik zwischen Leder konnte: aktive Mimesis. größtmöglichen Naturalismus der Prothese. Während die Mit Elisabeth Timm gibt sie die Zeitschrift für Kulturwissen- Neoprenanzug, Stock und Schuhen, dem Über-den-Fluss- Konzeption des »human wheel« den menschlichen Gang als schaften heraus. LetzteErzählungen von Vermischungen getragen-Werden und den neuen Fertigkeiten, die ihm im Aktive Mimesis statt Anpassung funktionale Abfolge begreift und an Prothesen mit nicht- Publikationen: Körper Wie kann man Mensch-Maschine-Verhältnisse an- Umgang mit Gerät, Fluss und Felsen erwachsen. Die Idee Betrachtet man den Komplex der aktiven Mimesis technik menschlicher Morphologie denken lässt (etwa an Roll 2.0. Über die technische ders angehen? Mir scheint, in Kenny Fries’ Buch The der Fitness, der Angepasstheit, ja selbst einer Überlegenheit, historisch, kann man ihn in der Prothetik und der Kyberne- stühle), drängt das soziale Argument auf möglichst genaue Erweiterbarkeit des History of My Shoes and the Evolution of Darwin’s The kippt durch die Einschränkung auf ein bestimmtes Mili- tik situieren. Das Prinzip der aktiven Mimesis findet sich Nachahmung der natürlichen Morphologie. Mit Blick auf Menschen, Bielefeld 2013; Prothesen. Figuren einer ory1 wird dies erahnbar. Kenny Fries wurde – ganz eu niemals in die Entwertung von weniger »Fitten« oder zum Beispiel in Oliver W. Holmes’ Text The Human Wheel, die anatomische Plausibilität von Gehhilfen betritt Holmes lädierten Moderne, Berlin ähnlich wie der inzwischen aus anderen Gründen in einen Imperativ der Selbstverbesserung: Das »Besser« It’s Spokes and Felloes von 18632. Der Bezugspunkt ist hier jedoch das Terrain einer funktional-rückkoppelnden Idee 2016.sehr bekannte südafrikanische Läufer Oscar Pisto- beschränkt sich selbst, bleibt situativ oder besser: situiert. der Sezessionskrieg und die im Anschluss daran sich als des Körpers. Er eröffnet Regionen des Nachdenkens, die rius – mit erheblich deformierten unteren Extre Es geht stets um eine bestimmte Praxis in einem bestimmten Industriezweig etablierende Prothesenindustrie. Das Em- sich nicht mehr auf einen naturgegebenen menschlichen mitäten geboren. Während die Eltern von Oscar P istorius Milieu, die aber Genuss, jouissance, bringt und, ja, ein Erle- blem seines Textes bildet ein stilisiertes Rad, das sich aus Körper als Ursprung und Ziel von Technik zurückbeziehen beschlossen, die Beine ihres Kindes amputieren zu lassen, ben von Können; von Können allerdings als teilsouveränes Beinen als Speichen und Füßen als Felgen zusammensetzt. lassen, sondern auf das Gebiet nichtmenschlicher Exis- um ihm ein möglichst »normales« Aufwachsen zu ermög Verhältnis zu einer bestimmten technisch-biologischen Um- Die biomechanischen Studien seiner Zeit und die Technik tenz führen. Die sechs beidbeinig amputierten Veteranen lichen – ein Kind, das von klein auf mit Prothesen zu ge- welt. In Kenny Fries’ Erzählungen wird außerdem kenntlich, der Schnappschussfotografie (»instantenous photography«) (»nullipeds« in Holmes’ Sprache), die er beim Training hen lernt, bewegt sich »normaler«, unauffälliger als eines wie sich Handlungsfähigkeit auf ganz unterschiedliche geben ihm dieses Bild ein: Aus der einschlägigen Studie beobachtet, würden dank der Prothesen zu »bilignipeds«, im Rollstuhl; während also die Eltern von Pistorius sich Akteure verteilt. Manche davon sind menschlich, manche von Wilhelm und Eduard Weber Die Mechanik der mensch zu »hybrids between the animal and the vegetable world.« für den radikalen Eingriff und für die technische Lösung technisch, manche gehören der gewordenen Umwelt an. lichen Gehwerkzeuge (1836) übernimmt er die Konzeption des Sprachlich und bildlich lässt Holmes in seiner Diskussion entschieden, wählten Kenny Fries’ Eltern den langen und All diese Agenzien wirken aufeinander ein, modifizieren menschlichen Gangs als Pendelbewegung. Dazu kommt der Prothetik den Menschen wie er ist hinter sich. Als Patriot mühevollen Weg, mit Hilfe orthopädischer Operationen einander und ergeben komplizierte Choreografien. Ohne das der fotografischen Evidenz geschuldete Wissen über fantasiert er freilich weiter von einer Verbesserung des U. S.- die Beine gehfähig zu machen. Fries verbrachte sehr viel Pathos kommt so ein Jenseits des Menschen ins Spiel: in die Abrollbewegung von der Ferse zur Zehenspitze. Muy- Menschen, einer Menschenart, die mit Hilfe technischer Zeit seiner Kindheit im Krankenhaus, mit dem Resultat, lyrischen Beschreibungen von Landschaften etwa, aber bridges und Mareys visuelle Beweisführung vorwegneh- Potenz über die »Anthropotechniken« (Peter Sloterdijk) dass er sich selbstständig fortbewegen kann, aber sichtbar auch in slapstickhaften Schilderungen von Materialwider- mend, erstellt Holmes Zeichnungsserien Gehender, um der Alten Welt triumphieren soll: »We profess to make men »anderskörperlich« blieb. In seinen Erzählungen und Ge- spenstigkeiten. die verschiedenen Phasen des Gangs darzustellen. Seine and women out of human beings better than any of the dichten schreibt er über diese Reise von einem Körper in Etwa, wenn das Paar orthopädischer Schuhe getauscht Schlussfolgerung: »Walking, then, is a perpetual falling joint-stock companies called dynasties have done or do it.« einen anderen und über viele weitere, die er im Laufe seines werden muss, das Fries vor 17 Jahren angepasst worden ist with a perpetual self-recovery«. Und weiter: »Man is a wheel, 16 17
Als ebenso zukunftsweisend wie die Prothesentechnik Computeranwendungen. Und bis heute finden die rekur- den prägnanten Gang ihres Vaters angeeignet, obwohl sie er fähig gewesen sein wird. Es gilt, ihn nicht fahrlässig erscheint Holmes – und damit komme ich zu Kenny Fries siven Effekte einer antizipierenden Anpassung, also der vollkommen gesund waren. »Im Spiel bleiben« meint auch in die Zukunft seiner Perfektionierung zu projizieren und zurück – ein bestimmtes Herstellungsverfahren von Schu- Umstand, dass durch den technischen Eingriff der Körper die Hingabe des Vaters an seinen Beruf, die wiederum ein damit die gegenwärtigen, konkreten Körper dem Druck der hen. Holmes’ Lobeshymne ist an einen gewissen Dr. Plumer grundlegend verändert ist, zumeist wenig Beachtung. Das ganzes Netzwerk an Technologien auf den Plan rief. Selbst andauernden Selbstverbesserung auszuliefern. adressiert, der als Befreier der unterdrückten Organe (es Sich-Einstellen-Können auf zukünftige Erfordernisse mag nachdem seine Berufstätigkeit beendet war, verfolgte er Mit einem Verständnis des Körpers im Futur II kommen geht um deformierte Zehen) gefeiert wird. Dr. Plumer sei eine menschliche Grundkompetenz sein, es bleibt jedoch seine Passion weiter: mithilfe einer aufwändigen Satelli- wir in die Nähe dessen, was Thomas Macho »inklusiven der »Garrison of these oppressed members of the body cor- zu fragen, was es bedeutet, wenn Körper mittels technisch- tenanlage, durch das Kommentieren der Spiele am Telefon Humanismus«5 nennt. Es wäre ein Weg, der den Humanis- poreal. He comes to break their chains, to lift their bowed funktionaler Modellierungen für die Zukunft eingerichtet usw. Die Worte, die Haraway für die Rolle der Technik im mus zuallererst als historisch spezifisch bestimmt. Dabei fingers, to strengthen their weakness, to restore them to werden. Der hohen Plastizität und Adaptabilität des men Leben ihres Vaters findet, betonen den Ermöglichungscha tritt zutage, dass der Humanismus auf einer spezifisch the dignity of digits.« Im Krieg, den die Füße, mit schlech- schlichen Körpers und seines Verhaltens wird eine techni- rakter von Technik, ohne der Technik gleich alles zuzu- abendländischen Definition des Menschen aufsetzt, die als tem Schuhwerk ausgestattet, gegen die Härte des Asphalts sche Modellierung ebenso wenig gerecht werden können trauen und zuzumuten. Die Subjektivierung des Vaters als solche problematisch ist: Der Humanismus der Aufklärung auszufechten hätten, wären die plumerschen Schuhe ein wie den je individuellen Rhythmen von Wachstum und professioneller Sportreporter erzählt sich nicht nach dem als »regulative Idee« (Immanuel Kant) ging vom Menschen großer Fortschritt. Was Holmes besonders fasziniert, ist, Verf all und all jenen unvorhersehbaren Wendungen, die ein Muster des »trotzdem«: Obwohl er behindert war, wurde als einem rational entscheidenden, über sich selbst und sei- dass die Schuhe von vornherein mit Blick auf die erforder Leben auszeichnen. Technisch antizipieren kann man nur er Sportreporter. Im Gegenteil, sagt sie, er habe stets seine nen Körper verfügenden Individuum aus. Mit der Zeit konn- ichen wechselseitigen Anpassungsprozesse zwischen Schuh Körper, deren zukünftiges Verhalten – wenigstens im Gro- »Autonomie-in-Relation« vorgelebt. Es war eine Autonomie, ten sich Sklaven, Frauen und Anderskörperliche ebenfalls und Fuß hergestellt werden: Der Schuhfabrikant lässt sich ben – bekannt ist, Körper, die sich innerhalb vorhersehbarer die sich innerhalb von Verhältnissen und Verbindungen her- Zugang zu den Rechten für Menschen verschaffen, indem einen gut eingegangenen Schuh des Kunden geben, um und wahrscheinlicher Zonen von Bedürfnissen bewegen. stellte, eine Autonomie in Transaktion. An anderer Stelle sie ihre Rationalität, Nützlichkeit und Selbstbeherrschung den neuen entsprechend den Abnutzungsspuren zu formen. bezeichnet sie die assemblage aus Mensch und Apparat, die unter Beweis stellten. Mit Macho und Haraway geht es mir Die zukünftige Passung wird mit Hilfe einer technischen Partner im Tumult ihr Vater war, als mess-mates. Die Neuprägung ist schwer zu darum, die Population der Handelnden und dabei den Hu- Abnahme der Geschichtlichkeit des Schuhs antizipiert – Mein zweites Beispiel nimmt hingegen die spinozis übersetzten, aber man könnte sagen: Partner in Unordnung, manismus selbst zu erweitern. Das wäre ein Humanismus, aktive Mimesis. tische Grundannahme – dass wir nie wissen können, was Partner in einem Tumult. Obwohl der Technikfeindlichkeit der nicht von einer Definition »des Menschen« ausgeht, Der Passungsvorgang wird durch diese antizipative Zeit- ein Körper vermag – zum Ausgangspunkt. Das Beispiel unverdächtig, fällt ein Gerät in H araways Erzählung aus nicht von »Mensch-sein« als einer unveränderbaren Quali- struktur invertiert. Im Probierzimmer des Prothesentechni- stammt aus Donna Haraways Buch When Species Meet.4 Darin dem Spiel heraus: Der letzte Rollstuhl ihres Vaters, der tät, sondern vom Humanismus als einem Horizont, in den kers, der »nursery of immature lignipeds« gewinnt Holmes denkt Haraway weniger über die technisch-biologischen technisch bei weitem fortschrittlichste, war kein mess-mate potenziell vieles und viele eingeschlossen sein können, die dann ebenfalls den Eindruck, der Anpassungsprozess liefe Hybridwesen nach, die sie berühmt gemacht haben, als mehr. Nicht, weil mit seinen technischen Det ails etwas gemeinhin nicht als Menschen gelten. so ab, »as if the artificial leg were the scholar, rather than über die Beziehung zwischen Menschen und Tieren. Umso nicht in Ordnung gewesen wäre, sondern weil er zu einem Damit ist eine Arena des Handelns anvisiert, die teil- the person who wears it.« Im Gesichtskreis der praktischen erstaunlicher ist, dass sich in der Mitte des Buchs ein klei- Zeitpunkt »ins Spiel« kam, als dieses für ihren Vater »aus- souveränen Akteuren (die wir letztlich alle sind) Raum gibt. Arbeit an der Verbesserung von Körpern und im weiten nes Kapitel über ihren Vater findet, der – um beim Thema gespielt« war. Es ging nun ums Sterben und der Rollstuhl Es ist die Idee einer politischen Arena, in der ungezählten Echoraum des Konzepts der Anpassung von Organismen zu bleiben – Sportreporter war und sich aufgrund einer war dabei kein Partner mehr. Akteuren Artikulationsfähigkeit zugetraut wird und nicht an ihre Umwelten sind bei Holmes soziale Passung und tech tuberkulösen Knocheninfekt ion Zeit seines Lebens auf Konsequent sucht Haraway hier nach Begriffen, die nur denjenigen, die sich vernünftig äußern und souverän nische Anpassung außerdem beinahe deckungsgleich. Ge Krücken und in Rollstühlen fortbewegte. Haraway stellt ihr erlauben, die Opposition von Humanismus und Post- agieren. Ein zentrales Momentum dafür ist, wer überhaupt sellschaftlicher Erfolg durch Unauffälligkeit verbindet sich zwei Momente in den Vordergrund: Erstens das Verhältnis humanismus zu umgehen oder zu unterlaufen. Denn nicht gehört wird und ob Widerspruch möglich ist. Haraway ver- mit einer antizipierenden Passung als Herstellungsprin von Erzählung und Welt und die weltschaffende Kraft von nur, was Technologien können oder wir mit ihnen können, wendet dafür das Wort response-ability, Respons-Fähigkeit. zip von körpermodifizierenden Artefakten. Beides sind Worten und zweitens den Umgang ihres Vaters mit den ist von Bedeutung, sondern auch die Art und Weise, wie In jeder Situation muss es das zentrale Anliegen sein, allen Wegmarken in der Etablierung flexibel-normalistischer verschiedenen technischen Hilfsmitteln. In beiden Fällen wir darüber sprechen. Ihre Figuren, egal ob sie »Cyborg« die Möglichkeit einer Erwiderung, eines Widerspruchs zu Systeme der Selbsteinrichtung, die ab dem ausgehenden ginge es darum, so Haraway, »im Spiel zu bleiben«. »Im heißen oder »Mein Vater der Sportreporter«, sind so ver- geben. Es müssen Vorkehrungen dafür getroffen werden, 19. Jahrhundert formalisiert und implementiert werden.3 Spiel bleiben« heißt, Beziehungen weiterzuspinnen, die standen zuallererst Figuren, die ein Problembewusstsein dass möglichst alles sich melden kann. Besser als der Be- Körpermodifizierende Artefakte antizipieren hier körperlich-zeichenhafter Natur sind. Auf diese Art und verkörpern. Ihr Credo ist: Wenn unsere Technokörper eine griff posthuman scheint mir dafür derjenige der assemblage also einen zukünftigen Körper und dessen Bedürfnisse. Weise wird auch eine Biografie hergestellt: Durch die Ver Erbschaft der modernen Wissenschaften und der kapita- zu passen, der in den Blick nimmt, wie in heterogenen Die Zukunft des Körpers wird im Prozess der Herstellung knüpfung von bios mit graphe, von gelebtem Leben und sei- listischen Wertschöpfung sind, gilt es, sich in diese Abs- Ensembles und ohne dass dabei vorneweg ein Konsens über des Artefakts aus seiner Vergangenheit heraus modelliert, ner zeichenförmigen Bearbeitung. Haraway hebt darauf ab, traktion hineinzubegeben und sie von innen zu bearbeiten. Ziele vorliegt, Verfahren, Objekte, Erfahrungen fabriziert wobei – und das ist ein Problem – von einer Kontinuit ät dass die spezielle Biografie ihres Vaters nicht schreibbar ist, Ein Ja zu Technologien muss aber nicht zwingend ein Ja werden. Vielleicht wäre, das ist mein letzter Vorschlag, aber zwischen vergangenen und zukünftigen Bedürfnissen und ohne seine schreibende Beziehung zum Sport einerseits zur Unvermeidbarkeitshypothese oder zu enhancement und eben noch passender: parahuman, ein Begriff, der weniger Bewegungsmustern ausgegangen wird. Dieses Prinzip fin- und zu seinen Krücken und Prothesen andererseits. Diese Selbststeigerung sein. Den Technokörper im Modus des an eine friedliche Koexistenz als ein wildes Neben- und det sich bis heute in allen »selbst lernenden« technischen hätten auch noch in die Bewegungsmuster der nächsten Futur II zu begreifen heißt, ihn als einen zu verstehen, von Durcheinander von unterschiedlichen Existenzformen Systemen, etwa in »intelligenten«, benutzerorientierten Generation hineingewirkt: Ihre beiden Brüder hätten sich dem wir immer erst hinterher gewusst haben werden, wozu denken lässt. 18 19
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