Mehr Mut zur Wildnis (essay)
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Mehr Mut zur Wildnis (Essay) Adrian Borgula Büro für Naturschutzbiologie (CH)* A more courageous attitude to wilderness (essay) Where nature protection is concerned, the expert assessment of an environment poses questions about its nat- ural and cultural heritage and its potential, about how representative it may be, about biodiversity in all its fac- ets and about its development or potential threats to its existence. Although the forest was the dominant hab- itat in the original natural European landscape, for a long time nature protection has devoted too little attention to it. There are diverse threats and deficiencies. However, in the Swiss forests positive developments are discern- ible. Thus nature protection is one of the basic functions of the forest, nature reserves are being created, the area of the forest is increasing, as are reserves of deadwood, and greater importance is being given to regener- ation suited to the site. Nevertheless much remains to be done to really achieve the goal of biodiversity and sus- tainability. For this purpose segregative and integrative measures are required. Since diversity needs surface area, in the first place it must be possible to set aside as forest reserves a quarter of the total forest area, spread over the whole country and preferably as natural forest reserves, in order to start the process of a long-term res- toration to the natural state. Here the conservation of natural self-regulating processes supersedes classical na- ture protection. With a series of further integrative measures, biodiversity must also be promoted over the whole remaining forest area and in the areas of transition to other habitats. An abundance of varied structures is the key to diversity of species. A more courageous attitude to wilderness and “untidiness” when dealing with the forest is to be recommended. Nature experiences in wilderness areas give the population the possibility of dis- covering diversity and natural processes and encourage respect for the innumerable other species and habitats. Keywords: biodiversity, nature protection, forest reserves, conservation of natural self-regulating processes doi: 10.3188/szf.2010.0286 * Brambergstrasse 3b, CH-6003 Luzern, E-Mail a.borgula@bluewin.ch A ls Naturschutzbiologe bin ich gewohnt, mich Es gibt in unseren Breiten keine wirklichen Lehrbei- bei Projekten zuerst einmal daran zu orien- spiele, keine Lebensräume gänzlich ohne den Ein- tieren, wie ein Lebensraum an einem gegebe- fluss des Menschen. Wenn es zwar in Europa ein paar nen Ort natürlicherweise aussehen könnte, versuche Waldgebiete gibt, die nie direkt der menschlichen mir ein Bild ohne Einfluss des Menschen zu machen, Nutzung unterlagen – sie sind selten und klein ge- das naturräumliche Potenzial oder besser sein Erbe nug –, so gibt es jedoch keine Flächen, die nicht über abzuschätzen. Der zweite Schritt besteht dann darin, Luftverschmutzung und Klimaänderung und indi- zu beurteilen, wie der Mensch auf diesen Lebensraum rekt über die menschlich verursachten Verschiebun- gewirkt hat und ob besondere traditionelle oder viel- gen im Artengefüge von Fauna und Flora beeinflusst fältige Kulturformen vorhanden sind. Gleichzeitig sind. Verfolgung und Bejagung grosser Weidetiere, stellt sich die Frage nach der Biodiversität – Arten-, später ihrer Beutegreifer oder des landschaftgestal- Formen-, Lebens-, Struktur- und genetische Viel- tenden Bibers hatten offensichtliche Auswirkungen falt –, nach der Repräsentativität für das natürliche auf den Lebensraum, und zwar weiträumig, auch bis und kulturelle Erbe und nach der Entwicklung oder in die Urwälder. Viele indirekte, weniger augenfäl- einer möglichen Bedrohung des Lebensraums. lige Einwirkungen bleiben uns ohnehin verborgen, da das ökologische Wirkungsgefüge immens kom- plex und unser Einblick in dieses sehr bescheiden ist. Naturräumliches und kulturelles Erbe Wie genau eine ursprüngliche europäische Na- turlandschaft aussah, kann also nicht mehr ermit- Das naturräumliche Potenzial eines Lebensrau- telt werden. War der vorherrschende Wald ein «schö- mes abzuschätzen, ist schwierig und oft spekulativ. ner», stufig aufgebauter, geschlossener Wald, wie er 286 perspektiven Schweiz Z Forstwes 161 (2010) 8: 286–290
den Wald und die Naturnähe der bewirtschafteten Wälder wohl überschätzt wurde. Unterschätzt wurde dagegen die hohe Natürlichkeit von Wald auf Son- derstandorten beispielsweise in Steillagen und To- beln, wo die Bestände oft noch sehr nah am natür- lichen Potenzial sind. Aus der Notlage Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden ja die gesetzlichen Grund- sätze des Flächenerhalts und des Kahlschlagverbots, Forderungen, die sich heute zu weit herum akzep- tierten Grundwerten in der Waldpolitik, aber auch insgesamt in der Bevölkerung entwickelt haben. Da- mit war die Fläche gesichert, die Qualität aber nicht. Dass extremer Wirtschaftswald im Stil «Fichtenstan- genacker» herzlich wenig mit Biodiversität zu tun hat, wurde dabei weniger beachtet. Im Vergleich zur Landwirtschaftsfläche ist der Anteil naturnah beur- teilter Fläche aber viel höher: Er wurde von Buwal & WSL (2005) auf immerhin 57% geschätzt. Dass im Wald bei diesen Voraussetzungen der Anteil gefähr- Abb 1 Vitale Auen-, in der romantischen Malerei und in vielen Köpfen deter Arten geringer ist als etwa bei den Feuchtge- Bruch- und Feucht als Sinnbild für Natur pur gilt? Kaum. Einiges, bei- bieten, ist logisch. Allerdings liegt nur für einen sehr wälder kommen in der spielsweise der Artenreichtum der europäischen kleinen Teil der auf 32 000 geschätzten Arten des Schweiz kaum mehr Krautflora, spricht dafür, dass die Wälder stellen- Schweizer Waldes eine einigermassen zuverlässige vor. Foto: Jan Ryser weise offener waren. Denkbar, dass Lichtungen auch Gefährdungsanalyse vor. Gut möglich, dass gerade längerfristig offen blieben durch die Beweidung der unter Flechten, Moosen, Pilzen und Insekten bei ge- grossen Pflanzenfresser. Die Waldzerfallsphase mit nauerer Betrachtung noch zahlreiche gefährdete Ar- viel stehendem und liegendem Altholz, die aus Sicht ten zum Vorschein kommen, Arten notabene, die der Biodiversität enorm reichhaltige Bedingungen für das naturräumliche Erbe unserer Landschaft viel- für zahllose Arten besonders unter den artenreichs- leicht noch repräsentativer sind als manche attrak- ten Gruppen der Insekten und Pilze bietet, fehlt in tive Fokusart aus dem Offenland. vielen Vorstellungen ebenso wie die frühen Sukzes- Als wichtigste Grundprobleme aus Sicht des sionsstadien. Ich bin überzeugt, dass die ursprüng- Naturschutzes im Wald möchte ich nennen: liche Waldlandschaft äusserst vielfältig war: Ne- • die strukturelle Monotonie im Wirtschafts- ben dichten Flächen mit aus Konkurrenzgründen wald mit weitgehend geschlossenen, dunklen Be- schmalen, hoch wachsenden Bäumen stelle ich mir ständen bis zur Schlagreife, d.h. der Dominanz ei- auch wesentlich lichtere Verhältnisse an trockenen, nes mittleren Sukzessionsstadiums, steilen oder sehr feuchten Standorten, dynamisch • die standortfremde Baumartenzusammenset- durcheinandergeworfene Auenwälder entlang der zung in zu vielen Waldabschnitten, Fliessgewässer und mit liegendem Altholz übersäte • den Mangel an alten Baumriesen und an ste- wieder verjüngende Lichtungen vor. hendem und liegendem Alt- und Totholz, Lichtere und nährstoffärmere Verhältnisse • den gewaltigen Flächenverlust an vitalen entstanden dann stellenweise mit der traditionellen Auen-, Bruch- und Feuchtwäldern vor allem durch Waldnutzung ab dem Mittelalter, die dem Wald viel Flussbegradigung, Seeregulierung und Entwässe- Material entzog durch Brauchholznutzung, Bewei- rung (Abbildung 1), dung, Schneiteln und Lauben. Traditionelle Kultur- • den Mangel an naturschutzfachlich hochwer- waldformen wie der Mittelwald sind aus Sicht von tigen Wäldern auf trockenen Standorten, Naturschutz und Biodiversität ebenfalls von hohem • die scharfen Nutzungsgrenzen zwischen Wald Wert. und Landwirtschaft, • das stellenweise spärliche Zeugnis traditionel- ler Waldnutzung, Der Wald im Fokus des Naturschutzes • das durch die Klimaerwärmung verschärfte Eindringen von Neophyten in die Wälder, Dass der Naturschutz sich lange Zeit wenig mit • den anhaltenden Eintrag von belastenden dem Wald als Schutzziel beschäftigt hat, obwohl er Schad- und Düngestoffen über die Luft, ausser im Gebirge die dominante Vegetationsdecke • den zunehmenden Druck durch (laute) Erho- der ursprünglichen Landschaft darstellt, liegt einer- lungsnutzung seits daran, dass der direkte Druck durch Flächen- • und die erhebliche Fragmentierung der Wäl- zerstörung auf Feuchtgebiete viel höher war als auf der besonders im Mittelland. Schweiz Z Forstwes 161 (2010) 8: 286–290 Perspectives 287
Langfristige Prozesse mitzuerleben. Prozessschutz löst hier den klassi- schen Naturschutz ab. Besonders geeignet dafür ist Veränderungsprozesse im Wald laufen lang- die Revitalisierung von Auen und Auenwäldern in fristig. Veränderungen müssen also sehr gut über- den grossen Flusstälern, wo auch die grössten Wald- legt sein, aber auch zügig angepackt werden. Aus Na- defizite bestehen. Die höheren Flächenziele sind turschutzsicht sind positive Entwicklungen heute zwar ehrgeizig, aber genau genommen wird damit gut erkennbar. Naturschutz gehört zu den grundle- knapp erreicht, dass dereinst rund ein Zehntel der genden Waldfunktionen, Waldreservate sind am ent- ursprünglichen Waldfläche der Schweiz wieder in stehen, Waldfläche und Totholz nehmen zu, und auf einen hochwertigen, natürlichen Zustand versetzt standortgerechte Verjüngung wird mehr Wert ge- werden könnte, was eigentlich sehr moderat ist! legt. Heute kann ich die Umsetzung der standortge- Schliesslich ist es auch im Sinn der internationalen rechten Baumartenzusammensetzung, wie sie mein Zusammenarbeit wichtig, dass, wenn wir Europäer Vater Ende der 1960er-Jahre als Oberförster in Lu- und Europäerinnen uns für den Schutz des tropi- zern begonnen hatte, allmählich in der Baumschicht schen Regenwaldes einsetzen, wir gleichzeitig glaub- erkennen. Für Forstleute ist die Langfristigkeit und würdige Bestrebungen zum Schutz der eigenen Wäl- nachhaltige Nutzung Alltag. Sie ernten kaum, was der aufzeigen können. sie säen, und nur so viel, wie nachwächst. Diese Grundhaltung steht in wohltuendem Gegensatz zur Schnelllebigkeit und kurzfristigen Gewinnorientie- Naturschutz auf der gesamten rung in der heutigen Gesellschaft. Waldfläche Wichtige Schritte auf dem Weg zu einem na- turschutzfachlich guten Umgang mit dem Schwei- Neben den Naturwaldreservaten soll Natur- zer Wald sind gemacht, aber es bleibt meiner Ansicht schutz in der jeweils angemessenen Form integral auf nach noch viel zu tun, um die Ziele von Biodiversi- der gesamten Fläche stattfinden. Biodiversität ist tät und Nachhaltigkeit wirklich zu erreichen. Zudem überall, selbst im Kleinsten (Abbildung 2). Unter dem wächst der Druck auf den Wald von aussen. Statt end- Aspekt der in der politischen Debatte leider auch zu lich den Bodenverschleiss zu stoppen mit einer qua- allerlei Unsinn missbrauchten Nachhaltigkeit sind die litativ hochstehenden Siedlungsverdichtung nach gesellschaftlichen Anliegen an den Wald langfristig innen, mit Umnutzung und Rückbau versiegelter Flä- zu sichern. Also müssen auf den übrigen drei Vier- che inklusive Strassen, wird der Ruf lauter, Waldfläche teln der Waldfläche Holznutzung, Erholung, Schutz zur Überbauung freizugeben, zum Glück bisher er- vor Naturgefahren und Biodiversität aufeinander ab- folglos. Die Nachfrage nach dem ökologisch wertvol- gestimmt werden. Der in der Schweiz gut etablierte len Rohstoff Holz wird grösser, und der Kostendruck Ansatz der multifunktionalen Waldwirtschaft sollte bei der Holznutzung führt zu erhöhter Mechanisie- verhindern können, dass sich – wie in der Landwirt- rung und Druck auf ökologische Rahmenbedingun- schaft – aus ökonomischen Überlegungen ein natur- gen. Und schliesslich ist die weit verbreitete Sparpo- ferner Wirtschaftswald grossflächig entwickelt und litik der öffentlichen Hand auch keine gute Basis, um von den übrigen Waldfunktionen zu stark separiert. Fortschritte in der Nachhaltigkeit zu erzielen. Integraler Waldnaturschutz heisst u.a. die Auswei- tung von Altholzinseln, ein deutlich erhöhter Anteil von liegendem und stehendem Totholz, der Schutz Prozessschutz mit mehr Fläche und von Biotopbäumen, der Rückbau alter Entwässerun- Wildnis gen, Artenförderungsprogramme für ausgewählte ty- pische Waldarten und die konsequente Umsetzung Zur Erhaltung und Förderung der Biodiversi- der standortgerechten Baumartenzusammensetzung tät und um den zukünftigen Generationen wirklich möglichst mit Naturverjüngung. Die Holzernte muss das gesamte Waldarten- und Waldformenspektrum auch mit Grossmaschinen schonungsvoll für Vege- zu hinterlassen, sind ganz verschiedene Massnah- tation und Boden erfolgen. Dass Lichtungen hin- men nötig. Waldreservate sind meines Erachtens das sichtlich Biodiversität durchaus interessant sind, darf naturschutzfachlich wichtigste Instrument, die Flä- nicht zu einer Aufweichung des Kahlschlagverbots chenziele müssen jedoch nach oben geschraubt wer- aus nutzungsökonomischen Gründen missbraucht den. Vielfalt braucht Fläche! Es muss möglich sein, werden. Man braucht sich hier ja nur die Hässlich- mindestens einen Viertel der Waldfläche als Wald- keit der Kahlschläge etwa in Skandinavien oder im reservat auszuscheiden, möglichst viel davon als Na- Mittelmeerraum vor Augen zu führen. Ein geräum- turwaldreservat, um langfristige Renaturierungspro- ter Kahlschlag ist ja auch ökologisch etwas ganz an- zesse in Gang zu setzen. Die räumliche Verteilung deres als eine natürliche Windwurffläche. muss garantieren, dass auch in den Tieflagen ausrei- Für die Artenvielfalt äusserst wichtig sind chend und flächige Reservate geschaffen werden. Übergangsbereiche zwischen verschiedenen Lebens- Dies erlaubt, diese Prozesse auch vor der Haustüre räumen, die Ökotone. Die Schweizer Landschaft 288 perspektiven Schweiz Z Forstwes 161 (2010) 8: 286–290
Exkursionen in verschiedene Tessiner Auen- wälder haben mir drastisch vor Augen geführt, in welchem Mass die «Neophytisierung» hier schon vo- rangeschritten ist. Da gibt es Waldabschnitte mit über 90% Neophyten-Deckung in der Krautschicht! Hier ist eine Bekämpfung wohl aussichtslos. Aber in Gebieten, in welchen sich die invasiven Arten erst allmählich ausbreiten, bestehen noch Möglichkei- ten, diese zu bekämpfen oder zumindest ihre Aus- breitung einzudämmen. Auch hier ist mehr praxis- begleitende Forschung gefragt. Diskutiert wird in diesem Zusammenhang die Lockerung des Giftver- botes im Wald und entlang der Fliessgewässer. Der Preis einer Lockerung könnte jedoch politisch wie ökologisch höher sein als der Nutzen. Neben praxis- relevanter Forschung ist hier auch Fantasie zur Be- kämpfung gefragt. Abb 2 Drei Gelbbauchunken (Bombina variegata) in einer wassergefüllten Wagenspur eines Forstwegs in einem ehemaligen Auenwald der Luzerner Reussebene. Die Unke, eine Hochwasserschutz und Naturschutz ausgeprägte Pionierart, besiedelt oft solche Kleinstgewässer in feuchten Wäldern. im Clinch zeichnet sich durch eine scharfe Trennung zwischen Ein latenter Konflikt besteht zwischen Hoch- den verschiedenen Nutzungen aus: Auf die Fettwiese wasserschutz und Naturschutz am Fliessgewässer. Im folgt oft direkt der Hochwald. Waldrandaufwertung berechtigten Interesse des Hochwasserschutzes wer- durch die Schaffung gestufter, ausfransender Wald- den stellenweise Waldtobel mehr oder weniger von ränder wird zunehmend als Naturschutzmassnahme Totholz geräumt und schwere Einzelbäume entfernt, eingesetzt, meist allerdings waldseitig. Da im Offen- damit vor allem die Gefahr von Verklausungen und land grössere naturschutzfachliche Defizite bestehen Überschwemmungen in den unterliegenden Sied- und Waldrandaufwertungen auch im Sinn der Öko- lungsgebieten reduziert werden kann. Tobelwälder qualitätsverordnung oft gute Vernetzungsachsen bil- sind aber gerade im Mittelland oft noch die letzten den, sollte der grössere Teil der Waldrandwertungen Relikte sehr naturnaher Waldbestände. Totholz im auf der landseitigen Fläche vorgenommen werden. Gewässer ist ein Kernpunkt für die Struktur- und Ar- Ein für die Wälder meines Erachtens noch zu tenvielfalt in den Fliessgewässern (Abbildung 3). Als wenig beachtetes Problem ist die starke Fragmentie- Naturschutzbiologe muss ich fordern, dass möglichst rung der Landschaft, besonders im Mittelland. Für viel Holz im Einzugsbereich der Fliessgewässer ver- grössere Waldtiere ist das Bestreben, mittels Wild- bleibt, und als Politiker muss ich dann die Alterna- tierkorridoren eine Vernetzung grösserer Waldkom- tiven vorbereiten. Die können darin bestehen, aus- plexe zu erreichen, ein etabliertes Mittel, wenn es gangs der Tobel und in Flusskurven ausreichend auch mit der Umsetzung noch hapert. Für Pflanzen- Holzrückhalteräume bereitzustellen und generell und Pilzarten mit eingeschränkter Verbreitungsmög- den Fliessgewässern mehr Raum zu geben, was ja lichkeit und wenig mobile Tierarten ist dies aber kein wiederum für die Vernetzung sehr förderlich ist. zweckmässiger Lösungsansatz. Zwar haben viele kleinere Arten in isolierten Wäldern durchaus Po- pulationsgrössen, die ein längerfristiges Überleben Walderlebnis und Landschaftslektüre möglich machen können. Nach einem lokalen Aus- sterben infolge Krankheit oder Klimaerwärmung Ich möchte diesen Beitrag abschliessen mit der oder eines grösseren Holznutzungseingriffs ist aber Aufforderung, beim Umgang mit dem Wald mehr eine Wiederbesiedlung sehr unwahrscheinlich. So Mut für Wildnis und «Unordnung» und mehr Musse gesehen könnten viele lokale Populationen auf den für Erlebnis und «Lektüre der Landschaft» aufzu- isolierten Waldinseln langfristig letztlich dem Un- bringen. Strukturreichtum ist der Schlüssel für Ar- tergang geweiht sein. Verbreitungsmechanismen tenvielfalt. Da braucht es das «Durcheinander» der und Populationsdynamik vieler Arten sind aller- Wildnis. Mir scheint wichtig, in ausgewählten Teil- dings erst ungenügend bekannt. Hier ist die For- flächen der Landschaft die natürlichen Fluss- und schung gefragt, eine Forschung, die sich aber in den Wuchskräfte frei gestalten zu lassen, damit die Men- letzten Jahren leider zunehmend aus der Arten- schen erkennen und erleben können, dass es neben kenntnis und naturschutzfachlichen Praxisorientier ihrem eigenen Wirken noch andere wichtige Kräfte ung zurückgezogen hat. und zahllose andere gleichberechtigte Arten gibt. Schweiz Z Forstwes 161 (2010) 8: 286–290 Perspectives 289
kann Wildnis im Kleinen in einem der Waldtobel ablesen, die wie Naturfinger mitten in das Stadtge- biet von Luzern greifen. Ich konnte in den transkar- patischen Buchenurwäldern erleben, wie auf Stelz- wurzeln wachsende Bäume dokumentieren, dass ihr Ursprungssamen einst von Vögeln im liegenden Tot- holz alter Baumleichen vergessen worden war, oder ich lese im Reusstal-«Auenwald», der längst vom Fluss abgetrennt ist, wo sich die Bacharme der frü- heren aktiven Aue durchbewegt hatten. Erstarrte Be- wegung, die darauf wartet, wachgeküsst zu werden. Wenn aus Naturerlebnis mehr Respekt für Natur und WiIdnis erwächst, kann dies nur gut sein für eine Gesellschaft, die Nachhaltigkeit dringend nicht nur auf dem Papier, sondern in die Realität umsetzen muss. n Eingereicht: 7. Juni 2010, akzeptiert (ohne Review): 7. Juni 2010 Abb 3 Totholz fördert Natürliche Prozesse wie auch das Wirken des Men- die Struktur- und schen in der Landschaft zu lesen, gehört für mich A rtenvielfalt in Ge Literatur zum Faszinierendsten. Ein geduldiger Blick öffnet wässern. Foto: Heidi Jost die Augen, macht die Spuren des letzten Hochwas- BUWAL, WSL (2005) Waldbericht 2005 – Zahlen und Fakten sers im Napfbach oder die Spuren früherer Terras- zum Zustand des Schweizer Waldes. Bern: Bundesamt Um- senkulturen im Tessiner Hangwald erfahrbar. Ich welt Wald Landschaft. 151 p. Mehr Mut zur Wildnis (Essay) Oser le naturel (essai) Für naturschutzfachliche Beurteilungen stellt sich die Frage Les questions suivantes se posent pour pouvoir faire une ap- nach dem natürlichen und kulturellen Erbe und dem Poten- préciation scientifique de la protection de l’environnement: zial eines Lebensraums, nach seiner Repräsentativität, nach l’héritage naturel et culturel, le potentiel d’un habitat, sa re- der Biodiversität in all ihren Facetten und nach seiner Ent- présentativité, la biodiversité sous toutes ses facettes, son dé- wicklung oder der möglichen Bedrohung. Obwohl der Wald veloppement et les dangers éventuels. Bien que la forêt ait der dominante Lebensraum der ursprünglichen Naturland- été le biotope dominant du paysage originel européen, la pro- schaft Europas war, hat sich der Naturschutz lange Zeit zu tection de la nature ne s’est longtemps que trop peu intéres- wenig mit diesem Thema beschäftigt. Bedrohungen und sée à cette thématique. Les menaces et manquements sont Defizite sind vielfältig. Im Schweizer Wald sind aus Natur- nombreux. Du point de vue de la protection de la nature, des schutzsicht aber positive Entwicklungen erkennbar. So ge- évolutions positives ont eu lieu en forêt en Suisse. Ainsi, la hört Naturschutz zu den grundlegenden Waldfunktionen, fonction forestière de protection de la nature est reconnue, Waldreservate sind am Entstehen, Waldfläche und Totholz des réserves forestières sont en cours de réalisation, la sur- nehmen zu, und auf eine standortgerechte Verjüngung wird face forestière et le bois mort en forêt augmentent, et plus mehr Wert gelegt. Dennoch bleibt noch viel zu tun, um die d’attention est portée à un rajeunissement avec des essences Ziele von Biodiversität und Nachhaltigkeit wirklich zu errei- en station. Malgré cela, il reste encore beaucoup à faire pour chen. Dafür sind segregative und integrative Massnahmen atteindre les objectifs de la biodiversité et de la gestion du- nötig. Da Vielfalt Fläche braucht, muss es prioritär möglich rable. Des mesures ségrégatives et intégratives sont ainsi né- sein, mindestens einen Viertel der Waldfläche über die ganze cessaires. Etant donné que la diversité a besoin de place, il Landesfläche verteilt als Waldreservat auszuscheiden, mög- faut en priorité mettre au moins un quart de la surface fores- lichst viel davon als Naturwaldreservat, um langfristige Re- tière, réparti sur l’ensemble du pays, en réserve. Autant de naturierungsprozesse in Gang zu setzen. Prozessschutz löst ces surfaces que possible devraient être en réserve intégrale hier den klassischen Naturschutz ab. Mit einer Reihe von wei- afin de mettre en route des processus de renaturation à long teren integrativen Massnahmen muss Biodiversität auch auf terme. Une protection basée sur les processus remplace ici la der gesamten übrigen Waldfläche und in den Übergangsbe- protection de la nature classique. La biodiversité doit être pro- reichen zu anderen Lebensräumen gefördert werden. Struk- mue sur toutes les autres surfaces forestières ainsi que dans turreichtum ist der Schlüssel für die Artenvielfalt. Mehr Mut les surfaces de transition vers d’autres milieux par une série zu Wildnis und «Unordnung» im Umgang mit dem Wald wird de mesures intégratives. La richesse des structures est la clef empfohlen. Naturerlebnis in Wildnisgebieten ermöglicht der pour une diversité des espèces. Il est recommandé d’avoir Bevölkerung die Erfahrung von Vielfalt und von natürlichen plus de courage et de laisser de la place pour le «sauvage» et Prozessen und fördert den Respekt für die zahllosen anderen le «désordre» en forêt. Par des moments vécus dans une na- Arten und Lebensräume. ture sauvage, la population pourra apprendre à connaître la diversité et les processus naturels, et développera plus de res- pect pour les nombreux habitats et espèces. 290 perspektiven Schweiz Z Forstwes 161 (2010) 8: 286–290
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