MITTEILUNGSBLATT ZENTRUM FÜR REGIONALGESCHICHTE - Alemannia ...

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MITTEILUNGSBLATT ZENTRUM FÜR REGIONALGESCHICHTE - Alemannia ...
Stammbaum der Familien Forstmeister-Schleifrass,
Eigentum Geschichtsverein Gelnhausen e.V.
Foto: Zentrum f. Regionalgeschichte

                                                   45 . J A H R G A N G · 2 0 2 0
                                                                                            ZENTRUM FÜR
                                                                                            MITTEILUNGSBLATT

                                                                                            REGIONALGESCHICHTE

                                                   KREISAUSSCHUSS DES MAIN-KINZIG-KREISES
MITTEILUNGSBLATT ZENTRUM FÜR REGIONALGESCHICHTE - Alemannia ...
INHALT

LIEBE LESER*INNEN,
                                                                    Wenn jeder Fleck zum Hinweis wird
Einmal mehr eine bunte Themenpalette regionaler Geschichte          Ein rätselhafter Stammbaum der Forstmeister-Schleiffras
                                                                    Joselyn Grimm ............................................................. 4
liefert das vorliegende Mitteilungsblatt. Einblicke, Wissen und
Bilder, die uns zu bereichern vermögen.                             Orber Salz für die Spessartgemeinden
                                                                    im Mainviereck
                                                                    Überarbeitete und gekürzte Fassung einer
Rätsel schon zu Beginn. Farbprächtig ziert der Stammbaum der        Abhandlung in: Beiträge zur Geschichte der Stadt
Familien Forstmeister-Schleifras den Titel. Wozu diente wohl        und des Raumes Lohr
diese „Familienaufstellung“ besonderer Art?                         Dr. Jürgen Ackermann ................................................ 9
                                                                    Wenn Gläser sprechen könnten…
Inhaltlich weiter geht es von der Urkundenkunst zum handfesten      Verleihung der Kardinalswürde an Franz Christoph
Salzgeschäft: Weil heißbegehrt, da unentbehrlich, floss das Orber   von Hutten zum Stolzenberg durch Kaiser Franz I.
„weiße Gold“ jahrhundertelang über den Eselsweg in die Spes-        Dr. Markus Lothar Lamm ............................................ 14
sartgemeinden des Mainvierecks, bis billigere Quellen den Markt     500 Jahre Windecker Rathaus
verdarben.                                                          Ein steingewordenes Sinnbild der Stadtgeschichte
                                                                    Erhard Bus und Frank Schmidt .................................. 17
Von evangelischer Kirche und der Arbeiterbewegung um 1900           Evangelische Kirche und Arbeiterbewegung
bietet die Firmengeschichte der Waechtersbacher Steingutfabrik      Eine Verhältnisbestimmung um 1900 aus Schlierbach
in Schlierbach eine Verhältnisbestimmung.                           bei Wächtersbach
                                                                    Anna Berting ................................................................ 24
Bau- und Kunstgeschichte erhellen Beiträge über das 500 Jahre       Kennst Du den „Wenkerbogen“?
                                                                    ein Plädoyer für die Orber Mundart
alte Windecker Rathaus und die Fenster des Glaskünstlers Ri-
                                                                    Hermann Heim ........................................................... 37
chard Schröder in der 1913/14 erbauten ev. Kirche zu Birstein.
Schließlich erzählt ein „sprechender Pokal“, von der Verleihung     Leben unter zwei diktatorischen Regimen und Flucht
                                                                    Sybille Behrens ............................................................ 41
der Kardinalswürde an Franz Christoph von Hutten zum Stol-
zenberg durch Kaiser Franz I.                                       30 Jahre „Archiv Frauenleben im
                                                                    Main-Kinzig-Kreis e.V.“
                                                                    Barbara Kruse ............................................................... 46
Der Beitrag „den Spessart von links sehen“ untersucht Dichtung
und historische Wahrheit in Gotthold Glogers Roman „Philomela       Rückbesinnung und Neubeginn
                                                                    Die Fenster von Richard Schröder in der 1913/14
Kleespieß trug die Fahne“ von 1953. So erfährt man viel Lehr-
                                                                    von Ernst Faust erbauten Ev. Kirche zu Birstein
reiches am Beispiel der Geschichte von Villbach und Lettgen-        Dr. Götz J. Pfeiffer ....................................................... 50
brunn über wechselnde politische Strömungen und deren
                                                                    Den Spessart von links sehen
Rezeption im Laufe der Zeit.                                        Gotthold Glogers Roman „Philomela Kleespieß trug die
                                                                    Fahne“ (1953) und sein historischer Hintergrund
Geschichte zeigt sich auch an individuellen Lebenslinien. So wird   Herbert Bald ................................................................. 55
das „Leben unter zwei diktatorischen Regimen und Flucht“ der        Nur zwei von 400 Schlüchterner Juden kamen
Julie Peukert nachgezeichnet sowie der letztlich hoffnungslose      nach dem Holocaust zurück – in eine fremde Heimat
Versuch von Paula und Alexander Kohn nach dem Holocaust in          Zum Schicksal von Alexander und Paula Kohn
ihre Schlüchterner Heimat zurückzukehren.                           Ernst Müller-Marschhausen ........................................ 79
                                                                    Der Eisvogel im Main-Kinzig-Kreis
Auch schon Geschichte ist die kommunale Gebietsreform, die          Bericht des NABU MKK-Arbeitskreises Eisvogel
vor 50 Jahren aus drei Landkreisen den Main-Kinzig-Kreis            für die Jahre 2017– 2019
                                                                    Dr. Matthias Kuprian, Sibylle Winkel
formte, und auf 30 Jahre Forschungsgeschichte kann das „Archiv
                                                                    und Ritsch Euler .......................................................... 89
Frauenleben im Main-Kinzig-Kreis e.V.“ zurückblicken.
                                                                    50 Jahre Gebietsreform Main-Kinzig-Kreis
                                                                    Hans-Wolfgang Bindrim M.A. .................................... 95
Ein Blick auf den „Wenkerbogen“ von Bad Orb erhellt die heimi-
sche Dialektforschung.
                                                                       TITELBILD
Der Bericht des „NABU-MKK-Arbeitskreises Eisvogel“ für die             Eine „Familienaufstellung“ besonderer Art bietet der Adels-
                                                                       stammbaum der Familien Forstmeister-Schleifras aus der Mitte
Jahre 2017– 2019 beschließt den vielfältigen Inhalt dieser Aus-
                                                                       des 18. Jahrhunderts. Beide Familien sind über Jahrhunderte
gabe und lässt hoffen! Die Art befindet sich in den naturnahen         in unserer Region fassbar. Das farbenprächtige und mit kostspie-
Teilen des Kreisgebietes in einem günstigen Erhaltungszustand.         ligen Farben wie Gold und Blau ausgestattete Pergament wurde
                                                                       für Carl Friedrich Forstmeister von Gelnhausen angefertigt, der
Gleichwohl macht es Sinn, der Spezies mit Schutzmaßnahmen              von 1731–1814 lebte. Lange hatten die Forstmeisters die Burg-
zu helfen.                                                             mannen von Gelnhausen gestellt und zahlreiche Einkünfte
                                                                       besessen. Zur Entstehungszeit des Stammbaumes war es damit
                                                                       bereits vorbei. Wozu diente dann der aufwendige Stammbaum?
Wir wünschen Ihnen eine gute Lektüre!
Christine Raedler

45. Jahrgang · 2020                                                               MKK · Mitteilungsblatt · Zentrum für Regionalgeschichte               3
ZUM SCHICKSAL VON ALEXANDER UND PAULA KOHN

Nur zwei von 400 Schlüchterner Juden
kamen nach dem Holocaust zurück –
in eine fremde Heimat
Zum Schicksal von Alexander und Paula Kohn

Ernst Müller-Marschhausen

Rückkehr auf „blutbefleckte Erde“          barn, Freunde ermordet wurden. Es           den Entwurf eines Charakterbilds die-
                                           waren allenfalls zwei- bis dreitausend      ser außergewöhnlichen Persönlichkeit
    Alexander Kohns Biographie passt       von ehemals 600.000 jüdischen deut-         anbieten und uns die Möglichkeit
in kein Genre, sondern begründet ein       schen Staatsbürgern, die kurz nach          geben, über Motive seiner Entschei-
eigenes. Seine Geschichte ist so wahr,     Kriegsende ins Land ihrer Verfolger         dungen zu spekulieren und seine Teil-
dass man sie für erfunden halten           zurückkamen und versuchten, in ihren        habe und Teilnahme am gesellschaft-
möchte. Er und seine Frau Paula waren      Heimatgemeinden wieder Fuß zu fas-          lichen und geschäftlichen Leben im
die einzigen von 400 Schlüchterner         sen. Ihre Rückkehr auf „blutbefleckte“      Bergwinkel zu würdigen und hierbei
Juden, die nach dem Holocaust, am 22.      Erde provozierte die Kritik internatio-     stets die Rolle im Auge zu behalten, die
November 1945 zurückkehrten, in ihre       naler jüdischer Organisationen. So pro-     seine Frau Paula in allen wichtigen Ent-
Heimatstadt Schlüchtern, in ihre Woh-      klamierte der Jüdische Weltkongress:        scheidungen spielte.
nung in der Obertorstraße 34, und sich     Nie wieder sollen Juden in Deutschland
wieder einbürgern ließen und hofften,      leben. Und die Jewish Agency rief die
nach dem Ende des nationalsozialisti-      wenigen Rückkehrer dazu auf, das            Den Zwanzigjährigen verschlägt
schen Regimes ein „anderes“ Deutsch-       Land wieder verlassen.                      es nach Schlüchtern
land vorzufinden. Sie waren zugleich           Was mag den Holocaustüberleben-
die einzigen jüdischen Rückkehrer im       den Alexander Kohn bewogen haben,               Kurz vor Ausbruch des Ersten Welt-
ganzen Kreis Schlüchtern mit seinen        wieder in seine Heimatstadt zurück-         kriegs verließ der 20jährige Alexander
11 jüdischen Gemeinden und rund 900        zugehen, hatte er doch nach der Be-         Kohn sein Elternhaus im böhmischen
Mitgliedern, die es vor 1933 gab.1         freiung aus dem KZ Theresienstadt mit       Dörfchen Roßhaupt in der K.-u.-k.-Mo-
    Alle waren vertrieben oder depor-      seiner Familie schon in Prag in der         narchie und machte sich auf den Weg
tiert, 130 Schlüchterner in den Todes-     wieder errichteten Tschechoslowakei         irgendwohin ins Preußische, um dort
lagern ermordet worden. An sie erinnert    eine – wenn zunächst auch sehr pro-         sein Glück zu suchen. Sein Dörfchen,
eine Gedenktafel in der Synagoge in        blematische – Bleibe gefunden? Welche       in dem er Kindheit und Jugend ver-
der Grabenstraße.                          Erfahrungen und Erwartungen mögen           bracht hatte, liegt direkt hinter der heu-
    Alexander Kohn (30. August 1893)       letztlich seine Entscheidung herbei-        tigen deutsch-tschechischen Grenze,
und mit ihm seine Frau Paula (10. Au-      geführt haben, den illegalen Grenz-         einen Steinwurf weit von Waidhaus
gust 1897) hatten das KZ Theresien-        übertritt hinüber in die amerikanische      entfernt, und gehörte zum Landkreis
stadt überlebt, ihre Tochter Margret       Zone zu riskieren, um sich dann hun-        Tachau im Sudetenland. Heute heißt es
(1. Juni 1922) das KZ Auschwitz. Dass      derte Kilometer durchs kriegszerstörte      Radzow. Bis zum Ende des Zweiten
ein Holocaustüberlebender aus dem          Deutschland nach Schlüchtern durch-         Weltkriegs war die Region überwie-
Lager oder dem Exil freiwillig wieder in   zuschlagen? Waren es wirtschaftliche        gend von Deutschen besiedelt. Viele
seine Heimatstadt zurückging, war in       oder politische Gründe, oder war es viel-   von ihnen haben nach ihrer Vertrei-
den ersten Nachkriegsjahren eine ganz      leicht seine Absicht, mit seinen Verfol-    bung eine neue Heimat in den Städten
große Seltenheit. Deutschland war für      gern abzurechnen, oder – so befremd-        und Gemeinden des Kreises Schlüch-
Juden tabu. Wie kann man wieder in         lich das klingen mag – war es Heimweh       tern gefunden.
einem Land leben wollen, das einen         nach seiner Stadt? In seiner Lebens-            Was ihn gerade nach Schlüchtern
nur wenige Jahre zuvor vertrieb und        geschichte stoßen wir auf Ereignisse        geführt hat, darüber können wir allen-
deportierte und umbringen wollte! In       und verblüffende Verhaltensweisen, die      falls Vermutungen anstellen. Vielleicht
einem Land, in dem Verwandte, Nach-        sich zumindest als Anhaltspunkte für        hatte er hier in unserer Region Ver-

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ZUM SCHICKSAL VON ALEXANDER UND PAULA KOHN

     wandte, es könnten allenfalls sehr ent-
     fernte Verwandte gewesen sein, denn
     der Name Kohn erscheint nicht in un-
     seren Einwohnerlisten, vielleicht hatte
     er aber auch in Erfahrung gebracht,
     dass Schlüchtern eine ungewöhnlich
     große und wohlhabende jüdische Ge-
     meinde hatte, die deutsche Stadt mit
     dem höchsten jüdischen Bevölkerungs-
     anteil im Deutschen Reich. Womit er
     sich im Krieg und in den Nachkriegs-
     jahren hier in Schlüchtern über Wasser
     hielt, darüber haben wir keine verläss-
     lichen Informationen. Wir wissen aus
     den städtischen Registern, dass er wech-
     selnde Wohnanschriften hatte, die Was-
     sergasse 22, und später, zur Zeit seiner
     Eheschließung, wohnte er im Haus
     Schlossstraße 10. Wir können anneh-
     men, dass sich dieser strebsame junge
     Zuwanderer aus Böhmen für keine Ar-
     beit zu schade war und sich als tüchti-
     ger Alleskönner in Betrieben und Ge-
     schäften christlicher und jüdischer
     Schlüchterner anbot, und da er genüg-
     sam lebte, haben ihm seine Erspar-
     nisse Mut gemacht, eine Familie zu
     gründen. Er hielt um die Hand der
     Paula Adler an, Tochter des Handels-
     manns Baruch Adler in Hintersteinau,
     und am 26. Januar 1921 gaben sich die
     beiden im Schlüchterner Standesamt
     das Ja-Wort. Ihre Trauzeugen waren
     der eigens aus Roßhaupt angereiste
     Vater Alexanders, Siegmund Kohn,
     und Baruch Adler, aus Hintersteinau,             „Zigarren Kohn“ in der Obertorstraße 27
     Haus Nr. 25. In die Rubrik „Stand/Beruf“
     trägt der Standesbeamte bei Vater und            gret die Stadtschule besuchte, berich-    hold Rollmann und Schreinermeister
     Schwiegervater jeweils „Handelsmann“             tet, dass der Name „Zigarren-Kohn“ für    Karl Rudolf.
     ein, beim Bräutigam aber „Kaufmann“,             Geschäft und Familie Kohn stand und
     ein Indiz dafür, dass er den Aufstieg in         in der Stadt einen guten Ruf hatte. Im
     den Stand der angesehenen Kaufleute              Wiedergutmachungsverfahren nach           Eine ‚normal-glückliche‘ Schlüchterner
     der Stadt in einem Jahrzehnt geschafft           dem Krieg, als es um die Feststellung     Familie
     hatte. Nach einem Jahr kam ihre Toch-            des 1933 erlittenen wirtschaftlichen
     ter Therese Margret zur Welt, von allen          Schadens ging, gab ein ehemaliger Be-         Dass wir einen so subtilen Einblick
     nur Margret genannt; sie blieb das ein-          amter der Finanzbehörde zu Protokoll:     ins Familienleben der Kohns und in ihr
     zige Kind der Kohns.                             Kohn habe einen sehr gut gehenden         gesellschaftliches Leben in unserer
         Die Familie bezog eine Wohnung               Tabakwarenhandel, mit dem größten         Stadt nehmen können, danken wir vor
     im ersten Stock im Hauses Obertor-               Umsatz aller Schlüchterner Tabak-         allem einem mehrstündigen Interview,
     straße 34, und gegenüber, ein paar               warenhändler gehabt. Seinen Umsatz        in dem Margret Kohn, verheiratete
     Schritte stadteinwärts, im Haus Nr. 27,          habe er zum größeren Teil aus dem         Zentner, wohnhaft in Little Neck, New
     eröffnete Alexander Kohn einen Tabak-            Großhandel generiert. Er sei ein „äu-     York, am 26. Mai 1995 ihre Lebens-
     Waren-Laden. Im städtischen Gewerbe-             ßerst fleißiger und gewandter Ge-         geschichte im Rahmen eines Oral
     verzeichnis wurde es am 22. Juni 1921            schäftsmann und gewissenhafter und        History-Projekts geschildert hat.3 Aus-
     „für den Verkauf von Zigarren, Ziga-             zuverlässiger Steuerpflichtiger gewe-     führlich erzählt sie darin von ihrer
     retten, Tabak, Kautabak und Pfeifen“             sen.2 Dass Alexander Kohns kaufmän-       wunderbaren Kindheit im behüteten
     angemeldet. Ein „kleines und feines              nische Vertrauenswürdigkeit ebenso        Elternhaus in der Obertorstraße und
     Lädchen“ erinnerte sich der in der               wie die Bonität seines Geschäfts über     von anrührenden Erinnerungen an
     Nachbarschaft aufgewachsene Hans                 jeden Zweifel erhaben waren, bestäti-     ihre Schulzeit, und verbittert berichtet
     Lotz, und Anna Fuhrmann, geb. Deu-               gen im selben Verfahren auch die als      sie über die bösen Monate nach Hitlers
     ker, die in denselben Jahren wie Mar-            Zeugen benannten Frisörmeister Rein-      Machtergreifung bis zur Aberkennung

80   MKK · Mitteilungsblatt · Zentrum für Regionalgeschichte                                                            45. Jahrgang · 2020
ZUM SCHICKSAL VON ALEXANDER UND PAULA KOHN

der deutschen Staatsbürgerschaft und       Margret erlebte Idyll zuhause, in ihrer     bringt es zum Ausdruck, dass man die
der erzwungenen Ausbürgerung der           Schule und im Kreis von Freunden und        Kohns als noch immer nicht ganz da-
Familie im Spätherbst 1933. Breiten        Nachbarn der Familie, ging mit der na-      zugehörig ansieht, und zum anderen
Raum nimmt dann ihr Bericht über           tionalsozialistischen Machtergreifung       weckt es Assoziationen zu den selbst
ihre und ihrer Eltern Deportation in die   am 30. Januar 1933 jäh zu Ende.             von den eigenen Glaubensgenossen
Konzentrationslager ein, und schließ-                                                  diskriminierten „Ostjuden“. Die wur-
lich die Befreiung und Rückkehr nach                                                   den auch von den altansässigen Juden
Schlüchtern.                               Status und Ansehen der Familie Kohn         in Deutschland als höchst unwillkom-
    Es war ein „großes und fröhliches      in ihrer Schlüchterner jüdischen            mene, weil kulturell rückständige
Zuhause“, das Alexander Kohn seiner        Umwelt                                      Fremde betrachtet. Es mag überra-
kleinen Familie geschaffen hatte. Die                                                  schen, dass die große jüdische Ge-
Mutter war die Seele des Hauses, erin-         Wie hast Du’s mit der Religion?         meinde Schlüchterns einen gewissen
nert sich Margret, und sie war es auch,    Wird Alexander Kohn oft gefragt wor-        Abstand zu den Kohns hielt und sie als
die den Zigarren-Laden managte. Im         den sein, von seinen jüdischen Glau-        nicht ganz bodenständig einstufte,
Haushalt und der Pflege der fünf           bensgenossen und manchmal auch              obwohl ihnen allen doch hinlänglich
Hunde wurde sie unterstützt von einer      von seinen christlichen Weggefährten.       bekannt war, dass Alexander Kohn
Hausangestellten. Der Vater, wohl auch     Nun, in die meisten offiziellen Doku-       schon seit den Jahren vor dem Ersten
wegen seiner geschäftlichen Kontakte       menten lässt Kohn als Regionszugehö-        Weltkrieg in Schlüchtern lebte, dass er
zu Großhändlern und Großabnehmern,         rigkeit „israelitisch“ eintragen. Nach      ein „alter“ Schlüchterner war, dann,
sei ein „absoluter Draußen Mensch“         dem Krieg fehlt in einschlägigen be-        1921, deutscher Staatsbürger wurde,
gewesen. Überhaupt: Ihn zog es mehr        hördlichen Formularen gelegentlich          und im selben Jahr eine Frau aus altem
unter die Leute. Auch seine bevorzug-      diese Angabe. Dass sie weggelassen          jüdischen Bergwinkel-Adel geheiratet
ten privaten Gesellschaftskontakte gin-    wurde, könnte Zufall sein, man könnte       hat, und dass er es mit der Zurschau-
gen über die Grenzen des Beziehungs-       es aber auch als Ausdruck einer gewis-      stellung seiner preußisch-deutschen
netzes eines gewöhnlichen Schlüchter-      sen Distanzierung von der jüdischen         Gesinnung mit jedem anderen guten
ner Kaufmanns hinaus. Und es kam           Religionsgemeinschaft deuten, als eine      Schlüchterner aufnehmen konnte.
hinzu: Er war ein leidenschaftlicher       Art Lockerung seiner Bindung an die         Aber warum sich manche Glaubens-
Jäger und stöberte lieber in Gottes        ethnisch-religiöse Gruppe der Juden,        genossen den Kohns gegenüber eher
freier Natur herum, als an der Laden-      vielleicht auch als Ausdruck seines Wil-    reserviert verhielten, wird wohl auf ein
theke zu stehen. Seine Jagdgenossen        lens, sich nicht mehr über seine Reli-      ganzes Ursachenbündel zurückzufüh-
werden sich damals wohl wie die ganze      gion definieren zu lassen. Es spricht       ren sein: Zum einen, wie angespro-
grüne Front mehr konservativen politi-     manches dafür. Besonders fromm              chen, stieß man sich an Alexander
schen und gesellschaftlichen Leitvor-      waren die Kohns offensichtlich nicht.       Kohns liberaler Einstellung zur jüdi-
stellungen verbunden gefühlt haben         Margret erzählt in ihren Erinnerungen,      schen Religion. Dazu kamen die ab-
als er. Andere Freunde in Schlüchtern      dass die Familie die koscheren Speise-      seitigen Ressentiments gegen seine
und im ganzen Kreis, mit denen er          gesetze allenfalls freizügig auslegte. So   Herkunft aus Böhmen. Aber mit aus-
enge politische und auch persönliche       habe sich der strenggläubige Hinter-        schlaggebend werden sein parteipoliti-
Beziehungen unterhielt, wie Johannes       steinauer Großvater Baruch Adler,           sches Engagement in der SPD und, we-
Berthold und Philipp Deuker, waren         wenn er die Kohns in Schlüchtern mal        sentlicher noch, seine aktive Teilhabe
engagierte Sozialdemokraten. Offen-        besuchte, am Mittagstisch voller Ab-        und Teilnahme am Leben der Berg-
sichtlich gelang ihm der Spagat, sich      scheu von dem servierten Mahl abge-         winkel-Jägerschaft gewesen sein. Kohn
zwischen den politisch entgegenge-         wandt und höchstens ein gekochtes Ei        ist der einzige Name eines Juden, der
setzten Weltbildern bequem einzurich-      und eine Tasse schwarzen Kaffee zu          uns in den Dokumenten des Jagdver-
ten, denn beide Lager schätzten ihn in     sich genommen.                              einswesen begegnet. Er unterhält enge
gleicher Weise als aktiven „Genossen“.         Dass die große Mehrheit der „sehr,      Beziehungen zu seinen Jagdgenossen.
Sein SPD-Parteibuch hatte er schon         sehr religiösen“4 Schlüchterner Juden       Eine bis in die siebziger Jahre hinein
seit 1911. Auch seine Frau Paula hatte     den eher freigeistigen Kohns mit einer      mit wohlwollendem Schmunzeln er-
er für den Beitritt in die SPD gewon-      gewissen Reserviertheit begegnete,          zählte Geschichte mag seine Verbun-
nen. Und so galt bei durchreisenden        lässt auch eine Bemerkung der Ruth          denheit mit der grünen Front illustrie-
sozialdemokratischen Politikern die        Ephraim, geb. Sichel, früher wohnhaft       ren. Im ganzen Bergwinkel machte das
Obertorstraße 34 als eine bekannte         in der Bahnhofstraße 31, durchschei-        folgende, zur dramatischen Anekdote
Adresse. Einmal, erzählt Margret, habe     nen, als sie 1988 in einem Brief das        verdichtete und auch von ihm selbst
sogar der Zentrumspolitiker Heinrich       Leben der Schlüchterner jüdischen Ge-       kolportierte Jagd-Ereignis die Runde:
Brüning, der eine Koalition mit den        meinde schildert und mit dem Dünkel         Auf der Saujagd im Kressenbacher Forst,
Sozialdemokraten anstrebte, auf einer      der Alteingesessenen anmerkt, dass          so um die 1930er, geschah es, dass Ale-
Wahlreise in Schlüchtern Station ge-       „die sehr religiösen Juden der Stadt alle   xander Kohns Schuss einen Keiler nur
macht und sei bei ihnen eingekehrt.        preußische Staatsbürger waren, außer        verletzte, so dass der nun seinerseits
Sie habe sogar auf „Onkel Brünings         einer tschechischen Familie, die zuge-      Jagd auf den Schützen machte und ihn
Schoß gesessen, während Eltern und         zogen war“.5 Das Schlüsselwort „zuge-       so fürchterlich malträtierte, dass der
Gast über die Rettung der Republik dis-    zogene tschechische Familie“ wird sie       arme Jäger die Attacke nicht überstan-
kutierten“. Das von der zehnjährigen       mit Bedacht gewählt haben: Zum einen        den hätte, wäre ihm nicht der Hund

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ZUM SCHICKSAL VON ALEXANDER UND PAULA KOHN

     seines Jagdfreundes Karl Rudolf, Möbel
     Rudolf, zur Hilfe gekommen. Der hat
     das wehrhafte wütende Wildschwein
     von seinem Opfer abgelenkt und es auf
     seine Art zur Strecke gebracht.6

     Verfolgung und Ausbürgerung

         Die neue Zeit begann mit der Ver-
     haftung oppositioneller Parteiaktivisten
     in der Stadt, vornehmlich führender
     Sozialdemokraten und Kommunisten.
     Alexander und Paula Kohn und mit
     ihnen zwanzig andere profilierte Sozi-
     aldemokraten, unter ihnen Reichstags-
     kandidat Johannes Berthold und Phi-              SA-Männer boykottieren jüdische Geschäfte (Symbolbild, Bundesarchiv 102 14468).
     lipp Deuker, Vater von Anna Fuhrmann
     in der Alten Bahnhofstraße 7, wurden             Monarchie nach Aktenlage ganz sche-        Tschechei als Protektorat Böhmen und
     am 27. März von den Schlüchterner                matisch zunächst mal tschechischer         Mähren besetzten. Mehr noch als an-
     Braunhemden in Schutzhaft genom-                 Staatsbürger geworden, obwohl er seit      dere Juden waren die Kohns wegen
     men und in dem provisorisch einge-               Jahren schon in Schlüchtern lebte.         ihrer sozialdemokratischen Vergangen-
     richteten Lager auf Burg Schwarzenfels           1921 wurde er dann deutscher Staats-       heit schutzlos der Verfolgung und De-
     für vier Wochen gefangen gesetzt.7 Da-           bürger. Aber für die Nationalsozialisten   portation der Nationalsozialisten aus-
     nach musste sich Alexander Kohn täg-             galt seine damalige Einbürgerung als       gesetzt, gelähmt von der andauernden
     lich zweimal auf dem Schlüchterner               „nicht erwünscht“. Deshalb verfügte        Angst vor dem drohenden Transport
     Rathaus polizeilich melden. Bis zur              der Regierungspräsident in Kassel die      ins Ghetto und Konzentrationslager.
     Entlassung der Eltern hatte die elfjäh-          Aberkennung der Reichszugehörigkeit            Es hatte sich herumgesprochen,
     rige Margret mit Unterstützung der               der Familie Kohn und ordnete zugleich      dass Verheiratete einem Transport ge-
     Hausangestellten Liesel den Haushalt             ihre Ausweisung aus Deutschland an.        meinsam zugeteilt werden. Deshalb
     geführt und im Ladengeschäft den sel-            So wurden die Kohns aus ihrer Heimat-      hatten die Standesämter in jenen Wo-
     tener gewordenen Kunden Tabak und                stadt Schlüchtern vertrieben und emi-      chen alle Hände voll zu tun, um Hei-
     Zigarren allein verkauft.                        grierten am 5. September 1933 in die       ratswillige zu trauen. Margret hatte es
         Die Aktionen gegen die jüdischen             Tschechoslowakei. Sein Geschäft hatte      geschafft, noch einen Termin zu be-
     Schlüchterner folgten jetzt Schlag auf           er an Oskar Breusch verkauft; es gab’s     kommen. Sie hatte sich bei einem
     Schlag: Vier Tage später, am 1. April,           noch bis in die siebziger Jahre.           Familientreffen in den 24jährigen Kauf-
     dem Tag des reichsweiten Boykotts jü-                                                       mann Fritz Zentner, geboren am 22.
     discher Geschäfte, postierte sich auch                                                      August 1914 in Thönischen-Luditz
     vor Kohns Laden ein SA-Mann und ver-             Exil und Konzentrationslager               (Sudetenland) verliebt, und jetzt, kurz
     wehrte Kunden mit dem Schild „Kauft                                                         bevor sie zum Rapport für den Trans-
     nicht bei Juden“ den Zutritt. Im Som-                Im tschechischen Exil kamen die        port nach Theresienstadt antreten
     mer wurde das „Gesetz über den Wider-            Kohns zunächst für vier Monate bei         mussten, gaben sich die beiden das
     ruf von Einbürgerungen und die Aber-             den Eltern in Roßhaupt unter und           Ja-Wort. Alle vier, die Eltern Kohn und
     kennung der deutschen Staatsangehö-              hielten sich dann im Kreisstädtchen        das junge Paar Zentner, wurden ins
     rigkeit“ erlassen mit dem Ziel, linken,          Tachau ein paar Jahre lang mit einem       Ghetto Theresienstadt eingeliefert, dort
     vornehmlich auch jüdischen Politikern            Kleinhandel mit Haushalts- und Kü-         jedoch verschiedenen Lagern zugeteilt,
     und unerwünschten Künstlern und                  chengeräten über Wasser. Sie lebten in     so dass sich die Eltern und die jungen
     Schriftstellern die deutsche Staatsbür-          der Tschechoslowakei in wirtschaftlich     Leute nur sporadisch und heimlich
     gerschaft abzuerkennen und sie aus               bescheidenen, aber politisch insgesamt     treffen konnten. Im Sommer 1944 gin-
     Deutschland zu vertreiben. Im Sinne              sicheren Verhältnissen und mussten         gen Margret Zentner und ihr Mann
     „einer gesunden Rassen und Bevölke-              nicht um Leib und Leben fürchten.          „auf Transport“ nach Auschwitz. Von
     rungspolitik“ hob es darauf ab, Deut-            Margret war eine praktisch veranlagte      dort wurden wenige Monate später
     sche, die nach dem Ende des ersten               strebsame Schülerin. Schon als Sech-       Margret zur Zwangsarbeit ins Außen-
     Weltkriegs eingewandert und einge-               zehnjährige schrieb sie sich zum Stu-      lager des KZ Groß-Roosen und ihr
     bürgert wurden, „aus dem deutschen               dium in der Universität Prag ein. Dieser   Mann in eine Munitionsfabrik nach
     Volkskörper als unerfreulichen Neuzu-            friedliche Zustand fand für die Kohns      Landsberg überstellt.
     wachs zu beseitigen.“                            ein abruptes Ende, als die Nationalso-         Wir sind aus der Literatur eine eher
         Dieses Gesetz traf Alexander Kohn            zialisten im Oktober 1938 das Sudeten-     wissenschaftliche, allgemein gehaltene
     und seine Familie mit voller Härte: Er           land als Reichsgau Sudetenland dem         Darstellung über das kollektive Leben
     war ja als österreichischer Staatbürger          Deutschen Reich eingliederten und ein      und Sterben der Menschen in den Kon-
     geboren und nach Auflösung der K.-u.-k.-         halbes Jahr später die sogenannte Rest-    zentrationslagern gewohnt. Hier, in

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ZUM SCHICKSAL VON ALEXANDER UND PAULA KOHN

Margrets Erinnerungsbericht, begeg-        in Prag geplagt haben. Was mag er sich     zuvor umquartiert worden. Als sie
nen wir unmittelbar einem Einzel-          alles für seine innere Rechtfertigung      zwölf Jahre zuvor in die Tschechoslo-
schicksal, einer jungen Frau, die als      zurechtgelegt haben, um zu einer Ent-      wakei emigrieren mussten, konnten sie
Kind in Schlüchtern behütet und sor-       scheidung zu kommen, die seinen und        im Exil bis zur Deportation nach The-
genfrei aufgewachsen war und jetzt in      seiner Frau Interessen gerecht wird        resienstadt aus dem Erlös des Verkaufs
eine irdische Hölle hineingeworfen ist,    und sein Selbstbild nicht beschädigt.      des Tabakwarengeschäfts und von
Tag für Tag gequält und geschunden,        Wir vermuten, dass ihn die bösen Er-       ihren Ersparnissen sowie von den eher
wo sie wimmert vor Pein und schreit        fahrungen, die er nach seiner Befreiung    geringen Einkünften aus dem Handel
vor Schmerzen und um ihr Leben fleht.      aus Theresienstadt in Prag gemacht         mit Haushalts- und Küchengeräten
Was sie über den Lageralltag berichtet,    hat, in seinem heimlichen Wunsch           ihren Lebensunterhalt bestreiten. In
gehört zu den beklemmendsten Zeug-         stärkten, wieder in seine Heimatstadt      ihre Heimatstadt aber kehrten sie bet-
nissen der Erinnerungsliteratur. Das       zurückzugehen. Denn in den Wochen          telarm zurück. Sie lebten zunächst von
Format eines kurzen Aufsatzes würde        nach Kriegsende schlug das Pendel der      Zuwendungen (Hausrat und Lebens-
ihrem Martyrium und ihrem Anspruch         Gewalt zurück, und tschechische Roll-      mittel) der amerikanischen Ortskom-
auf empathisches Miterleben ihres Lei-     kommandos zogen mit Beneschs Parole        mandantur, von Haftentschädigungen
dens nicht gerecht werden, denn der        „schlagt sie, lasst keinen am Leben“       und Beihilfen zur Existenzgründung
Zwang zur komprimierten Darstellung        durch die Straßen, misshandelten jeden     des im Sommer 1945 gegründeten
birgt die Gefahr, dass die Sprache         und liquidierten Tausende, die Deutsch     „Zentralkomitees der befreiten Juden
schnell ins allgemein Formelhafte und      sprachen. Alexander Kohn hatte nie         in der amerikanischen Zone“, dem
Unpersönliche abrutscht.                   Tschechisch gelernt, sprach nur            späteren „Zentralrat der Juden in
    Alexander Kohns Familie hatte un-      Deutsch, und war in der Öffentlichkeit     Deutschland“. Bald griffen staatliche
beschreiblich großes Glück: Er und         den ethnischen Säuberungsexzessen          Hilfsmaßnahmen nach den von der
seine Frau haben Theresienstadt über-      ebenso ausgesetzt wie die anderen,         amerikanischen Militärregierung er-
lebt, und Tochter Margret und Schwie-      denn die Rächer unterschieden die          lassenen Gesetzen zur Entschädigung
gersohn Fritz Zentner sind aus der KZ-     Deutschsprechenden nicht nach Nazi-        jüdischer Nazi-Opfer. Diese Zahlungen
Zwangsarbeit zurückgekehrt. There-         Tätern und Nazi-Opfern. Dass er nicht      ermöglichten ihnen ein materiell an-
sienstadt wurde zwar schon im April        Tschechisch sprach und sich über den       nähernd gesichertes Leben und eröff-
1945 befreit, aber da eine Typhusepide-    engen Familienkreis hinaus nicht ver-      neten ihnen geschäftliche Perspekti-
mie grassierte, mussten die Gefange-       ständigen konnte, isolierte ihn und        ven, die sich bald in der Gründung des
nen noch bis Anfang Juni im Lager          machte ihn zu einem Fremden in sei-        „Akolith“-Werks in Sterbfritz konkreti-
ausharren. Erst jetzt haben sich alle      nem neuen politischen und gesell-          sierten.
vier wiedergesehen, in einer kleinen       schaftlichen Umfeld, ohne Aussicht,            Aber zunächst konzentrierte sich
Wohnung in Prag, die gerade von Deut-      geschäftlich wieder auf die Beine zu       das Interesse der Kohns auf eine
schen geräumt worden war. Als sie sich     kommen, eine Rolle zu spielen und          Bestandsaufnahme: Was hatte sich in
umschauten und nach ihren Verwand-         sich und der Welt zu beweisen, was er      ihren Exil- und Lager-Jahren in ihrer
ten suchten, überkam sie großes Leid.      kann. Er, der die Menschen mochte,         Heimatstadt verändert? Gibt es Le-
Viele waren ermordet worden. So auch       und es genoss, dass man ihn mochte,        benszeichen von anderen jüdischen
Paulas Vater Baruch Adler, Vorsitzen-      war hier in Prag vom Leben da drau-        Schlüchternern oder von einem der
der der jüdischen Gemeinde Hinter-         ßen ausgeschlossen. Seine Tochter          etwa 900 Juden, die bis zur Machter-
steinau, der in ein jüdisches Alters-      Margret nennt in ihren Erinnerungen        greifung im Kreis Schlüchtern gelebt
heim nach Frankfurt M gezogen war          die „Sprachlosigkeit“ ihres Vaters einen   hatten? Was ist aus ihren früheren
und am 22. November 1941 mit einem         wichtigen Beweggrund für seine Rück-       nicht-jüdischen Nachbarn, Geschäfts-
Transport von 991 Juden nach Kaunas        kehr-Entscheidung. Vielleicht waren        partnern, Freunden und Genossen ge-
in Litauen deportiert und drei Tage spä-   die Prager antideutschen Exzesse, die      worden? Lassen sich alte Beziehungen
ter im Fort IX mit allen anderen er-       auch ihn nicht verschonten, für ihn ein    zu ihnen wachrufen? Aber war es über-
schossen wurde.8 Nicht nur ihr Vater       plausibles Argument, mit dem er seine      haupt wünschenswert und moralisch
war ermordet worden, auch vier seiner      unbewusste Sehnsucht nach den guten        vertretbar, sie wiederzubeleben? Egal –
sieben Geschwister verloren ihr Leben      Jahren in Schlüchtern rational fun-        in Alexander Kohn waren die Lebens-
in Lagern. Diese schmerzvollen Nach-       dierte und seine Entscheidung gegen-       geister wiedererwacht. Vor ihm tat sich
richten mögen mit eine Erklärung           über seiner Frau, der Tochter und ihrem    ein weites Aktionsfeld auf mit einer
dafür sein, dass es Paula zunächst ab-     Ehemann rechtfertigte.                     Fülle von Aufgaben und Konflikten,
lehnte, jemals wieder deutschen Boden                                                 aber auch voller neuer Chancen. Es
zu betreten, wie es Alexander guten                                                   drängte ihn, die Ärmel hochzustreifen
Freunden mal anvertraut hatte, und ein     Die Rückkehr nach Schlüchtern              und an die Arbeit zu gehen – zu kom-
paar Monate später nur notgedrungen                                                   munizieren, alte Netzwerke anzukur-
und schweren Herzens in die von ihm            Das Einwohnermeldeamt Schlüch-         beln und neue anzulegen, einfach
anvisierte Rückkehr nach Schlüchtern       tern registrierte die Ankunft der beiden   wieder mitzumischen und Weichen
einwilligte.                               Kohns aus Prag unter dem 22. Novem-        zu stellen. Er überlegte nur noch, was
    Prag oder Schlüchtern? Bleiben oder    ber 1945. Sie zogen ein in ihre frühere    er als erstes anpacken sollte. Doch
Zurückgehen? Was für Zweifel mögen         Wohnung in der Obertorstraße 34.           diese Entscheidung nahm ihm seine
Alexander Kohn in jenem Sommer 1945        Deren Bewohner waren wenige Tage           Frau ab.

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ZUM SCHICKSAL VON ALEXANDER UND PAULA KOHN

     Die Rettung der Reste des                        oder ermordet. Nachhaltig unterstützt     jüdischen Gemeinde Schlüchtern zu-
     geschändeten alten Friedhofs                     wurden sie vom amerikanischen Stand-      rückzuerstatten. Den bereits von ihm
                                                      ortkommandanten, von Bürgermeister        genutzten größeren und überbauten
         Kaum in Schlüchtern angekom-                 Bertram und Landrat Jansen.               Teil der Friedhofsfläche konnte Hein-
     men, führte sie ihr erster Weg hinauf                1946 erhob die Staatsanwaltschaft     lein erwerben. Nur das kleine Grund-
     in die Breitenbacher Straße zum alten            Anklage gegen Heinlein „wegen Zer-        stück von 821 qm, ein Bruchteil des
     jüdischen Friedhof. Was Paula Kohn               störung von Grabmälern“.10 In dem         ehemaligen großen alten Friedhofs,
     dort sah, entsetzte sie. „Das gehört sich        sich Jahre lang hinziehenden Prozess      blieb als Friedhof mit noch 27 wieder
     nicht, das tut man nicht, stammelte              vor dem Amtsgericht Schlüchtern be-       aus Bauschutt und Materiallager her-
     sie“, berichtet Margret. An diese mora-          stritten die Angeklagten, sich nach der   gerichteten Grabsteinen bis heute er-
     lische Urformel zur Unterscheidung               formellen Rechtslage schuldig gemacht     halten, dank der Initiative und des
     von Gut und Böse habe sich die Mutter            zu haben. Schließlich habe die Stadt      zähen Ringens von Alexander und
     ihr Leben lang gehalten. Nur noch we-            den Friedhof 1940, damals ein „Tum-       Paula Kohn.
     nige Gräber und Grabsteine des ehe-              melplatz für jedermann“ von der IRSO,
     mals großen Friedhofs waren vorhan-              der Rechtsvertretung der 29 noch in
     den, und die befanden sich in einem              der Stadt anwesenden Juden, abge-         Friedhof und Mahn- und Gedenkmal
     desaströsen Zustand. Den größten Teil            kauft. Damit habe der Friedhof seinen     unter den Schutz der Stadt Schlüchtern
     Friedhofsfläche hatte der Besitzer der           kultischen Charakter verloren gehabt,     gestellt – Das Versprechen des Bürger-
     Seifenfabrik, Eugen Heinlein, über-              und der Unternehmer Heinlein könne        meisters
     bauen und Grabsteine für den Erweite-            als Eigentümer dieses „profanen Grund-
     rungsbau der Wäscherei verwenden                 stück“ nach eigenem Ermessen ent-             Die Restfläche des alten Friedhofs
     lassen oder dem Steinmetz Degenhardt             scheiden.11 Als Zeuge geladen, erklärte   war vorerst gerettet. Jetzt nahmen die
     verkauft.9 Was für ein Frevel an dem             Kohn jedoch, dass entgegen dieser         Kohns das nächste Projekt in Angriff:
     fundamentalen jüdischen Gebot der                formaljuristischen Argumentation die      Ein Mahn- und Gedenkmal, das in
     ewigen Ruhe der Toten. Denn ihre                 „Umwidmung“ des Friedhofs, das heißt      würdiger Form an die Ermordung ihrer
     Ruhe ist dauerhaft, keiner darf sie              seine Nutzung als Baugrund und „Stein-    Nachbarn erinnert und denen ihre
     stören, und ihre Gräber und Grabmale             bruch“, den fundamentalen jüdischen       Würde zurückgibt, die in den Lagern
     müssen für immer unversehrt beste-               Glaubensgrundsatz der Unantastbar-        zu Nummern wurden. In dem Lehrer
     hen bleiben. Die im Bauschutt noch               keit der Totenruhe verletzt.              und Heimatforscher Wilhelm Praesent,
     auffindbaren Bruchstücke der alten                   In dieselbe Richtung weist der        wegen seiner kritischen Einstellung
     Grabsteine galt es, ohne weiteren Ver-           Spruch des Berufungsgerichts in           zum Nationalsozialismus mehrfach
     zug zu sammeln, zusammenzubauen                  Hanau: Selbst nach der damaligen          strafversetzt und von Kollegen seiner-
     und wieder aufzustellen. Wer anders              nationalsozialistischen Rechtslage ver-   zeit als „Judenfreund“ diffamiert, fand
     als die Kohns hätte sich mit Sachver-            stoße die „Verweltlichung“ des jüdi-      die in Alexander und Paula Kohn wie-
     stand und Leidenschaft darum küm-                schen Friedhofs schon aus Gründen         dererstandene jüdische Gemeinde der
     mern können. Sie erklärten sich, wie             der Pietät gegen das auch damals gül-     Stadt einen entschlossenen, heimatge-
     ihre Tochter Margret später berichtet,           tige Rechtsempfinden und die allge-       schichtlich ungewöhnlich erfahrenen
     kurz entschlossen zur „jüdischen Ge-             mein geltenden Rechtsgrundsätze. Das      Mitstreiter. Ihrem gemeinsamen Vor-
     meinde“, stellvertretend handelnd für            Gericht verhängte eine Geldstrafe gegen   schlag, die seinerzeit bekannten Namen
     die einst 400 jüdischen Bürgerinnen              den Unternehmer, und die Auflage,         der ermordeten Schlüchterner, Elmer
     und Bürger der Stadt, alle vertrieben            den gesamten ehemaligen Besitz der        und Vollmerzer Juden auf fünf Stelen
                                                                                                auf dem Friedhof zu verewigen, stimm-
                                                                                                ten alle an der Entscheidung Beteilig-
                                                                                                ten vorbehaltlos zu, vom Bürgermeis-
                                                                                                ter und Landrat bis zu Repräsentanten
                                                                                                der Landes-Verbände der Jüdischen Ge-
                                                                                                meinden und der Verfolgten des Nazi-
                                                                                                regimes.
                                                                                                    Auf der Einladung zur Einweihung
                                                                                                des Mahn- und Gedenkmals am 7. Au-
                                                                                                gust 1949, dem Schlüchterner Weitzel-
                                                                                                fest, stand „Jüdische Kultusgemeinde i.
                                                                                                A. Alexander Kohn“. Seine Ansprache
                                                                                                begann Wilhelm Praesent mit den Sät-
                                                                                                zen: „Ein seltsames und bedeutungs-
                                                                                                volles Zusammentreffen: Am gleichen
                                                                                                Tag, an dem die liebe alte Stadt Schlüch-
                                                                                                tern sich fröhlich der Wohltat ihres
                                                                                                Mitbürgers J.J. Weitzel erinnert, wird
                                                                                                auf dem Boden der gleichen Stadt der
     Reste des alten jüdischen Friedhofs in der Breitenbacher Straße. Foto: Egner               größten Untat dieses Jahrhunderts ge-

84   MKK · Mitteilungsblatt · Zentrum für Regionalgeschichte                                                             45. Jahrgang · 2020
ZUM SCHICKSAL VON ALEXANDER UND PAULA KOHN

dacht, und Menschen versammeln sich        Mitglieder für die Spruchkammer des       sönliche Rache zu üben. Am 5. Sep-
zu der unheimlichsten Begräbnisfeier,      Kreises Schlüchtern unter anderen         tember 1948 stellte die Schlüchterner
die je im Kinzigtal begangen wurde, zu     Hans Berthold aus Hintersteinau, den      Spruchkammer nach über zweijähriger
einem Begräbnis, bei dem die Toten         Huttener Bürgermeister Nikolaus Ochs,     Prüfung tausender Vorgänge und
fehlen.“12 Im Vorfeld der Feier hatte es   Karl Geist aus Steinau sowie Alexander    schriftlicher und mündlicher Verhand-
Irritationen gegeben, deren Ursachen       Kohn, seit seiner Rückkehr wieder ein-    lungen ihre Tätigkeit ein.
nie zur Sprache kamen und über die         geschriebenes Mitglied im SPD-Kreis-          Überhaupt: Es gibt noch mehr
bis heute nur Mutmaßungen angestellt       verband Schlüchtern. Ihm fiel jetzt die   Anzeichen, die darauf hindeuten, dass
werden: Der Evangelische Kirchenchor       Aufgabe zu, an der politischen Säube-     Alexander Kohn seine Stellung als
hatte seine Mitwirkung kurzfristig         rung des Kreises mitzuwirken und da-      politisch und rassisch Verfolgter des
überraschend abgesagt, obwohl er im        rüber zu urteilen, gegen wen seiner       Nationalsozialismus und seine Nähe
Einladungsschreiben bereits aufge-         früheren Mitbürger Sühnemaßnahmen         zur Ortskommandantur sowie seine
führt war. Alexander Kohn überant-         anzuordnen sind, und wer als Mit-         Möglichkeiten als Mitglied der in jenen
wortete im Auftrag der „Jüdischen Kul-     läufer mit einer geringen Zahlung an      Monaten tonangebenden SPD nicht
tusgemeinde“ – und das waren nur er        einen Wiedergutmachungsfonds glimpf-      dazu nutzte, exponierte Nazis der Stadt
und seine Frau Paula – das Mahn- und       lich davonkommt. Die meisten Ange-        zur Rechenschaft zu ziehen. Es scheint,
Gedenkmal der Obhut der Stadt              klagten, unter ihnen, damals wie jetzt    als habe er dazu geneigt, auch jene eher
Schlüchtern, Bürgermeister Bertram         angesehene Bürger, wird er gekannt        mit Nachsicht zu behandeln, deren
übernahm es und gab sein Wort, dass        haben, als Kunden, Geschäftspartner       braune Vergangenheit ihm – sogar aus
der Boden, auf dem es steht und in         oder Nachbarn. Unter ihnen national-      eigener leidvoller Erfahrung vor seiner
dem jüdische Bürgerinnen und Bürger        sozialistische Parteifunktionäre und      Vertreibung – bekannt war. Vor allem
Schlüchterns bestattet sind, „wieder zu    SA-Männer, die ihn und seine Frau         auch seine Entscheidungen in der
Ehren kommt“. Bei manchen Stadt-           nach der Machtergreifung in Haft ge-      Sache Treuhänderschaft Heinlein näh-
führungen wird daran erinnert, dass        nommen, die ihn kujoniert und klein-      ren solche Spekulationen: Im August
es die beiden Kohns waren, die einzi-      gemacht, sein Geschäft boykottiert und    1946 hatte das Amt für Vermögensver-
gen Rückkehrer der einst so großen         seine Familie aus der Stadt vertrieben    waltung die Geschäftskonten Heinleins
jüdischen Gemeinde Schlüchterns,           hatten. Die meisten werden ihm da-        gesperrt und Alexander Kohn als Treu-
denen die Rettung dieses kleinen Rests     mals 1933 persönlich nichts getan         händer eingesetzt. In dieser Funktion
des alten jüdischen Friedhofs und die      haben, aber auch nichts Gutes, obwohl     konnte nur er über das Firmenvermö-
Errichtung der Gedenkstelen zu dan-        mancher die politische Möglichkeit        gen verfügen und in Abstimmung mit
ken ist.                                   dazu gehabt hätte, sei es auch nur mit    dem Amt Entscheidungen von größe-
                                           kleinen Gesten, das schwere Los der       rer Tragweite treffen. Er und Heinlein
                                           Familie abzumildern. Ob Alexander         schienen sich gut miteinander vertra-
Kohn entnazifiziert und verwaltet          Kohn jetzt der Gedanke kam abzurech-      gen zu haben, zu gut, was ein beteilig-
Heinleins Vermögen treuhänderisch –        nen? Auch in der „Schlüchterner Zei-      ter Anwalt kritisierte: „Herr Alexander
Nachsicht gegenüber der Nazi-Elite?        tung“, die damals ausführlich über die    Kohn lässt Herrn Heinlein offenbar
                                           Spruchkammer berichtete, finden sich      völlig ungestört wirtschaften…“. Er
    Die Amerikaner haben wenige Wo-        keine Hinweise darauf, dass er der Ver-   dulde es, dass der agile Unternehmer
chen nach der Niederringung Hitler-        suchung nachkam und seine Funktion        in der Geschäftsführung unkontrolliert
Deutschlands in ihrer Besatzungszone       als Mitglied der Kammer nutzte, um        eigenmächtig schalte und walte, unter
damit begonnen, ihre zentralen politi-     Rechnungen zu begleichen und per-         anderem durch die Vergabe eines Fi-
schen Kriegsziele zu realisieren, die
drei „D“ – Denazifizierung, Demilitari-
sierung, und Demokratisierung. Sie
ordneten die Einrichtung regional zu-
ständiger Laiengerichte an, der soge-
nannten Spruchkammern. Ihre perso-
nelle Besetzung mit ausgewiesenen
Gegnern und Verfolgten des NS-Re-
gimes erfolgte auf Vorschlag der wieder
zugelassenen Parteien SPD und KPD
sowie der neu gegründeten CDU und
der Liberalen Partei. Die Schlüchterner
Spruchkammer verhandelte im Land-
ratsamt, und nach dem bis heute nicht
geklärten Brandanschlag am 18.3.1947
auf ihre Sitzungsräume zog sie um ins
Lautersche Schlösschen. Die Schlüch-
terner SPD, die erste wieder zugelas-
sene Partei, konnte nahtlos an ihre alte   Belegschaft des Akolith-Werks, 3. von rechts: Richard Rupp, Büroleiter,
Tradition anknüpfen und benannte als       7. von rechts: Hans Frank, Vorarbeiter. Foto: privat

45. Jahrgang · 2020                                                          MKK · Mitteilungsblatt · Zentrum für Regionalgeschichte   85
ZUM SCHICKSAL VON ALEXANDER UND PAULA KOHN

     nanzierungsdarlehens an die Bauge-               sen Frau Margret. Beide hatten 1947        „Akolith“ und deren Betrieb als bedeu-
     nossenschaft. Jedenfalls kam die Auf-            mit ihrem gerademal vier Monate alten      tendes mittelständisches Unterneh-
     sichtsbehörde zu dem Schluss, dass               Töchterchen Helen (11. April 1947) die     men in den Nachkriegsjahren des Dor-
     der Treuhänder Kohn „seine Funktion              Tschechoslowakei illegal verlassen,        fes mit rund 20 Arbeitsplätzen waren
     nur mangelhaft erfüllt“ und deshalb              wohnten zunächst in der Obertorstraße      allein sein Werk.
     durch einen „geeigneteren“ zu erset-             34 in Schlüchtern und zogen dann               Die weitere Entwicklung der Firma
     zen ist.13                                       nach Sterbfritz, wo Fritz Zentner die      ist schnell erzählt: Fritz und Margret
                                                      Leitung des „Akolith“-Werks über-          Zentner sind mit ihrer Tochter 1953
                                                      nahm. Für sich selbst hatte Alexander      ebenfalls nach New York ausgewan-
     Neuer Start Geschäftsinitiative –                Kohn ein kleines Appartement für die       dert. Das „Akolith“-Werk wurde an den
     das „Akolith-Werk in Sterbfritz                  Dauer seiner Geschäfte in Sterbfritz       Schlüchterner Kaufmann Heinrich
                                                      reserviert. Eine weitere kleine Woh-       Amrhein verpachtet, und nachdem die
         Alexander Kohn, voller Ideen und             nung hatte er als Werkswohnung über        Nachfrage nach „Akolith“-Bauplatten
     Tatendrang, hatte ein Gespür dafür,              der Fabrikationshalle eingerichtet.        stark zurückgegangen und die ganze
     was das zerbombte Land und die                   Diese hatte er für Hermann Frank und       Anlage ziemlich heruntergewirtschaf-
     Millionen in Baracken untergebrachten            seine kleine Familie vorgesehen. Er        tet war, verkaufte sie Alexander Kohn
     Flüchtlinge und Vertriebenen auf lange           stammte aus Alexander Kohns Ge-            schließlich 1967 seinem alten vertrau-
     Sicht am notwendigsten brauchten:                burtsort Roßhaupt. Beide hatten sich       ten Vorarbeiter Hermann Frank. Nach
     Wohnungen. Exemplarisch für die Not              in den Dreißigerjahren in Tachau ken-      den fast ein Jahr dauernden Aufräum-
     stehen die Dörfer im Bergwinkel, am              nengelernt, und als Alexander Kohn er-     arbeiten stieß er Restbestände ab und
     markantesten vielleicht Sterbfritz, das          fuhr, dass die Franks in einem Ver-        veräußerte die ganze Anlage der politi-
     der Krieg zwar verschont hatte, aber die         triebenenlager in Bayern gestrandet        schen Gemeinde Sterbfritz.
     1200 Sterbfritzer mussten in nicht               waren, setzte er alle Hebel in Bewe-
     mehr als zwei Jahren 800 Zugezogene              gung, um den tüchtigen jungen Mann
     unterbringen, ohne zunächst auch nur             nach Sterbfritz zu holen und ihm den       Der erfolgreiche Unternehmer in der
     einen zusätzlichen Quadratmeter                  Vorarbeiterposten anzuvertrauen.           exklusiven Bergwinkelgesellschaft
     Wohnfläche verfügbar zu haben. Das                    Das ganze „Akolith“-Areal – und die
     Gebot der Stunde hieß, den Menschen              angrenzende doppelt so große Fläche –          Die Freude über seine glückliche
     ein Dach überm Kopf zu geben, neuen              wird heute genutzt vom Bauhof der          Rückkehr aus Exil und KZ und seine
     Wohnraum zu schaffen und alte Ge-                Gemeinde Sinntal mit der Gebäude-          wirtschaftlichen Erfolge verliehen Ale-
     bäude zu erneuern. Deshalb ver-                  anschrift Seemeweg 18. In das Einfa-       xander Kohn eine persönliche Souverä-
     schwendete der jetzt Dreiundfünfzig-             milienhaus, heute Erbachstraße 2, zog      nität, die er in dieser Stärke auch in
     jährige gar keinen Gedanken mehr                 nach der Auswanderung der Zentners         seinen jungen Jahren nicht erlebt hatte.
     darauf, seine früheren guten Ge-                 1953 Hermann Frank mit seiner Fami-        Sie war gepaart mit seinem vielseitigen
     schäftsbeziehungen im Tabakhandel                lie ein; seine Tochter Anni Bundschuh,     Interesse und mit dem Drang, nichts
     zu reaktivieren, sondern er wagte den            geb. Frank, bewohnte es später bis zu      mehr verpassen zu wollen und an
     Sprung vom Handel in die Produktion,             ihrem Umzug nach Schlüchtern vor           allem aktiv teilzuhaben und teilzuneh-
     in die für ihn neue und ungewohnte               wenigen Jahren. Alexander Kohns            men, was um ihn herum geschieht. Er
     Fabrikation von Baustoffen. Er grün-             Firma „Akolith“ machte erwartungsge-       suchte die Geselligkeit. Die fand er in
     dete eine Firma, kaufte ein Wiesen-              mäß gute Umsätze. Als versierter Kauf-     reichem Maße, denn seine gegenwärti-
     grundstück am Seemebach in Sterb-                mann war er bald bestens vernetzt und      gen Privilegien als jüdischer Remi-
     fritz – heute das vom Sinntaler Bauhof           akquirierte Kunden in Hessen und der       grant, seine Jovialität und sein selbst-
     genutzte Eckgrundstück zwischen                  ganzen US-Besatzungszone, vor allem        ironischer Witz machten ihn zu einem
     Weinstraße, Erbachstraße und Seeme-              auch in benachbarten bayrischen Städ-      unterhaltsamen gern gesehenen Kum-
     weg – und errichtete hier nach der Be-           ten und Gemeinden. Einen seiner ver-       pel und brachten ihm Beachtung und
     triebsbeschreibung vom 25. April 1947            lässlichsten Geschäftspartner und guten    Beifall. Zu alten sozialdemokratischen
     eine Fabrik für den Bau von „Leicht-             Berater hatte er in Karl Knothe, Besit-    Parteigenossen in Stadt, Kreis und
     bauplatten auf Holzfaserbasis mit Ze-            zer des in der Region führenden Bau-       Land pflegte er zwar nach wie vor üb-
     mentbindung“. Dem Unternehmen                    stoffhandels.                              liche parteifreundschaftliche Beziehun-
     gab er den aus den Anfangsbuchstaben                  Alexander Kohn behielt als Eigen-     gen, aber in der konkreten Parteiarbeit
     seines Vornamens und Familienna-                 tümer die Planung der Fabrik, die ver-     auf Orts- und Kreisebene trat er nicht
     mens gebildeten Firmennamen „Ako-                waltungsmäßige und technische Ab-          mehr profiliert hervor, sieht man ein-
     lith“-Werk Sterbfritz, angelehnt an den          wicklung des Projekts und nach dem         mal ab von seiner Mitgliedschaft in der
     Markennamen „Heraklith“. Die aus                 Anlaufen der Produktion das Manage-        Spruchkammer, zu der ihn seine Par-
     Holzspänen und Zement gepressten                 ment des ganzen Unternehmens selbst        tei vorgeschlagen hatte. Es scheint, als
     Dämmplatten nannten die Sterbfritzer             in der Hand und bestellte als seine        stelle er als Arbeitgeber mit unter-
     scherzhaft „Sauerkrautplatten“. Bald             „bevollmächtigten Vertreter“ seinen        nehmerischem Erfolg Glaubenssätze
     darauf baute er neben der Werkshalle             Schwiegersohn Fritz Zentner und seine      seiner Partei in Frage und empfinde
     ein Familienwohnhaus für seinen                  Tochter Margret Zentner.                   sie nicht mehr als seine politische
     Schwiegersohn Fritz Zentner und des-                  Die Idee zur Gründung der Firma       Heimat.

86   MKK · Mitteilungsblatt · Zentrum für Regionalgeschichte                                                             45. Jahrgang · 2020
ZUM SCHICKSAL VON ALEXANDER UND PAULA KOHN

    Dagegen reaktivierte er mit Schwung    Juden sind. In jenen ersten Nach-           sie, ihr Mann suchte sie. Es wirkt ja in
schon bald nach seiner Rückkehr Be-        kriegsjahren war man so sehr mit der        der Tat irgendwie befremdlich und ver-
ziehungen zu den Jagdgenossen im           eigenen Not beschäftigt und vom eige-       störend, mit welch wohlwollender Nai-
Bergwinkel. Unter ihnen waren Per-         nen Elend so besessen, dass man gar         vität Alexander Kohn die Verwicklung
sönlichkeiten wie Karl Rudolf und Willi    keinen Sensus für das Leid anderer          seiner Jagdgenossen und Stammtisch-
Rollmann, denen er sich schon vor sei-     hatte, geschweige denn den Willen, die      brüder ins nationalsozialistische Re-
ner Vertreibung auch menschlich ver-       Auslöschung des jüdischen Lebens in         gime übersah oder in Kauf nahm oder
bunden gefühlt hatte, doch es waren        der überschaubaren heimischen Re-           die Herren allenfalls für geläuterte
in den Jahren danach Jäger hinzuge-        gion bewusst wahrzunehmen und zu            Nazis hielt. Die freundliche Aufnahme
stoßen, die sich gewiss nicht alle ent-    reflektieren. Man fühlte sich nach dem      in ihre Kreise – auch wenn sie bei eini-
lastend der Kategorie der nationalso-      „verlorenen Krieg“ und dem „Zusam-          gen nur fassadenhaft war – mag seine
zialistischen Mitläufer zuordnen konn-     menbruch“ selbst als Opfer in einem         Blindheit ebenso begünstigt haben wie
ten. Es waren 33 gestandene Männer,        viergeteilten, besetzten, darniederlie-     seine Scheu vor emotionaler Verstim-
die sich am 25. Oktober 1947 im „Hes-      genden Land. Hätte einer wie Alexan-        mung und rationaler Auseinanderset-
sischen Hof in Schlüchtern“ zur Grün-      der Kohn von der Ermordung seiner           zung.
dungsversammlung des „Hessenjäger          Verwandten in Konzentrationslagern
e.V. Kreisgruppe Schlüchtern“ trafen,      gesprochen, hätten ihm die anderen
unter ihnen Breusch, Dehler, Grün,         ihre Gefallenen und Bombentoten da-         Kohns verlassen ihre neue
von Kühlmann, Kress, Knothe, Lübbert,      gegen aufgerechnet, die Vermissten und      fremde Heimat
Marschhausen, Rudzok, Stiebeling,          Verschollenen, die Millionen Flücht-
Schlott, von Brandenstein und Weg-         linge und Vertriebenen. In Alexander            Man wundert sich darüber, dass
mann, in ihrer Mitte Alexander Kohn.14     Kohns Runden wusste man noch nichts         Alexander Kohn, schon nach wenigen
Eine andere Herren-Runde, in der sich      vom Massenmord an den Juden, oder           Jahren seine Auswanderung in die
Alexander Kohn auf den ersten Blick        wollte nichts davon wissen. Im Übri-        USA in die Wege leitete, hatte er doch
offensichtlich wohlfühlte, war das         gen war ja das braune Gedankengut           gerade erst sein „Akolith“-Unterneh-
„Zwiebeleck“ in der damals renom-          nicht mit dem Kriegsende verschwun-         men gegründet, es auf Wachstumskurs
mierten Sterbfritzer Bahnhofsgast-         den, und wer danach suchte, fand seine      gebracht und sich selbst im wirtschaft-
stätte, eine Art Stammtisch der „Besse-    Voreingenommenheit gegenüber den            lichen und gesellschaftlichen Leben der
ren“ und Honoratioren des Dorfes –         Juden ja auf Schritt und Tritt bestätigt,   Region in jeder Hinsicht erstaunlich
Ärzte, Förster, Bahnmeister, Apotheker     etwa in der privilegierten Behandlung       etabliert, wie es nach außen schien.
und Geschäftsleute und Unternehmer         des Alexander Kohn durch die Besat-         Jetzt aufgeben und auswandern – das
wie er.15                                  zungsmacht.                                 wird er gewiss nicht aus eigener Initia-
    Was mag Alexander Kohn in diesen           Wir wissen nicht definitiv, wie         tive und leichten Herzens getan haben.
geselligen Runden empfunden haben?         Paula Kohn auf die Betriebsamkeit           Die treibende Kraft zu dieser Entschei-
Es hat den Anschein, als habe er sich      ihres Mannes in den exklusiven Män-         dung hin war auch in dieser Lebenssi-
in ihnen gut aufgehoben gefühlt. Aber      nerrunden reagierte. Vielleicht hielt sie   tuation wieder seine Frau, Paula Kohn.
es ist dennoch schwer vorstellbar, dass    ihm, dem ausgemachten Draußen-              Anders als ihr Mann hatte sie nicht die
er sich als Gleicher unter Gleichen ge-    Menschen, vor, sie zu vernachlässigen       innere Kraft und wohl auch nicht den
fühlt haben könnte, lebten er und die      und vereinsamen zu lassen, sie, die         Willen dazu, traumatische Erinnerun-
anderen in ihren Erinnerungen und          doch früher Mittelpunkt der Familie         gen an das erlittene Unrecht und den
Erlebnissen doch getrennt in verschie-     war, die den Haushalt versorgt, das         Gedanken an die ermordeten Ver-
denen Welten. Er musste über die Fä-       Tabakwarengeschäft geführt und Kon-         wandten, Nachbarn und Weggefährten
higkeit verfügt haben, den Mitschuldi-     takte zu Freunden in ihrer Partei, zu       an sich abprallen zu lassen und sich
gen zu verzeihen oder das schreckliche     Verwandten und Menschen im jüdi-            mit der Situation, wie sie nun einmal
Geschehen zu verdrängen.                   schen und nichtjüdischen Umfeld ge-         ist, zu arrangieren und „die Vergan-
    Worüber wird man sich, außer über      pflegt hatte. Es spricht manches dafür,     genheit ruhen zu lassen“.
die Jagd oder über die üblichen wirt-      dass sie ihm in ihrer offensiven und            Wie oft wird sie ihm sein zur Schau
schaftlichen Alltagssorgen, unterhalten    prinzipientreuen Art auch den Vorwurf       getragenes Nahverhältnis zu den Ho-
haben? Dass man sich für Kohns und         der Distanzlosigkeit zu jenen machte,       noratioren mit brauner Vergangenheit
seiner Familie Schicksal sonderlich in-    die das nationalsozialistische Regime       vorgehalten und ihm gesagt haben,
teressiert hätte, ist eher unwahrschein-   mitgetragen und sich insofern an sei-       dass seine arglose Hoffnung auf „ein
lich. Kaum vorstellbar auch, dass einer    nen Verbrechen mitschuldig gemacht          anderes Deutschland“ eine Illusion sei.
mal die Verfolgung und Deportation         haben. Wir knüpfen unsere Vermutun-         Deshalb könne man nicht an das
der Juden und den Massenmord an-           gen an eine Äußerung im Interview           frühere „normale“ Leben anknüpfen,
gesprochen oder auch die nahelie-          ihrer Tochter Margret, die davon spricht,   denn es sei nichts geblieben, wie’s war,
gende Frage aufgeworfen hätte, warum       dass ihre Mutter vor Angst zusammen-        und deshalb gebe es kein „Weiter so“.
keine der elf jüdischen Gemeinden im       fuhr, wenn jemand „an der Tür klin-         Ihre Prinzipientreue hinderte sie daran,
Kreis Schlüchtern mehr existiert und       gelte“ – es könne ja ein „Uniformierter“    normale nachbarschaftliche Beziehun-
Alexander Kohn und seine Frau die ein-     sein, der sie abholen will. Freundschaft-   gen zu nichtjüdischen Familien in
zigen Rückkehrer von einst rund 900        liche Kontakte zu Nichtjuden vermied        Schlüchtern und Sterbfritz zu suchen.

45. Jahrgang · 2020                                                            MKK · Mitteilungsblatt · Zentrum für Regionalgeschichte   87
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