MITTEILUNGSBLATT ZENTRUM FÜR REGIONALGESCHICHTE - Alemannia ...
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Stammbaum der Familien Forstmeister-Schleifrass, Eigentum Geschichtsverein Gelnhausen e.V. Foto: Zentrum f. Regionalgeschichte 45 . J A H R G A N G · 2 0 2 0 ZENTRUM FÜR MITTEILUNGSBLATT REGIONALGESCHICHTE KREISAUSSCHUSS DES MAIN-KINZIG-KREISES
INHALT LIEBE LESER*INNEN, Wenn jeder Fleck zum Hinweis wird Einmal mehr eine bunte Themenpalette regionaler Geschichte Ein rätselhafter Stammbaum der Forstmeister-Schleiffras Joselyn Grimm ............................................................. 4 liefert das vorliegende Mitteilungsblatt. Einblicke, Wissen und Bilder, die uns zu bereichern vermögen. Orber Salz für die Spessartgemeinden im Mainviereck Überarbeitete und gekürzte Fassung einer Rätsel schon zu Beginn. Farbprächtig ziert der Stammbaum der Abhandlung in: Beiträge zur Geschichte der Stadt Familien Forstmeister-Schleifras den Titel. Wozu diente wohl und des Raumes Lohr diese „Familienaufstellung“ besonderer Art? Dr. Jürgen Ackermann ................................................ 9 Wenn Gläser sprechen könnten… Inhaltlich weiter geht es von der Urkundenkunst zum handfesten Verleihung der Kardinalswürde an Franz Christoph Salzgeschäft: Weil heißbegehrt, da unentbehrlich, floss das Orber von Hutten zum Stolzenberg durch Kaiser Franz I. „weiße Gold“ jahrhundertelang über den Eselsweg in die Spes- Dr. Markus Lothar Lamm ............................................ 14 sartgemeinden des Mainvierecks, bis billigere Quellen den Markt 500 Jahre Windecker Rathaus verdarben. Ein steingewordenes Sinnbild der Stadtgeschichte Erhard Bus und Frank Schmidt .................................. 17 Von evangelischer Kirche und der Arbeiterbewegung um 1900 Evangelische Kirche und Arbeiterbewegung bietet die Firmengeschichte der Waechtersbacher Steingutfabrik Eine Verhältnisbestimmung um 1900 aus Schlierbach in Schlierbach eine Verhältnisbestimmung. bei Wächtersbach Anna Berting ................................................................ 24 Bau- und Kunstgeschichte erhellen Beiträge über das 500 Jahre Kennst Du den „Wenkerbogen“? ein Plädoyer für die Orber Mundart alte Windecker Rathaus und die Fenster des Glaskünstlers Ri- Hermann Heim ........................................................... 37 chard Schröder in der 1913/14 erbauten ev. Kirche zu Birstein. Schließlich erzählt ein „sprechender Pokal“, von der Verleihung Leben unter zwei diktatorischen Regimen und Flucht Sybille Behrens ............................................................ 41 der Kardinalswürde an Franz Christoph von Hutten zum Stol- zenberg durch Kaiser Franz I. 30 Jahre „Archiv Frauenleben im Main-Kinzig-Kreis e.V.“ Barbara Kruse ............................................................... 46 Der Beitrag „den Spessart von links sehen“ untersucht Dichtung und historische Wahrheit in Gotthold Glogers Roman „Philomela Rückbesinnung und Neubeginn Die Fenster von Richard Schröder in der 1913/14 Kleespieß trug die Fahne“ von 1953. So erfährt man viel Lehr- von Ernst Faust erbauten Ev. Kirche zu Birstein reiches am Beispiel der Geschichte von Villbach und Lettgen- Dr. Götz J. Pfeiffer ....................................................... 50 brunn über wechselnde politische Strömungen und deren Den Spessart von links sehen Rezeption im Laufe der Zeit. Gotthold Glogers Roman „Philomela Kleespieß trug die Fahne“ (1953) und sein historischer Hintergrund Geschichte zeigt sich auch an individuellen Lebenslinien. So wird Herbert Bald ................................................................. 55 das „Leben unter zwei diktatorischen Regimen und Flucht“ der Nur zwei von 400 Schlüchterner Juden kamen Julie Peukert nachgezeichnet sowie der letztlich hoffnungslose nach dem Holocaust zurück – in eine fremde Heimat Versuch von Paula und Alexander Kohn nach dem Holocaust in Zum Schicksal von Alexander und Paula Kohn ihre Schlüchterner Heimat zurückzukehren. Ernst Müller-Marschhausen ........................................ 79 Der Eisvogel im Main-Kinzig-Kreis Auch schon Geschichte ist die kommunale Gebietsreform, die Bericht des NABU MKK-Arbeitskreises Eisvogel vor 50 Jahren aus drei Landkreisen den Main-Kinzig-Kreis für die Jahre 2017– 2019 Dr. Matthias Kuprian, Sibylle Winkel formte, und auf 30 Jahre Forschungsgeschichte kann das „Archiv und Ritsch Euler .......................................................... 89 Frauenleben im Main-Kinzig-Kreis e.V.“ zurückblicken. 50 Jahre Gebietsreform Main-Kinzig-Kreis Hans-Wolfgang Bindrim M.A. .................................... 95 Ein Blick auf den „Wenkerbogen“ von Bad Orb erhellt die heimi- sche Dialektforschung. TITELBILD Der Bericht des „NABU-MKK-Arbeitskreises Eisvogel“ für die Eine „Familienaufstellung“ besonderer Art bietet der Adels- stammbaum der Familien Forstmeister-Schleifras aus der Mitte Jahre 2017– 2019 beschließt den vielfältigen Inhalt dieser Aus- des 18. Jahrhunderts. Beide Familien sind über Jahrhunderte gabe und lässt hoffen! Die Art befindet sich in den naturnahen in unserer Region fassbar. Das farbenprächtige und mit kostspie- Teilen des Kreisgebietes in einem günstigen Erhaltungszustand. ligen Farben wie Gold und Blau ausgestattete Pergament wurde für Carl Friedrich Forstmeister von Gelnhausen angefertigt, der Gleichwohl macht es Sinn, der Spezies mit Schutzmaßnahmen von 1731–1814 lebte. Lange hatten die Forstmeisters die Burg- zu helfen. mannen von Gelnhausen gestellt und zahlreiche Einkünfte besessen. Zur Entstehungszeit des Stammbaumes war es damit bereits vorbei. Wozu diente dann der aufwendige Stammbaum? Wir wünschen Ihnen eine gute Lektüre! Christine Raedler 45. Jahrgang · 2020 MKK · Mitteilungsblatt · Zentrum für Regionalgeschichte 3
ZUM SCHICKSAL VON ALEXANDER UND PAULA KOHN Nur zwei von 400 Schlüchterner Juden kamen nach dem Holocaust zurück – in eine fremde Heimat Zum Schicksal von Alexander und Paula Kohn Ernst Müller-Marschhausen Rückkehr auf „blutbefleckte Erde“ barn, Freunde ermordet wurden. Es den Entwurf eines Charakterbilds die- waren allenfalls zwei- bis dreitausend ser außergewöhnlichen Persönlichkeit Alexander Kohns Biographie passt von ehemals 600.000 jüdischen deut- anbieten und uns die Möglichkeit in kein Genre, sondern begründet ein schen Staatsbürgern, die kurz nach geben, über Motive seiner Entschei- eigenes. Seine Geschichte ist so wahr, Kriegsende ins Land ihrer Verfolger dungen zu spekulieren und seine Teil- dass man sie für erfunden halten zurückkamen und versuchten, in ihren habe und Teilnahme am gesellschaft- möchte. Er und seine Frau Paula waren Heimatgemeinden wieder Fuß zu fas- lichen und geschäftlichen Leben im die einzigen von 400 Schlüchterner sen. Ihre Rückkehr auf „blutbefleckte“ Bergwinkel zu würdigen und hierbei Juden, die nach dem Holocaust, am 22. Erde provozierte die Kritik internatio- stets die Rolle im Auge zu behalten, die November 1945 zurückkehrten, in ihre naler jüdischer Organisationen. So pro- seine Frau Paula in allen wichtigen Ent- Heimatstadt Schlüchtern, in ihre Woh- klamierte der Jüdische Weltkongress: scheidungen spielte. nung in der Obertorstraße 34, und sich Nie wieder sollen Juden in Deutschland wieder einbürgern ließen und hofften, leben. Und die Jewish Agency rief die nach dem Ende des nationalsozialisti- wenigen Rückkehrer dazu auf, das Den Zwanzigjährigen verschlägt schen Regimes ein „anderes“ Deutsch- Land wieder verlassen. es nach Schlüchtern land vorzufinden. Sie waren zugleich Was mag den Holocaustüberleben- die einzigen jüdischen Rückkehrer im den Alexander Kohn bewogen haben, Kurz vor Ausbruch des Ersten Welt- ganzen Kreis Schlüchtern mit seinen wieder in seine Heimatstadt zurück- kriegs verließ der 20jährige Alexander 11 jüdischen Gemeinden und rund 900 zugehen, hatte er doch nach der Be- Kohn sein Elternhaus im böhmischen Mitgliedern, die es vor 1933 gab.1 freiung aus dem KZ Theresienstadt mit Dörfchen Roßhaupt in der K.-u.-k.-Mo- Alle waren vertrieben oder depor- seiner Familie schon in Prag in der narchie und machte sich auf den Weg tiert, 130 Schlüchterner in den Todes- wieder errichteten Tschechoslowakei irgendwohin ins Preußische, um dort lagern ermordet worden. An sie erinnert eine – wenn zunächst auch sehr pro- sein Glück zu suchen. Sein Dörfchen, eine Gedenktafel in der Synagoge in blematische – Bleibe gefunden? Welche in dem er Kindheit und Jugend ver- der Grabenstraße. Erfahrungen und Erwartungen mögen bracht hatte, liegt direkt hinter der heu- Alexander Kohn (30. August 1893) letztlich seine Entscheidung herbei- tigen deutsch-tschechischen Grenze, und mit ihm seine Frau Paula (10. Au- geführt haben, den illegalen Grenz- einen Steinwurf weit von Waidhaus gust 1897) hatten das KZ Theresien- übertritt hinüber in die amerikanische entfernt, und gehörte zum Landkreis stadt überlebt, ihre Tochter Margret Zone zu riskieren, um sich dann hun- Tachau im Sudetenland. Heute heißt es (1. Juni 1922) das KZ Auschwitz. Dass derte Kilometer durchs kriegszerstörte Radzow. Bis zum Ende des Zweiten ein Holocaustüberlebender aus dem Deutschland nach Schlüchtern durch- Weltkriegs war die Region überwie- Lager oder dem Exil freiwillig wieder in zuschlagen? Waren es wirtschaftliche gend von Deutschen besiedelt. Viele seine Heimatstadt zurückging, war in oder politische Gründe, oder war es viel- von ihnen haben nach ihrer Vertrei- den ersten Nachkriegsjahren eine ganz leicht seine Absicht, mit seinen Verfol- bung eine neue Heimat in den Städten große Seltenheit. Deutschland war für gern abzurechnen, oder – so befremd- und Gemeinden des Kreises Schlüch- Juden tabu. Wie kann man wieder in lich das klingen mag – war es Heimweh tern gefunden. einem Land leben wollen, das einen nach seiner Stadt? In seiner Lebens- Was ihn gerade nach Schlüchtern nur wenige Jahre zuvor vertrieb und geschichte stoßen wir auf Ereignisse geführt hat, darüber können wir allen- deportierte und umbringen wollte! In und verblüffende Verhaltensweisen, die falls Vermutungen anstellen. Vielleicht einem Land, in dem Verwandte, Nach- sich zumindest als Anhaltspunkte für hatte er hier in unserer Region Ver- 45. Jahrgang · 2020 MKK · Mitteilungsblatt · Zentrum für Regionalgeschichte 79
ZUM SCHICKSAL VON ALEXANDER UND PAULA KOHN wandte, es könnten allenfalls sehr ent- fernte Verwandte gewesen sein, denn der Name Kohn erscheint nicht in un- seren Einwohnerlisten, vielleicht hatte er aber auch in Erfahrung gebracht, dass Schlüchtern eine ungewöhnlich große und wohlhabende jüdische Ge- meinde hatte, die deutsche Stadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungs- anteil im Deutschen Reich. Womit er sich im Krieg und in den Nachkriegs- jahren hier in Schlüchtern über Wasser hielt, darüber haben wir keine verläss- lichen Informationen. Wir wissen aus den städtischen Registern, dass er wech- selnde Wohnanschriften hatte, die Was- sergasse 22, und später, zur Zeit seiner Eheschließung, wohnte er im Haus Schlossstraße 10. Wir können anneh- men, dass sich dieser strebsame junge Zuwanderer aus Böhmen für keine Ar- beit zu schade war und sich als tüchti- ger Alleskönner in Betrieben und Ge- schäften christlicher und jüdischer Schlüchterner anbot, und da er genüg- sam lebte, haben ihm seine Erspar- nisse Mut gemacht, eine Familie zu gründen. Er hielt um die Hand der Paula Adler an, Tochter des Handels- manns Baruch Adler in Hintersteinau, und am 26. Januar 1921 gaben sich die beiden im Schlüchterner Standesamt das Ja-Wort. Ihre Trauzeugen waren der eigens aus Roßhaupt angereiste Vater Alexanders, Siegmund Kohn, und Baruch Adler, aus Hintersteinau, „Zigarren Kohn“ in der Obertorstraße 27 Haus Nr. 25. In die Rubrik „Stand/Beruf“ trägt der Standesbeamte bei Vater und gret die Stadtschule besuchte, berich- hold Rollmann und Schreinermeister Schwiegervater jeweils „Handelsmann“ tet, dass der Name „Zigarren-Kohn“ für Karl Rudolf. ein, beim Bräutigam aber „Kaufmann“, Geschäft und Familie Kohn stand und ein Indiz dafür, dass er den Aufstieg in in der Stadt einen guten Ruf hatte. Im den Stand der angesehenen Kaufleute Wiedergutmachungsverfahren nach Eine ‚normal-glückliche‘ Schlüchterner der Stadt in einem Jahrzehnt geschafft dem Krieg, als es um die Feststellung Familie hatte. Nach einem Jahr kam ihre Toch- des 1933 erlittenen wirtschaftlichen ter Therese Margret zur Welt, von allen Schadens ging, gab ein ehemaliger Be- Dass wir einen so subtilen Einblick nur Margret genannt; sie blieb das ein- amter der Finanzbehörde zu Protokoll: ins Familienleben der Kohns und in ihr zige Kind der Kohns. Kohn habe einen sehr gut gehenden gesellschaftliches Leben in unserer Die Familie bezog eine Wohnung Tabakwarenhandel, mit dem größten Stadt nehmen können, danken wir vor im ersten Stock im Hauses Obertor- Umsatz aller Schlüchterner Tabak- allem einem mehrstündigen Interview, straße 34, und gegenüber, ein paar warenhändler gehabt. Seinen Umsatz in dem Margret Kohn, verheiratete Schritte stadteinwärts, im Haus Nr. 27, habe er zum größeren Teil aus dem Zentner, wohnhaft in Little Neck, New eröffnete Alexander Kohn einen Tabak- Großhandel generiert. Er sei ein „äu- York, am 26. Mai 1995 ihre Lebens- Waren-Laden. Im städtischen Gewerbe- ßerst fleißiger und gewandter Ge- geschichte im Rahmen eines Oral verzeichnis wurde es am 22. Juni 1921 schäftsmann und gewissenhafter und History-Projekts geschildert hat.3 Aus- „für den Verkauf von Zigarren, Ziga- zuverlässiger Steuerpflichtiger gewe- führlich erzählt sie darin von ihrer retten, Tabak, Kautabak und Pfeifen“ sen.2 Dass Alexander Kohns kaufmän- wunderbaren Kindheit im behüteten angemeldet. Ein „kleines und feines nische Vertrauenswürdigkeit ebenso Elternhaus in der Obertorstraße und Lädchen“ erinnerte sich der in der wie die Bonität seines Geschäfts über von anrührenden Erinnerungen an Nachbarschaft aufgewachsene Hans jeden Zweifel erhaben waren, bestäti- ihre Schulzeit, und verbittert berichtet Lotz, und Anna Fuhrmann, geb. Deu- gen im selben Verfahren auch die als sie über die bösen Monate nach Hitlers ker, die in denselben Jahren wie Mar- Zeugen benannten Frisörmeister Rein- Machtergreifung bis zur Aberkennung 80 MKK · Mitteilungsblatt · Zentrum für Regionalgeschichte 45. Jahrgang · 2020
ZUM SCHICKSAL VON ALEXANDER UND PAULA KOHN der deutschen Staatsbürgerschaft und Margret erlebte Idyll zuhause, in ihrer bringt es zum Ausdruck, dass man die der erzwungenen Ausbürgerung der Schule und im Kreis von Freunden und Kohns als noch immer nicht ganz da- Familie im Spätherbst 1933. Breiten Nachbarn der Familie, ging mit der na- zugehörig ansieht, und zum anderen Raum nimmt dann ihr Bericht über tionalsozialistischen Machtergreifung weckt es Assoziationen zu den selbst ihre und ihrer Eltern Deportation in die am 30. Januar 1933 jäh zu Ende. von den eigenen Glaubensgenossen Konzentrationslager ein, und schließ- diskriminierten „Ostjuden“. Die wur- lich die Befreiung und Rückkehr nach den auch von den altansässigen Juden Schlüchtern. Status und Ansehen der Familie Kohn in Deutschland als höchst unwillkom- Es war ein „großes und fröhliches in ihrer Schlüchterner jüdischen mene, weil kulturell rückständige Zuhause“, das Alexander Kohn seiner Umwelt Fremde betrachtet. Es mag überra- kleinen Familie geschaffen hatte. Die schen, dass die große jüdische Ge- Mutter war die Seele des Hauses, erin- Wie hast Du’s mit der Religion? meinde Schlüchterns einen gewissen nert sich Margret, und sie war es auch, Wird Alexander Kohn oft gefragt wor- Abstand zu den Kohns hielt und sie als die den Zigarren-Laden managte. Im den sein, von seinen jüdischen Glau- nicht ganz bodenständig einstufte, Haushalt und der Pflege der fünf bensgenossen und manchmal auch obwohl ihnen allen doch hinlänglich Hunde wurde sie unterstützt von einer von seinen christlichen Weggefährten. bekannt war, dass Alexander Kohn Hausangestellten. Der Vater, wohl auch Nun, in die meisten offiziellen Doku- schon seit den Jahren vor dem Ersten wegen seiner geschäftlichen Kontakte menten lässt Kohn als Regionszugehö- Weltkrieg in Schlüchtern lebte, dass er zu Großhändlern und Großabnehmern, rigkeit „israelitisch“ eintragen. Nach ein „alter“ Schlüchterner war, dann, sei ein „absoluter Draußen Mensch“ dem Krieg fehlt in einschlägigen be- 1921, deutscher Staatsbürger wurde, gewesen. Überhaupt: Ihn zog es mehr hördlichen Formularen gelegentlich und im selben Jahr eine Frau aus altem unter die Leute. Auch seine bevorzug- diese Angabe. Dass sie weggelassen jüdischen Bergwinkel-Adel geheiratet ten privaten Gesellschaftskontakte gin- wurde, könnte Zufall sein, man könnte hat, und dass er es mit der Zurschau- gen über die Grenzen des Beziehungs- es aber auch als Ausdruck einer gewis- stellung seiner preußisch-deutschen netzes eines gewöhnlichen Schlüchter- sen Distanzierung von der jüdischen Gesinnung mit jedem anderen guten ner Kaufmanns hinaus. Und es kam Religionsgemeinschaft deuten, als eine Schlüchterner aufnehmen konnte. hinzu: Er war ein leidenschaftlicher Art Lockerung seiner Bindung an die Aber warum sich manche Glaubens- Jäger und stöberte lieber in Gottes ethnisch-religiöse Gruppe der Juden, genossen den Kohns gegenüber eher freier Natur herum, als an der Laden- vielleicht auch als Ausdruck seines Wil- reserviert verhielten, wird wohl auf ein theke zu stehen. Seine Jagdgenossen lens, sich nicht mehr über seine Reli- ganzes Ursachenbündel zurückzufüh- werden sich damals wohl wie die ganze gion definieren zu lassen. Es spricht ren sein: Zum einen, wie angespro- grüne Front mehr konservativen politi- manches dafür. Besonders fromm chen, stieß man sich an Alexander schen und gesellschaftlichen Leitvor- waren die Kohns offensichtlich nicht. Kohns liberaler Einstellung zur jüdi- stellungen verbunden gefühlt haben Margret erzählt in ihren Erinnerungen, schen Religion. Dazu kamen die ab- als er. Andere Freunde in Schlüchtern dass die Familie die koscheren Speise- seitigen Ressentiments gegen seine und im ganzen Kreis, mit denen er gesetze allenfalls freizügig auslegte. So Herkunft aus Böhmen. Aber mit aus- enge politische und auch persönliche habe sich der strenggläubige Hinter- schlaggebend werden sein parteipoliti- Beziehungen unterhielt, wie Johannes steinauer Großvater Baruch Adler, sches Engagement in der SPD und, we- Berthold und Philipp Deuker, waren wenn er die Kohns in Schlüchtern mal sentlicher noch, seine aktive Teilhabe engagierte Sozialdemokraten. Offen- besuchte, am Mittagstisch voller Ab- und Teilnahme am Leben der Berg- sichtlich gelang ihm der Spagat, sich scheu von dem servierten Mahl abge- winkel-Jägerschaft gewesen sein. Kohn zwischen den politisch entgegenge- wandt und höchstens ein gekochtes Ei ist der einzige Name eines Juden, der setzten Weltbildern bequem einzurich- und eine Tasse schwarzen Kaffee zu uns in den Dokumenten des Jagdver- ten, denn beide Lager schätzten ihn in sich genommen. einswesen begegnet. Er unterhält enge gleicher Weise als aktiven „Genossen“. Dass die große Mehrheit der „sehr, Beziehungen zu seinen Jagdgenossen. Sein SPD-Parteibuch hatte er schon sehr religiösen“4 Schlüchterner Juden Eine bis in die siebziger Jahre hinein seit 1911. Auch seine Frau Paula hatte den eher freigeistigen Kohns mit einer mit wohlwollendem Schmunzeln er- er für den Beitritt in die SPD gewon- gewissen Reserviertheit begegnete, zählte Geschichte mag seine Verbun- nen. Und so galt bei durchreisenden lässt auch eine Bemerkung der Ruth denheit mit der grünen Front illustrie- sozialdemokratischen Politikern die Ephraim, geb. Sichel, früher wohnhaft ren. Im ganzen Bergwinkel machte das Obertorstraße 34 als eine bekannte in der Bahnhofstraße 31, durchschei- folgende, zur dramatischen Anekdote Adresse. Einmal, erzählt Margret, habe nen, als sie 1988 in einem Brief das verdichtete und auch von ihm selbst sogar der Zentrumspolitiker Heinrich Leben der Schlüchterner jüdischen Ge- kolportierte Jagd-Ereignis die Runde: Brüning, der eine Koalition mit den meinde schildert und mit dem Dünkel Auf der Saujagd im Kressenbacher Forst, Sozialdemokraten anstrebte, auf einer der Alteingesessenen anmerkt, dass so um die 1930er, geschah es, dass Ale- Wahlreise in Schlüchtern Station ge- „die sehr religiösen Juden der Stadt alle xander Kohns Schuss einen Keiler nur macht und sei bei ihnen eingekehrt. preußische Staatsbürger waren, außer verletzte, so dass der nun seinerseits Sie habe sogar auf „Onkel Brünings einer tschechischen Familie, die zuge- Jagd auf den Schützen machte und ihn Schoß gesessen, während Eltern und zogen war“.5 Das Schlüsselwort „zuge- so fürchterlich malträtierte, dass der Gast über die Rettung der Republik dis- zogene tschechische Familie“ wird sie arme Jäger die Attacke nicht überstan- kutierten“. Das von der zehnjährigen mit Bedacht gewählt haben: Zum einen den hätte, wäre ihm nicht der Hund 45. Jahrgang · 2020 MKK · Mitteilungsblatt · Zentrum für Regionalgeschichte 81
ZUM SCHICKSAL VON ALEXANDER UND PAULA KOHN seines Jagdfreundes Karl Rudolf, Möbel Rudolf, zur Hilfe gekommen. Der hat das wehrhafte wütende Wildschwein von seinem Opfer abgelenkt und es auf seine Art zur Strecke gebracht.6 Verfolgung und Ausbürgerung Die neue Zeit begann mit der Ver- haftung oppositioneller Parteiaktivisten in der Stadt, vornehmlich führender Sozialdemokraten und Kommunisten. Alexander und Paula Kohn und mit ihnen zwanzig andere profilierte Sozi- aldemokraten, unter ihnen Reichstags- kandidat Johannes Berthold und Phi- SA-Männer boykottieren jüdische Geschäfte (Symbolbild, Bundesarchiv 102 14468). lipp Deuker, Vater von Anna Fuhrmann in der Alten Bahnhofstraße 7, wurden Monarchie nach Aktenlage ganz sche- Tschechei als Protektorat Böhmen und am 27. März von den Schlüchterner matisch zunächst mal tschechischer Mähren besetzten. Mehr noch als an- Braunhemden in Schutzhaft genom- Staatsbürger geworden, obwohl er seit dere Juden waren die Kohns wegen men und in dem provisorisch einge- Jahren schon in Schlüchtern lebte. ihrer sozialdemokratischen Vergangen- richteten Lager auf Burg Schwarzenfels 1921 wurde er dann deutscher Staats- heit schutzlos der Verfolgung und De- für vier Wochen gefangen gesetzt.7 Da- bürger. Aber für die Nationalsozialisten portation der Nationalsozialisten aus- nach musste sich Alexander Kohn täg- galt seine damalige Einbürgerung als gesetzt, gelähmt von der andauernden lich zweimal auf dem Schlüchterner „nicht erwünscht“. Deshalb verfügte Angst vor dem drohenden Transport Rathaus polizeilich melden. Bis zur der Regierungspräsident in Kassel die ins Ghetto und Konzentrationslager. Entlassung der Eltern hatte die elfjäh- Aberkennung der Reichszugehörigkeit Es hatte sich herumgesprochen, rige Margret mit Unterstützung der der Familie Kohn und ordnete zugleich dass Verheiratete einem Transport ge- Hausangestellten Liesel den Haushalt ihre Ausweisung aus Deutschland an. meinsam zugeteilt werden. Deshalb geführt und im Ladengeschäft den sel- So wurden die Kohns aus ihrer Heimat- hatten die Standesämter in jenen Wo- tener gewordenen Kunden Tabak und stadt Schlüchtern vertrieben und emi- chen alle Hände voll zu tun, um Hei- Zigarren allein verkauft. grierten am 5. September 1933 in die ratswillige zu trauen. Margret hatte es Die Aktionen gegen die jüdischen Tschechoslowakei. Sein Geschäft hatte geschafft, noch einen Termin zu be- Schlüchterner folgten jetzt Schlag auf er an Oskar Breusch verkauft; es gab’s kommen. Sie hatte sich bei einem Schlag: Vier Tage später, am 1. April, noch bis in die siebziger Jahre. Familientreffen in den 24jährigen Kauf- dem Tag des reichsweiten Boykotts jü- mann Fritz Zentner, geboren am 22. discher Geschäfte, postierte sich auch August 1914 in Thönischen-Luditz vor Kohns Laden ein SA-Mann und ver- Exil und Konzentrationslager (Sudetenland) verliebt, und jetzt, kurz wehrte Kunden mit dem Schild „Kauft bevor sie zum Rapport für den Trans- nicht bei Juden“ den Zutritt. Im Som- Im tschechischen Exil kamen die port nach Theresienstadt antreten mer wurde das „Gesetz über den Wider- Kohns zunächst für vier Monate bei mussten, gaben sich die beiden das ruf von Einbürgerungen und die Aber- den Eltern in Roßhaupt unter und Ja-Wort. Alle vier, die Eltern Kohn und kennung der deutschen Staatsangehö- hielten sich dann im Kreisstädtchen das junge Paar Zentner, wurden ins rigkeit“ erlassen mit dem Ziel, linken, Tachau ein paar Jahre lang mit einem Ghetto Theresienstadt eingeliefert, dort vornehmlich auch jüdischen Politikern Kleinhandel mit Haushalts- und Kü- jedoch verschiedenen Lagern zugeteilt, und unerwünschten Künstlern und chengeräten über Wasser. Sie lebten in so dass sich die Eltern und die jungen Schriftstellern die deutsche Staatsbür- der Tschechoslowakei in wirtschaftlich Leute nur sporadisch und heimlich gerschaft abzuerkennen und sie aus bescheidenen, aber politisch insgesamt treffen konnten. Im Sommer 1944 gin- Deutschland zu vertreiben. Im Sinne sicheren Verhältnissen und mussten gen Margret Zentner und ihr Mann „einer gesunden Rassen und Bevölke- nicht um Leib und Leben fürchten. „auf Transport“ nach Auschwitz. Von rungspolitik“ hob es darauf ab, Deut- Margret war eine praktisch veranlagte dort wurden wenige Monate später sche, die nach dem Ende des ersten strebsame Schülerin. Schon als Sech- Margret zur Zwangsarbeit ins Außen- Weltkriegs eingewandert und einge- zehnjährige schrieb sie sich zum Stu- lager des KZ Groß-Roosen und ihr bürgert wurden, „aus dem deutschen dium in der Universität Prag ein. Dieser Mann in eine Munitionsfabrik nach Volkskörper als unerfreulichen Neuzu- friedliche Zustand fand für die Kohns Landsberg überstellt. wachs zu beseitigen.“ ein abruptes Ende, als die Nationalso- Wir sind aus der Literatur eine eher Dieses Gesetz traf Alexander Kohn zialisten im Oktober 1938 das Sudeten- wissenschaftliche, allgemein gehaltene und seine Familie mit voller Härte: Er land als Reichsgau Sudetenland dem Darstellung über das kollektive Leben war ja als österreichischer Staatbürger Deutschen Reich eingliederten und ein und Sterben der Menschen in den Kon- geboren und nach Auflösung der K.-u.-k.- halbes Jahr später die sogenannte Rest- zentrationslagern gewohnt. Hier, in 82 MKK · Mitteilungsblatt · Zentrum für Regionalgeschichte 45. Jahrgang · 2020
ZUM SCHICKSAL VON ALEXANDER UND PAULA KOHN Margrets Erinnerungsbericht, begeg- in Prag geplagt haben. Was mag er sich zuvor umquartiert worden. Als sie nen wir unmittelbar einem Einzel- alles für seine innere Rechtfertigung zwölf Jahre zuvor in die Tschechoslo- schicksal, einer jungen Frau, die als zurechtgelegt haben, um zu einer Ent- wakei emigrieren mussten, konnten sie Kind in Schlüchtern behütet und sor- scheidung zu kommen, die seinen und im Exil bis zur Deportation nach The- genfrei aufgewachsen war und jetzt in seiner Frau Interessen gerecht wird resienstadt aus dem Erlös des Verkaufs eine irdische Hölle hineingeworfen ist, und sein Selbstbild nicht beschädigt. des Tabakwarengeschäfts und von Tag für Tag gequält und geschunden, Wir vermuten, dass ihn die bösen Er- ihren Ersparnissen sowie von den eher wo sie wimmert vor Pein und schreit fahrungen, die er nach seiner Befreiung geringen Einkünften aus dem Handel vor Schmerzen und um ihr Leben fleht. aus Theresienstadt in Prag gemacht mit Haushalts- und Küchengeräten Was sie über den Lageralltag berichtet, hat, in seinem heimlichen Wunsch ihren Lebensunterhalt bestreiten. In gehört zu den beklemmendsten Zeug- stärkten, wieder in seine Heimatstadt ihre Heimatstadt aber kehrten sie bet- nissen der Erinnerungsliteratur. Das zurückzugehen. Denn in den Wochen telarm zurück. Sie lebten zunächst von Format eines kurzen Aufsatzes würde nach Kriegsende schlug das Pendel der Zuwendungen (Hausrat und Lebens- ihrem Martyrium und ihrem Anspruch Gewalt zurück, und tschechische Roll- mittel) der amerikanischen Ortskom- auf empathisches Miterleben ihres Lei- kommandos zogen mit Beneschs Parole mandantur, von Haftentschädigungen dens nicht gerecht werden, denn der „schlagt sie, lasst keinen am Leben“ und Beihilfen zur Existenzgründung Zwang zur komprimierten Darstellung durch die Straßen, misshandelten jeden des im Sommer 1945 gegründeten birgt die Gefahr, dass die Sprache und liquidierten Tausende, die Deutsch „Zentralkomitees der befreiten Juden schnell ins allgemein Formelhafte und sprachen. Alexander Kohn hatte nie in der amerikanischen Zone“, dem Unpersönliche abrutscht. Tschechisch gelernt, sprach nur späteren „Zentralrat der Juden in Alexander Kohns Familie hatte un- Deutsch, und war in der Öffentlichkeit Deutschland“. Bald griffen staatliche beschreiblich großes Glück: Er und den ethnischen Säuberungsexzessen Hilfsmaßnahmen nach den von der seine Frau haben Theresienstadt über- ebenso ausgesetzt wie die anderen, amerikanischen Militärregierung er- lebt, und Tochter Margret und Schwie- denn die Rächer unterschieden die lassenen Gesetzen zur Entschädigung gersohn Fritz Zentner sind aus der KZ- Deutschsprechenden nicht nach Nazi- jüdischer Nazi-Opfer. Diese Zahlungen Zwangsarbeit zurückgekehrt. There- Tätern und Nazi-Opfern. Dass er nicht ermöglichten ihnen ein materiell an- sienstadt wurde zwar schon im April Tschechisch sprach und sich über den nähernd gesichertes Leben und eröff- 1945 befreit, aber da eine Typhusepide- engen Familienkreis hinaus nicht ver- neten ihnen geschäftliche Perspekti- mie grassierte, mussten die Gefange- ständigen konnte, isolierte ihn und ven, die sich bald in der Gründung des nen noch bis Anfang Juni im Lager machte ihn zu einem Fremden in sei- „Akolith“-Werks in Sterbfritz konkreti- ausharren. Erst jetzt haben sich alle nem neuen politischen und gesell- sierten. vier wiedergesehen, in einer kleinen schaftlichen Umfeld, ohne Aussicht, Aber zunächst konzentrierte sich Wohnung in Prag, die gerade von Deut- geschäftlich wieder auf die Beine zu das Interesse der Kohns auf eine schen geräumt worden war. Als sie sich kommen, eine Rolle zu spielen und Bestandsaufnahme: Was hatte sich in umschauten und nach ihren Verwand- sich und der Welt zu beweisen, was er ihren Exil- und Lager-Jahren in ihrer ten suchten, überkam sie großes Leid. kann. Er, der die Menschen mochte, Heimatstadt verändert? Gibt es Le- Viele waren ermordet worden. So auch und es genoss, dass man ihn mochte, benszeichen von anderen jüdischen Paulas Vater Baruch Adler, Vorsitzen- war hier in Prag vom Leben da drau- Schlüchternern oder von einem der der der jüdischen Gemeinde Hinter- ßen ausgeschlossen. Seine Tochter etwa 900 Juden, die bis zur Machter- steinau, der in ein jüdisches Alters- Margret nennt in ihren Erinnerungen greifung im Kreis Schlüchtern gelebt heim nach Frankfurt M gezogen war die „Sprachlosigkeit“ ihres Vaters einen hatten? Was ist aus ihren früheren und am 22. November 1941 mit einem wichtigen Beweggrund für seine Rück- nicht-jüdischen Nachbarn, Geschäfts- Transport von 991 Juden nach Kaunas kehr-Entscheidung. Vielleicht waren partnern, Freunden und Genossen ge- in Litauen deportiert und drei Tage spä- die Prager antideutschen Exzesse, die worden? Lassen sich alte Beziehungen ter im Fort IX mit allen anderen er- auch ihn nicht verschonten, für ihn ein zu ihnen wachrufen? Aber war es über- schossen wurde.8 Nicht nur ihr Vater plausibles Argument, mit dem er seine haupt wünschenswert und moralisch war ermordet worden, auch vier seiner unbewusste Sehnsucht nach den guten vertretbar, sie wiederzubeleben? Egal – sieben Geschwister verloren ihr Leben Jahren in Schlüchtern rational fun- in Alexander Kohn waren die Lebens- in Lagern. Diese schmerzvollen Nach- dierte und seine Entscheidung gegen- geister wiedererwacht. Vor ihm tat sich richten mögen mit eine Erklärung über seiner Frau, der Tochter und ihrem ein weites Aktionsfeld auf mit einer dafür sein, dass es Paula zunächst ab- Ehemann rechtfertigte. Fülle von Aufgaben und Konflikten, lehnte, jemals wieder deutschen Boden aber auch voller neuer Chancen. Es zu betreten, wie es Alexander guten drängte ihn, die Ärmel hochzustreifen Freunden mal anvertraut hatte, und ein Die Rückkehr nach Schlüchtern und an die Arbeit zu gehen – zu kom- paar Monate später nur notgedrungen munizieren, alte Netzwerke anzukur- und schweren Herzens in die von ihm Das Einwohnermeldeamt Schlüch- beln und neue anzulegen, einfach anvisierte Rückkehr nach Schlüchtern tern registrierte die Ankunft der beiden wieder mitzumischen und Weichen einwilligte. Kohns aus Prag unter dem 22. Novem- zu stellen. Er überlegte nur noch, was Prag oder Schlüchtern? Bleiben oder ber 1945. Sie zogen ein in ihre frühere er als erstes anpacken sollte. Doch Zurückgehen? Was für Zweifel mögen Wohnung in der Obertorstraße 34. diese Entscheidung nahm ihm seine Alexander Kohn in jenem Sommer 1945 Deren Bewohner waren wenige Tage Frau ab. 45. Jahrgang · 2020 MKK · Mitteilungsblatt · Zentrum für Regionalgeschichte 83
ZUM SCHICKSAL VON ALEXANDER UND PAULA KOHN Die Rettung der Reste des oder ermordet. Nachhaltig unterstützt jüdischen Gemeinde Schlüchtern zu- geschändeten alten Friedhofs wurden sie vom amerikanischen Stand- rückzuerstatten. Den bereits von ihm ortkommandanten, von Bürgermeister genutzten größeren und überbauten Kaum in Schlüchtern angekom- Bertram und Landrat Jansen. Teil der Friedhofsfläche konnte Hein- men, führte sie ihr erster Weg hinauf 1946 erhob die Staatsanwaltschaft lein erwerben. Nur das kleine Grund- in die Breitenbacher Straße zum alten Anklage gegen Heinlein „wegen Zer- stück von 821 qm, ein Bruchteil des jüdischen Friedhof. Was Paula Kohn störung von Grabmälern“.10 In dem ehemaligen großen alten Friedhofs, dort sah, entsetzte sie. „Das gehört sich sich Jahre lang hinziehenden Prozess blieb als Friedhof mit noch 27 wieder nicht, das tut man nicht, stammelte vor dem Amtsgericht Schlüchtern be- aus Bauschutt und Materiallager her- sie“, berichtet Margret. An diese mora- stritten die Angeklagten, sich nach der gerichteten Grabsteinen bis heute er- lische Urformel zur Unterscheidung formellen Rechtslage schuldig gemacht halten, dank der Initiative und des von Gut und Böse habe sich die Mutter zu haben. Schließlich habe die Stadt zähen Ringens von Alexander und ihr Leben lang gehalten. Nur noch we- den Friedhof 1940, damals ein „Tum- Paula Kohn. nige Gräber und Grabsteine des ehe- melplatz für jedermann“ von der IRSO, mals großen Friedhofs waren vorhan- der Rechtsvertretung der 29 noch in den, und die befanden sich in einem der Stadt anwesenden Juden, abge- Friedhof und Mahn- und Gedenkmal desaströsen Zustand. Den größten Teil kauft. Damit habe der Friedhof seinen unter den Schutz der Stadt Schlüchtern Friedhofsfläche hatte der Besitzer der kultischen Charakter verloren gehabt, gestellt – Das Versprechen des Bürger- Seifenfabrik, Eugen Heinlein, über- und der Unternehmer Heinlein könne meisters bauen und Grabsteine für den Erweite- als Eigentümer dieses „profanen Grund- rungsbau der Wäscherei verwenden stück“ nach eigenem Ermessen ent- Die Restfläche des alten Friedhofs lassen oder dem Steinmetz Degenhardt scheiden.11 Als Zeuge geladen, erklärte war vorerst gerettet. Jetzt nahmen die verkauft.9 Was für ein Frevel an dem Kohn jedoch, dass entgegen dieser Kohns das nächste Projekt in Angriff: fundamentalen jüdischen Gebot der formaljuristischen Argumentation die Ein Mahn- und Gedenkmal, das in ewigen Ruhe der Toten. Denn ihre „Umwidmung“ des Friedhofs, das heißt würdiger Form an die Ermordung ihrer Ruhe ist dauerhaft, keiner darf sie seine Nutzung als Baugrund und „Stein- Nachbarn erinnert und denen ihre stören, und ihre Gräber und Grabmale bruch“, den fundamentalen jüdischen Würde zurückgibt, die in den Lagern müssen für immer unversehrt beste- Glaubensgrundsatz der Unantastbar- zu Nummern wurden. In dem Lehrer hen bleiben. Die im Bauschutt noch keit der Totenruhe verletzt. und Heimatforscher Wilhelm Praesent, auffindbaren Bruchstücke der alten In dieselbe Richtung weist der wegen seiner kritischen Einstellung Grabsteine galt es, ohne weiteren Ver- Spruch des Berufungsgerichts in zum Nationalsozialismus mehrfach zug zu sammeln, zusammenzubauen Hanau: Selbst nach der damaligen strafversetzt und von Kollegen seiner- und wieder aufzustellen. Wer anders nationalsozialistischen Rechtslage ver- zeit als „Judenfreund“ diffamiert, fand als die Kohns hätte sich mit Sachver- stoße die „Verweltlichung“ des jüdi- die in Alexander und Paula Kohn wie- stand und Leidenschaft darum küm- schen Friedhofs schon aus Gründen dererstandene jüdische Gemeinde der mern können. Sie erklärten sich, wie der Pietät gegen das auch damals gül- Stadt einen entschlossenen, heimatge- ihre Tochter Margret später berichtet, tige Rechtsempfinden und die allge- schichtlich ungewöhnlich erfahrenen kurz entschlossen zur „jüdischen Ge- mein geltenden Rechtsgrundsätze. Das Mitstreiter. Ihrem gemeinsamen Vor- meinde“, stellvertretend handelnd für Gericht verhängte eine Geldstrafe gegen schlag, die seinerzeit bekannten Namen die einst 400 jüdischen Bürgerinnen den Unternehmer, und die Auflage, der ermordeten Schlüchterner, Elmer und Bürger der Stadt, alle vertrieben den gesamten ehemaligen Besitz der und Vollmerzer Juden auf fünf Stelen auf dem Friedhof zu verewigen, stimm- ten alle an der Entscheidung Beteilig- ten vorbehaltlos zu, vom Bürgermeis- ter und Landrat bis zu Repräsentanten der Landes-Verbände der Jüdischen Ge- meinden und der Verfolgten des Nazi- regimes. Auf der Einladung zur Einweihung des Mahn- und Gedenkmals am 7. Au- gust 1949, dem Schlüchterner Weitzel- fest, stand „Jüdische Kultusgemeinde i. A. Alexander Kohn“. Seine Ansprache begann Wilhelm Praesent mit den Sät- zen: „Ein seltsames und bedeutungs- volles Zusammentreffen: Am gleichen Tag, an dem die liebe alte Stadt Schlüch- tern sich fröhlich der Wohltat ihres Mitbürgers J.J. Weitzel erinnert, wird auf dem Boden der gleichen Stadt der Reste des alten jüdischen Friedhofs in der Breitenbacher Straße. Foto: Egner größten Untat dieses Jahrhunderts ge- 84 MKK · Mitteilungsblatt · Zentrum für Regionalgeschichte 45. Jahrgang · 2020
ZUM SCHICKSAL VON ALEXANDER UND PAULA KOHN dacht, und Menschen versammeln sich Mitglieder für die Spruchkammer des sönliche Rache zu üben. Am 5. Sep- zu der unheimlichsten Begräbnisfeier, Kreises Schlüchtern unter anderen tember 1948 stellte die Schlüchterner die je im Kinzigtal begangen wurde, zu Hans Berthold aus Hintersteinau, den Spruchkammer nach über zweijähriger einem Begräbnis, bei dem die Toten Huttener Bürgermeister Nikolaus Ochs, Prüfung tausender Vorgänge und fehlen.“12 Im Vorfeld der Feier hatte es Karl Geist aus Steinau sowie Alexander schriftlicher und mündlicher Verhand- Irritationen gegeben, deren Ursachen Kohn, seit seiner Rückkehr wieder ein- lungen ihre Tätigkeit ein. nie zur Sprache kamen und über die geschriebenes Mitglied im SPD-Kreis- Überhaupt: Es gibt noch mehr bis heute nur Mutmaßungen angestellt verband Schlüchtern. Ihm fiel jetzt die Anzeichen, die darauf hindeuten, dass werden: Der Evangelische Kirchenchor Aufgabe zu, an der politischen Säube- Alexander Kohn seine Stellung als hatte seine Mitwirkung kurzfristig rung des Kreises mitzuwirken und da- politisch und rassisch Verfolgter des überraschend abgesagt, obwohl er im rüber zu urteilen, gegen wen seiner Nationalsozialismus und seine Nähe Einladungsschreiben bereits aufge- früheren Mitbürger Sühnemaßnahmen zur Ortskommandantur sowie seine führt war. Alexander Kohn überant- anzuordnen sind, und wer als Mit- Möglichkeiten als Mitglied der in jenen wortete im Auftrag der „Jüdischen Kul- läufer mit einer geringen Zahlung an Monaten tonangebenden SPD nicht tusgemeinde“ – und das waren nur er einen Wiedergutmachungsfonds glimpf- dazu nutzte, exponierte Nazis der Stadt und seine Frau Paula – das Mahn- und lich davonkommt. Die meisten Ange- zur Rechenschaft zu ziehen. Es scheint, Gedenkmal der Obhut der Stadt klagten, unter ihnen, damals wie jetzt als habe er dazu geneigt, auch jene eher Schlüchtern, Bürgermeister Bertram angesehene Bürger, wird er gekannt mit Nachsicht zu behandeln, deren übernahm es und gab sein Wort, dass haben, als Kunden, Geschäftspartner braune Vergangenheit ihm – sogar aus der Boden, auf dem es steht und in oder Nachbarn. Unter ihnen national- eigener leidvoller Erfahrung vor seiner dem jüdische Bürgerinnen und Bürger sozialistische Parteifunktionäre und Vertreibung – bekannt war. Vor allem Schlüchterns bestattet sind, „wieder zu SA-Männer, die ihn und seine Frau auch seine Entscheidungen in der Ehren kommt“. Bei manchen Stadt- nach der Machtergreifung in Haft ge- Sache Treuhänderschaft Heinlein näh- führungen wird daran erinnert, dass nommen, die ihn kujoniert und klein- ren solche Spekulationen: Im August es die beiden Kohns waren, die einzi- gemacht, sein Geschäft boykottiert und 1946 hatte das Amt für Vermögensver- gen Rückkehrer der einst so großen seine Familie aus der Stadt vertrieben waltung die Geschäftskonten Heinleins jüdischen Gemeinde Schlüchterns, hatten. Die meisten werden ihm da- gesperrt und Alexander Kohn als Treu- denen die Rettung dieses kleinen Rests mals 1933 persönlich nichts getan händer eingesetzt. In dieser Funktion des alten jüdischen Friedhofs und die haben, aber auch nichts Gutes, obwohl konnte nur er über das Firmenvermö- Errichtung der Gedenkstelen zu dan- mancher die politische Möglichkeit gen verfügen und in Abstimmung mit ken ist. dazu gehabt hätte, sei es auch nur mit dem Amt Entscheidungen von größe- kleinen Gesten, das schwere Los der rer Tragweite treffen. Er und Heinlein Familie abzumildern. Ob Alexander schienen sich gut miteinander vertra- Kohn entnazifiziert und verwaltet Kohn jetzt der Gedanke kam abzurech- gen zu haben, zu gut, was ein beteilig- Heinleins Vermögen treuhänderisch – nen? Auch in der „Schlüchterner Zei- ter Anwalt kritisierte: „Herr Alexander Nachsicht gegenüber der Nazi-Elite? tung“, die damals ausführlich über die Kohn lässt Herrn Heinlein offenbar Spruchkammer berichtete, finden sich völlig ungestört wirtschaften…“. Er Die Amerikaner haben wenige Wo- keine Hinweise darauf, dass er der Ver- dulde es, dass der agile Unternehmer chen nach der Niederringung Hitler- suchung nachkam und seine Funktion in der Geschäftsführung unkontrolliert Deutschlands in ihrer Besatzungszone als Mitglied der Kammer nutzte, um eigenmächtig schalte und walte, unter damit begonnen, ihre zentralen politi- Rechnungen zu begleichen und per- anderem durch die Vergabe eines Fi- schen Kriegsziele zu realisieren, die drei „D“ – Denazifizierung, Demilitari- sierung, und Demokratisierung. Sie ordneten die Einrichtung regional zu- ständiger Laiengerichte an, der soge- nannten Spruchkammern. Ihre perso- nelle Besetzung mit ausgewiesenen Gegnern und Verfolgten des NS-Re- gimes erfolgte auf Vorschlag der wieder zugelassenen Parteien SPD und KPD sowie der neu gegründeten CDU und der Liberalen Partei. Die Schlüchterner Spruchkammer verhandelte im Land- ratsamt, und nach dem bis heute nicht geklärten Brandanschlag am 18.3.1947 auf ihre Sitzungsräume zog sie um ins Lautersche Schlösschen. Die Schlüch- terner SPD, die erste wieder zugelas- sene Partei, konnte nahtlos an ihre alte Belegschaft des Akolith-Werks, 3. von rechts: Richard Rupp, Büroleiter, Tradition anknüpfen und benannte als 7. von rechts: Hans Frank, Vorarbeiter. Foto: privat 45. Jahrgang · 2020 MKK · Mitteilungsblatt · Zentrum für Regionalgeschichte 85
ZUM SCHICKSAL VON ALEXANDER UND PAULA KOHN nanzierungsdarlehens an die Bauge- sen Frau Margret. Beide hatten 1947 „Akolith“ und deren Betrieb als bedeu- nossenschaft. Jedenfalls kam die Auf- mit ihrem gerademal vier Monate alten tendes mittelständisches Unterneh- sichtsbehörde zu dem Schluss, dass Töchterchen Helen (11. April 1947) die men in den Nachkriegsjahren des Dor- der Treuhänder Kohn „seine Funktion Tschechoslowakei illegal verlassen, fes mit rund 20 Arbeitsplätzen waren nur mangelhaft erfüllt“ und deshalb wohnten zunächst in der Obertorstraße allein sein Werk. durch einen „geeigneteren“ zu erset- 34 in Schlüchtern und zogen dann Die weitere Entwicklung der Firma zen ist.13 nach Sterbfritz, wo Fritz Zentner die ist schnell erzählt: Fritz und Margret Leitung des „Akolith“-Werks über- Zentner sind mit ihrer Tochter 1953 nahm. Für sich selbst hatte Alexander ebenfalls nach New York ausgewan- Neuer Start Geschäftsinitiative – Kohn ein kleines Appartement für die dert. Das „Akolith“-Werk wurde an den das „Akolith-Werk in Sterbfritz Dauer seiner Geschäfte in Sterbfritz Schlüchterner Kaufmann Heinrich reserviert. Eine weitere kleine Woh- Amrhein verpachtet, und nachdem die Alexander Kohn, voller Ideen und nung hatte er als Werkswohnung über Nachfrage nach „Akolith“-Bauplatten Tatendrang, hatte ein Gespür dafür, der Fabrikationshalle eingerichtet. stark zurückgegangen und die ganze was das zerbombte Land und die Diese hatte er für Hermann Frank und Anlage ziemlich heruntergewirtschaf- Millionen in Baracken untergebrachten seine kleine Familie vorgesehen. Er tet war, verkaufte sie Alexander Kohn Flüchtlinge und Vertriebenen auf lange stammte aus Alexander Kohns Ge- schließlich 1967 seinem alten vertrau- Sicht am notwendigsten brauchten: burtsort Roßhaupt. Beide hatten sich ten Vorarbeiter Hermann Frank. Nach Wohnungen. Exemplarisch für die Not in den Dreißigerjahren in Tachau ken- den fast ein Jahr dauernden Aufräum- stehen die Dörfer im Bergwinkel, am nengelernt, und als Alexander Kohn er- arbeiten stieß er Restbestände ab und markantesten vielleicht Sterbfritz, das fuhr, dass die Franks in einem Ver- veräußerte die ganze Anlage der politi- der Krieg zwar verschont hatte, aber die triebenenlager in Bayern gestrandet schen Gemeinde Sterbfritz. 1200 Sterbfritzer mussten in nicht waren, setzte er alle Hebel in Bewe- mehr als zwei Jahren 800 Zugezogene gung, um den tüchtigen jungen Mann unterbringen, ohne zunächst auch nur nach Sterbfritz zu holen und ihm den Der erfolgreiche Unternehmer in der einen zusätzlichen Quadratmeter Vorarbeiterposten anzuvertrauen. exklusiven Bergwinkelgesellschaft Wohnfläche verfügbar zu haben. Das Das ganze „Akolith“-Areal – und die Gebot der Stunde hieß, den Menschen angrenzende doppelt so große Fläche – Die Freude über seine glückliche ein Dach überm Kopf zu geben, neuen wird heute genutzt vom Bauhof der Rückkehr aus Exil und KZ und seine Wohnraum zu schaffen und alte Ge- Gemeinde Sinntal mit der Gebäude- wirtschaftlichen Erfolge verliehen Ale- bäude zu erneuern. Deshalb ver- anschrift Seemeweg 18. In das Einfa- xander Kohn eine persönliche Souverä- schwendete der jetzt Dreiundfünfzig- milienhaus, heute Erbachstraße 2, zog nität, die er in dieser Stärke auch in jährige gar keinen Gedanken mehr nach der Auswanderung der Zentners seinen jungen Jahren nicht erlebt hatte. darauf, seine früheren guten Ge- 1953 Hermann Frank mit seiner Fami- Sie war gepaart mit seinem vielseitigen schäftsbeziehungen im Tabakhandel lie ein; seine Tochter Anni Bundschuh, Interesse und mit dem Drang, nichts zu reaktivieren, sondern er wagte den geb. Frank, bewohnte es später bis zu mehr verpassen zu wollen und an Sprung vom Handel in die Produktion, ihrem Umzug nach Schlüchtern vor allem aktiv teilzuhaben und teilzuneh- in die für ihn neue und ungewohnte wenigen Jahren. Alexander Kohns men, was um ihn herum geschieht. Er Fabrikation von Baustoffen. Er grün- Firma „Akolith“ machte erwartungsge- suchte die Geselligkeit. Die fand er in dete eine Firma, kaufte ein Wiesen- mäß gute Umsätze. Als versierter Kauf- reichem Maße, denn seine gegenwärti- grundstück am Seemebach in Sterb- mann war er bald bestens vernetzt und gen Privilegien als jüdischer Remi- fritz – heute das vom Sinntaler Bauhof akquirierte Kunden in Hessen und der grant, seine Jovialität und sein selbst- genutzte Eckgrundstück zwischen ganzen US-Besatzungszone, vor allem ironischer Witz machten ihn zu einem Weinstraße, Erbachstraße und Seeme- auch in benachbarten bayrischen Städ- unterhaltsamen gern gesehenen Kum- weg – und errichtete hier nach der Be- ten und Gemeinden. Einen seiner ver- pel und brachten ihm Beachtung und triebsbeschreibung vom 25. April 1947 lässlichsten Geschäftspartner und guten Beifall. Zu alten sozialdemokratischen eine Fabrik für den Bau von „Leicht- Berater hatte er in Karl Knothe, Besit- Parteigenossen in Stadt, Kreis und bauplatten auf Holzfaserbasis mit Ze- zer des in der Region führenden Bau- Land pflegte er zwar nach wie vor üb- mentbindung“. Dem Unternehmen stoffhandels. liche parteifreundschaftliche Beziehun- gab er den aus den Anfangsbuchstaben Alexander Kohn behielt als Eigen- gen, aber in der konkreten Parteiarbeit seines Vornamens und Familienna- tümer die Planung der Fabrik, die ver- auf Orts- und Kreisebene trat er nicht mens gebildeten Firmennamen „Ako- waltungsmäßige und technische Ab- mehr profiliert hervor, sieht man ein- lith“-Werk Sterbfritz, angelehnt an den wicklung des Projekts und nach dem mal ab von seiner Mitgliedschaft in der Markennamen „Heraklith“. Die aus Anlaufen der Produktion das Manage- Spruchkammer, zu der ihn seine Par- Holzspänen und Zement gepressten ment des ganzen Unternehmens selbst tei vorgeschlagen hatte. Es scheint, als Dämmplatten nannten die Sterbfritzer in der Hand und bestellte als seine stelle er als Arbeitgeber mit unter- scherzhaft „Sauerkrautplatten“. Bald „bevollmächtigten Vertreter“ seinen nehmerischem Erfolg Glaubenssätze darauf baute er neben der Werkshalle Schwiegersohn Fritz Zentner und seine seiner Partei in Frage und empfinde ein Familienwohnhaus für seinen Tochter Margret Zentner. sie nicht mehr als seine politische Schwiegersohn Fritz Zentner und des- Die Idee zur Gründung der Firma Heimat. 86 MKK · Mitteilungsblatt · Zentrum für Regionalgeschichte 45. Jahrgang · 2020
ZUM SCHICKSAL VON ALEXANDER UND PAULA KOHN Dagegen reaktivierte er mit Schwung Juden sind. In jenen ersten Nach- sie, ihr Mann suchte sie. Es wirkt ja in schon bald nach seiner Rückkehr Be- kriegsjahren war man so sehr mit der der Tat irgendwie befremdlich und ver- ziehungen zu den Jagdgenossen im eigenen Not beschäftigt und vom eige- störend, mit welch wohlwollender Nai- Bergwinkel. Unter ihnen waren Per- nen Elend so besessen, dass man gar vität Alexander Kohn die Verwicklung sönlichkeiten wie Karl Rudolf und Willi keinen Sensus für das Leid anderer seiner Jagdgenossen und Stammtisch- Rollmann, denen er sich schon vor sei- hatte, geschweige denn den Willen, die brüder ins nationalsozialistische Re- ner Vertreibung auch menschlich ver- Auslöschung des jüdischen Lebens in gime übersah oder in Kauf nahm oder bunden gefühlt hatte, doch es waren der überschaubaren heimischen Re- die Herren allenfalls für geläuterte in den Jahren danach Jäger hinzuge- gion bewusst wahrzunehmen und zu Nazis hielt. Die freundliche Aufnahme stoßen, die sich gewiss nicht alle ent- reflektieren. Man fühlte sich nach dem in ihre Kreise – auch wenn sie bei eini- lastend der Kategorie der nationalso- „verlorenen Krieg“ und dem „Zusam- gen nur fassadenhaft war – mag seine zialistischen Mitläufer zuordnen konn- menbruch“ selbst als Opfer in einem Blindheit ebenso begünstigt haben wie ten. Es waren 33 gestandene Männer, viergeteilten, besetzten, darniederlie- seine Scheu vor emotionaler Verstim- die sich am 25. Oktober 1947 im „Hes- genden Land. Hätte einer wie Alexan- mung und rationaler Auseinanderset- sischen Hof in Schlüchtern“ zur Grün- der Kohn von der Ermordung seiner zung. dungsversammlung des „Hessenjäger Verwandten in Konzentrationslagern e.V. Kreisgruppe Schlüchtern“ trafen, gesprochen, hätten ihm die anderen unter ihnen Breusch, Dehler, Grün, ihre Gefallenen und Bombentoten da- Kohns verlassen ihre neue von Kühlmann, Kress, Knothe, Lübbert, gegen aufgerechnet, die Vermissten und fremde Heimat Marschhausen, Rudzok, Stiebeling, Verschollenen, die Millionen Flücht- Schlott, von Brandenstein und Weg- linge und Vertriebenen. In Alexander Man wundert sich darüber, dass mann, in ihrer Mitte Alexander Kohn.14 Kohns Runden wusste man noch nichts Alexander Kohn, schon nach wenigen Eine andere Herren-Runde, in der sich vom Massenmord an den Juden, oder Jahren seine Auswanderung in die Alexander Kohn auf den ersten Blick wollte nichts davon wissen. Im Übri- USA in die Wege leitete, hatte er doch offensichtlich wohlfühlte, war das gen war ja das braune Gedankengut gerade erst sein „Akolith“-Unterneh- „Zwiebeleck“ in der damals renom- nicht mit dem Kriegsende verschwun- men gegründet, es auf Wachstumskurs mierten Sterbfritzer Bahnhofsgast- den, und wer danach suchte, fand seine gebracht und sich selbst im wirtschaft- stätte, eine Art Stammtisch der „Besse- Voreingenommenheit gegenüber den lichen und gesellschaftlichen Leben der ren“ und Honoratioren des Dorfes – Juden ja auf Schritt und Tritt bestätigt, Region in jeder Hinsicht erstaunlich Ärzte, Förster, Bahnmeister, Apotheker etwa in der privilegierten Behandlung etabliert, wie es nach außen schien. und Geschäftsleute und Unternehmer des Alexander Kohn durch die Besat- Jetzt aufgeben und auswandern – das wie er.15 zungsmacht. wird er gewiss nicht aus eigener Initia- Was mag Alexander Kohn in diesen Wir wissen nicht definitiv, wie tive und leichten Herzens getan haben. geselligen Runden empfunden haben? Paula Kohn auf die Betriebsamkeit Die treibende Kraft zu dieser Entschei- Es hat den Anschein, als habe er sich ihres Mannes in den exklusiven Män- dung hin war auch in dieser Lebenssi- in ihnen gut aufgehoben gefühlt. Aber nerrunden reagierte. Vielleicht hielt sie tuation wieder seine Frau, Paula Kohn. es ist dennoch schwer vorstellbar, dass ihm, dem ausgemachten Draußen- Anders als ihr Mann hatte sie nicht die er sich als Gleicher unter Gleichen ge- Menschen, vor, sie zu vernachlässigen innere Kraft und wohl auch nicht den fühlt haben könnte, lebten er und die und vereinsamen zu lassen, sie, die Willen dazu, traumatische Erinnerun- anderen in ihren Erinnerungen und doch früher Mittelpunkt der Familie gen an das erlittene Unrecht und den Erlebnissen doch getrennt in verschie- war, die den Haushalt versorgt, das Gedanken an die ermordeten Ver- denen Welten. Er musste über die Fä- Tabakwarengeschäft geführt und Kon- wandten, Nachbarn und Weggefährten higkeit verfügt haben, den Mitschuldi- takte zu Freunden in ihrer Partei, zu an sich abprallen zu lassen und sich gen zu verzeihen oder das schreckliche Verwandten und Menschen im jüdi- mit der Situation, wie sie nun einmal Geschehen zu verdrängen. schen und nichtjüdischen Umfeld ge- ist, zu arrangieren und „die Vergan- Worüber wird man sich, außer über pflegt hatte. Es spricht manches dafür, genheit ruhen zu lassen“. die Jagd oder über die üblichen wirt- dass sie ihm in ihrer offensiven und Wie oft wird sie ihm sein zur Schau schaftlichen Alltagssorgen, unterhalten prinzipientreuen Art auch den Vorwurf getragenes Nahverhältnis zu den Ho- haben? Dass man sich für Kohns und der Distanzlosigkeit zu jenen machte, noratioren mit brauner Vergangenheit seiner Familie Schicksal sonderlich in- die das nationalsozialistische Regime vorgehalten und ihm gesagt haben, teressiert hätte, ist eher unwahrschein- mitgetragen und sich insofern an sei- dass seine arglose Hoffnung auf „ein lich. Kaum vorstellbar auch, dass einer nen Verbrechen mitschuldig gemacht anderes Deutschland“ eine Illusion sei. mal die Verfolgung und Deportation haben. Wir knüpfen unsere Vermutun- Deshalb könne man nicht an das der Juden und den Massenmord an- gen an eine Äußerung im Interview frühere „normale“ Leben anknüpfen, gesprochen oder auch die nahelie- ihrer Tochter Margret, die davon spricht, denn es sei nichts geblieben, wie’s war, gende Frage aufgeworfen hätte, warum dass ihre Mutter vor Angst zusammen- und deshalb gebe es kein „Weiter so“. keine der elf jüdischen Gemeinden im fuhr, wenn jemand „an der Tür klin- Ihre Prinzipientreue hinderte sie daran, Kreis Schlüchtern mehr existiert und gelte“ – es könne ja ein „Uniformierter“ normale nachbarschaftliche Beziehun- Alexander Kohn und seine Frau die ein- sein, der sie abholen will. Freundschaft- gen zu nichtjüdischen Familien in zigen Rückkehrer von einst rund 900 liche Kontakte zu Nichtjuden vermied Schlüchtern und Sterbfritz zu suchen. 45. Jahrgang · 2020 MKK · Mitteilungsblatt · Zentrum für Regionalgeschichte 87
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