NICARAGUA ZEITUNG - Nicaragua Verein Hamburg eV

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NICARAGUA ZEITUNG - Nicaragua Verein Hamburg eV
NICARAGUA
ZEITUNG
Juni 2007

                                                            G8-Gegner besprühten die deutsche Botschaft in Managua:
                                                                                „Internationaler Widerstand: Kein G8“

                                        Alternativen zur
                             neoliberalen Weltordnung?
                          Wenige Tage vor der Drucklegung die-        ordnung. Der Weltsozialgipfel in Porto
                          ser Ausgabe sind Kulturzentren und Pri-     Alegre war ein wichtiger Meilenstein
                          vatwohnungen von GegnerInnen des            in diesem Kampf. Basisorganisationen
                          Weltwirtschaftsgipfels G8 insbesondere      kämpfen gegen die Privatisierung von
                          in Hamburg und Berlin von der Polizei       Wasser, Strom, Gesundheitsversorgung
                          durchsucht worden. Allein in Hamburg        und Rentenversicherung und widerset-
                          wurden 300 Polizisten aufgeboten, um        zen sich damit neoliberalen Bestrebun-
                          die Rote Flora, dreizehn Privatwohnun-      gen. Ebenso versuchen politische und
                          gen und selbst das Schauspielhaus zu        wirtschaftliche Bündnisse auf staatlicher
                          durchsuchen.                                Ebene fairere Handelsbedingungen zu
                          Fadenscheinige Begründung dieses un-        schaffen, als dies für viele schwächere
                          verhältnismäßigen Polizeieinsatzes war,     Volkswirtschaften zur Zeit vor dem Hin-
                          gewalttätige Proteste gegen den G8-Gip-     tergrund der engen Spielräume der Frei-
                          fel Anfang Juni in Heiligendamm verhin-     handels-Knebel-Verträge wie NAFTA oder
                          dern zu wollen. Der „Verdacht auf Bil-      CAFTA der Fall ist.
                          dung einer terroristischen Vereinigung“     Umbrüche in lateinamerikanischen Inte-
                          musste dafür herhalten. Einige Tausend      grationsprojekten als Folge der Ableh-
                          Menschen haben allein in Hamburg            nung neoliberaler Wirtschaftspolitik sol-
                          gegen diese polizeistaatlichen Maßnah-      len deshalb schwerpunktmäßig in dieser
                          men protestiert. Der Protest gegen den      Ausgabe behandelt werden. Auch un-
                          G8 als Symbol und politischer Schalt-       sere nächste Veranstaltung am 14.6.
                          zentrale der mächtigsten Verfechter         (siehe die Ankündigung auf S. 3) wird
                          einer neoliberalen Wirtschaftsordnung       sich unter anderem mit den Handlungs-
Nicaragua                 werden sich dadurch nicht kleinkriegen
                          lassen.
                                                                      spielräumen von Alternativen zu den
                                                                      bestehenden Handelsabkommen in La-
Verein                    Auch in Lateinamerika formiert sich seit    teinamerika sowie deren Chancen und
Hamburg                   Jahren massiver Widerstand gegen das
                          neoliberale Projekt einer globalen Welt-
                                                                      Widersprüchen beschäftigen.

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Lateinamerika im Umbruch ?
„Ein Kontinent in Bewegung“. Ähn-           im Einzelnen nicht geklärt werden). Vor      Ausplünderung eröffnen sich im Cono
lich lauten viele Presse- und Veran-        allem steigende Armut und Verelendung,       Sur (südlicher Kegel oder ‚Tannenzapfen’
staltungstitel. Dieses Thema - bezo-        also all die sozialen Probleme, die 20       des amerikanischen Kontinents) viele
gen auf Zentralamerika und Nicara-          Jahre Reformpolitik des Neoliberalismus      Möglichkeiten – trotz unterschiedlichster
gua – haben auch wir in der letzten         hinterlassen haben und der daraus resul-     Ausgangspositionen.
Ausgabe der „Nicaragua Zeitung“             tierende Protest, der mit gestiegenem
behandelt. Von großen Umbrüchen             Selbstbewusstsein neue soziale Forde-        Der ‚Linksruck’ fand besondere Beach-
konnte allerdings in Mittelamerika          rungen durchzusetzen versucht, sind die      tung und Bedeutung mit der so genann-
keine Rede sein: Mit einer erst vor         Quelle vieler Veränderungen.                 ten ‚Bolivarischen’ oder ‚Bolivarianischen
kurzem ratifizierten Freihandelszo-                                                      Revolution‘ von Hugo Chávez in Venezue-
ne (CAFTA) wurde den USA und                                                             la und durch das von ihm angeregte Pro-
deren Ideologie des Neoliberalismus                                                      jekt ALBA, das seine Visionen auf ganz
die Hand gereicht. Eine Ausnahme                                                         Amerika ausdehnen oder übertragen
bildet allerdings Nicaragua, dessen                                                      soll.
Präsident Ortega sich noch ent-
scheiden muss, ob er die gesell-                                                         Integrationspolitik in
schaftlich destruktiven Wirkungen
des Neoliberalismus weiter in Kauf
                                                                                         Südamerika
nehmen will oder ob er im Rahmen                                                         Brasilien, die weitaus stärkste Wirt-
von ALBA, einem von den USA                                                              schaftsmacht des Cono Sur und sein
emanzipierten Integrationsprojekt,                                                       Präsident Lula favorisieren die Stärkung
das im Kern rational, solidarisch                                                        des Mercosur. Der 1991 gegründete
und sozial sein soll, sich einen Frei-                                                   Mercosur (Mercado Comun del Cono
raum zur gesellschaftlichen Gestal-                                                      Sur) ist ein südamerikanischer Binnen-
tung verschaffen will. (Bewusst wur-                                                     markt, der mit den assoziierten Anden-
de hier nur von Ortega gesprochen,                                                       staaten praktisch den gesamten süda-
denn bisher ist noch nicht zu erken-                                                     merikanischen Kontinent umfaßt. Nach
nen, wer außer Gott, Ortega und sei-                                                     dem Vorbild der ‚Europäischen Wirt-
ner Frau Rosario Murillo die künfti-        Die südamerikanische Ablehnung von           schaftsgemeinschaft’ wird ein gemeinsa-
ge Politik Nicaraguas bestimmen             ALCA, der von den USA angestrebten           mer Markt mit gemeinsamer Wirt-
wird. Eine wirklich starke emanzipa-        ‘Freihandelszone aller Amerikas’ ist zu-     schaftspolitik angestrebt. Auch letzte
torische Bewegung, die sich Gehör           gleich Folge und Ursache von Wandel:         Zölle und andere Handelshemmnisse sol-
verschaffen könnte, gibt es in Nica-        Misstrauen gegenüber den USA, die            len in absehbarer Zeit abgebaut werden.
ragua nicht und auch das Ohr dafür          allzu selbstherrlich ihre hegemoniale
nicht.)                                     Macht demonstrierten, hatte in Südame-        Der Mercosur ist nach der EU und dem
Die Betrachtungen zum Thema                 rika aber auch weltweit starken Wider-        nordamerikanischen NAFTA die dritt-
“Umbruch in Lateinamerika” wollen           stand gegen ALCA hervorgerufen, so            größte Wirtschaftszone der Welt. Domi-
wir mit einer Fokussierung auf              dass sogar die Konferenz katholischer         nierender Kern der Gemeinschaft sind
Südamerikas Integrationsbestrebun-          Entwicklungszusammenarbeit (2002 in           Brasilien, Argentinien und Venezuela
gen fortsetzen.                             Brüssel) die Ziele von ALCA anprangerte       (nach dessen Beitritt 2006). Disparitäten
                                            und Regierungen und Zivilgesellschaft in      zwischen diesen wirtschaftsstarken Län-
Unübersehbar ist, dass inzwischen nahe-     Amerika und Europa eindringlich zum           dern und den kleineren Uruguay und
zu alle Länder Lateinamerikas Regierun-     Kampf gegen ALCA aufrief. Politisch ist       Paraguay belasten die Zusammenarbeit
gen haben, die durch demokrati-                                                                 sehr. (Die Dominanz Brasiliens ist
sche Wahlen zustande gekommen                                                                   überdeutlich: Sein Beitrag zum Brut-
sind. Das ist in der Geschichte Lat-                                                            toinlandprodukt     des    Mercosur
einamerikas an sich schon eine                                                                  beträgt über 50% !)
bedeutende Tatsache; dass darü-                                                                 Nach außen will der Mercosur
ber hinaus viele dieser Länder von                                                              durchaus offen sein und bemüht
linken Präsidenten geführt werden,                                                              sich um Verträge mit der EU gewis-
(vgl. auch unseren Veranstaltungs-                                                              sermaßen als Gegengewicht zu
bericht S. 4/5) kann wirklich als                                                               den USA. Allerdings erschwert die
Umbruch bezeichnet werden, denn                                                                 Entwicklung der ‚Bolivarischen Re-
in Südamerika bedeutet das zu-                                                                  volution’ und das in den meisten
gleich eine Kampfansage an den                                                                  Ländern als gescheitert angesehe-
Neoliberalismus. Finanzkrisen hat-                                                              ne Modell des Neoliberalismus die
ten das Modell des Neoliberalis-                                                                Handlungsmöglichkeiten der EU,
mus, das durch Marktöffnung,                             Am 7. Mai 2007 gründete der Mercosur
                                                                                                die eher auf Ausgleich setzt, wei-
Privatisierung und Deregulierung                                    ein gemeinsames Parlament terhin einem neoliberalen Wirt-
gekennzeichnet ist, in vielen süda-                                                             schaftsmodell anhängt und zu-
merikanischen Ländern diskreditiert.        das ALCA-Projekt dann hauptsächlich am gleich ebenso protektionistisch handelt
Hierin liegt sicher der Erfolg der Linken   Widerstand Brasiliens und seiner Außen- wie die USA. Die EU möchte grundsätz-
begründet (was auch immer ‚links’ in La-    politik gescheitert.                          lich die Integrationsprojekte fördern,
teinamerika bedeuten mag, muss hier         Durch diese Befreiung vom Druck einer wird aber durch die Dynamik der ablau-

Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 2
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fenden Prozesse von Integration und          Hier scheint vor allem der sogenannte           Ob sich die Visionen von Chávez auf
Desintegration irritiert und verheddert      Trickle-down-Effekt der neoliberalen Öko-       ganz Lateinamerika ausdehnen lassen,
sich zusätzlich in ihren eigenen Zielset-    nomen gewirkt zu haben: Vom Reichtum            die sozialen Ungleichheiten aus dem
zungen zwischen Zielen sozialer Kohäsi-      ist ein wenig nach unten durchgesickert.        Weg geräumt werden können und eine
on und dem WTO Regelwerk, das diesen         Dafür gehört das Land mit den ehemals           wirksame Partizipation der Völker an der
entgegen steht.                              geringsten sozialen Ungleichheiten jetzt        Gestaltung ihrer Zukunft erreicht werden
Es gibt weitere Annäherungen: China          zu den Staaten mit den krassesten               kann, wird noch lange offen bleiben.
wird ein immer bedeutenderer Handels-        Gegensätzen.
partner für Südamerika. Die Wirtschaf-                                                       Wie die Zusammenarbeit im Mercosur
ten ergänzen sich und politisch- ideologi-   ALBA contra Mercosur?                           leidet auch der Erfolg von ALBA darun-
sche Probleme stehen nicht im Wege.                                                          ter, dass das vordringliche Interesse der
China ist zunehmend an Öl und Erdgas         Die ‘Bolivarische Alternative für die Ame-      Regierungen in der Konsolidierung der
interessiert aber auch an landwirtschaft-    rikas’ (ALBA) begann mit der Kooperati-         eigenen Wirtschaft besteht. So gab es
lichen (Soja) und industriellen Produkten.                                                   bisher weder von Brasiliens Präsidenten
                                                                                             Lula noch von Argentiniens Präsidenten
Der Andenpakt (CAN) gerät nach dem                                                           Kirchner Bekenntnisse zum Projekt
Austritt Venezuelas in eine tiefe Krise                                                      ALBA. Bisher wurden die Fortschritte
und verliert weiter an Bedeutung. Die                                                        hauptsächlich voran getrieben durch
Schwäche wird deutlich an Chile, das                                                         Chávez’ Willen und durch den großen
eine Assoziierung mit dem Mercosur                                                           Ölreichtum Venezuelas, dessen Einnah-
einer Mitgliedschaft im CAN vorgezogen                                                       men Chávez nach seinen politischen Vor-
hat.                                                                                         stellungen investiert. Das ist vermutlich
Auf den ersten Blick scheint der Merco-                                                      die größte Schwäche dieses Projektes in
sur also ein mächtiger Integrationsblock                                                     Bezug auf seine Nachhaltigkeit.
zu sein. Bei näherer Betrachtung relati-
viert sich dieser Eindruck jedoch. Die                                                       Veränderungen innerhalb
meisten Länder sind vor allem an einem
ausgeglichenen Außenhandel interes-
                                                                                             der Gesellschaften
siert; da aber die Nachfrage und Ange-                                                       Die Niederlage des Neoliberalismus, die
botsstrukturen in vielen Ländern ähnlich                                                     sich im gestärkten Selbstbewußtsein
sind, ist das Interesse an gemeinsamem               Die Andengemeinschaft steckt in einer   und den Verschiebungen innerhalb der
Austausch relativ gering. Hohe Rohstoff-                                 schweren Krise      Integrationsblöcke zeigt, scheint sich zu
preise auf dem Weltmarkt verschaffen         on zwischen Venezuela und Kuba im               konsolidieren. Trotz großer Differenzen
den Volkswirtschaften z. Zt. Überschüs-      Jahre 2005. (Vgl. dazu die letze Ausga-         zwischen den Ländern zeichnen sich
se, sie müssen jedoch in der Regel für       be der “Nicaragua Zeitung”.)                    wichtige Trends ab: Es wird wieder ver-
Schuldendienste ausgegeben werden,           Zunächst wurde dieses Projekt als blan-         sucht, Wirtschaftspolitik zu betreiben,
so dass soziale Fortschritte in den meis-    ker Populismus abgetan. Viele konkrete          die die anhaltenden Auswirkungen neoli-
ten Ländern kaum festzustellen sind.         Projekte zeigen aber inzwischen, dass           beraler Politik zu korrigieren anstrebt.
Am erfolgreichsten waren in dieser           durchaus eine Kooperation entsteht, die         Sozialökonomische und ethnische Fra-
Beziehung Venezuela und Chile. Venezu-       auch der armen Bevölkerung nützt.               gen stehen wieder auf der Agenda. Es
ela erreichte dies durch so genannte         ALBA scheint dabei zur Zeit nicht in Kon-       scheint sich ein neues Verhältnis zwi-
‚misiones‘, staatliche Sozialprogramme       kurrenz zu den bestehenden Integrati-           schen Markt, Staat und Zivilgesellschaft
u. a. für Bildung, Gesundheit, Beschäfti-    onsblöcken zu stehen. Chávez‘ Politik           zu artikulieren...
gung und subventionierte Lebensmittel        zielt auf enge Kooperation ab, die auf          Das soll möglicherweise das Thema
für die Armen. In Chile gab es solchen       bestimmte kompensatorische Projekte             einer Fortsetzung sein.
Umverteilungsprozess nicht.                  gerichtet ist.                                                           Detlef de Cuveland

Veranstaltungsankündigung:

                ALBA: Das neue Integrationsmodell Lateinamerikas
         Veranstaltung mit Thomas Fritz, Mitarbeiter des Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile Lateinamerika
                       Donnerstag, den 14. Juni, 19:30 Uhr in der Werkstatt 3, Nernstweg 32-34

  Ein von Hugo Chávez entworfenes lateinamerikanisches Integrationsmodell mit Namen ALBA (Bolivarianische Alternative für
  die Amerikas) sorgt für Aufsehen: Kuba schickt Ärzte in die Armenviertel Venezuelas, Venezuela liefert Öl an Nicaragua und
  an grauem Star erkrankte BolivianerInnen erhalten kostenlose Augen OP´s von kubanischen Ärzten. Die zentralen Anliegen
  von ALBA sind Armutsbekämpfung und soziale Entwicklung.
  Die Veranstaltung soll klären, welche tatsächlichen Handlungsspielräume sich hinter ALBA auch vor dem Hintergrund bilate-
  raler Wirtschaftsabkommen mit der EU und den USA verbergen, welche Rolle die sozialen Bewegungen spielen und welche
  Widersprüche auftauchen.

  Veranstaltung des Nicaragua Vereins Hamburg – www.nicaragua-verein.de – gefördert durch:
  Evangelischer Entwicklungsdienst (EED), Norddeutsche Stiftung für Umwelt und Entwicklung (NUE) und InWent GmbH

                                                                                                         Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 3
NICARAGUA ZEITUNG - Nicaragua Verein Hamburg eV
Möglichkeiten, Hoffnungen und Strategien
politischer Veränderungen in Nicaragua
In der letzten Ausgabe der “Nicara-           Peru, Correa in Ecuador, Ortega in Nica-         es die Ankündigung der Alphabetisie-
gua Zeitung” berichteten wir über die         ragua, in Brasilien wird Lula, in Venezue-       rungskampagne „Yo si puedo“ und des
ersten Tage der Regierung Ortega.             la Chávez wieder gewählt), sei die Mehr-         kostenfreien Zugangs zu Gesundheits-
Wir fragten uns, wohin steuert Nica-          zahl dieser Regierungen bei näherem              einrichtungen sowie kostengünstigen
ragua nach den Wahlen? Gibt es                Hinsehen sozusagen sozialdemokra-                Medikamenten.
Hoffnungen auf wirtschaftliche und            tisch. Erwartet man bei den ‚linken‘             Der zentrale Slogan der Wahlkampagne
politische Unabhängigkeit, größer             Regierungen allerdings eine „Eingriffstie-       „Null Hunger“ wird von dem Soziologen
als dies unter den rechten Regierun-          fe in politische und wirtschaftliche Ent-        Orlando Nuñez angegangen. Das Pro-
gen der Fall war? Um Antworten dar-           scheidungsstrukturen“, dann bleiben Ve-          gramm soll zunächst 75.000 Familien
auf zu finden, lud der Nicaragua              nezuela, Bolivien und Kuba. Bei Ecuador          jeweils 2000 US-Dollar zur Verfügung
Verein am 26. April Dr. Anika Oettler         ist sich Oettler noch nicht sicher und bei       stellen und zwar in Form von Saatgut,
vom GIGA Institut für Lateinamerika           Nicaragua stellt sich ja ebenso die              Kühen, Schweinen, Hühnern etc. Nuñez
Studien in die W3 ein. Sie war vor,           Frage, in welche Richtung es geht.               habe des Weiteren Kredite mit einem
während und nach den Wahlen in                                                                 Zinssatz von 10% Zinsen angekündigt,
Nicaragua und hat sich ausgiebig                                                               was weit unter dem der Privatbanken
mit der Situation dort beschäftigt.                                                            liegt. Das Ganze würde 20 Mill. US
                                                                                               Dollar kosten, wobei sich die Frage
Vor zahlreichen Zuhörern unterteilte die                                                       stellt, wo das Geld herkommen soll. Bei
Referentin Anika Oettler ihren informati-                                                      der Finanzierung, so Oettler, scheine es
ven und sehr anschaulichen Vortrag in                                                          um ein Geschenkpaket aus Venezuela zu
vier Punkte: Wahlprogramm der FSLN,                                                            gehen: Ein Schuldenerlass von 33 Mill.
Linksruck in Lateinamerika? , Bilanz nach                                                      US-Dollar sei in Aussicht gestellt, und
drei Monaten Ortega im Amt und schließ-                                                        der Verkaufserlös von 60 Mill. US Dollar
lich einen Ausblick auf Außenpolitik, Wirt-                                                    aus venezolanischem Öl werde erwartet.
schaftsstrategie, politische Institutionen.                                                    Außerdem hat Chávez drei Megaprojekte
                                                                                               angekündigt: Er möchte eine Raffinerie
Im ersten Teil ihres Vortrags fasste sie                                                       bauen, um das Monopol von Esso in
noch einmal die wichtigsten Punkte des                                                         Nicaragua zu brechen, des Weiteren
Wahlprogramms der FSLN vom Mai                                                                 eine Ölpipeline und eine Gaspipeline.
2006 zusammen. Neben den zentralen                                                             Auch will er bei Straßen- und Häuserbau
Wahlversprechen „Null Analphabetismus“,                                                        unterstützen und Agrarprodukte aus
„Null Arbeitslosigkeit“ und „Null Hunger“                                                      Nicaragua importieren. In der Wirt-
nennt sie direkte Demokratie (Gründung                   Anika Oettler vom GIGA Institut für   schaftspolitik falle auf, dass der Slogan
von Bürgerräten), Kredite für alle, Sicher-                           Lateinamerika Studien    „Null Arbeitslosigkeit“ momentan nicht
heit (Wiedereingliederung von Jugend-                                                          mehr auftaucht, da sich hier besonders
banden), keine Korruption und schließ-        Im dritten Teil folgt der schwierige Ver-        die Frage der schnellen Umsetzung
lich die Wirtschaftsintegration, nämlich      such einer Bilanz der Regierung Ortega           stellt.
den Spagat der gleichzeitigen Mitglied-       nach knapp 100 Tagen Amtszeit. In                In dem alten und bereits lang diskutier-
schaft im Freihandelsabkommen CAFTA           Bezug auf die Sozialprogramme und die            ten Großvorhaben Kanalbauprojekt wer-
und in ALBA. Besonders auffallend sei,                                                         de es eine erneute Diskussion geben; es
dass das Thema Religion eine zentrale                                                          gäbe schon Anfragen an China zur finan-
Rolle im Regierungsprogramm spielt;                                                            ziellen Unterstützung. Straßenbau sei ein
Ortega selbst sagt, es handele sich bei                                                        anderer, seit längerem boomender Wirt-
dem Programm um ein ethisches, mora-                                                           schaftszweig und ganz große Erwartun-
lisches und christliches und nicht um ein                                                      gen stellen sich an den Bereich Touris-
politisches Programm. Es soll außerdem                                                         mus.
eine Frauenquote von 50% in allen                                                              Im letzten Teil hebt die Referentin hervor,
Regierungsämtern geben. Da die Regie-                                                          dass es in den politischen Institutionen
rung inzwischen inoffiziell sagt, dass sie                                                     eine sehr starke Machtkonzentration
diese Frauenquote bereits realisiert                                                           gegeben habe. Auch im Hinblick auf per-
habe, stelle sich die Frage, ob die 50%                                                        sonalpolitische Entscheidungen falle auf,
Frauenquote mit der Frau Ortegas,                                                              so Oettler, dass es in der Regierung
Rosario Murillo, im Regierungsamt be-                                                          zwei Lager gibt: Zum einen das Lager
reits erfüllt sei.                                                                             der „sehr starken Unternehmernähe“
Im zweiten Teil ihres Vortrags relativiert               Linke Präsidenten in Lateinamerika    oder „klientelistischen Verbundenheit“
Oettler den so genannten Linksruck in                                                          mit der Familie Ortega; auf der anderen
Lateinamerika, indem sie die Wahlergeb-       zentralen Slogans der Wahlkampagne               Seite VertreterInnen der Zivilgesell-
nisse der letzten Jahre in einem Zeitraf-     (s.o.) hat es schon Ergebnisse gegeben:          schaft, und zwar Personen, die in Nica-
fer darstellt: Obwohl im Superwahljahr        Am 11.01. erließ Ortega ein Dekret, das          ragua relativ bekannt sind, die in der Ver-
2006 Ende des Jahres fast die ganze           den kostenfreien Zugang zu öffentlicher          gangenheit „klare Worte gesprochen
Lateinamerikakarte rot ist (Arías in Costa    Bildung (staatlichen Bildungseinrichtun-         haben“ und die mit Ressorts zu tun
Rica, Bachelet in Chile, Alan García in       gen) absichern soll. Des Weiteren gab            haben, die die soziale und ökonomische

Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 4
NICARAGUA ZEITUNG - Nicaragua Verein Hamburg eV
Entwicklung betreffen und für die Regie- gierungsprogramms die Partei Alemáns.)              knüpft ist“. Obwohl es viele Medien und
rungsprogrammatik zentral sind wie z.B.                                                      auch Printmedien in Nicaragua gibt, die
das Gesundheitsministerium, das Minis- Zwei Paradoxe aus der anschließenden sich kritisch mit der FSLN auseinander-
terium für Bildung und das Ministerium Diskussion: Dass ein Großteil der Bevöl- setzen, gäbe es wenig bis gar keine Par-
für Frauen. Sie gehen die Sache sicher- kerung immer noch große Hoffnungen in teimitglieder, die diese lesen oder kon-
lich mit viel Elan an, da jedoch Rosa-                                                           sultieren würden; es fehle an der
rio Murillo Vorsitzende des Rates für                                                            Auseinandersetzung und dem sich
„Kommunikation und Bürgerrecht“                                                                  Einlassen auf Kritik.
(comunicación y ciudadanía) ist, eine                                                            In der Diskussion wurde noch einmal
Art Superministerium, das alle oben                                                              auf den Zwischenruf aus dem Publi-
genannten Ministerien, die im sozia-                                                             kum eingegangen, den Vortrag weni-
len Bereich arbeiten, koordinieren                                                               ger sarkastisch zu halten. Trotz der
soll, stelle sich die Frage, wie groß                                                            zynischen Untermalung des Vor-
deren Handlungsspielräume tat-                                                                   trags, den die Referentin mit der
sächlich sein werden. Oettler beton-                                                             aktuellen, Besorgnis erregenden poli-
te erneut, dass bisher noch alles                                                                tischen Entwicklung erklärte und ver-
sehr offen ist, da wenig aus der                                                                 teidigte, stellte sich zum Abschluß
Regierung an die Öffentlichkeit                                                                  noch einmal die Frage: Wo liegen
dringt.                                                                                          eventuelle Hoffnungen an die Regie-
Ein neues Gesetz zu Korruption, das                                                              rung? Antwort: An der Basis gibt es
zwei Korruptionstypen unterscheidet      Interpretationsversuch des neuen Emblems von Nicaragua Einiges an Möglichkeiten, z.B. durch
und das für Korruption im Zusammen-                                                             die Einrichtung dieser ‚Bürgerräte‘,
hang mit organisierter Kriminalität und die FSLN setzt und eine uralte Loyalität was schon überall passiert. Die Frage ist
Drogenhandel bis zu 20 Jahren Haft hegt, werde z.B. an der Haltung vieler allerdings, wie wird sich das entwickeln:
ermöglicht, für „normale, politische Kor- Frauen zum neuen Abtreibungsgesetz Klientilistisch, indem irgendwelche Leute
ruption“ ein geringeres Strafmaß, unter- deutlich: So sehr sie sich darüber geär- ihr näheres Umfeld ‘versorgen‘ oder echt
stütze die These, dass der strategisch gert und empört haben, werden viele basisdemokratisch? Und schließlich
notwendige Pakt zwischen Ortega und doch für die FSLN gestimmt haben aus noch: Viele junge Menschen in Nicara-
Alemán fortgeführt werden soll. (Die dem Grund, dass „ihre ureigene Ge- gua setzen Hoffnung in das Projekt San-
FSLN braucht für eine Mehrheit im Parla- schichte und ihr persönlicher Werde- dinismus.
ment und zur Durchsetzung ihres Re- gang sehr eng mit dem der FSLN ver-                                                   Uta Wellmann

Buchvorstellung:
Hugo Chávez. Eine Biografie.
Hugo Chávez – ein Populist, ein Dema-        den Simón Bolívar beruht, als dessen
goge, ein Diktator? Er ist die wohl am       ideologischen Nachfolger er sich sieht.
meisten diskutierte politische Figur La-     Er will Lateinamerika von der ‚Unter-
teinamerikas, die „Galionsfigur des la-      drückung‘ des Imperialismus befreien
teinamerikanischen Linksrucks“, über         und strebt eine verstärkte Zusammen-
den in den internationalen Medien            arbeit der lateinamerikanischen Länder
jedoch eher befremdet, besorgt, spöt-        an.
tisch oder abschätzend berichtet wird.       Er polarisiert die venezolanische, aber
Christoph Twickel legt nun mit seiner        auch die lateinamerikanische Gesell-
kritisch-solidarischen Biografie ein         schaft. Die einen sprechen von Totalita-
informatives, von Anfang bis Ende            rismus oder Kubanisierung, für die
spannend zu lesendes Buch über die           anderen, vor allem die Armen ist er der
Person Hugo Chávez in all seinen             „Messias“. Durch seine ‚misiones‘ für
Widersprüchen sowie über die politi-         die medizinische Versorgung oder die
sche Entwicklung Venezuelas von den          Alphabetisierung fühlen sie sich bestä-
späten 80er Jahren bis heute vor.            tigt, als Subjekte wahrgenommen: „Wir
In acht Kapiteln, in einer Mischung aus      haben jetzt ein Bewußtsein entwickelt,        mer wieder – „die Revolution hat keine
aufschlußreichen Anekdoten und kriti-        wir übernehmen die Initiative.“               Zeit.“
schen Hintergrundanalysen können wir         „Wir wollen die Armut abschaffen? Laßt        Twickel stellt alle Ereignisse detailliert
die Entwicklung vom jungen, etwas stei-      uns den Armen Macht geben“, sagt              dar, lässt Befürworter zu Wort kommen
fen Armeeangehörigen über den                Chávez. Auch Twickel muss hier offen          ebenso wie politische Gegner und linke
Putschversuch 1992 bis zur Wieder-           lassen, wie weit das gelingen kann. Es        Kritiker. Eine spannende, höchst infor-
wahl im letzten Sommer nachvollzie-          bleibt abzuwarten, wie weit ihnen die         mative Lektüre, empfehlenswert für al-
hen. Deutlich wird, dass Chávez ein          Macht wirklich gewährt wird, auf Dauer.       le, die an den Entwicklungen in Latein-
wißbegieriger, unersättlicher Leser und      Ob die Reformen und Sozialprogramme           amerika interessiert sind.
vor allem ein großer Redner und politi-      in einer Umwälzung münden oder in ei-                                        Gerda Palmer
scher ‚Showmaster‘ ist. Durch intensive      nem Wohlfahrtsstaat, abhängig vom
Lektüre und Kontakte mit den verschie-       Ölpreis. Ob die Vision eines geeinten         Christoph Twickel:
densten Menschen hat er sich ein Welt-       ‚bolivarischen‘ Lateinamerika Zukunft         Hugo Chávez.Eine Biografie.

                                                                                           352 S., € 19,90
bild erschlossen, das auf dem Gedan-         hat oder einfach in Handelsbündnisse          Ed. Nautilus, Hamburg 2006.
kengut des lateinamerikanischen Hel-         mündet. Allerdings betont Chávez im-

                                                                                                        Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 5
NICARAGUA ZEITUNG - Nicaragua Verein Hamburg eV
Yo decido mi vida – Ich entscheide über mein Leben
Auftaktveranstaltung der Romero Tage am 8. März 2007
Der aufmerksamen Leserin                                                                                  MAM hatte zu diesen Protesten
und dem aufmerksamen Le-                                                                                  aufgerufen und eine landesweite
ser der “Nicaragua Zeitung”                                                                               Kampagne begonnen. Große
ist es nicht entgangen: In vie-                                                                           Demonstrationen und Kundge-
len Artikeln berichteten wir                                                                              bungen vor dem Parlamentsge-
bereits über das Verbot des                                                                               bäude in Managua sowie in ande-
„aborto terapeutico“ (Schwan-                                                                             ren Städten Nicaraguas konnten
gerschaftsabbruch aus medi-                                                                               die Änderung des Gesetzes je-
zinischer    Indikation),  das                                                                            doch nicht verhindern. Damit reiht
Ende 2006 in Nicaragua ein-                                                                               sich Nicaragua in eine – zum
geführt wurde. Am 8. März                                                                                 Glück – kurze Liste von Ländern
2007, dem internationalen                                                                                 ein, in denen Frauen dieses Recht
Frauentag, gab es dann die                                                                                abgesprochen wird. Darunter die
ersten gesprochenen Worte                                                                                 Länder: Malta, Chile und El Salva-
zu dem Thema. Unter dem                                                                                   dor.
Titel „Yo decido mi vida – Ich
entscheide über mein Leben“               Angela Bähr (Moderatorin), Karin Uhlenhaut (Übersetzerin) und   Die drastischen Folgen der Geset-
rief der Nicaragua Verein             Violeta Delgado (Vertreterin der Organisation “Movimiento Autóno-   zesänderung wurden noch im
zusammen mit anderen Orga-               mo de Mujeres“). In Zusammenarbeit sorgten die drei für einen    Laufe der kurzen Rundreise deut-
nisationen zu einer Veranstal-                     gelungenen 8. März mit einem interessanten Vortrag     lich. Auf der Veranstaltung in
tung mit Violeta Delgado, Ver-                                          und einer spannende Diskussion    Hamburg berichtete Violeta noch
treterin der autonomen Frau-                                                                              von mindestens zwei Frauen, die
enbewegung „Movimiento Au-                                                                                an den Folgen von Schwanger-
tónomo de Mujeres“ (MAM)                                                                                  schaftskomplikationen gestorben
auf. Die Veranstaltung bildete                                                                            waren, weil ihnen eine medi-
den Auftakt der jährlich statt-                                                                           zinische Behandlung untersagt
findenden Hamburger Rome-                                                                                 wurde. Nicht mitgezählt alle undo-
ro Tage sowie einer ansch-                                                                                kumentierten Fälle. Alle Frauen,
ließenden Rundreise der Refe-                                                                             die sich nicht ins Krankenhaus
rentin. Sechs weitere Veran-                                                                              gewagt hatten, aus Angst, sie
staltungen in Hannover, Hei-                                                                              könnten aufgrund von Komplika-
delberg, Mannheim, Mün-                                                                                   tionen den Fötus verlieren und
chen, Münster und Wuppertal                                                                               sich damit strafbar machen und
folgten.                                                                                                  diejenigen, die an den Folgen
                                                                                                          einer heimlichen Abtreibung unter
Allabendlich erzählte Violeta dem                                                                         hygienisch prekären Bedingungen
Publikum von den neuesten Ent-                                                                            gestorben waren. Am Ende der
wicklungen der Frauenrechte in                                                                            Rundreise waren es bereits min-
Nicaragua: Kurz vor der Prä-                                                                              destens drei Frauen.
sidentschaftswahl im Oktober            Bei den Protesten geht es nicht allein um die Wiedereinführung
2006 wurde in Nicaragua das            der straffreien medizinischen Abtreibung, sondern auch um eine     Wie es zu diesem Rückschritt von
Recht zur Abtreibung aus medizi-                        „Legale Abtreibung ohne Risiko für alle Frauen“   über hundert Jahren kommen
nischer Indikation aus dem Para-                                                                          konnte ist schwer verständlich.
graph 165 des Strafgesetzbu-                                                                              Violeta betrachtet das generelle
ches gestrichen, wo es seit 1896                                                                          Verbot von Schwangerschaftsab-
fest verankert gewesen ist. Der                                                                           brüchen nicht als isoliertes Phä-
Paragraph ermöglichte Frauen                                                                              nomen, sondern setzt es in einen
einen straffreien Schwanger-                                                                              größeren Zusammenhang von so-
schaftsabbruch, wenn sie verge-                                                                           zioökonomischen und politischen
waltigt worden waren oder ihr                                                                             Veränderungen sowie den Bestre-
Leben aufgrund von schweren                                                                               bungen fundamentalistischer reli-
Schwangerschaftskomplikationen                                                                            giöser Gruppen innerhalb der letz-
in Gefahr war. Nur unter dieser                                                                           ten zehn Jahre nach mehr staatli-
Voraussetzung war es den Frau--                                                                           chem Einfluss. So beschreibt Vio-
en möglich, einen Schwanger-                                                                              leta, dass der nicaraguanische
schaftsabbruch vorzunehmen.                                                                               Staat sich in den letzten 17 Jah-
Dass nun auch dies verboten und                                                                           ren aus seiner Verantwortung
mit einer Strafe von vier bis acht                                                                        gegenüber der Bevölkerung im-
Jahren Haft sowohl für die Ärzte                                                                          mer mehr zurückgezogen und
als auch für die Frauen geahndet                                                                          u.a. wichtige Bereiche der Ge-
wird, hatte im Vorfeld für zahlrei-                                                                       sundheitsversorgung und Bildung
che Proteste in Nicaragua ge-         Frage an den FSLN-Abgeordneten Nathán Sevilla: Wirst Du gegen       privatisiert hat. Hinzu kommt ein
sorgt. Auch die Frauenbewegung                                      das Leben der Frauen stimmen?         beschleunigter Verarmungspro-

Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 6
NICARAGUA ZEITUNG - Nicaragua Verein Hamburg eV
zess der Bevölkerung, welcher einher-                                                          posten in einem Kabinett verzichten, das
geht mit einem Bruch im sozialen Gefü-                                                         die Rechte der Frauen mit Füßen tritt und
ge durch die Migration vieler Nicaragua-                                                       sie als Verhandlungsmasse einsetzt.
nerInnen auf der Suche nach Arbeit.
Eltern lassen immer häufiger ihre Kinder                                                       Schwerpunkt der Veranstaltung in Ham-
zurück bei den Großeltern, immer mehr                                                          burg und der darauffolgenden Rundreise
Omas übernehmen die Erziehung ihrer                                                            war neben der Information der Öffent-
Enkelkinder. Das Leben der Frauen ver-                                                         lichkeit über die Veränderung der Frau-
änderte sich in den letzten Jahren ent-                                                        enrechte in Nicaragua auch die Frage,
scheidend: Sie gelten heute als Billigar-                                                      wie wir von Deutschland aus die Protes-
beitskräfte für Fertigungsfabriken in den                                                      te der nicaraguanischen Frauen unter-
Freihandelszonen (Maquilas) und als                                                            stützen können. Bereits auf den Veran-
Frischfleisch für den Sexmarkt.                                                                staltungen wurden Unterschriftenlisten
Diese Entwicklungen schlagen sich auch                                                         ausgegeben, auf denen die Unterzeich-
außerhalb der Arbeitswelt nieder: Jede                Violeta erhält von dem Frauenverband     nerInnen die Erklärung der MAM gegen
zweite Frau erfährt im heutigen Nicara-            „Courage“ aus Wuppertal eine Einladung      die Streichung des Artikel 165 aus dem
gua von ihrem Partner Gewalt, jede vier-        zum Frauenratschlag nach Venezuela sowie       Strafgesetzbuch unterstützen. Violeta
te Frau hat in ihrer Kindheit sexuellen             einen Brief, der an den venezolanischen    betonte in den Diskussionen dann weiter-
Missbrauch erlebt, ebenso wie jeder           Präsidenten Hugo Chávez geschrieben wurde        hin, wie wichtig es sei, dass diejenigen,
fünfte Junge.                                                                                  die Kontakte nach Nicaragua haben,
Ab 1999 haben die Übereinkünfte zwi-        ten des Individuums für den Machtge-               dort nachhaken und nachfragen, wie sie
schen dem damaligen konservativen           winn und – erhalt politischer Gruppen.             zu der Gesetzesänderung stehen. Denn
Präsidenten Arnoldo Alemán und dem          Drei Tage bevor die FSLN in Aussicht               die Änderung des Paragraphen 165 war
Sandinisten Daniel Ortega eine große                                                           nicht zuletzt aufgrund einer Falschinfor-
Rolle gespielt. Der Pakt zwischen den                                                          mation der Öffentlichkeit zustande ge-
beiden Politikern führte zu einer Auftei-                                                      kommen. So lautete der Slogan für die
lung der Macht innerhalb des Staates                                                           Gesetzesänderung „No al aborto“, also
und einer Vermischung von parteipoliti-                                                        „Nein zur Abtreibung“, was suggeriert,
schen mit privaten Interessen. Die reli-                                                       es gäbe eine freie Wahl. Dass Abtreibun-
giösen Gruppen haben vor allem auf                                                             gen allgemein verboten und nur auf-
dem wichtigen Gebiet der Erziehung und                                                         grund medizinischer Indikation erlaubt
Bildung an Einfluss gewonnen. So war                                                           waren, wurde hier nicht erwähnt.
der langjährige Erziehungsminister Um-
berto Belli Mitglied der römisch-katholi-                                                      Ein Ergebnis des Besuches von Violeta
schen Organisation „Opus Dei“ und                                                              ist die geplante Kampagne „Yo decido
Sexualkundeunterricht seit 16 Jahren an                                                        por mi vida“, welche das MAM in Zusam-
den Schulen verboten.                                                                          menarbeit mit dem Nicaragua Verein
                                                                                               plant und durchführt. Ziel der Kampagne
Mit dem Verbot des Schwangerschafts-                                                           ist die Wiedereinführung des Paragra-
abbruchs aus medizinischer Indikation                                                          phen 165, auf die wir durch Protestpost-
stellt die Regierung Nicaraguas das                                                            karten sowie Protestmails und eine ver-
ungeborene Leben über den Schutz des                                                           stärkte Information der Öffentlichkeit hin-
Lebens der Mutter und verstößt damit                                                           wirken wollen. Da in diesem Jahr das
                                              Auch das Ökumenische Büro für Frieden und
gegen die Menschenrechte. Ebenso,           Gerechtigkeit e.V. lud Violeta in Begleitung von   Strafgesetzbuch in Nicaragua überarbei-
indem sie den Frauen nach einer Verge-      Rebecca zu einer Veranstaltung nach München ein    tet werden soll, wird mit der Kampagne
waltigung zum Schutze der mentalen                                                             versucht, den internationalen Protest
oder physischen Gesundheit einen Schwan-    stellte, dass sie für das Abtreibungsver-          gegen das weitere Sterben von Frauen
gerschaftsabbruch verweigert und ihnen      bot stimmen würde und sich mit diesem              aufgrund einer verweigerten medizini-
damit das Recht auf einen höchstmögli-      Angebot an die kirchlichen Vertreter               schen Behandlung zu stoppen.
chen Standard an Gesundheit abspricht.      auch die Stimmen der religiösen Wähler-            Eine weitere Zusammenarbeit des Nica-
Da das Abtreibungsverbot Teil unter-        schaft sichern wollte, gab Daniel Ortega           ragua Vereins mit der autonomen Frau-
schiedlicher Entwicklungen Nicaraguas       auf einem öffentlichen Platz bekannt,              enbewegung und eine Stärkung der
ist und einhergeht mit einer Reihe von      dass bei einem Wahlsieg der FSLN 50%               neuen linken Bewegung ist ebenfalls für
anderen Rückschritten, kämpfen Frauen-      der Ministerposten in seinem Kabinett              die Zukunft geplant.
und Menschenrechtsgruppen zusammen          mit Frauen besetzen werden. Das Leben
mit anderen Organisationen, Gruppen         von Frauen gegen 50% im Kabinett. Die                                           Rebecca Lohse
und Einzelpersonen gegen Diskriminie-       Bewegung hätte nicht viel gewonnen,                Spendenaufruf
rung und für mehr Rechte. So verbinden      wenn als nächstes die Rechte der Frau-             Da für den Druck der Protestpostkarten
sie sich z.B. mit Lesben-, Schwulen- und    en mit anderen Rechten verhandelt wer-             sowie für weitere Aktionen zu diesem
Transgendergruppen (die Ausübung von        den würden wie etwa die Wiederein-                 Thema noch Geld benötigt wird, bitten
gleichgeschlechtlichem Sex ist seit         führung des Paragraphen 165 gegen                  wir um Spenden.
1992 unter dem Delikt der Sodomie ver-      das Weiterbestehen des Verbotes von
boten) sowie VertreterInnen indigener       gleichgeschlechtlichem Sex.                         Spendenkonto:
Gemeinden. Ihr gemeinsames Anliegen                                                             Nicaragua Verein Hamburg e.V.
ist die Entwicklung einer neuen linken      Am 8. März gab eine Gruppe von Politi-              Postbank Hamburg
Bewegung. Denn was nach Violetas            kerinnen und Vertreterinnen von NGOs                Konto 51137-205
Ansicht endlich beendet werden muss ist     vor dem Parlamentsgebäude in Mana-                  BLZ 20010020
das Verhandeln von Rechten und Freihei-     gua bekannt, dass sie auf einen Minister-           Stichwort „Mujeres“

                                                                                                           Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 7
NICARAGUA ZEITUNG - Nicaragua Verein Hamburg eV
Der Aufstand der Würde
Dokumentarfilm zur Zapatistischen Bewegung in Chiapas uraufgeführt

„Der Aufstand der Würde“, treffen-           Zusammenhänge des Aufstandes. Chia-            tistischen Gemeinden zu sehen, in denen
der hätte der Titel des Dokumentar-          pas ist eine der an Rohstoffen und biolo-      die Menschen mit viel Einsatz, Geduld
films über die Bewegung der                  gischer Vielfalt reichsten Regionen Mexi-      und Ideen versuchen, ihre Träume und
Zapatisten in Chiapas (Südmexiko)            kos und zugleich auch eine der allerärm-       Ziele von einem Leben in Freiheit, Würde,
nicht lauten können. Anschaulicher           sten. Bis zum Aufstand der Zapatisten          Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und
und bewegender kann man sich                 litt die Landbevölkerung sogar noch            Frieden umzusetzen. Erstaunlich und
eine Darstellung der Lebensumstän-           unter der Lohnsklaverei der Großgrund-         beeindruckend auch, dass und wie es
de, der Ziele und des Kampfes der            besitzer.                                      dem Filmteam gelungen ist, so nah an
Indígenas in ihren Gemeinden kaum                                                           die Menschen und ihre Arbeit heran zu
vorstellen als in dieser Dokumentati-        Eine solidarische und demokratische            kommen, ihr Vertrauen zu gewinnen
on, die im Rahmen der Romero-                Gesellschaft, die auf Würde und Respekt        angesichts der ständigen Bedrohung
Tage im gut besuchten Metropolis             gründet, ist das Ziel der Zapatisten. Vom      durch Militärs und Paramilitärs überall
Kino ihre Uraufführung erlebte;                                                                   um die zapatistischen Gebiete mit
mit Heiko Thiele als Gast.                                                                        rund tausend Gemeinden in 29 auto-
                                                                                                  nomen Landkreisen.
„Der Aufstand der Würde“ ist der                                                                  Egal ob es um die Themen Selbst-
letzte Film einer vierteiligen Doku-                                                              verwaltung, Gesundheit, Bildung,
mentationsreihe über die ineinander                                                               Landwirtschaft, Arbeit, Handel, Frau-
greifenden Auswirkungen von Neoli-                                                                en oder auch den Plan Puebla Pana-
beralismus, Globalisierung, Freihan-                                                              ma (PPP) geht – in allen dokumen-
delsabkommen und Plan Puebla                                                                      tierten Bereichen wird das Außerge-
Panama (PPP) in Mittelamerika. Ge-                                                                wöhnliche und eigentlich doch so
dreht und produziert wurde er 2006                                                                nahe Liegende der zapatistischen
von Luz Kerkeling, Dorit Siemers                                                                  Vorstellungen und Ziele deutlich.
und Heiko Thiele vom Zwischen-
zeit-Filmteam (Münster).                                                                       Zum Beispiel die Selbstverwaltung:
                                                                                               „Die Regierung will uns ihre Projekte
Jahrzehntelang hatten die Men-                                                                 aufzwingen“, kritisiert eine Indígena
schen in Chiapas – Indígenas, Klein-                                                           und ergänzt selbstbewußt, dass das
                                                                 Vor der Kamera immer maskiert
bauern und Landlose – mit friedli-                                                             nicht mehr zugelassen wird. Von
chen Mitteln auf ihre miserable Situation    mexikanischen Staat fordern sie die der Staatsregierung nehmen die Zapatis-
aufmerksam gemacht. Sie hatten de-           Anerkennung der Rechte und der Kultur ten zudem keine ‚Almosen‘, wie sie es
monstriert, Petitionen eingereicht und       der Indígenas und das heißt: Selbstver- nennen. Finanziert werden die Gremien
soziale Organisationen aufgebaut, um         waltung, Autonomie. Dabei versteht die und Verwaltungszentren – bei unentlohn-
für die Anerkennung ihrer Rechte als indi-   zapatistische Bewegung unter Autono- ter Kollektivarbeit – in den Gemeinden
gene Bevölkerung und Kleinbauern zu          mie nicht die Loslösung vom Staat, son- und von solidarischen Gruppen. Funkti-
kämpfen. Doch erst mit dem bewaffne-         dern eine Stärkung der Gemeinden und onsträgerInnen haben ihre Ämter von
ten Aufstand der Zapatistischen Befrei-      Kreise gegenüber der Zentralregierung der Bevölkerung übrigens nur „geliehen“
ungsarmee EZLN am Jahresbeginn                                                                 und können jederzeit von der Basis
1994 wurde das Elend in Chiapas                                                                abgesetzt werden, wenn sie nicht
ein Thema in Mexiko und (vorüber-                                                              zur Zufriedenheit arbeiten.
gehend) weltweit. Der aktuelle An-
lass für die Erhebung unter der                                                                     Die medizinische Versorgung der
Losung „Ya Basta! Es reicht!“ war                                                                   Menschen und die Bildung – der Kin-
das Inkrafttreten des Nordameri-                                                                    der, der Jugendlichen und der
kanischen Freihandelsabkommens                                                                      Erwachsenen – bilden in allen Ge-
NAFTA mit Mexiko und der Konse-                                                                     meinden einen Schwerpunkt. Es ist
quenz von noch tieferem Elend,                                                                      spannend und berührend, in der
noch mehr Unterdrückung und Miss-                                                                   Dokumentation durch die Aussagen
achtung durch Großgrundbesitzer                                                                     der Männer, Frauen, Jugendlichen
sowie wirtschaftliche und politische                                                                und Kinder sozusagen mitzuerle-
Eliten.                                                                                             ben, was sich seit dem Aufstand in
                                                                                                    diesen existentiellen Bereichen ver-
„Dort unten in den Städten und den                                                                  ändert hat und wie weiterhin um Ver-
Haziendas gab es uns nicht. Unsere                           Kollektiv betriebener Laden in Chiapas besserungen gemeinsam gerungen
Leben waren weniger wert als die                                                                    wird. Gab es bis 1994 faktisch
von Maschinen und Tieren. Wir hatten         und konsequenterweise auch die Mitbe- keine bezahlbare oder erreichbare ärztli-
keine Stimme. Wir hatten kein Gesicht.       stimmung über das Land und die natürli- che Versorgung für die Landbevölke-
Wir hatten keine Namen. Wir haben nicht      chen Ressourcen und Bodenschätze auf rung, so werden jetzt Gesundheitspro-
existiert...“. Aufschlußreich und anschau-   ihrem Gebiet.                                      motoren ausgebildet. Die geben ihr Wis-
lich vermittelt die Dokumentation zu-                                                           sen in internen Schulungen weiter,
nächst die geschichtlich-politischen, so-    Es ist wirklich eindrucksvoll, die zahlrei- sodass sich die Situation erheblich ver-
zialen und kulturellen Ursachen und          chen Beispiele aus verschiedenen zapa- bessert hat. Zudem werden neben ‚her-

Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 8
NICARAGUA ZEITUNG - Nicaragua Verein Hamburg eV
kömmlichen‘ Medikamenten verstärkt auch      in der Bewegung umgesetzt und einge-               hung und Gefahr für die Bevölkerung in
kostengünstigere Heilpflanzen verwen-        halten werden, das zeigen gelungene                den Gemeinden, gehören doch Plünde-
det und so das jahrhundertealte Wissen       Szenen der Dokumentation. Sie organi-              rung und Besetzung von Ländereien,
über Heilpflanzen gestärkt.                  sieren sich, gründen eine Frauengruppe,            Vertreibung von Indigenen, willkürliche
                                                                                                     Festnahmen, Folter, Vergewaltigun-
Auch im Bildungsbereich hat sich                                                                     gen, Exekutionen, das Verschwin-
einiges gewandelt: ein eigenes Bil-                                                                  denlassen von Menschen zum all-
dungssystem ist im Aufbau, eben-                                                                     täglichen Horror in Chiapas.
falls mit Hilfe von Promotoren. Der
Fächerkanon hat sich geändert:                                                                           Repression und Belagerung und
Unterrichtet wird in der indigenen                                                                       Übergriffe nehmen zur Zeit enorm
lokalen Sprache und in Spanisch.                                                                         weiter zu, weil die mexikanische
Und neben den üblichen Fächern                                                                           Regierung ihr wirtschaftliches Rie-
stehen Gesundheit, Natur, Kultur                                                                         senprojekt des Plan Puebla Panama
und politische Bildung auf dem Stun-                                                                     möglichst rasch realisieren will –
denplan. Bildungsangebote für Er-                                                                        und zwar im Gebiet der Zapatisten:
wachsene, die nie die Chance zum                                                                         Straßen, Staudämme, Golfplätze
Schulbesuch hatten, spielen eben-                                                                        sollen u.a. gebaut werden, für noch
falls eine wichtige Rolle. Für uns                                                                       zügigeren Freihandel in Mittelameri-
ungewöhnlich: Die Bevölkerung ist                                                                        ka, illustre Touristen und zur Ge-
                                            Die Landwirtschaft ist ein zentraler Teil der zapatistischen
bei der Festlegung der Lehrinhalte                                                                       winnsteigerung transnationaler Kon-
                                                                                             Bewegung
in den Regionen beteiligt.                                                                               zerne.
                                              betreiben z.B. kollektiv ein Restaurant,
Die Landwirtschaft ist ein zentraler Teil     einen kleinen Kunsthandwerk-Laden. Und „Wir wollen eine bessere Welt aufbauen,
der zapatistischen Bewegung. Tausende         dann: Ein Angriff, der kleine Laden wird eine Welt, in der Gerechtigkeit für alle
Familien erhielten nach 1994 Land. Sie        zerstört.                                              herrscht.“ Immer wieder nannten die
bewirtschaften es zumeist nachhaltig,                                                                Männer und Frauen, Indígenas und Klein-
setzen auf Vielfalt, um Chemikalienein-       Die Allgegenwart des Militärs in der Auf- bauern in der Dokumentation dieses
satz und damit die Abhängigkeit von den       standsregion – und der ihm aufs Engste große Ziel. Mit viel Geduld, Toleranz,
Chemiekonzernen zu vermeiden.                 verbundenen Paramillitärs – ist in dem Respekt und Würde versuchten sie in
                                              Film auf erschreckende Weise spürbar ihren Gremien und Sitzungen gemein-
Stark, engagiert und kämpferisch sind         und sichtbar. 100 Militärcamps mit sam einen gangbaren Weg, eine Lösung
die Frauen. Sie haben die „Revolu-            50.000 Soldaten (ein Viertel des mexika- für ihre aktuellen Probleme und Fragen
tionären Frauengesetze“ durchgesetzt          nischen Heeres für vier Prozent der zu finden. Bausteine auf dem Weg zum
für Selbstbestimmung und Teilhabe der         Bevölkerung!) umzingeln das Gebiet der großen Ziel.
Frauen auch am politischen Leben. Wie         Zapatisten, die sich seit dem Waffenstill-                                          Bruni Franke
sie mit Elan und Ausdauer nun dafür           stand Mitte Januar 1994 auch an diesen Info: liste@zwischenzeit-muenster.de
kämpfen, dass die Gesetze auch überall        gehalten haben! Eine permanente Bedro-                      www.zwischenzeit-muenster.de

Ein Jahr Freiwilligen -Arbeit in Mittelamerika: Der 21- jährige Moritz Lippert arbeitete in unterschiedlichen Einrichtungen in
Nicaragua, Guatemala und Chiapas/Mexiko. Hier sein Bericht über seine Arbeit, Erlebnisse und Erfahrungen.

Un año por América Central – Ein Jahr in Zentralamerika
Als sozial engagierter und politisch         drei jeden Tag beim Ackerbau. Das ist              auf den spröden Boden einhacken und
interessierter Mensch wollte ich             schwere körperliche Arbeit; auch ich               die steinige Erde aus fünf Metern Tiefe
nach dem Abi unbedingt erfahren,             helfe nachmittags. Mein Gastgeber, des-            von Pferden nach oben ziehen lassen.
was es heißt, mit Menschen zusam-            sen Brüder und ich bauen einen Brun-               Wir bauen Mais, Reis, Bohnen an, hebeln
men zu arbeiten, die eine vollkom-           nen. Der alte ist ausgetrocknet, weshalb           mit dem gleichen Gerät Bananenstauden
men andere Lebensweise haben;                wir mit schwerem meißelartigem Gerät               aus, treiben Kühe im Wald zusammen,
wollte unbedingt wissen, was Armut                                                              lachen viel und laut, brennen Backsteine
bedeutet. Deswegen habe ich in                                                                  aus Pferdemist … und gehen abends
sozialen Projekten gearbeitet, um                                                               sehr früh schlafen, es gibt keinen Strom.
einen Einblick zu bekommen. Seit                                                                Nachts kreischen die Affen ringsumher,
Oktober letzten Jahres bin ich wie-                                                             man gewöhnt sich.
der in Deutschland; richtig ankom-                                                              Vormittags bin ich wegen Lehrermangels
men werde ich vielleicht nie.                                                                   ”Grundschullehrer” im Dorf. Dafür muss
                                                                                                ich mich von meinen Dreadlocks tren-
”La vaca no sabe leer - die Kuh                                                                 nen. Ich unterrichte die fünfte und sechs-
kann nicht lesen”                                                                               te Klasse mit vierzig Kindern in Spa-
Eigentlich sind Juan, Saida und Ismael                                                          nisch, Mathe, Naturwissenschaften und
schon in der zweiten Klasse. Die Familie                                                        Sport. Könnten alle Kinder kommen,
in dem kleinen abgeschiedenen Dorf im                                                           wären es drei Mal so viele: Einige Kinder
Süden Nicaraguas kann die Schulunifor-          5 m Tiefe: Trotz simpler Werkzeuge geht der     wohnen weit entfernt, kommen selten
men nicht bezahlen und so helfen die                                Brunnenbau schnell voran    oder gar nicht: Sie müssen oft im Haus-

                                                                                                             Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 9
NICARAGUA ZEITUNG - Nicaragua Verein Hamburg eV
halt oder auf dem Feld helfen, außerdem          dem gibt es Therapien sowie Schul- und        wir im nächsten Problemsektor der
wird Bildung oft noch als ”Männersache”          Ausbildungsmöglichkeiten, um den Kin-         Stadt. Der Park ”Amate”, eine große
gesehen. Nach drei Monaten ist eine              dern zu helfen, sich wieder in die Gesell-    Grünfläche mit einem Fußballplatz in der
nicaraguanische Lehrerin gefunden, die           schaft zu integrieren.                        Mitte und umringt von grauen hässlichen
bereit ist, jeden Morgen eine Stunde zu          Als Streetworker bin ich werktags von         Hochhäusern. Die Straße ist abgesperrt,
Pferd in das kleine Dorf zu reiten und ich       13-19 Uhr mit meinem guatemalteki-            Schaulustige, Polizei! Schnell sehe ich
wechsele zu meinem zweiten Projekt.              schen Kollegen in den Straßen der Vier-       bekannte Gesichter der Straßenkinder
                                                   millionen Hauptstadt unterwegs. Wir         des Zentrums. Zwei Jugendliche mit vie-
                                                   treffen auf die Kinder: Ein großer          len Blessuren am Körper und zerrisse-
                                                   Junge mit einer NY-Baseballcap und          nen Klamotten erzählen uns, dass der
                                                   einer großen Narbe quer über der            Tote der 15-jährige Jorge ist und das,
                                                   Stirn schlägt auf einen kleineren dickli-   was sie selbst gesehen haben: ”Die
                                                   chen Lockenkopf ein. ”Vos, pisado,          Täter sind Soldaten”. Jorge ist beim
                                                   dame la pacha o te mato! Gib mir das        Stehlen erwischt worden, Brot und Alko-
                                                   Fläschchen, sonst bringe ich dich um!"      hol im Supermarkt. ”Seine Quittung sind
                                                   Der Junge mit den Locken hält zwei          vier Kugeln im Rücken”, erzählen sie.
                                                   große Glasscherben in den Händen            ”Die haben ihn abgeknallt, weil die uns
                                                   und macht auffordernde Bewegungen.          hassen.” Von einem Polizeisprecher
                                                   Er hat keine Angst vor dem Großen.          erfahren wir den Namen des Getöteten
                                                   ”Venite, hijo de puta. Komm doch,           und dass er die Soldaten angegriffen
     Nach den Alphabetisierungskursen zu Gast bei Hurensohn".                                  haben soll. ”Die Tat war Notwehr”, sagt
                                       “Schülern” Andere Jüngere, darunter zwei stark
Ich bin in der Alphabetisierungskampa- geschminkte Mädchen, sitzen auf dem
gne der FSLN ”Yo si puedo!” (Ja, Ich Pflaster. Alle halten sich von Zeit zu
kann!) aktiv. Die Kampagne ist der Ver- Zeit die Faust an den Mund. Sie inhalie-
such, Erwachsenen die Fähigkeiten des ren Solvente, ein hoch giftiges Lö-
Lesens und Schreibens beizubringen. sungsmittel, das an fast jeder Ecke
Abermals fahre ich in ein ländliches erstanden werden kann. Die Mehrheit
Gebiet, denn die Betroffenen sind vor der Kinder bettelt, manche stehlen;
allem Bauern. Es gilt, das Programm einige rauchen das teurere Crack und
publik zu machen, mit den Menschen überfallen daher auch Passanten. Bus-
Termine zum Unterricht zu vereinbaren, fahrten, Essen und Trinken gibt es
zu koordinieren. Nicht selten stoße ich kostenlos, man muss nur wissen, wie
dabei auf Abneigung. Viele Bauern sind und wo. Einen Schlafplatz finden 75%
sauer auf die FSLN: ”Die haben uns den bei Verwandten; für den Rest bleibt die                             Trotz allen Elends wird viel gelacht
Krieg gebracht, die Kinder genommen. Straße.
Bei Somoza hatten wir Traktoren, die Die ersten Kinder sehen uns, laufen auf                   er.
haben die Sandinisten auch abge- uns zu. ”Profe!” (Lehrer), tönt eine kräch-                   ”Preguntando vamos.
schafft.” Andere erklären mir, dass sie zende Stimme eines sehr kleinen Jun-                   Fragend schreiten wir voran”
als Bauern weder lesen noch schreiben gen, den ich auf sieben Jahre schätze.                   Nach vier Monaten mache ich mich auf
wollen und brauchen. ”Die Kuh kann Er trägt ein großes T-Shirt, aus dem                        nach Chiapas in Südmexiko. Es werden
nicht lesen. Wozu sollte ich also schrei- dünne Arme ragen, riesige Hosen und                  Freiwillige gesucht, die in den indigenen
ben?” fragt mich Mariano (62), bei dem abgewetzte Schuhe, keine Socken.                        Dörfern Verstöße gegen die Menschen-
ich eine Zeit wohne, und lacht. Ich muss ”Wann spielen wir Flöte?” fragt er mich               rechte protokollieren. Das Gebiet ist
einstimmen. Mitgemacht bei der Kampa- und nimmt einen kräftigen Zug aus                        vom mexikanischen Heer besetzt und
gne hat er trotzdem. Später erzählt er einem mit Lösungsmittel getränkten Lap-                 nicht selten haben Soldaten und Parami-
alte Geschichten vom Teufel, der ganz in pen. Wir schreiben ihre Namen auf, ver-               litärs gemordet, Frauen vergewaltigt
der Nähe im alten Vulkan wohnt oder von arzten ihre Wunden und halten unser                    oder sich fremden Besitz angeeignet.
der ‚Mona‘, einer behaarten Gestalt, die Tagesprogramm ab: Heute ist z.B. Aids-                Mit zwei Gleichgesinnten fahre ich in ein
nachts hinter Bäumen lauert. Er schwört Prävention an der Reihe. Mein Kollege                  Dorf. Die Anwesenheit der Freiwilligen
auf alte Bräuche und Kräuter und hat holt einen Holzpenis aus dem Rucksack.                    soll einerseits einen menschlichen
sich vor einigen Jahren selbst von der Alle lachen. Ein Älterer schreit den Klei-              Schutzschild bieten, andererseits proto-
Cholera geheilt.                                 nen an: ”Wolltest du nicht Flöte spielen?”    kollieren wir vorüber fahrende Militärfahr-
Es ist mir oft unangenehm, als zwanzig-          Jemand knufft ihm in die Seite. Seine         zeuge und geben die Daten an-
jähriger Ausländer älteren Menschen das Antwort: ”Halt’s Maul, die von ‚Casa Ali-              schließend an das Menschenrechtszen-
Lesen und Schreiben in ihrer eigenen Lan- anza‘ sind okay.” Während mein Kumpan                trum weiter. Die Zeit ist spannend; einige
dessprache beizubringen. Ich möchte sie die richtige Benutzung demonstriert,                   Bewohner erzählen uns Geschichten
nicht in ihrer Würde verletzen.                  verteile ich Kondome und beantworte           vom zapatistischen Widerstand, von
                                                 einzelne Fragen. Einige nehmen die            traurigen brutalen Zwischenfällen und
”Callate vos, los de Casa Alianza Sache erstaunlich ernst. Die meisten                         davon, dass sie nicht aufgeben werden
son buena onda! - Sei ruhig, die von sind allerdings nur körperlich anwesend,                  in ihrem Kampf um Selbstbestimmung
Casa Alianza sind okay!                          durch die giftigen Wirkstoffe fern ab von     und Unabhängigkeit. ”Wir müssen immer
Nach einem halben Jahr Nicaragua ruft der Realität. Ihre Motorik ist einge-                    wieder die sozialen Verhältnisse hinter-
das Straßenkinderprojekt 'Casa Alianza' schränkt, die Augen gucken krank und                   fragen und weiter gehen in Richtung
in Guatemala-Stadt. Die Organisation hat leer, jedoch seltsam zufrieden.                       unserer Ziele: Freiheit, Demokratie, Ge-
Straßensozialarbeiter und Häuser, in Unser Handy klingelt: Im Zentrum ist                      rechtigkeit. Preguntando vamos!”
denen die Kinder wohnen können und jemand umgekommen, wahrscheinlich
psychologisch betreut werden. Außer- ein Straßenkind. Wenig später stehen                                                       Moritz Lippert

Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 10
14. Konferenz der Partnerstädte
Die 14. Konferenz der Partnerstädte          lieben FreundInnen früherer Konferen-
Leóns hatte den Titel „Entwicklungszu-       zen. Jetzt ist wieder eine große Zahl
sammenarbeit und Zivilgesellschaft“.         dazu gekommen. Vielleicht sehen wir
Das Treffen fand zum zweiten Mal in          uns in zwei Jahren in Hamburg wieder?
Zaragoza/Spanien statt, mit einer gro-
ßen Hamburger Delegation. (Beim ersten       Die wesentlichen Pros und Contras be-
Mal waren wir nur zu dritt!)                 schreibt Paul Pirker unten in seinen
Das Interesse war also groß, obwohl die      „Anmerkungen“, denen können wir uns
Konferenz mit vier bis fünf Übernachtun-     voll anschließen. Hinzufügen sollte man
gen und Anreise durchaus schon einen         vielleicht, dass in der Abschlußversamm-
beachtlichen Kostenfaktor darstellte. Wir    lung Regularien beschlossen wurden, die
wurden jedoch entschädigt durch die          die Zusammenarbeit der Partnerstädte
begeisternde Gastfreundschaft der spa-       in festgelegten Themenfeldern koordinie-
nischen Organisatoren, die perfekte          ren und überprüfen können. Wir wollen
Organisation und vieles andere mehr.         hoffen, dass diese in einer Abschlußer-
Das größte Erlebnis ist natürlich das        klärung zusammengefaßten und von
herzliche miteinander Sein von insge-        allen unterschriebenen Verpflichtungen
samt fast hundert Beteiligten. Für uns       umgesetzt werden und nicht – wie so oft
Ältere die verblüffende Vertrautheit mit –   – nur Papier bleiben.
wie Paul Pirker es treffend nennt –                                    Detlef de Cuveland

 Anmerkungen                                 bei uns meist etwas reiferen Alters sind. Zwei Komponenten möchte ich noch
 zur europäischen                            Zumindest für die Nachwuchspflege hervorheben: Erstmals fand die Notwen-
                                             zahlt sich die Entsendung vieler junger digkeit zur Zusammenarbeit der Part-
 Koordinierungskonferenz                     Cooperantes, wie es Zaragoza macht, nerstädte eine explizite Zustimmung
 in Zaragoza                                 aus.                                        und zwar, für unsere Arbeit besonders
                                             Auffallend war, dass die Konferenz in wichtig, bei der Entwicklung eines sanf-
 Noch keine der zwölf vorherigen León-       einem politischen Vakuum stattgefun- ten und ökologischen Tourismus in
 Konferenzen in Europa hatte eine derart     den hat. Als ob es in Nicaragua keinen León. Und dann gab es das Wiederse-
 große Anzahl an TeilnehmerInnen aus         Wahlsieg der Sandinisten gegeben hen mit etlichen alten Compañeras und
 León, über 20! Dadurch wurden viele         hätte! Als ob es in Lateinamerika nicht Compañeros, lieben FreundInnen frühe-
 Gespräche, vor allem informeller Art        eine bemerkenswerte politische Ent- rer Konferenzen.
 beim Essen oder an den Abenden mög-         wicklung gäbe! Als ob die Verträge mit
 lich. Allerdings musste man den vielen      den USA nicht die nicaraguanische                                              Paul Pirker
                                                                                                       Hermanamiento Salzburgo-León
 Vertretern von den Leóner Vereinen,         Landwirtschaft ruinierten! Als
 von der Alcaldía und der UNAN auf der       ob nicht die Sandinisten vor
 Konferenz auch Zeit für die Präsentation    der Wahl dem frauenfeindlich-
 ihrer Anliegen geben, und diese mit Zah-    sten Gesetz zugestimmt hät-
 len und detaillierten Informationen ge-     ten! Überhaupt war der Um-
 spickten Frontalvorträge gingen auf         gang mit dem Abtreibungspa-
 Kosten eines Dialogs.                       ragraphen ziemlich peinlich:
 Die Organisatorinnen aus Zaragoza, ein-     Ich glaube, die anwesenden
 drucksvolle junge Power- Frauen, haben      Sandinisten genierten sich
 sich große Mühe um einen reibungslo-        deshalb, wollten sich aber aus
 sen Ablauf gemacht und haben an             Parteidisziplin nicht äußern;
 jedem Abend auch eine kulturelle Veran-     deshalb zogen sie nur die
 staltung oder eine Begegnungsmöglich-       Schultern hoch und schwie-
 keit angeboten. Besonders beeindruckt       gen.
 hat mich der Abend mit den Jugendli-        Alles in allem war es wert, auf
 chen im städtischen Jugendzentrum, da       die Konferenz gefahren zu
 BesucherInnen von Nicaragua -Abenden        sein.                                   KonferenzteilnehmerInnen im Rathaus von Zaragoza

 Im März 2008 wird die Hamburger Koordinatorenstelle in León vakant!
 Seit vielen Jahren gibt es KoordinatorInnen in León, die sich um Hamburger Projekte kümmern. In der Anfangszeit waren es
 EntwicklungshelferInnen, die diese Arbeit ehrenamtlich für die Hamburger Soliszene machten. Später änderte sich das:
 Wenigstens ein Teil ihrer vertraglichen Arbeit bezog sich auf die Koordination und wurde entsprechend bezahlt.
 Seit dem Jahr 2000 waren die KoordinatorInnen beurlaubte MitarbeiterInnen der Hamburger Stadtverwaltung, die als inte-
 grierte Fachkraft im Auftrag von GTZ/CIM in der Stadtverwaltung León arbeiteten. In Zukunft (ab März 2008) werden die Koor-
 dinatorInnen vom Hamburger Senat beauftragt und vergütet.
 Auf Bitten des Senats legen wir dieser Ausgabe eine Stellenausschreibung für die Nachfolge von Frau
 Dr. Grüneberg bei.

                                                                                                       Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 11
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