NICARAGUA ZEITUNG - Nicaragua Verein Hamburg eV
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
NICARAGUA ZEITUNG Juni 2007 G8-Gegner besprühten die deutsche Botschaft in Managua: „Internationaler Widerstand: Kein G8“ Alternativen zur neoliberalen Weltordnung? Wenige Tage vor der Drucklegung die- ordnung. Der Weltsozialgipfel in Porto ser Ausgabe sind Kulturzentren und Pri- Alegre war ein wichtiger Meilenstein vatwohnungen von GegnerInnen des in diesem Kampf. Basisorganisationen Weltwirtschaftsgipfels G8 insbesondere kämpfen gegen die Privatisierung von in Hamburg und Berlin von der Polizei Wasser, Strom, Gesundheitsversorgung durchsucht worden. Allein in Hamburg und Rentenversicherung und widerset- wurden 300 Polizisten aufgeboten, um zen sich damit neoliberalen Bestrebun- die Rote Flora, dreizehn Privatwohnun- gen. Ebenso versuchen politische und gen und selbst das Schauspielhaus zu wirtschaftliche Bündnisse auf staatlicher durchsuchen. Ebene fairere Handelsbedingungen zu Fadenscheinige Begründung dieses un- schaffen, als dies für viele schwächere verhältnismäßigen Polizeieinsatzes war, Volkswirtschaften zur Zeit vor dem Hin- gewalttätige Proteste gegen den G8-Gip- tergrund der engen Spielräume der Frei- fel Anfang Juni in Heiligendamm verhin- handels-Knebel-Verträge wie NAFTA oder dern zu wollen. Der „Verdacht auf Bil- CAFTA der Fall ist. dung einer terroristischen Vereinigung“ Umbrüche in lateinamerikanischen Inte- musste dafür herhalten. Einige Tausend grationsprojekten als Folge der Ableh- Menschen haben allein in Hamburg nung neoliberaler Wirtschaftspolitik sol- gegen diese polizeistaatlichen Maßnah- len deshalb schwerpunktmäßig in dieser men protestiert. Der Protest gegen den Ausgabe behandelt werden. Auch un- G8 als Symbol und politischer Schalt- sere nächste Veranstaltung am 14.6. zentrale der mächtigsten Verfechter (siehe die Ankündigung auf S. 3) wird einer neoliberalen Wirtschaftsordnung sich unter anderem mit den Handlungs- Nicaragua werden sich dadurch nicht kleinkriegen lassen. spielräumen von Alternativen zu den bestehenden Handelsabkommen in La- Verein Auch in Lateinamerika formiert sich seit teinamerika sowie deren Chancen und Hamburg Jahren massiver Widerstand gegen das neoliberale Projekt einer globalen Welt- Widersprüchen beschäftigen. Spendenkonto Nicaragua Verein Hamburg e.V. www.nicaragua-verein.de Postbank Hamburg, BLZ: 200 100 20, Kontonr.: 51137-205
Lateinamerika im Umbruch ? „Ein Kontinent in Bewegung“. Ähn- im Einzelnen nicht geklärt werden). Vor Ausplünderung eröffnen sich im Cono lich lauten viele Presse- und Veran- allem steigende Armut und Verelendung, Sur (südlicher Kegel oder ‚Tannenzapfen’ staltungstitel. Dieses Thema - bezo- also all die sozialen Probleme, die 20 des amerikanischen Kontinents) viele gen auf Zentralamerika und Nicara- Jahre Reformpolitik des Neoliberalismus Möglichkeiten – trotz unterschiedlichster gua – haben auch wir in der letzten hinterlassen haben und der daraus resul- Ausgangspositionen. Ausgabe der „Nicaragua Zeitung“ tierende Protest, der mit gestiegenem behandelt. Von großen Umbrüchen Selbstbewusstsein neue soziale Forde- Der ‚Linksruck’ fand besondere Beach- konnte allerdings in Mittelamerika rungen durchzusetzen versucht, sind die tung und Bedeutung mit der so genann- keine Rede sein: Mit einer erst vor Quelle vieler Veränderungen. ten ‚Bolivarischen’ oder ‚Bolivarianischen kurzem ratifizierten Freihandelszo- Revolution‘ von Hugo Chávez in Venezue- ne (CAFTA) wurde den USA und la und durch das von ihm angeregte Pro- deren Ideologie des Neoliberalismus jekt ALBA, das seine Visionen auf ganz die Hand gereicht. Eine Ausnahme Amerika ausdehnen oder übertragen bildet allerdings Nicaragua, dessen soll. Präsident Ortega sich noch ent- scheiden muss, ob er die gesell- Integrationspolitik in schaftlich destruktiven Wirkungen des Neoliberalismus weiter in Kauf Südamerika nehmen will oder ob er im Rahmen Brasilien, die weitaus stärkste Wirt- von ALBA, einem von den USA schaftsmacht des Cono Sur und sein emanzipierten Integrationsprojekt, Präsident Lula favorisieren die Stärkung das im Kern rational, solidarisch des Mercosur. Der 1991 gegründete und sozial sein soll, sich einen Frei- Mercosur (Mercado Comun del Cono raum zur gesellschaftlichen Gestal- Sur) ist ein südamerikanischer Binnen- tung verschaffen will. (Bewusst wur- markt, der mit den assoziierten Anden- de hier nur von Ortega gesprochen, staaten praktisch den gesamten süda- denn bisher ist noch nicht zu erken- merikanischen Kontinent umfaßt. Nach nen, wer außer Gott, Ortega und sei- dem Vorbild der ‚Europäischen Wirt- ner Frau Rosario Murillo die künfti- Die südamerikanische Ablehnung von schaftsgemeinschaft’ wird ein gemeinsa- ge Politik Nicaraguas bestimmen ALCA, der von den USA angestrebten mer Markt mit gemeinsamer Wirt- wird. Eine wirklich starke emanzipa- ‘Freihandelszone aller Amerikas’ ist zu- schaftspolitik angestrebt. Auch letzte torische Bewegung, die sich Gehör gleich Folge und Ursache von Wandel: Zölle und andere Handelshemmnisse sol- verschaffen könnte, gibt es in Nica- Misstrauen gegenüber den USA, die len in absehbarer Zeit abgebaut werden. ragua nicht und auch das Ohr dafür allzu selbstherrlich ihre hegemoniale nicht.) Macht demonstrierten, hatte in Südame- Der Mercosur ist nach der EU und dem Die Betrachtungen zum Thema rika aber auch weltweit starken Wider- nordamerikanischen NAFTA die dritt- “Umbruch in Lateinamerika” wollen stand gegen ALCA hervorgerufen, so größte Wirtschaftszone der Welt. Domi- wir mit einer Fokussierung auf dass sogar die Konferenz katholischer nierender Kern der Gemeinschaft sind Südamerikas Integrationsbestrebun- Entwicklungszusammenarbeit (2002 in Brasilien, Argentinien und Venezuela gen fortsetzen. Brüssel) die Ziele von ALCA anprangerte (nach dessen Beitritt 2006). Disparitäten und Regierungen und Zivilgesellschaft in zwischen diesen wirtschaftsstarken Län- Unübersehbar ist, dass inzwischen nahe- Amerika und Europa eindringlich zum dern und den kleineren Uruguay und zu alle Länder Lateinamerikas Regierun- Kampf gegen ALCA aufrief. Politisch ist Paraguay belasten die Zusammenarbeit gen haben, die durch demokrati- sehr. (Die Dominanz Brasiliens ist sche Wahlen zustande gekommen überdeutlich: Sein Beitrag zum Brut- sind. Das ist in der Geschichte Lat- toinlandprodukt des Mercosur einamerikas an sich schon eine beträgt über 50% !) bedeutende Tatsache; dass darü- Nach außen will der Mercosur ber hinaus viele dieser Länder von durchaus offen sein und bemüht linken Präsidenten geführt werden, sich um Verträge mit der EU gewis- (vgl. auch unseren Veranstaltungs- sermaßen als Gegengewicht zu bericht S. 4/5) kann wirklich als den USA. Allerdings erschwert die Umbruch bezeichnet werden, denn Entwicklung der ‚Bolivarischen Re- in Südamerika bedeutet das zu- volution’ und das in den meisten gleich eine Kampfansage an den Ländern als gescheitert angesehe- Neoliberalismus. Finanzkrisen hat- ne Modell des Neoliberalismus die ten das Modell des Neoliberalis- Handlungsmöglichkeiten der EU, mus, das durch Marktöffnung, Am 7. Mai 2007 gründete der Mercosur die eher auf Ausgleich setzt, wei- Privatisierung und Deregulierung ein gemeinsames Parlament terhin einem neoliberalen Wirt- gekennzeichnet ist, in vielen süda- schaftsmodell anhängt und zu- merikanischen Ländern diskreditiert. das ALCA-Projekt dann hauptsächlich am gleich ebenso protektionistisch handelt Hierin liegt sicher der Erfolg der Linken Widerstand Brasiliens und seiner Außen- wie die USA. Die EU möchte grundsätz- begründet (was auch immer ‚links’ in La- politik gescheitert. lich die Integrationsprojekte fördern, teinamerika bedeuten mag, muss hier Durch diese Befreiung vom Druck einer wird aber durch die Dynamik der ablau- Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 2
fenden Prozesse von Integration und Hier scheint vor allem der sogenannte Ob sich die Visionen von Chávez auf Desintegration irritiert und verheddert Trickle-down-Effekt der neoliberalen Öko- ganz Lateinamerika ausdehnen lassen, sich zusätzlich in ihren eigenen Zielset- nomen gewirkt zu haben: Vom Reichtum die sozialen Ungleichheiten aus dem zungen zwischen Zielen sozialer Kohäsi- ist ein wenig nach unten durchgesickert. Weg geräumt werden können und eine on und dem WTO Regelwerk, das diesen Dafür gehört das Land mit den ehemals wirksame Partizipation der Völker an der entgegen steht. geringsten sozialen Ungleichheiten jetzt Gestaltung ihrer Zukunft erreicht werden Es gibt weitere Annäherungen: China zu den Staaten mit den krassesten kann, wird noch lange offen bleiben. wird ein immer bedeutenderer Handels- Gegensätzen. partner für Südamerika. Die Wirtschaf- Wie die Zusammenarbeit im Mercosur ten ergänzen sich und politisch- ideologi- ALBA contra Mercosur? leidet auch der Erfolg von ALBA darun- sche Probleme stehen nicht im Wege. ter, dass das vordringliche Interesse der China ist zunehmend an Öl und Erdgas Die ‘Bolivarische Alternative für die Ame- Regierungen in der Konsolidierung der interessiert aber auch an landwirtschaft- rikas’ (ALBA) begann mit der Kooperati- eigenen Wirtschaft besteht. So gab es lichen (Soja) und industriellen Produkten. bisher weder von Brasiliens Präsidenten Lula noch von Argentiniens Präsidenten Der Andenpakt (CAN) gerät nach dem Kirchner Bekenntnisse zum Projekt Austritt Venezuelas in eine tiefe Krise ALBA. Bisher wurden die Fortschritte und verliert weiter an Bedeutung. Die hauptsächlich voran getrieben durch Schwäche wird deutlich an Chile, das Chávez’ Willen und durch den großen eine Assoziierung mit dem Mercosur Ölreichtum Venezuelas, dessen Einnah- einer Mitgliedschaft im CAN vorgezogen men Chávez nach seinen politischen Vor- hat. stellungen investiert. Das ist vermutlich Auf den ersten Blick scheint der Merco- die größte Schwäche dieses Projektes in sur also ein mächtiger Integrationsblock Bezug auf seine Nachhaltigkeit. zu sein. Bei näherer Betrachtung relati- viert sich dieser Eindruck jedoch. Die Veränderungen innerhalb meisten Länder sind vor allem an einem ausgeglichenen Außenhandel interes- der Gesellschaften siert; da aber die Nachfrage und Ange- Die Niederlage des Neoliberalismus, die botsstrukturen in vielen Ländern ähnlich sich im gestärkten Selbstbewußtsein sind, ist das Interesse an gemeinsamem Die Andengemeinschaft steckt in einer und den Verschiebungen innerhalb der Austausch relativ gering. Hohe Rohstoff- schweren Krise Integrationsblöcke zeigt, scheint sich zu preise auf dem Weltmarkt verschaffen on zwischen Venezuela und Kuba im konsolidieren. Trotz großer Differenzen den Volkswirtschaften z. Zt. Überschüs- Jahre 2005. (Vgl. dazu die letze Ausga- zwischen den Ländern zeichnen sich se, sie müssen jedoch in der Regel für be der “Nicaragua Zeitung”.) wichtige Trends ab: Es wird wieder ver- Schuldendienste ausgegeben werden, Zunächst wurde dieses Projekt als blan- sucht, Wirtschaftspolitik zu betreiben, so dass soziale Fortschritte in den meis- ker Populismus abgetan. Viele konkrete die die anhaltenden Auswirkungen neoli- ten Ländern kaum festzustellen sind. Projekte zeigen aber inzwischen, dass beraler Politik zu korrigieren anstrebt. Am erfolgreichsten waren in dieser durchaus eine Kooperation entsteht, die Sozialökonomische und ethnische Fra- Beziehung Venezuela und Chile. Venezu- auch der armen Bevölkerung nützt. gen stehen wieder auf der Agenda. Es ela erreichte dies durch so genannte ALBA scheint dabei zur Zeit nicht in Kon- scheint sich ein neues Verhältnis zwi- ‚misiones‘, staatliche Sozialprogramme kurrenz zu den bestehenden Integrati- schen Markt, Staat und Zivilgesellschaft u. a. für Bildung, Gesundheit, Beschäfti- onsblöcken zu stehen. Chávez‘ Politik zu artikulieren... gung und subventionierte Lebensmittel zielt auf enge Kooperation ab, die auf Das soll möglicherweise das Thema für die Armen. In Chile gab es solchen bestimmte kompensatorische Projekte einer Fortsetzung sein. Umverteilungsprozess nicht. gerichtet ist. Detlef de Cuveland Veranstaltungsankündigung: ALBA: Das neue Integrationsmodell Lateinamerikas Veranstaltung mit Thomas Fritz, Mitarbeiter des Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile Lateinamerika Donnerstag, den 14. Juni, 19:30 Uhr in der Werkstatt 3, Nernstweg 32-34 Ein von Hugo Chávez entworfenes lateinamerikanisches Integrationsmodell mit Namen ALBA (Bolivarianische Alternative für die Amerikas) sorgt für Aufsehen: Kuba schickt Ärzte in die Armenviertel Venezuelas, Venezuela liefert Öl an Nicaragua und an grauem Star erkrankte BolivianerInnen erhalten kostenlose Augen OP´s von kubanischen Ärzten. Die zentralen Anliegen von ALBA sind Armutsbekämpfung und soziale Entwicklung. Die Veranstaltung soll klären, welche tatsächlichen Handlungsspielräume sich hinter ALBA auch vor dem Hintergrund bilate- raler Wirtschaftsabkommen mit der EU und den USA verbergen, welche Rolle die sozialen Bewegungen spielen und welche Widersprüche auftauchen. Veranstaltung des Nicaragua Vereins Hamburg – www.nicaragua-verein.de – gefördert durch: Evangelischer Entwicklungsdienst (EED), Norddeutsche Stiftung für Umwelt und Entwicklung (NUE) und InWent GmbH Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 3
Möglichkeiten, Hoffnungen und Strategien politischer Veränderungen in Nicaragua In der letzten Ausgabe der “Nicara- Peru, Correa in Ecuador, Ortega in Nica- es die Ankündigung der Alphabetisie- gua Zeitung” berichteten wir über die ragua, in Brasilien wird Lula, in Venezue- rungskampagne „Yo si puedo“ und des ersten Tage der Regierung Ortega. la Chávez wieder gewählt), sei die Mehr- kostenfreien Zugangs zu Gesundheits- Wir fragten uns, wohin steuert Nica- zahl dieser Regierungen bei näherem einrichtungen sowie kostengünstigen ragua nach den Wahlen? Gibt es Hinsehen sozusagen sozialdemokra- Medikamenten. Hoffnungen auf wirtschaftliche und tisch. Erwartet man bei den ‚linken‘ Der zentrale Slogan der Wahlkampagne politische Unabhängigkeit, größer Regierungen allerdings eine „Eingriffstie- „Null Hunger“ wird von dem Soziologen als dies unter den rechten Regierun- fe in politische und wirtschaftliche Ent- Orlando Nuñez angegangen. Das Pro- gen der Fall war? Um Antworten dar- scheidungsstrukturen“, dann bleiben Ve- gramm soll zunächst 75.000 Familien auf zu finden, lud der Nicaragua nezuela, Bolivien und Kuba. Bei Ecuador jeweils 2000 US-Dollar zur Verfügung Verein am 26. April Dr. Anika Oettler ist sich Oettler noch nicht sicher und bei stellen und zwar in Form von Saatgut, vom GIGA Institut für Lateinamerika Nicaragua stellt sich ja ebenso die Kühen, Schweinen, Hühnern etc. Nuñez Studien in die W3 ein. Sie war vor, Frage, in welche Richtung es geht. habe des Weiteren Kredite mit einem während und nach den Wahlen in Zinssatz von 10% Zinsen angekündigt, Nicaragua und hat sich ausgiebig was weit unter dem der Privatbanken mit der Situation dort beschäftigt. liegt. Das Ganze würde 20 Mill. US Dollar kosten, wobei sich die Frage Vor zahlreichen Zuhörern unterteilte die stellt, wo das Geld herkommen soll. Bei Referentin Anika Oettler ihren informati- der Finanzierung, so Oettler, scheine es ven und sehr anschaulichen Vortrag in um ein Geschenkpaket aus Venezuela zu vier Punkte: Wahlprogramm der FSLN, gehen: Ein Schuldenerlass von 33 Mill. Linksruck in Lateinamerika? , Bilanz nach US-Dollar sei in Aussicht gestellt, und drei Monaten Ortega im Amt und schließ- der Verkaufserlös von 60 Mill. US Dollar lich einen Ausblick auf Außenpolitik, Wirt- aus venezolanischem Öl werde erwartet. schaftsstrategie, politische Institutionen. Außerdem hat Chávez drei Megaprojekte angekündigt: Er möchte eine Raffinerie Im ersten Teil ihres Vortrags fasste sie bauen, um das Monopol von Esso in noch einmal die wichtigsten Punkte des Nicaragua zu brechen, des Weiteren Wahlprogramms der FSLN vom Mai eine Ölpipeline und eine Gaspipeline. 2006 zusammen. Neben den zentralen Auch will er bei Straßen- und Häuserbau Wahlversprechen „Null Analphabetismus“, unterstützen und Agrarprodukte aus „Null Arbeitslosigkeit“ und „Null Hunger“ Nicaragua importieren. In der Wirt- nennt sie direkte Demokratie (Gründung Anika Oettler vom GIGA Institut für schaftspolitik falle auf, dass der Slogan von Bürgerräten), Kredite für alle, Sicher- Lateinamerika Studien „Null Arbeitslosigkeit“ momentan nicht heit (Wiedereingliederung von Jugend- mehr auftaucht, da sich hier besonders banden), keine Korruption und schließ- Im dritten Teil folgt der schwierige Ver- die Frage der schnellen Umsetzung lich die Wirtschaftsintegration, nämlich such einer Bilanz der Regierung Ortega stellt. den Spagat der gleichzeitigen Mitglied- nach knapp 100 Tagen Amtszeit. In In dem alten und bereits lang diskutier- schaft im Freihandelsabkommen CAFTA Bezug auf die Sozialprogramme und die ten Großvorhaben Kanalbauprojekt wer- und in ALBA. Besonders auffallend sei, de es eine erneute Diskussion geben; es dass das Thema Religion eine zentrale gäbe schon Anfragen an China zur finan- Rolle im Regierungsprogramm spielt; ziellen Unterstützung. Straßenbau sei ein Ortega selbst sagt, es handele sich bei anderer, seit längerem boomender Wirt- dem Programm um ein ethisches, mora- schaftszweig und ganz große Erwartun- lisches und christliches und nicht um ein gen stellen sich an den Bereich Touris- politisches Programm. Es soll außerdem mus. eine Frauenquote von 50% in allen Im letzten Teil hebt die Referentin hervor, Regierungsämtern geben. Da die Regie- dass es in den politischen Institutionen rung inzwischen inoffiziell sagt, dass sie eine sehr starke Machtkonzentration diese Frauenquote bereits realisiert gegeben habe. Auch im Hinblick auf per- habe, stelle sich die Frage, ob die 50% sonalpolitische Entscheidungen falle auf, Frauenquote mit der Frau Ortegas, so Oettler, dass es in der Regierung Rosario Murillo, im Regierungsamt be- zwei Lager gibt: Zum einen das Lager reits erfüllt sei. der „sehr starken Unternehmernähe“ Im zweiten Teil ihres Vortrags relativiert Linke Präsidenten in Lateinamerika oder „klientelistischen Verbundenheit“ Oettler den so genannten Linksruck in mit der Familie Ortega; auf der anderen Lateinamerika, indem sie die Wahlergeb- zentralen Slogans der Wahlkampagne Seite VertreterInnen der Zivilgesell- nisse der letzten Jahre in einem Zeitraf- (s.o.) hat es schon Ergebnisse gegeben: schaft, und zwar Personen, die in Nica- fer darstellt: Obwohl im Superwahljahr Am 11.01. erließ Ortega ein Dekret, das ragua relativ bekannt sind, die in der Ver- 2006 Ende des Jahres fast die ganze den kostenfreien Zugang zu öffentlicher gangenheit „klare Worte gesprochen Lateinamerikakarte rot ist (Arías in Costa Bildung (staatlichen Bildungseinrichtun- haben“ und die mit Ressorts zu tun Rica, Bachelet in Chile, Alan García in gen) absichern soll. Des Weiteren gab haben, die die soziale und ökonomische Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 4
Entwicklung betreffen und für die Regie- gierungsprogramms die Partei Alemáns.) knüpft ist“. Obwohl es viele Medien und rungsprogrammatik zentral sind wie z.B. auch Printmedien in Nicaragua gibt, die das Gesundheitsministerium, das Minis- Zwei Paradoxe aus der anschließenden sich kritisch mit der FSLN auseinander- terium für Bildung und das Ministerium Diskussion: Dass ein Großteil der Bevöl- setzen, gäbe es wenig bis gar keine Par- für Frauen. Sie gehen die Sache sicher- kerung immer noch große Hoffnungen in teimitglieder, die diese lesen oder kon- lich mit viel Elan an, da jedoch Rosa- sultieren würden; es fehle an der rio Murillo Vorsitzende des Rates für Auseinandersetzung und dem sich „Kommunikation und Bürgerrecht“ Einlassen auf Kritik. (comunicación y ciudadanía) ist, eine In der Diskussion wurde noch einmal Art Superministerium, das alle oben auf den Zwischenruf aus dem Publi- genannten Ministerien, die im sozia- kum eingegangen, den Vortrag weni- len Bereich arbeiten, koordinieren ger sarkastisch zu halten. Trotz der soll, stelle sich die Frage, wie groß zynischen Untermalung des Vor- deren Handlungsspielräume tat- trags, den die Referentin mit der sächlich sein werden. Oettler beton- aktuellen, Besorgnis erregenden poli- te erneut, dass bisher noch alles tischen Entwicklung erklärte und ver- sehr offen ist, da wenig aus der teidigte, stellte sich zum Abschluß Regierung an die Öffentlichkeit noch einmal die Frage: Wo liegen dringt. eventuelle Hoffnungen an die Regie- Ein neues Gesetz zu Korruption, das rung? Antwort: An der Basis gibt es zwei Korruptionstypen unterscheidet Interpretationsversuch des neuen Emblems von Nicaragua Einiges an Möglichkeiten, z.B. durch und das für Korruption im Zusammen- die Einrichtung dieser ‚Bürgerräte‘, hang mit organisierter Kriminalität und die FSLN setzt und eine uralte Loyalität was schon überall passiert. Die Frage ist Drogenhandel bis zu 20 Jahren Haft hegt, werde z.B. an der Haltung vieler allerdings, wie wird sich das entwickeln: ermöglicht, für „normale, politische Kor- Frauen zum neuen Abtreibungsgesetz Klientilistisch, indem irgendwelche Leute ruption“ ein geringeres Strafmaß, unter- deutlich: So sehr sie sich darüber geär- ihr näheres Umfeld ‘versorgen‘ oder echt stütze die These, dass der strategisch gert und empört haben, werden viele basisdemokratisch? Und schließlich notwendige Pakt zwischen Ortega und doch für die FSLN gestimmt haben aus noch: Viele junge Menschen in Nicara- Alemán fortgeführt werden soll. (Die dem Grund, dass „ihre ureigene Ge- gua setzen Hoffnung in das Projekt San- FSLN braucht für eine Mehrheit im Parla- schichte und ihr persönlicher Werde- dinismus. ment und zur Durchsetzung ihres Re- gang sehr eng mit dem der FSLN ver- Uta Wellmann Buchvorstellung: Hugo Chávez. Eine Biografie. Hugo Chávez – ein Populist, ein Dema- den Simón Bolívar beruht, als dessen goge, ein Diktator? Er ist die wohl am ideologischen Nachfolger er sich sieht. meisten diskutierte politische Figur La- Er will Lateinamerika von der ‚Unter- teinamerikas, die „Galionsfigur des la- drückung‘ des Imperialismus befreien teinamerikanischen Linksrucks“, über und strebt eine verstärkte Zusammen- den in den internationalen Medien arbeit der lateinamerikanischen Länder jedoch eher befremdet, besorgt, spöt- an. tisch oder abschätzend berichtet wird. Er polarisiert die venezolanische, aber Christoph Twickel legt nun mit seiner auch die lateinamerikanische Gesell- kritisch-solidarischen Biografie ein schaft. Die einen sprechen von Totalita- informatives, von Anfang bis Ende rismus oder Kubanisierung, für die spannend zu lesendes Buch über die anderen, vor allem die Armen ist er der Person Hugo Chávez in all seinen „Messias“. Durch seine ‚misiones‘ für Widersprüchen sowie über die politi- die medizinische Versorgung oder die sche Entwicklung Venezuelas von den Alphabetisierung fühlen sie sich bestä- späten 80er Jahren bis heute vor. tigt, als Subjekte wahrgenommen: „Wir In acht Kapiteln, in einer Mischung aus haben jetzt ein Bewußtsein entwickelt, mer wieder – „die Revolution hat keine aufschlußreichen Anekdoten und kriti- wir übernehmen die Initiative.“ Zeit.“ schen Hintergrundanalysen können wir „Wir wollen die Armut abschaffen? Laßt Twickel stellt alle Ereignisse detailliert die Entwicklung vom jungen, etwas stei- uns den Armen Macht geben“, sagt dar, lässt Befürworter zu Wort kommen fen Armeeangehörigen über den Chávez. Auch Twickel muss hier offen ebenso wie politische Gegner und linke Putschversuch 1992 bis zur Wieder- lassen, wie weit das gelingen kann. Es Kritiker. Eine spannende, höchst infor- wahl im letzten Sommer nachvollzie- bleibt abzuwarten, wie weit ihnen die mative Lektüre, empfehlenswert für al- hen. Deutlich wird, dass Chávez ein Macht wirklich gewährt wird, auf Dauer. le, die an den Entwicklungen in Latein- wißbegieriger, unersättlicher Leser und Ob die Reformen und Sozialprogramme amerika interessiert sind. vor allem ein großer Redner und politi- in einer Umwälzung münden oder in ei- Gerda Palmer scher ‚Showmaster‘ ist. Durch intensive nem Wohlfahrtsstaat, abhängig vom Lektüre und Kontakte mit den verschie- Ölpreis. Ob die Vision eines geeinten Christoph Twickel: densten Menschen hat er sich ein Welt- ‚bolivarischen‘ Lateinamerika Zukunft Hugo Chávez.Eine Biografie. 352 S., € 19,90 bild erschlossen, das auf dem Gedan- hat oder einfach in Handelsbündnisse Ed. Nautilus, Hamburg 2006. kengut des lateinamerikanischen Hel- mündet. Allerdings betont Chávez im- Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 5
Yo decido mi vida – Ich entscheide über mein Leben Auftaktveranstaltung der Romero Tage am 8. März 2007 Der aufmerksamen Leserin MAM hatte zu diesen Protesten und dem aufmerksamen Le- aufgerufen und eine landesweite ser der “Nicaragua Zeitung” Kampagne begonnen. Große ist es nicht entgangen: In vie- Demonstrationen und Kundge- len Artikeln berichteten wir bungen vor dem Parlamentsge- bereits über das Verbot des bäude in Managua sowie in ande- „aborto terapeutico“ (Schwan- ren Städten Nicaraguas konnten gerschaftsabbruch aus medi- die Änderung des Gesetzes je- zinischer Indikation), das doch nicht verhindern. Damit reiht Ende 2006 in Nicaragua ein- sich Nicaragua in eine – zum geführt wurde. Am 8. März Glück – kurze Liste von Ländern 2007, dem internationalen ein, in denen Frauen dieses Recht Frauentag, gab es dann die abgesprochen wird. Darunter die ersten gesprochenen Worte Länder: Malta, Chile und El Salva- zu dem Thema. Unter dem dor. Titel „Yo decido mi vida – Ich entscheide über mein Leben“ Angela Bähr (Moderatorin), Karin Uhlenhaut (Übersetzerin) und Die drastischen Folgen der Geset- rief der Nicaragua Verein Violeta Delgado (Vertreterin der Organisation “Movimiento Autóno- zesänderung wurden noch im zusammen mit anderen Orga- mo de Mujeres“). In Zusammenarbeit sorgten die drei für einen Laufe der kurzen Rundreise deut- nisationen zu einer Veranstal- gelungenen 8. März mit einem interessanten Vortrag lich. Auf der Veranstaltung in tung mit Violeta Delgado, Ver- und einer spannende Diskussion Hamburg berichtete Violeta noch treterin der autonomen Frau- von mindestens zwei Frauen, die enbewegung „Movimiento Au- an den Folgen von Schwanger- tónomo de Mujeres“ (MAM) schaftskomplikationen gestorben auf. Die Veranstaltung bildete waren, weil ihnen eine medi- den Auftakt der jährlich statt- zinische Behandlung untersagt findenden Hamburger Rome- wurde. Nicht mitgezählt alle undo- ro Tage sowie einer ansch- kumentierten Fälle. Alle Frauen, ließenden Rundreise der Refe- die sich nicht ins Krankenhaus rentin. Sechs weitere Veran- gewagt hatten, aus Angst, sie staltungen in Hannover, Hei- könnten aufgrund von Komplika- delberg, Mannheim, Mün- tionen den Fötus verlieren und chen, Münster und Wuppertal sich damit strafbar machen und folgten. diejenigen, die an den Folgen einer heimlichen Abtreibung unter Allabendlich erzählte Violeta dem hygienisch prekären Bedingungen Publikum von den neuesten Ent- gestorben waren. Am Ende der wicklungen der Frauenrechte in Rundreise waren es bereits min- Nicaragua: Kurz vor der Prä- destens drei Frauen. sidentschaftswahl im Oktober Bei den Protesten geht es nicht allein um die Wiedereinführung 2006 wurde in Nicaragua das der straffreien medizinischen Abtreibung, sondern auch um eine Wie es zu diesem Rückschritt von Recht zur Abtreibung aus medizi- „Legale Abtreibung ohne Risiko für alle Frauen“ über hundert Jahren kommen nischer Indikation aus dem Para- konnte ist schwer verständlich. graph 165 des Strafgesetzbu- Violeta betrachtet das generelle ches gestrichen, wo es seit 1896 Verbot von Schwangerschaftsab- fest verankert gewesen ist. Der brüchen nicht als isoliertes Phä- Paragraph ermöglichte Frauen nomen, sondern setzt es in einen einen straffreien Schwanger- größeren Zusammenhang von so- schaftsabbruch, wenn sie verge- zioökonomischen und politischen waltigt worden waren oder ihr Veränderungen sowie den Bestre- Leben aufgrund von schweren bungen fundamentalistischer reli- Schwangerschaftskomplikationen giöser Gruppen innerhalb der letz- in Gefahr war. Nur unter dieser ten zehn Jahre nach mehr staatli- Voraussetzung war es den Frau-- chem Einfluss. So beschreibt Vio- en möglich, einen Schwanger- leta, dass der nicaraguanische schaftsabbruch vorzunehmen. Staat sich in den letzten 17 Jah- Dass nun auch dies verboten und ren aus seiner Verantwortung mit einer Strafe von vier bis acht gegenüber der Bevölkerung im- Jahren Haft sowohl für die Ärzte mer mehr zurückgezogen und als auch für die Frauen geahndet u.a. wichtige Bereiche der Ge- wird, hatte im Vorfeld für zahlrei- sundheitsversorgung und Bildung che Proteste in Nicaragua ge- Frage an den FSLN-Abgeordneten Nathán Sevilla: Wirst Du gegen privatisiert hat. Hinzu kommt ein sorgt. Auch die Frauenbewegung das Leben der Frauen stimmen? beschleunigter Verarmungspro- Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 6
zess der Bevölkerung, welcher einher- posten in einem Kabinett verzichten, das geht mit einem Bruch im sozialen Gefü- die Rechte der Frauen mit Füßen tritt und ge durch die Migration vieler Nicaragua- sie als Verhandlungsmasse einsetzt. nerInnen auf der Suche nach Arbeit. Eltern lassen immer häufiger ihre Kinder Schwerpunkt der Veranstaltung in Ham- zurück bei den Großeltern, immer mehr burg und der darauffolgenden Rundreise Omas übernehmen die Erziehung ihrer war neben der Information der Öffent- Enkelkinder. Das Leben der Frauen ver- lichkeit über die Veränderung der Frau- änderte sich in den letzten Jahren ent- enrechte in Nicaragua auch die Frage, scheidend: Sie gelten heute als Billigar- wie wir von Deutschland aus die Protes- beitskräfte für Fertigungsfabriken in den te der nicaraguanischen Frauen unter- Freihandelszonen (Maquilas) und als stützen können. Bereits auf den Veran- Frischfleisch für den Sexmarkt. staltungen wurden Unterschriftenlisten Diese Entwicklungen schlagen sich auch ausgegeben, auf denen die Unterzeich- außerhalb der Arbeitswelt nieder: Jede Violeta erhält von dem Frauenverband nerInnen die Erklärung der MAM gegen zweite Frau erfährt im heutigen Nicara- „Courage“ aus Wuppertal eine Einladung die Streichung des Artikel 165 aus dem gua von ihrem Partner Gewalt, jede vier- zum Frauenratschlag nach Venezuela sowie Strafgesetzbuch unterstützen. Violeta te Frau hat in ihrer Kindheit sexuellen einen Brief, der an den venezolanischen betonte in den Diskussionen dann weiter- Missbrauch erlebt, ebenso wie jeder Präsidenten Hugo Chávez geschrieben wurde hin, wie wichtig es sei, dass diejenigen, fünfte Junge. die Kontakte nach Nicaragua haben, Ab 1999 haben die Übereinkünfte zwi- ten des Individuums für den Machtge- dort nachhaken und nachfragen, wie sie schen dem damaligen konservativen winn und – erhalt politischer Gruppen. zu der Gesetzesänderung stehen. Denn Präsidenten Arnoldo Alemán und dem Drei Tage bevor die FSLN in Aussicht die Änderung des Paragraphen 165 war Sandinisten Daniel Ortega eine große nicht zuletzt aufgrund einer Falschinfor- Rolle gespielt. Der Pakt zwischen den mation der Öffentlichkeit zustande ge- beiden Politikern führte zu einer Auftei- kommen. So lautete der Slogan für die lung der Macht innerhalb des Staates Gesetzesänderung „No al aborto“, also und einer Vermischung von parteipoliti- „Nein zur Abtreibung“, was suggeriert, schen mit privaten Interessen. Die reli- es gäbe eine freie Wahl. Dass Abtreibun- giösen Gruppen haben vor allem auf gen allgemein verboten und nur auf- dem wichtigen Gebiet der Erziehung und grund medizinischer Indikation erlaubt Bildung an Einfluss gewonnen. So war waren, wurde hier nicht erwähnt. der langjährige Erziehungsminister Um- berto Belli Mitglied der römisch-katholi- Ein Ergebnis des Besuches von Violeta schen Organisation „Opus Dei“ und ist die geplante Kampagne „Yo decido Sexualkundeunterricht seit 16 Jahren an por mi vida“, welche das MAM in Zusam- den Schulen verboten. menarbeit mit dem Nicaragua Verein plant und durchführt. Ziel der Kampagne Mit dem Verbot des Schwangerschafts- ist die Wiedereinführung des Paragra- abbruchs aus medizinischer Indikation phen 165, auf die wir durch Protestpost- stellt die Regierung Nicaraguas das karten sowie Protestmails und eine ver- ungeborene Leben über den Schutz des stärkte Information der Öffentlichkeit hin- Lebens der Mutter und verstößt damit wirken wollen. Da in diesem Jahr das Auch das Ökumenische Büro für Frieden und gegen die Menschenrechte. Ebenso, Gerechtigkeit e.V. lud Violeta in Begleitung von Strafgesetzbuch in Nicaragua überarbei- indem sie den Frauen nach einer Verge- Rebecca zu einer Veranstaltung nach München ein tet werden soll, wird mit der Kampagne waltigung zum Schutze der mentalen versucht, den internationalen Protest oder physischen Gesundheit einen Schwan- stellte, dass sie für das Abtreibungsver- gegen das weitere Sterben von Frauen gerschaftsabbruch verweigert und ihnen bot stimmen würde und sich mit diesem aufgrund einer verweigerten medizini- damit das Recht auf einen höchstmögli- Angebot an die kirchlichen Vertreter schen Behandlung zu stoppen. chen Standard an Gesundheit abspricht. auch die Stimmen der religiösen Wähler- Eine weitere Zusammenarbeit des Nica- Da das Abtreibungsverbot Teil unter- schaft sichern wollte, gab Daniel Ortega ragua Vereins mit der autonomen Frau- schiedlicher Entwicklungen Nicaraguas auf einem öffentlichen Platz bekannt, enbewegung und eine Stärkung der ist und einhergeht mit einer Reihe von dass bei einem Wahlsieg der FSLN 50% neuen linken Bewegung ist ebenfalls für anderen Rückschritten, kämpfen Frauen- der Ministerposten in seinem Kabinett die Zukunft geplant. und Menschenrechtsgruppen zusammen mit Frauen besetzen werden. Das Leben mit anderen Organisationen, Gruppen von Frauen gegen 50% im Kabinett. Die Rebecca Lohse und Einzelpersonen gegen Diskriminie- Bewegung hätte nicht viel gewonnen, Spendenaufruf rung und für mehr Rechte. So verbinden wenn als nächstes die Rechte der Frau- Da für den Druck der Protestpostkarten sie sich z.B. mit Lesben-, Schwulen- und en mit anderen Rechten verhandelt wer- sowie für weitere Aktionen zu diesem Transgendergruppen (die Ausübung von den würden wie etwa die Wiederein- Thema noch Geld benötigt wird, bitten gleichgeschlechtlichem Sex ist seit führung des Paragraphen 165 gegen wir um Spenden. 1992 unter dem Delikt der Sodomie ver- das Weiterbestehen des Verbotes von boten) sowie VertreterInnen indigener gleichgeschlechtlichem Sex. Spendenkonto: Gemeinden. Ihr gemeinsames Anliegen Nicaragua Verein Hamburg e.V. ist die Entwicklung einer neuen linken Am 8. März gab eine Gruppe von Politi- Postbank Hamburg Bewegung. Denn was nach Violetas kerinnen und Vertreterinnen von NGOs Konto 51137-205 Ansicht endlich beendet werden muss ist vor dem Parlamentsgebäude in Mana- BLZ 20010020 das Verhandeln von Rechten und Freihei- gua bekannt, dass sie auf einen Minister- Stichwort „Mujeres“ Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 7
Der Aufstand der Würde Dokumentarfilm zur Zapatistischen Bewegung in Chiapas uraufgeführt „Der Aufstand der Würde“, treffen- Zusammenhänge des Aufstandes. Chia- tistischen Gemeinden zu sehen, in denen der hätte der Titel des Dokumentar- pas ist eine der an Rohstoffen und biolo- die Menschen mit viel Einsatz, Geduld films über die Bewegung der gischer Vielfalt reichsten Regionen Mexi- und Ideen versuchen, ihre Träume und Zapatisten in Chiapas (Südmexiko) kos und zugleich auch eine der allerärm- Ziele von einem Leben in Freiheit, Würde, nicht lauten können. Anschaulicher sten. Bis zum Aufstand der Zapatisten Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und und bewegender kann man sich litt die Landbevölkerung sogar noch Frieden umzusetzen. Erstaunlich und eine Darstellung der Lebensumstän- unter der Lohnsklaverei der Großgrund- beeindruckend auch, dass und wie es de, der Ziele und des Kampfes der besitzer. dem Filmteam gelungen ist, so nah an Indígenas in ihren Gemeinden kaum die Menschen und ihre Arbeit heran zu vorstellen als in dieser Dokumentati- Eine solidarische und demokratische kommen, ihr Vertrauen zu gewinnen on, die im Rahmen der Romero- Gesellschaft, die auf Würde und Respekt angesichts der ständigen Bedrohung Tage im gut besuchten Metropolis gründet, ist das Ziel der Zapatisten. Vom durch Militärs und Paramilitärs überall Kino ihre Uraufführung erlebte; um die zapatistischen Gebiete mit mit Heiko Thiele als Gast. rund tausend Gemeinden in 29 auto- nomen Landkreisen. „Der Aufstand der Würde“ ist der Egal ob es um die Themen Selbst- letzte Film einer vierteiligen Doku- verwaltung, Gesundheit, Bildung, mentationsreihe über die ineinander Landwirtschaft, Arbeit, Handel, Frau- greifenden Auswirkungen von Neoli- en oder auch den Plan Puebla Pana- beralismus, Globalisierung, Freihan- ma (PPP) geht – in allen dokumen- delsabkommen und Plan Puebla tierten Bereichen wird das Außerge- Panama (PPP) in Mittelamerika. Ge- wöhnliche und eigentlich doch so dreht und produziert wurde er 2006 nahe Liegende der zapatistischen von Luz Kerkeling, Dorit Siemers Vorstellungen und Ziele deutlich. und Heiko Thiele vom Zwischen- zeit-Filmteam (Münster). Zum Beispiel die Selbstverwaltung: „Die Regierung will uns ihre Projekte Jahrzehntelang hatten die Men- aufzwingen“, kritisiert eine Indígena schen in Chiapas – Indígenas, Klein- und ergänzt selbstbewußt, dass das Vor der Kamera immer maskiert bauern und Landlose – mit friedli- nicht mehr zugelassen wird. Von chen Mitteln auf ihre miserable Situation mexikanischen Staat fordern sie die der Staatsregierung nehmen die Zapatis- aufmerksam gemacht. Sie hatten de- Anerkennung der Rechte und der Kultur ten zudem keine ‚Almosen‘, wie sie es monstriert, Petitionen eingereicht und der Indígenas und das heißt: Selbstver- nennen. Finanziert werden die Gremien soziale Organisationen aufgebaut, um waltung, Autonomie. Dabei versteht die und Verwaltungszentren – bei unentlohn- für die Anerkennung ihrer Rechte als indi- zapatistische Bewegung unter Autono- ter Kollektivarbeit – in den Gemeinden gene Bevölkerung und Kleinbauern zu mie nicht die Loslösung vom Staat, son- und von solidarischen Gruppen. Funkti- kämpfen. Doch erst mit dem bewaffne- dern eine Stärkung der Gemeinden und onsträgerInnen haben ihre Ämter von ten Aufstand der Zapatistischen Befrei- Kreise gegenüber der Zentralregierung der Bevölkerung übrigens nur „geliehen“ ungsarmee EZLN am Jahresbeginn und können jederzeit von der Basis 1994 wurde das Elend in Chiapas abgesetzt werden, wenn sie nicht ein Thema in Mexiko und (vorüber- zur Zufriedenheit arbeiten. gehend) weltweit. Der aktuelle An- lass für die Erhebung unter der Die medizinische Versorgung der Losung „Ya Basta! Es reicht!“ war Menschen und die Bildung – der Kin- das Inkrafttreten des Nordameri- der, der Jugendlichen und der kanischen Freihandelsabkommens Erwachsenen – bilden in allen Ge- NAFTA mit Mexiko und der Konse- meinden einen Schwerpunkt. Es ist quenz von noch tieferem Elend, spannend und berührend, in der noch mehr Unterdrückung und Miss- Dokumentation durch die Aussagen achtung durch Großgrundbesitzer der Männer, Frauen, Jugendlichen sowie wirtschaftliche und politische und Kinder sozusagen mitzuerle- Eliten. ben, was sich seit dem Aufstand in diesen existentiellen Bereichen ver- „Dort unten in den Städten und den ändert hat und wie weiterhin um Ver- Haziendas gab es uns nicht. Unsere Kollektiv betriebener Laden in Chiapas besserungen gemeinsam gerungen Leben waren weniger wert als die wird. Gab es bis 1994 faktisch von Maschinen und Tieren. Wir hatten und konsequenterweise auch die Mitbe- keine bezahlbare oder erreichbare ärztli- keine Stimme. Wir hatten kein Gesicht. stimmung über das Land und die natürli- che Versorgung für die Landbevölke- Wir hatten keine Namen. Wir haben nicht chen Ressourcen und Bodenschätze auf rung, so werden jetzt Gesundheitspro- existiert...“. Aufschlußreich und anschau- ihrem Gebiet. motoren ausgebildet. Die geben ihr Wis- lich vermittelt die Dokumentation zu- sen in internen Schulungen weiter, nächst die geschichtlich-politischen, so- Es ist wirklich eindrucksvoll, die zahlrei- sodass sich die Situation erheblich ver- zialen und kulturellen Ursachen und chen Beispiele aus verschiedenen zapa- bessert hat. Zudem werden neben ‚her- Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 8
kömmlichen‘ Medikamenten verstärkt auch in der Bewegung umgesetzt und einge- hung und Gefahr für die Bevölkerung in kostengünstigere Heilpflanzen verwen- halten werden, das zeigen gelungene den Gemeinden, gehören doch Plünde- det und so das jahrhundertealte Wissen Szenen der Dokumentation. Sie organi- rung und Besetzung von Ländereien, über Heilpflanzen gestärkt. sieren sich, gründen eine Frauengruppe, Vertreibung von Indigenen, willkürliche Festnahmen, Folter, Vergewaltigun- Auch im Bildungsbereich hat sich gen, Exekutionen, das Verschwin- einiges gewandelt: ein eigenes Bil- denlassen von Menschen zum all- dungssystem ist im Aufbau, eben- täglichen Horror in Chiapas. falls mit Hilfe von Promotoren. Der Fächerkanon hat sich geändert: Repression und Belagerung und Unterrichtet wird in der indigenen Übergriffe nehmen zur Zeit enorm lokalen Sprache und in Spanisch. weiter zu, weil die mexikanische Und neben den üblichen Fächern Regierung ihr wirtschaftliches Rie- stehen Gesundheit, Natur, Kultur senprojekt des Plan Puebla Panama und politische Bildung auf dem Stun- möglichst rasch realisieren will – denplan. Bildungsangebote für Er- und zwar im Gebiet der Zapatisten: wachsene, die nie die Chance zum Straßen, Staudämme, Golfplätze Schulbesuch hatten, spielen eben- sollen u.a. gebaut werden, für noch falls eine wichtige Rolle. Für uns zügigeren Freihandel in Mittelameri- ungewöhnlich: Die Bevölkerung ist ka, illustre Touristen und zur Ge- Die Landwirtschaft ist ein zentraler Teil der zapatistischen bei der Festlegung der Lehrinhalte winnsteigerung transnationaler Kon- Bewegung in den Regionen beteiligt. zerne. betreiben z.B. kollektiv ein Restaurant, Die Landwirtschaft ist ein zentraler Teil einen kleinen Kunsthandwerk-Laden. Und „Wir wollen eine bessere Welt aufbauen, der zapatistischen Bewegung. Tausende dann: Ein Angriff, der kleine Laden wird eine Welt, in der Gerechtigkeit für alle Familien erhielten nach 1994 Land. Sie zerstört. herrscht.“ Immer wieder nannten die bewirtschaften es zumeist nachhaltig, Männer und Frauen, Indígenas und Klein- setzen auf Vielfalt, um Chemikalienein- Die Allgegenwart des Militärs in der Auf- bauern in der Dokumentation dieses satz und damit die Abhängigkeit von den standsregion – und der ihm aufs Engste große Ziel. Mit viel Geduld, Toleranz, Chemiekonzernen zu vermeiden. verbundenen Paramillitärs – ist in dem Respekt und Würde versuchten sie in Film auf erschreckende Weise spürbar ihren Gremien und Sitzungen gemein- Stark, engagiert und kämpferisch sind und sichtbar. 100 Militärcamps mit sam einen gangbaren Weg, eine Lösung die Frauen. Sie haben die „Revolu- 50.000 Soldaten (ein Viertel des mexika- für ihre aktuellen Probleme und Fragen tionären Frauengesetze“ durchgesetzt nischen Heeres für vier Prozent der zu finden. Bausteine auf dem Weg zum für Selbstbestimmung und Teilhabe der Bevölkerung!) umzingeln das Gebiet der großen Ziel. Frauen auch am politischen Leben. Wie Zapatisten, die sich seit dem Waffenstill- Bruni Franke sie mit Elan und Ausdauer nun dafür stand Mitte Januar 1994 auch an diesen Info: liste@zwischenzeit-muenster.de kämpfen, dass die Gesetze auch überall gehalten haben! Eine permanente Bedro- www.zwischenzeit-muenster.de Ein Jahr Freiwilligen -Arbeit in Mittelamerika: Der 21- jährige Moritz Lippert arbeitete in unterschiedlichen Einrichtungen in Nicaragua, Guatemala und Chiapas/Mexiko. Hier sein Bericht über seine Arbeit, Erlebnisse und Erfahrungen. Un año por América Central – Ein Jahr in Zentralamerika Als sozial engagierter und politisch drei jeden Tag beim Ackerbau. Das ist auf den spröden Boden einhacken und interessierter Mensch wollte ich schwere körperliche Arbeit; auch ich die steinige Erde aus fünf Metern Tiefe nach dem Abi unbedingt erfahren, helfe nachmittags. Mein Gastgeber, des- von Pferden nach oben ziehen lassen. was es heißt, mit Menschen zusam- sen Brüder und ich bauen einen Brun- Wir bauen Mais, Reis, Bohnen an, hebeln men zu arbeiten, die eine vollkom- nen. Der alte ist ausgetrocknet, weshalb mit dem gleichen Gerät Bananenstauden men andere Lebensweise haben; wir mit schwerem meißelartigem Gerät aus, treiben Kühe im Wald zusammen, wollte unbedingt wissen, was Armut lachen viel und laut, brennen Backsteine bedeutet. Deswegen habe ich in aus Pferdemist … und gehen abends sozialen Projekten gearbeitet, um sehr früh schlafen, es gibt keinen Strom. einen Einblick zu bekommen. Seit Nachts kreischen die Affen ringsumher, Oktober letzten Jahres bin ich wie- man gewöhnt sich. der in Deutschland; richtig ankom- Vormittags bin ich wegen Lehrermangels men werde ich vielleicht nie. ”Grundschullehrer” im Dorf. Dafür muss ich mich von meinen Dreadlocks tren- ”La vaca no sabe leer - die Kuh nen. Ich unterrichte die fünfte und sechs- kann nicht lesen” te Klasse mit vierzig Kindern in Spa- Eigentlich sind Juan, Saida und Ismael nisch, Mathe, Naturwissenschaften und schon in der zweiten Klasse. Die Familie Sport. Könnten alle Kinder kommen, in dem kleinen abgeschiedenen Dorf im wären es drei Mal so viele: Einige Kinder Süden Nicaraguas kann die Schulunifor- 5 m Tiefe: Trotz simpler Werkzeuge geht der wohnen weit entfernt, kommen selten men nicht bezahlen und so helfen die Brunnenbau schnell voran oder gar nicht: Sie müssen oft im Haus- Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 9
halt oder auf dem Feld helfen, außerdem dem gibt es Therapien sowie Schul- und wir im nächsten Problemsektor der wird Bildung oft noch als ”Männersache” Ausbildungsmöglichkeiten, um den Kin- Stadt. Der Park ”Amate”, eine große gesehen. Nach drei Monaten ist eine dern zu helfen, sich wieder in die Gesell- Grünfläche mit einem Fußballplatz in der nicaraguanische Lehrerin gefunden, die schaft zu integrieren. Mitte und umringt von grauen hässlichen bereit ist, jeden Morgen eine Stunde zu Als Streetworker bin ich werktags von Hochhäusern. Die Straße ist abgesperrt, Pferd in das kleine Dorf zu reiten und ich 13-19 Uhr mit meinem guatemalteki- Schaulustige, Polizei! Schnell sehe ich wechsele zu meinem zweiten Projekt. schen Kollegen in den Straßen der Vier- bekannte Gesichter der Straßenkinder millionen Hauptstadt unterwegs. Wir des Zentrums. Zwei Jugendliche mit vie- treffen auf die Kinder: Ein großer len Blessuren am Körper und zerrisse- Junge mit einer NY-Baseballcap und nen Klamotten erzählen uns, dass der einer großen Narbe quer über der Tote der 15-jährige Jorge ist und das, Stirn schlägt auf einen kleineren dickli- was sie selbst gesehen haben: ”Die chen Lockenkopf ein. ”Vos, pisado, Täter sind Soldaten”. Jorge ist beim dame la pacha o te mato! Gib mir das Stehlen erwischt worden, Brot und Alko- Fläschchen, sonst bringe ich dich um!" hol im Supermarkt. ”Seine Quittung sind Der Junge mit den Locken hält zwei vier Kugeln im Rücken”, erzählen sie. große Glasscherben in den Händen ”Die haben ihn abgeknallt, weil die uns und macht auffordernde Bewegungen. hassen.” Von einem Polizeisprecher Er hat keine Angst vor dem Großen. erfahren wir den Namen des Getöteten ”Venite, hijo de puta. Komm doch, und dass er die Soldaten angegriffen Nach den Alphabetisierungskursen zu Gast bei Hurensohn". haben soll. ”Die Tat war Notwehr”, sagt “Schülern” Andere Jüngere, darunter zwei stark Ich bin in der Alphabetisierungskampa- geschminkte Mädchen, sitzen auf dem gne der FSLN ”Yo si puedo!” (Ja, Ich Pflaster. Alle halten sich von Zeit zu kann!) aktiv. Die Kampagne ist der Ver- Zeit die Faust an den Mund. Sie inhalie- such, Erwachsenen die Fähigkeiten des ren Solvente, ein hoch giftiges Lö- Lesens und Schreibens beizubringen. sungsmittel, das an fast jeder Ecke Abermals fahre ich in ein ländliches erstanden werden kann. Die Mehrheit Gebiet, denn die Betroffenen sind vor der Kinder bettelt, manche stehlen; allem Bauern. Es gilt, das Programm einige rauchen das teurere Crack und publik zu machen, mit den Menschen überfallen daher auch Passanten. Bus- Termine zum Unterricht zu vereinbaren, fahrten, Essen und Trinken gibt es zu koordinieren. Nicht selten stoße ich kostenlos, man muss nur wissen, wie dabei auf Abneigung. Viele Bauern sind und wo. Einen Schlafplatz finden 75% sauer auf die FSLN: ”Die haben uns den bei Verwandten; für den Rest bleibt die Trotz allen Elends wird viel gelacht Krieg gebracht, die Kinder genommen. Straße. Bei Somoza hatten wir Traktoren, die Die ersten Kinder sehen uns, laufen auf er. haben die Sandinisten auch abge- uns zu. ”Profe!” (Lehrer), tönt eine kräch- ”Preguntando vamos. schafft.” Andere erklären mir, dass sie zende Stimme eines sehr kleinen Jun- Fragend schreiten wir voran” als Bauern weder lesen noch schreiben gen, den ich auf sieben Jahre schätze. Nach vier Monaten mache ich mich auf wollen und brauchen. ”Die Kuh kann Er trägt ein großes T-Shirt, aus dem nach Chiapas in Südmexiko. Es werden nicht lesen. Wozu sollte ich also schrei- dünne Arme ragen, riesige Hosen und Freiwillige gesucht, die in den indigenen ben?” fragt mich Mariano (62), bei dem abgewetzte Schuhe, keine Socken. Dörfern Verstöße gegen die Menschen- ich eine Zeit wohne, und lacht. Ich muss ”Wann spielen wir Flöte?” fragt er mich rechte protokollieren. Das Gebiet ist einstimmen. Mitgemacht bei der Kampa- und nimmt einen kräftigen Zug aus vom mexikanischen Heer besetzt und gne hat er trotzdem. Später erzählt er einem mit Lösungsmittel getränkten Lap- nicht selten haben Soldaten und Parami- alte Geschichten vom Teufel, der ganz in pen. Wir schreiben ihre Namen auf, ver- litärs gemordet, Frauen vergewaltigt der Nähe im alten Vulkan wohnt oder von arzten ihre Wunden und halten unser oder sich fremden Besitz angeeignet. der ‚Mona‘, einer behaarten Gestalt, die Tagesprogramm ab: Heute ist z.B. Aids- Mit zwei Gleichgesinnten fahre ich in ein nachts hinter Bäumen lauert. Er schwört Prävention an der Reihe. Mein Kollege Dorf. Die Anwesenheit der Freiwilligen auf alte Bräuche und Kräuter und hat holt einen Holzpenis aus dem Rucksack. soll einerseits einen menschlichen sich vor einigen Jahren selbst von der Alle lachen. Ein Älterer schreit den Klei- Schutzschild bieten, andererseits proto- Cholera geheilt. nen an: ”Wolltest du nicht Flöte spielen?” kollieren wir vorüber fahrende Militärfahr- Es ist mir oft unangenehm, als zwanzig- Jemand knufft ihm in die Seite. Seine zeuge und geben die Daten an- jähriger Ausländer älteren Menschen das Antwort: ”Halt’s Maul, die von ‚Casa Ali- schließend an das Menschenrechtszen- Lesen und Schreiben in ihrer eigenen Lan- anza‘ sind okay.” Während mein Kumpan trum weiter. Die Zeit ist spannend; einige dessprache beizubringen. Ich möchte sie die richtige Benutzung demonstriert, Bewohner erzählen uns Geschichten nicht in ihrer Würde verletzen. verteile ich Kondome und beantworte vom zapatistischen Widerstand, von einzelne Fragen. Einige nehmen die traurigen brutalen Zwischenfällen und ”Callate vos, los de Casa Alianza Sache erstaunlich ernst. Die meisten davon, dass sie nicht aufgeben werden son buena onda! - Sei ruhig, die von sind allerdings nur körperlich anwesend, in ihrem Kampf um Selbstbestimmung Casa Alianza sind okay! durch die giftigen Wirkstoffe fern ab von und Unabhängigkeit. ”Wir müssen immer Nach einem halben Jahr Nicaragua ruft der Realität. Ihre Motorik ist einge- wieder die sozialen Verhältnisse hinter- das Straßenkinderprojekt 'Casa Alianza' schränkt, die Augen gucken krank und fragen und weiter gehen in Richtung in Guatemala-Stadt. Die Organisation hat leer, jedoch seltsam zufrieden. unserer Ziele: Freiheit, Demokratie, Ge- Straßensozialarbeiter und Häuser, in Unser Handy klingelt: Im Zentrum ist rechtigkeit. Preguntando vamos!” denen die Kinder wohnen können und jemand umgekommen, wahrscheinlich psychologisch betreut werden. Außer- ein Straßenkind. Wenig später stehen Moritz Lippert Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 10
14. Konferenz der Partnerstädte Die 14. Konferenz der Partnerstädte lieben FreundInnen früherer Konferen- Leóns hatte den Titel „Entwicklungszu- zen. Jetzt ist wieder eine große Zahl sammenarbeit und Zivilgesellschaft“. dazu gekommen. Vielleicht sehen wir Das Treffen fand zum zweiten Mal in uns in zwei Jahren in Hamburg wieder? Zaragoza/Spanien statt, mit einer gro- ßen Hamburger Delegation. (Beim ersten Die wesentlichen Pros und Contras be- Mal waren wir nur zu dritt!) schreibt Paul Pirker unten in seinen Das Interesse war also groß, obwohl die „Anmerkungen“, denen können wir uns Konferenz mit vier bis fünf Übernachtun- voll anschließen. Hinzufügen sollte man gen und Anreise durchaus schon einen vielleicht, dass in der Abschlußversamm- beachtlichen Kostenfaktor darstellte. Wir lung Regularien beschlossen wurden, die wurden jedoch entschädigt durch die die Zusammenarbeit der Partnerstädte begeisternde Gastfreundschaft der spa- in festgelegten Themenfeldern koordinie- nischen Organisatoren, die perfekte ren und überprüfen können. Wir wollen Organisation und vieles andere mehr. hoffen, dass diese in einer Abschlußer- Das größte Erlebnis ist natürlich das klärung zusammengefaßten und von herzliche miteinander Sein von insge- allen unterschriebenen Verpflichtungen samt fast hundert Beteiligten. Für uns umgesetzt werden und nicht – wie so oft Ältere die verblüffende Vertrautheit mit – – nur Papier bleiben. wie Paul Pirker es treffend nennt – Detlef de Cuveland Anmerkungen bei uns meist etwas reiferen Alters sind. Zwei Komponenten möchte ich noch zur europäischen Zumindest für die Nachwuchspflege hervorheben: Erstmals fand die Notwen- zahlt sich die Entsendung vieler junger digkeit zur Zusammenarbeit der Part- Koordinierungskonferenz Cooperantes, wie es Zaragoza macht, nerstädte eine explizite Zustimmung in Zaragoza aus. und zwar, für unsere Arbeit besonders Auffallend war, dass die Konferenz in wichtig, bei der Entwicklung eines sanf- Noch keine der zwölf vorherigen León- einem politischen Vakuum stattgefun- ten und ökologischen Tourismus in Konferenzen in Europa hatte eine derart den hat. Als ob es in Nicaragua keinen León. Und dann gab es das Wiederse- große Anzahl an TeilnehmerInnen aus Wahlsieg der Sandinisten gegeben hen mit etlichen alten Compañeras und León, über 20! Dadurch wurden viele hätte! Als ob es in Lateinamerika nicht Compañeros, lieben FreundInnen frühe- Gespräche, vor allem informeller Art eine bemerkenswerte politische Ent- rer Konferenzen. beim Essen oder an den Abenden mög- wicklung gäbe! Als ob die Verträge mit lich. Allerdings musste man den vielen den USA nicht die nicaraguanische Paul Pirker Hermanamiento Salzburgo-León Vertretern von den Leóner Vereinen, Landwirtschaft ruinierten! Als von der Alcaldía und der UNAN auf der ob nicht die Sandinisten vor Konferenz auch Zeit für die Präsentation der Wahl dem frauenfeindlich- ihrer Anliegen geben, und diese mit Zah- sten Gesetz zugestimmt hät- len und detaillierten Informationen ge- ten! Überhaupt war der Um- spickten Frontalvorträge gingen auf gang mit dem Abtreibungspa- Kosten eines Dialogs. ragraphen ziemlich peinlich: Die Organisatorinnen aus Zaragoza, ein- Ich glaube, die anwesenden drucksvolle junge Power- Frauen, haben Sandinisten genierten sich sich große Mühe um einen reibungslo- deshalb, wollten sich aber aus sen Ablauf gemacht und haben an Parteidisziplin nicht äußern; jedem Abend auch eine kulturelle Veran- deshalb zogen sie nur die staltung oder eine Begegnungsmöglich- Schultern hoch und schwie- keit angeboten. Besonders beeindruckt gen. hat mich der Abend mit den Jugendli- Alles in allem war es wert, auf chen im städtischen Jugendzentrum, da die Konferenz gefahren zu BesucherInnen von Nicaragua -Abenden sein. KonferenzteilnehmerInnen im Rathaus von Zaragoza Im März 2008 wird die Hamburger Koordinatorenstelle in León vakant! Seit vielen Jahren gibt es KoordinatorInnen in León, die sich um Hamburger Projekte kümmern. In der Anfangszeit waren es EntwicklungshelferInnen, die diese Arbeit ehrenamtlich für die Hamburger Soliszene machten. Später änderte sich das: Wenigstens ein Teil ihrer vertraglichen Arbeit bezog sich auf die Koordination und wurde entsprechend bezahlt. Seit dem Jahr 2000 waren die KoordinatorInnen beurlaubte MitarbeiterInnen der Hamburger Stadtverwaltung, die als inte- grierte Fachkraft im Auftrag von GTZ/CIM in der Stadtverwaltung León arbeiteten. In Zukunft (ab März 2008) werden die Koor- dinatorInnen vom Hamburger Senat beauftragt und vergütet. Auf Bitten des Senats legen wir dieser Ausgabe eine Stellenausschreibung für die Nachfolge von Frau Dr. Grüneberg bei. Nicaragua-Zeitung 06/07 Seite 11
Sie können auch lesen