Modelle? Brauche ich nicht. Modellieren? Tue ich nicht - oder vielleicht doch?
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Modelle? Brauche ich nicht. Modellieren? Tue ich nicht – oder vielleicht doch? Esther Thürig Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, WSL (CH)* Harald Bugmann Professur Waldökologie, ETH Zürich (CH) Modelle? Brauche ich nicht. Modellieren? Tue ich nicht – oder vielleicht doch? Die wenigsten Menschen würden sich spontan als Modellierer bezeichnen. Modelle werden oft als überaus kom- pliziert, wenig nützlich und nicht praxisnah eingeschätzt. Wir stellen diese (Vor-)Urteile auf den Prüfstand und zeigen auf, dass Modelle in unserem Alltag unentbehrlich sind und es uns ermöglichen, Entscheide zeitnah zu Downloaded from http://meridian.allenpress.com/szf/article-pdf/171/3/110/2561474/szf_2020_0110.pdf by Lib4RI: PSI user on 09 December 2020 fällen, ohne überaus lange brüten zu müssen. Anhand einer einfachen Entscheidung erklären wir den typischen Ablauf bei der Modellbildung. Sind Modelle schon im täglichen Leben unverzichtbar, so ist dies in der Forst- wirtschaft und in der Waldforschung noch stärker der Fall. Seit je bilden Waldmodelle wie der Normalwald oder die Ertragstafeln das Rückgrat nachhaltiger Eingriffe. Globale Trends und klimatische Veränderungen der letz- ten 50 bis 70 Jahre verlangen nach dynamischen, klimasensitiven Waldmodellen, um Fragen zur zukünftigen Entwicklung von Wäldern, Baumarten, Kohlenstoffsenken, Holznutzungspotenzialen, Schäden und Gefahren zu beantworten und Handlungsoptionen zu analysieren. Jede dieser Fragen bedarf aber eines spezifischen Modells oder einer spezifischen Modellgruppe. Wir stellen anhand von sechs spezifischen Fragestellungen in der Schweiz verfügbare Waldmodelle vor, die zur Beantwortung dieser Fragen geeignet sind. Keywords: modeling, decision support, models in everyday life, dynamic forest models doi: 10.3188/szf.2020.0110 * Zürcherstrasse 111, CH-8903 Birmensdorf, E-Mail esther.thuerig@wsl.ch S chauplatz Hallenbad. Ich möchte ein paar Län- paar Sekunden Beobachtung) und ignoriere sehr gen schwimmen. Für welche Bahn soll ich viele Dinge, die zweifellos auch zur Realität gehören, mich entscheiden? Viele Informationen und für meinen Entscheid aber vollständig irrelevant sind Prozesse beeinflussen meine Wahl (Abbildung 1). (Wetter, Sprungbrett, Badekappenfarbe). Ich fälle Wie viele Bahnen gibt es insgesamt? Sind die Bah- also den Entscheid und beginne zu schwimmen. nen speziell beschriftet? Wie viele Personen sind Nach den ersten paar Runden kann ich den schon am Schwimmen, wie schnell schwimmen sie, Entscheid bereits überprüfen und das Modell bei Kraul, Brust oder Rücken? Welche Schwimmstile be- Bedarf überarbeiten: 1) Problemloses Aneinander- herrsche ich, wie fühle ich mich heute, wie schnell vorbei, freundliche Gesichter? Ich habe eine gute will ich schwimmen? Ich will das Geschehen nicht Wahl getroffen, das Modell war hilfreich, es «hat ge- eine halbe Stunde lang beobachten, bevor ich einen stimmt», ich schwimme weiter. 2) Zusammenstösse, Entscheid fälle. Vielmehr betrachte ich die Situation ständig ein Fuss im Gesicht oder ruppige Überhol- nur kurz und werfe mich dann in einer Bahn ins manöver? Ich überarbeite das Modell, indem ich die Wasser. Andere Informationen, zum Beispiel welche relevanten Informationen und deren Zusammen- Farbe die Badekappen der bereits schwimmenden hänge überprüfe, ich revidiere meinen Entscheid Personen haben, ob im danebenliegenden, abge- und wähle eine andere Bahn aus. trennten Becken Kinder vom Sprungbrett hüpfen Modelle sind also Teil unseres Alltags, obwohl oder ob es draussen regnet oder schneit, haben kei- sich die wenigsten Leser/innen der Schweizerischen nen Einfluss auf meine Wahl der Bahn. Zeitschrift für Forstwesen (SZF) als «Modellierer/in- Das ist die Essenz des Modellierens: Ich will nen» bezeichnen würden. Aber wir alle modellieren eine Frage beantworten oder einen Entscheid treffen tatsächlich ständig. Wann ist es in Ordnung, den (welche Bahn? ), habe nur beschränkte Informatio- Fussgängerstreifen zu überqueren, obwohl ein Auto nen (den Blick auf das Geschehen und vielleicht ein herannaht? Bei welcher Schlange vor der Kasse im 110 EDITORIAL Schweiz Z Forstwes 171 (2020) 3: 110–115 pp2011_Thürig.indd 110 21.04.20 08:17
Abb 1 Flussdiagramm zur Modellbildung. Cartoon: Astrid Björnsen Downloaded from http://meridian.allenpress.com/szf/article-pdf/171/3/110/2561474/szf_2020_0110.pdf by Lib4RI: PSI user on 09 December 2020 Supermarkt stehe ich an, damit ich möglichst schnell Ein gutes Modell basiert also immer auf einer nach Hause komme? Wenn wir bei solchen Entschei- konkreten Fragestellung, nützlichen und sinnvollen dungen hundertprozentige Sicherheit haben woll- Informationen sowie plausiblen Annahmen über de- ten, würden wir handlungsunfähig, denn wir wür- ren Zusammenhänge. Und schliesslich ist jedes Mo- den die Strasse, die Kassen oder die Schwimmbahnen dell nur so gut wie seine Überprüfung (Evaluation). stundenlang beobachten, ohne zu unserem Ziel zu Es braucht also eine stetige Überprüfung der Modell- kommen (nämlich die Strasse zu überqueren, unsere güte und des Modellzwecks und bei Bedarf eine Einkäufe zu bezahlen bzw. zu schwimmen). Wir wä- Überarbeitung des Modells. Mit Evaluation kann ren wie Kindergartenkinder, denen wir einschärfen, aber nicht gemeint sein, dass man die Korrektheit dass sie den Fussgängerstreifen erst dann überque- eines Modells beweist, denn wir wissen ja a priori, ren dürfen, wenn das Auto angehalten hat, d.h., dass jedes Modell falsch ist (siehe Box 1976). Ein po- wenn es keine Unsicherheit mehr gibt. Das Leben ist sitiv evaluiertes («valides») Modell ist also nicht ein unsicher, und Entscheiden unter Unsicherheit heisst korrektes Modell, sondern eines, das eine hinrei- Modellieren: Jede(r) macht Modelle, also kann auch chend genaue Antwort auf eine klar spezifizierte Fra- jede(r) modellieren! gestellung liefert. Jedes Modell ist aber auch falsch: Das Modell für die Wahl der Bahn im Hallenbad hat zwar gehol- fen, den richtigen Bahnentscheid zu fällen. Es lie- Dynamische Waldmodelle fert aber keine brauchbare Beschreibung der gesamt- haften Realität des Hallenbads, denn das meiste, was Wenn Modelle überall in unserem Leben un- im Hallenbad abgeht, habe ich ja ignoriert. Die Frage verzichtbar sind, so gilt dies noch viel stärker für die ist also nicht, ob ein Modell «richtig» ist oder ob es Waldforschung und die Forstwirtschaft. Es ist nicht die Realität vollständig wiedergibt. Ein Modell ist verwunderlich, dass die ältesten forstlichen Modelle, immer eine immense Abstraktion und wird deshalb nämlich das Normalwaldmodell und die Ertragsta- der Realität mit Sicherheit nie gerecht. Die Frage ist feln, bereits rund 200 bzw. über 100 Jahre alt sind. vielmehr, ob das Modell hilfreich beim Fällen eines Eine Prognose über den zukünftigen Holzertrag ist Entscheides ist. «Alle Modelle sind falsch, aber ei- ohne quantitative Modelle nicht möglich, eine nach- nige Modelle sind nützlich», hat der Statistiker Box haltige Holznutzung erst recht nicht. Diese beson- (1976) sehr treffend geschrieben. ders grosse und frühe Bedeutung quantitativer Die erwähnten Beispiele zeigen auch, dass Mo- Modelle in der Forstwirtschaft, im Unterschied bei- delle stets spezifische Fragestellungen beantworten. spielsweise zur Landwirtschaft, begründet sich in Das Schwimmbadmodell ist absolut untauglich bei der Langsamkeit vieler Waldprozesse wie des Wachs- der Wahl der Kasse zum Bezahlen der Einkäufe. tums oder der Verjüngung. Zudem sind diese Pro- Zudem ist jedes Modell nur so gut wie die Infor- zesse komplex und weisen viele Interaktionen auf. mationen, die ihm zugrunde liegen. Wenn die im Andere Prozesse wie die Mortalität sind ausserdem Schwimmbad eingangs gestellten Fragen zu Anzahl zeitlich extrem variabel und deshalb schwierig zu und Geschwindigkeit der Schwimmenden nicht rich- erfassen. Weil die Prozesse Verjüngung und Wachs- tig beantwortet oder weitere relevante Informationen tum bei vielen Baumarten mehrere Dekaden in An- nicht miteinbezogen werden, ist das Modell und da- spruch nehmen, benötigt die Entwicklung eines mit auch die aus ihm folgende Entscheidung falsch. Waldbestandes zwischen 50 und 200 Jahren. Andere Schweiz Z Forstwes 171 (2020) 3: 110–115 EDITORIAL 111 pp2011_Thürig.indd 111 21.04.20 08:17
relevante Prozesse wie Störungen durch Feuer, Wind, Entwicklung von Wäldern, Baumarten, Kohlen- Käfer oder die Holznutzung laufen schnell ab, in Ta- stoffsenken, Holznutzungspotenzialen, Schäden gen, Wochen oder einem Jahr, ihre Auswirkungen und Gefahren beantworten und Handlungsoptio- hingegen erstrecken sich wiederum über Jahrzehnte. nen analysieren. Jede Frage bedarf aber eines spezi- Lediglich aufgrund von Beobachtungen oder gar ell dafür konstruierten Modells, wobei sich ver- nur aufgrund von kurzzeitigen Experimenten lassen wandte Fragen oft anhand des gleichen Modells oder sich in der Forstwirtschaft deshalb keine allgemein- Varianten desselben Modells beantworten lassen. Es gültigen Aussagen gewinnen. Vielmehr braucht es gibt aber mit Sicherheit keine «eierlegende Woll- explizite, quantitative Modelle, die die sehr dyna- milchsau» unter den Modellen, also kein «Global mischen Prozesse im Wald abbilden und auf der Zeit- Everything Model». Beispielsweise lässt sich die Frage achse fortschreiben können. nach der Gefahr von Borkenkäferschäden in einem Waldmodelle, die die zeitliche und teilweise bestimmten Bestand kaum mit dem gleichen Modell auch die räumliche Dynamik der Entwicklung von beantworten wie jene nach dem schweizweiten Po- Arten und Beständen beschreiben, nennt man «dy- tenzial der Wälder, Kohlenstoff zu speichern. namische Waldmodelle». Mithilfe zukünftiger Klima- Dynamische Modelle sind auch «Zeitmaschi- änderungs- und Landnutzungsszenarien kann mit nen». Sie haben einen «Schnellvorlauf-Knopf» und solchen Modellen die Waldentwicklung der kommen- können uns aufzeigen, wie der Wald zu einem späte- Downloaded from http://meridian.allenpress.com/szf/article-pdf/171/3/110/2561474/szf_2020_0110.pdf by Lib4RI: PSI user on 09 December 2020 den 50 bis 200 Jahre abgebildet werden. Umweltbe- ren Zeitpunkt aussehen wird. Umgekehrt können wir dingungen, Waldstrukturen und Standortbedingun- auch den «Schnellrücklauf-Knopf» drücken und Mo- gen werden dabei während der Simulation laufend, delle verwenden, um eine beobachtete vergangene zum Beispiel alle 1 bis 10 Jahre (Zeitschritt), aktuali- Walddynamik abzubilden, beispielsweise auf ertrags- siert, und die aktualisierten Bedingungen beeinflus- kundlichen Versuchsflächen. Sofern die Daten jener sen die weitere Entwicklung. Im Gegensatz dazu ar- Flächen nicht verwendet worden sind, um das Mo- beiteten zum Beispiel Zimmermann et al (2016) mit dell zu entwickeln oder seine Parameterwerte zu statischen Waldmodellen, in denen die Zeit nicht ex- schätzen, ist dies ein Paradebeispiel einer Evaluation, plizit vorkommt. Jene Modelle gehen davon aus, dass denn eine Evaluation benötigt lange Zeitreihen un- das heutige Vorkommen einer Baumart und die in abhängiger Daten. Diese sind rar, weshalb ein sorg- diesem Gebiet beobachteten klimatischen Bedingun- samer Umgang mit den Daten angezeigt ist. Da jedes gen ein hinreichendes Indiz dafür sind, wo die Art Modell nur so gut ist wie die Informationen, anhand in Zukunft vorkommen wird: Sie nehmen also an, derer es entwickelt worden ist, und nur so viel taugt, dass ein Gleichgewicht zwischen den Standortbe- wie die Evaluation hergibt, sind wir selbstverständ- dingungen und den Eigenschaften des Waldes (wie lich weiterhin auf Feldexperimente wie die Test- den Verbreitungsgebieten der Baumarten) besteht. pflanzungen, auf repräsentative Erhebungen wie das Aus Präsenz-/Absenzdaten werden statisch-statis- Landesforstinventar (LFI) und auf das Monitoring tisch sogenannte «Klimahüllen» berechnet. Diese von Waldbeständen in der Ertragskunde, in Natur- geben Aufschluss darüber, wie unter bestimmten Kli- waldreservaten, in der Langfristigen Waldforschung maszenarien die zukünftigen Verbreitungsgebiete (LWF) oder im Rahmen der Sanasilva-Inventuren an- der Baumarten ausschauen könnten. Zwischen loka- gewiesen. Weitere wichtige und nützliche Datenrei- lem Aussterben und dem Erreichen neuer Potenzial- hen für die Entwicklung und Überprüfung von Mo- gebiete können jedoch etliche Jahrzehnte bis viele dellen sind zum Beispiel auch Regionalinventuren, Jahrhunderte vergehen (Zimmermann et al 2016). wie sie in gewissen Kantonen durchgeführt werden. Damit Wälder nach haltig und kontinuierlich soziale, Mit Modellen lassen sich also «Wenn-dann»- ökologische und ökonomische Leistungen erbringen Fragen zur Waldentwicklung nachbilden, sofern ge- können, ist jedoch der zeitliche und teilweise auch nügend gute Kenntnisse über die zugrundeliegen- der räumliche Ablauf der Waldentwicklung der den Zusammenhänge und genügend gute Daten nächsten 50 bis 200 Jahre entscheidend. Deshalb vorliegen, ohne dass grossflächige, langfristige Ex- konzentriert sich die vorliegende Schwerpunktstre- perimente oder Beobachtungskampagnen durchge- cke der SZF auf dynamische Waldmodelle. führt werden müssen. Globale Trends der letzten 50 bis 70 Jahre wie die anthropogene Klimaveränderung, die erhöhte Stickstoffdeposition oder die chronisch zunehmende Wie komplex soll ein Modell sein? CO2 -Konzentration vergrössern die Bedeutung dy- namischer Waldmodelle weiter. Veränderte abioti- Am Beispiel des Waldwachstums lässt sich sche und biotische Bedingungen für die Bäume tref- veranschaulichen, dass ganz verschiedene Modelle fen auf höhere Anforderungen der menschlichen denkbar sind für die Beantwortung ein und dersel- Gesellschaft an unsere Wälder, beispielsweise im Be- ben Fragestellung. Am einen Ende des Spektrums reich der Energiepolitik und der Dekarbonisierung. könnte man die Fotosynthese in jedem einzelnen Mit dynamischen Modellen können wir Fragen zur Chloroplasten eines Baumes anhand von mathe- 112 EDITORIAL Schweiz Z Forstwes 171 (2020) 3: 110–115 pp2011_Thürig.indd 112 21.04.20 08:17
matischen Gleichungen wiedergeben. Am anderen weichungen bei den jährlich aggregierten Bestan- Ende des Spektrums könnte man ein einfaches sta- deskennzahlen führen. Meist ist es deshalb besser, tistisches Modell des jährlichen Bestandeszuwach- mit einem Modell «ungefähr die richtige» Antwort ses als Funktion zum Beispiel der Jahresmittel- zu bestimmen als «exakt die falsche». temperatur und der Jahresniederschlagssumme formulieren. Wie beim eingangs erwähnten Hallen- badmodell ist man bemüht, das einfachste Modell Einsatzgebiete verschiedener zu verwenden, das noch alle Kriterien der Fragestel- Waldmodelle lung erfüllt. Damit sollte das Modell bezüglich der benötigten Inputdaten und seiner Struktur nur ge- In der Schweiz werden derzeit verschiedene Ty- rade so viele Details enthalten, wie auch für die Be- pen von dynamischen Waldmodellen verwendet, die antwortung der Frage benötigt werden. Für die Be- von der Ebene des Einzelbaums über diejenige des Be- rechnung der jährlichen Volumenproduktion pro stands und der Landschaft bis zur nationalen Ebene Hektar braucht es nicht unbedingt ein detailliertes reichen. In der vorliegenden Schwerpunktstrecke Einzelbaummodell mit einem täglichen Zeitschritt werden sechs spezifische Fragestellungen aufgewor- und ganz sicher nicht die Betrachtung jedes einzel- fen und anhand von sechs ausgewählten dynami- nen Chloroplasten. Komplexere Modelle benötigen schen Modellen beantwortet. Es stehen also nicht die Downloaded from http://meridian.allenpress.com/szf/article-pdf/171/3/110/2561474/szf_2020_0110.pdf by Lib4RI: PSI user on 09 December 2020 viel mehr Inputdaten, mehr Parameter und letztlich Modelle im Vordergrund, sondern ihre Eignung für auch längere Berechnungszeiten für den Computer die jeweilige Fragestellung. Die Darstellung eines Mo- als einfache Modelle. Komplexe Modelle bergen zu- dells losgelöst von einer Fragestellung wäre gar nicht dem die Gefahr, dass sich kleine, unvermeidbare sinnvoll, da die Eignung eines Modells, wie oben dar- Fehler addieren und in der Summe zu grossen Feh- gelegt, von der Fragestellung abhängt. Typische Fra- lern führen. Rechnet ein Modell zum Beispiel in Ta- gestellungen und die Grundeigenschaften der ge- gesschritten und mit Einzelbäumen, können kleinste wählten sechs Modelle sind in Tabelle 1 dargestellt. Abweichungen bei den Tageswerten zu grossen Ab- Neben diesen Modellen werden in der Schweiz auch Merkmal SwissStandSim Massimo ForClim LandClim TreeMig 3-PG Typische Wie lassen sich Wie schauen zu- Wie entwickeln sich Wie beeinflussen Wie migrieren Wie lässt sich die Frage- Eingriffe zur Erzie- künftige Holzernte- typische Misch- natürliche und Bäume unter dem Dynamik von Kohlen- stellung lung gewünschter und C-Senken- wälder unter dem anthropogene Klimawandel? stoff, Stickstoff und Bestandesentwick- Potenziale der Klimawandel? Störungen die Wasser auf die Be- lungen planen? Schweiz aus? Walddynamik? standesentwicklung bilanzieren? Modelltyp Empirisch-statistisch Empirisch-statistisch Gap-Modell Räumlich explizite Räumlich explizite Ökophysiologisch Gaps Gaps Einsatz- Forschung, Applika- Praxis/Forschung Forschung/Praxis Forschung Forschung Forschung/Praxis gebiet tion für Praxis in Erarbeitung Räumlicher Bestand Region/Nation Bestand Landschaft Landschaft bis Bestand Bezug Kontinent Typischer 10–100 Jahre 10–100 Jahre 50–10 000 Jahre 100–10 000 Jahre 100–10 000 Jahre 10–100 Jahre Simulations- zeitraum Zeitschritt 5 Jahre 10 Jahre Jährlich 10 Jahre Jährlich Monatlich Kleinste Einzelbaum (BHD) Einzelbaum (BHD) Einzelbaum (BHD) Einzelbaum Höhenklassen, Repräsentativer modellierte (Biomasse) ca. 4 m Baum im Bestand Einheit (Blattmasse und C-Pools) Klima- Teilweise ja Teilweise ja Ja Ja Ja Ja sensitivität Tab 1 Charakterisierung der vorgestellten Modelle. Schweiz Z Forstwes 171 (2020) 3: 110–115 EDITORIAL 113 pp2011_Thürig.indd 113 21.04.20 08:17
andere dynamische Waldmodelle entwickelt und an- Sukzessionsmodelle, die in der Regel einfach für viele gewendet, zum Beispiel SiWaWa (Rosset et al 2013). Arten parametrisiert werden können. Sie sind geeig- Viele Fragestellungen und somit auch Modell- net, um langfristige Aussagen über die Entwicklung anwendungen beziehen sich auf die Ebene von von Beständen mit vielen Arten zu machen. Mit For- einzelnen Beständen, der klassischen forstlichen Clim können beispielsweise Fragen aus der Praxis Eingriffseinheit. Wir stellen in dieser Schwerpunkt- bezüglich der Entwicklung typischer Bestände un- nummer drei Bestandesmodelle vor: SwissStandSim ter dem Klimawandel untersucht werden (Thripple- (Zell et al 2020), 3-PG (Forrester et al 2020) und For- ton et al 2020). Clim (Bugmann & Huber 2020). Forstingenieure und Forstingenieurinnen sind Am Beispiel von SwissStandSim (Zell et al 2020) auch Landschaftsmanager. Das Denken kann nicht präsentieren wir ein rein empirisch-statistisches Mo- am Bestandesrand aufhören. Bestände sind mitein- dell, dessen Funktionen (z.B. Zuwachs, Mortalität) ander verbunden, und das Mosaik von Wald und anhand von Versuchsflächendaten mittels statisti- Nichtwald muss ebenfalls berücksichtigt werden, scher Methoden «gefittet» werden. Ziel dieser Mo- wenn es zum Beispiel um die Ausbreitung von Bor- delle ist eine möglichst hohe lokale Präzision der kenkäferkalamitäten oder die Migration von Baum- Aussagen. Solche Modelle sind damit potenzielle arten geht. Um ein überaus komplexes Modell der Kandidaten für die Anwendung in der Betriebspla- Landschaftsdynamik zu vermeiden, ist eine Verein- Downloaded from http://meridian.allenpress.com/szf/article-pdf/171/3/110/2561474/szf_2020_0110.pdf by Lib4RI: PSI user on 09 December 2020 nung oder in einem «Decision Support System». Mit fachung in der Betrachtung der Bestandesdynamik SwissStandSim wird derzeit ein solches System ent- notwendig, die auf verschiedene Arten bewerkstel- wickelt. Die Funktionen sind gefittet, und eine Ap- ligt werden kann. Als Beispiel für solche Land- plikation für die Praxis wurde in Angriff genommen. schaftsmodelle präsentieren wir LandClim (Temperli Von zentraler Bedeutung bei empirisch-statistischen & Bugmann 2020) und TreeMig (Lischke 2020). Modellen ist die Frage, ob sie ausserhalb der verwen- Beide Modelle sind im Grundsatz räumlich explizite deten Daten und unter veränderten klimatischen Be- Gap-Modelle. Die Lage der einzelnen Gaps bildet ein dingungen angewendet werden können. regelmässiges Raster von Zellen im geografischen Das zweite Bestandesmodell in dieser Schwer- Raum. Zudem tauschen die Gaps Informationen aus. punktstrecke ist 3-PG (Physiological Principles Pre- Bei LandClim ist dies zum Beispiel die Stärke des Bor- dict Growth; Forrester et al 2020). Dieses Modell ist kenkäferbefalls, bei TreeMig sind es die Art und die ein Beispiel eines ökophysiologischen Modells, das Anzahl der samenproduzierenden Mutterbäume. auf grundlegenden ökologischen Prozessen wie Foto- TreeMig modelliert keine einzelnen Bäume oder synthese, Atmung oder Effizienz der Strahlungsaus- deren Biomasse, sondern verfolgt die Art und die nützung beruht. Mit einem solchen Modell lassen Anzahl der Bäume über deren Grösse, eingeteilt in sich Forschungsfragen zur Dynamik von Kohlenstoff, Höhenklassen mit einer Breite von etwa 4 m. Mit Stickstoff und Wasser in der Bestandesentwicklung LandClim lassen sich Forschungsfragen zum Ein- analysieren. 3-PG ist vor allem im angelsächsischen fluss von natürlichen wie auch anthropogenen Stö- Raum ein wichtiges Werkzeug für die waldbauliche rungen auf die Walddynamik untersuchen. Mit Tree- Planung geworden und wird von vielen grossen Forst- Mig können Forschungsfragen zum Einfluss des betrieben routinemässig verwendet. Ökophysiologi- Klimawandels auf die Migrationsgeschwindigkeit sche Modelle haben einen grossen allgemeinen Gül- von Bäumen im Klimawandel beantwortet werden. tigkeitsbereich, da sich die Grundprinzipien zum Auf der Ebene eines ganzen Staates wie der Beispiel von einem Standort zum anderen nicht un- Schweiz interessieren Fragen zur Verfügbarkeit der terscheiden. Allerdings ist die Parameterschätzung Ressource Holz, zur Bedeutung der Wälder für die na- dieser Modelle oft schwierig, da nicht für viele Arten tionale Kohlenstoffbilanz oder zu anderen Ökosys- genügend detaillierte Informationen vorliegen. Dies temleistungen. Es ist aber nicht praktikabel, sämtli- macht sich tendenziell durch eine geringere lokale che Waldbestände oder Waldlandschaften der Schweiz Präzision bemerkbar. Mittlerweile sind neue, soge- explizit zu modellieren. Wie man auf der nationalen nannt inverse Kalibrierungsmethoden (basierend auf Ebene basierend auf dem Landesforstinventar Aussa- Bayes-Statistik) verfügbar, die dieses Problem zumin- gen über die zukünftige Entwicklung der Ressource dest teilweise lösen (z.B. Cailleret et al 2020). Holz machen kann, zeigen Stadelmann et al (2020) Als drittes Bestandesmodell präsentieren wir mit dem empirisch-statistischen Modell Massimo. ForClim (Bugmann & Huber 2020). ForClim basiert sowohl auf empirischen Zusammenhängen als auch auf ökologischen (nicht aber physiologischen) Prin- Fazit zipien. Es ist ein sogenanntes «Gap-Modell», das heisst, alle Prozesse der Waldentwicklung werden Wir hoffen, dass wir mit dieser Schwerpunkt- auf unabhängigen kleinen Kreisflächen (Gaps) simu- strecke und den darin vorgestellten Fragestellungen liert, die etwa die Grösse eines ausgewachsenen Bau- und Modellen dazu beitragen können, die Rolle und mes haben. ForClim gehört zur grossen Familie der die Bedeutung dynamischer Modelle in der Forst- 114 EDITORIAL Schweiz Z Forstwes 171 (2020) 3: 110–115 pp2011_Thürig.indd 114 21.04.20 08:17
praxis oder zumindest praxisrelevante Ergebnisse CAILLERET M, BIRCHER N, HARTIG F, HÜLSMANN L, BUGMANN H (2020) Bayesian calibration of a growth-dependent tree mor- aus der Wissenschaft besser verständlich zu machen. tality model to simulate the dynamics of European temperate «Es ist ja nur ein Modell» oder «ich glaube Modellen forests. Ecol Appl 30: e02021. nicht» sind Aussagen, die nicht selten zu hören sind, FORRESTER DI, TROTSIUK V, MATHYS AS (2020) 3-PG: ein phy- die aber mehr von einem unzureichenden Verständ- siologisches Waldwachstumsmodell. Schweiz Z Forstwes 171: nis von Modellen als von Problemen der Modelle 158–164. doi: 10.3188/szf.2020.0158 selber zeugen; wobei solche Missverständnisse auch LISCHKE H (2020) Simulation der Baumartenmigration im Klima- wandel. Schweiz Z Forstwes 171: 151–157. doi: 10.3188/ innerhalb der Wissenschaft vorzufinden sind. «Ich szf.0151 bin kein Modellierer, ich benutze Modelle als Werk- ROSSET C, SCHÜTZ JP, LANZ A, MENK J, GOLLUT C ET AL (2013) zeug» ist eine paradoxe Aussage, die vor nicht allzu SiWaWa: Waldwachstumssimulationsmodell der neuen Gene- langer Zeit in einer wissenschaftlichen Diskussion ration. Das Waldwachstum für den Praktiker leicht gemacht. gefallen ist. Es ist nicht so, dass die «Modellierer» an Zollikofen: Hochschule Agrar- Forst- Lebensmittelwissenschaf- ten. 56 p. die Modelle «glauben» und die «Nichtmodellierer» STADELMANN G (2020) Quantifizierung der Waldbiomasse und zu Recht «skeptisch» sind. Nein, wir alle sind Mo- des Holznutzungspotenzials in der Schweiz. Schweiz Z Forst- dellierer, auf die eine oder andere Art, und wir alle wes 171: 124–132. doi: 10.3188/szf.2020.0124 müssen gegenüber Modellen sehr skeptisch sein: In- TEMPERLI C, BUGMANN H (2020) Borkenkäferdynamik im Klima- wiefern sind sie nützlich? Wenn wir mit dieser Frage wandel: die Bedeutung der Landschaftsebene. Schweiz Z Downloaded from http://meridian.allenpress.com/szf/article-pdf/171/3/110/2561474/szf_2020_0110.pdf by Lib4RI: PSI user on 09 December 2020 sorgfältig umgehen, können uns Modelle sehr stark Forstwes 171: 142–150. doi: 10.3188/szf.2020.0142 THRIPPLETON T, LÜSCHER F, BUGMANN H (2020) Climate change unterstützen – sowohl bei der Wahl der Bahn im impacts across a large forest enterprise in the Northern Pre- Schwimmbad als auch bei der Festlegung geeigneter Alps: dynamic forest modelling as a tool for decision support. Strategien der Waldbewirtschaftung im Klimawan- Eur J For Res. doi: 10.1007/s10342-020-01263-x del. Modelle sind toll – bleiben wir kritisch! ■ ZELL J, NITZSCHE J, STADELMANN G, THÜRIG E (2020) Swiss- Eingereicht: 2. Februar 2020, akzeptiert (mit Review): 30. März 2020 StandSim: ein klimasensitives, einzelbaumbasiertes Wald- wachstumsmodell. Schweiz Z Forstwes 171: 116–123. doi: 10.3188/szf.2020.0116 Literatur ZIMMERMANN NE, SCHMATZ DR, GALLIEN L, KÖRNER C, HU- BER B ET AL (2016) Baumartenverbreitung und Standorteig- BOX GEP (1976) Science and statistics. J Am Stat Assoc 71: nung. In: Pluess AR, Augustin S, Brang P, editors. Wald im Kli- 791–799. mawandel. Grundlagen für Adaptationsstrategien. Bern: BUGMANN H, HUBER N (2020) Entwicklung von Mischbeständen Haupt. pp. 199–221. mit komplexer Struktur im Klimawandel. Schweiz Z Forstwes 171: 133–141. doi: 10.3188/szf.2020.0133 Des modèles? Je n’en ai pas besoin. Models? I don’t need models. Modélisation? Je n’en fais pas – ou peut- Modeling? I don’t – or maybe I do? être que si? Très peu de gens se décrivent spontanément comme des mo- Very few people would spontaneously describe themselves délisateurs. Les modèles sont souvent considérés comme ex- as modelers. Often, models are seen as extremely compli- trêmement compliqués, peu utiles et peu pratiques. Nous cated, not very useful and not practical. We put these (pre-) mettons ces préjugés à l’épreuve et montrons que les mo- judgments to the test and show that models are indispensa- dèles sont indispensables dans notre vie quotidienne et nous ble in our everyday life and enable us to make decisions permettent de prendre des décisions rapidement sans trop y promptly without pondering over them for too long. Based réfléchir. Sur la base d’une simple décision, nous expliquons on a simple decision, we explain the typical process of model le processus typique de construction d’un modèle. Si les mo- building. If models are already indispensable in everyday life, dèles sont indispensables dans la vie quotidienne, cela est en- this is even more the case in the forest management and in core plus vrai dans la gestion et la recherche forestières. Les forest research. Forest models such as the normal forest or modèles forestiers tels que la forêt normale ou les tables de the yield tables have always formed the backbone of sustain- production ont toujours constitué l’épine dorsale des inter- able interventions. Global trends and climatic changes of the ventions durables. Les tendances mondiales et les change- last 50 to 70 years require dynamic, climate-sensitive forest ments climatiques des 50 à 70 dernières années exigent des models to answer questions about the future development modèles forestiers dynamiques et intégrant les variations cli- of forests, tree species, carbon sinks, wood use potentials, matiques pour répondre aux questions sur le développement damages and dangers and to analyze options for action. How- futur des forêts, les espèces d’arbres, les puits de carbone, le ever, each of these questions requires a specific model or potentiel d’exploitation de bois, les dégâts et les dangers et model group. Based on six specific questions, we present for- pour analyser les options d’action. Toutefois, chacune de ces est models available in Switzerland that are suitable for an- questions nécessite un modèle ou un groupe de modèles spé- swering these questions. cifiques. Sur la base de six questions spécifiques, nous pré- sentons des modèles forestiers disponibles en Suisse qui per- mettent de répondre à ces questions. Schweiz Z Forstwes 171 (2020) 3: 110–115 EDITORIAL 115 pp2011_Thürig.indd 115 21.04.20 08:17
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