Nachhaltige Strategien gegen die COVID-19-Pandemie in Deutschland im Winter 2021/2022 - DepositOnce

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Nachhaltige Strategien gegen die
 COVID-19-Pandemie in Deutschland
       im Winter 2021/2022
Viola Priesemann; Eberhard Bodenschatz; Sandra Ciesek; Eva Grill; Emil N. Iftekhar; Christian
Karagiannidis; André Karch; Mirjam Kretzschmar; Berit Lange; Sebastian A. Müller; Kai Nagel;
 Armin Nassehi; Mathias W. Pletz; Barbara Prainsack; Ulrike Protzer; Leif Erik Sander; Anita
            Schöbel; Andreas Schuppert; Klaus Überla; Carsten Watzl; Hajo Zeeb

Verfügbar u.a. via TU Berlin Repositorium: http://dx.doi.org/10.14279/depositonce-12635
Datum dieser Version: 11.11.2021
Dieser Bericht ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 International
License (CC BY 4.0) https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ .

Zitiervorschlag: Priesemann, V. et al., Nachhaltige Strategien gegen die
COVID-19-Pandemie in Deutschland im Winter 2021/2022, Positionspapier vom
11.11.2021.

Zusammenfassung
Seit Juli 2021 ist auch in Deutschland die Delta-Variante des SARS-Coronavirus-2
(SARS-CoV-2) dominant. Sie ist deutlich ansteckender als die bisher bekannten Varianten.
Das bedeutet ein hohes Risiko für Ungeimpfte, sich anzustecken. Dazu kommt, dass der
Impfschutz ohne Dritt-Impfung (“Booster”) mit der Zeit kontinuierlich nachlässt. Nach fünf
Monaten sinkt der Schutz gegen Ansteckung von einem Faktor von etwa 10 auf einen
Faktor 2-3. Dadurch tragen aktuell nicht nur die ungeimpften Personen zur Ausbreitung
des Virus bei, sondern auch jener Teil der Bevölkerung, bei dem die Impfung schon länger
zurückliegt. Zusammen mit der Saisonalität schlägt sich das in einem rapiden Anstieg der
Inzidenzen nieder.

Die aktuelle Situation ist dadurch sehr kritisch. Die exponentiell steigenden Inzidenzen
sind direkt mit der Belegung auf den Intensivstationen gekoppelt. Um einer dauerhaften
Überlastung der Intensivstationen entgegenzuwirken, ist insbesondere das Impfen und die
Verbesserung des Impfschutzes durch eine Dritt-Impfung nachhaltig wirksam. Impfungen
haben zwei Schutzwirkungen: Sie schützen die geimpfte Person vor schwerer Erkrankung
und ihre Umgebung vor einer Übertragung. Mit jeder Verbesserung des Impfschutzes wird
also sowohl die Ausbreitung als auch die Wahrscheinlichkeit eines schweren Verlaufes
reduziert. Das Boostern und das Schließen der Impflücken ist deswegen extrem hilfreich.
Aktuell stehen Impfstoffe in ausreichender Menge zur Verfügung. Neu auf den Markt
kommende Impfstoffe, die zu den “klassischen” Protein-Impfstoffen zählen, könnten das
weiter unterstützen, besonders bei Personen, die den bisherigen Impfstoffen kritisch
gegenüberstehen. Besonders bei den zuerst Geimpften, d.h., den Personen, die durch ein
fortgeschrittenes Alter und eine Grunderkrankung ein erhöhtes Risiko eines schweren
Verlaufs haben, ist der Schutz inzwischen deutlich niedriger, und dadurch wird auch die
Belastung der Krankenhäuser durch diese Gruppe wieder zunehmen. Eine rasche
Dritt-Impfung dieser recht großen Gruppe, sowie all jener, die Kontakte zu vulnerablen
Personen haben, reduziert die erwartete Belastung des Gesundheitssystems deutlich.

Eine deutliche Reduktion der Infektionsdynamik wird aber erst mit Hilfe wirklich
flächendeckender Dritt-Impfungen erreicht werden können. Nötig ist hierzu allerdings eine
erhebliche Beschleunigung des Impftempos für die Dritt-Impfungen: Da seit Ende Mai ca.
7 % der Bevölkerung pro Woche zweit-geimpft wurden, wäre nun die gleiche
Impfgeschwindigkeit bei der Dritt-Impfung 5-6 Monate später möglich und sinnvoll.
Simulationen zeigen, dass eine Booster-Kampagne mit dieser Impfgeschwindigkeit bereits
nach einem Monat erste Wirkung zeigen wird.

Bis ein ausreichender Teil der Bevölkerung geboostert und geimpft ist, bedarf es in der
aktuellen Situation zudem deutlicher und wirksamer Maßnahmen zur Überbrückung, wenn
die Intensivstationen nicht stark überlastet werden sollen. Hier sind die bekannten
AHA+LA Regeln, sowie konsequent durchgesetzte und flächendeckende Regeln und
Testkonzepte im Arbeits- und Freizeitbereich wichtig und hilfreich. Eine vermehrte Testung
als alleinige Maßnahme wird zur Durchbrechung der beginnenden Winterwelle wohl nicht
reichen. Die Wirksamkeit möglicher Maßnahmen beschreiben wir im Detail im Text.
Jedoch sind das nur Überbrückungsmaßnahmen, da sie das Problem der zu hohen
Ausbreitungsgeschwindigkeit nicht direkt adressieren, sondern es stattdessen der
“natürlichen Immunisierung” durch Infektion überlassen. Die “natürliche Immunisierung”
schreitet jedoch deutlich langsamer voran als das Impfen es könnte, und ist auch mit einer
erheblichen Krankheitslast verbunden. Insofern erscheint ein schnelles und umfassendes
Impfen und Boostern als die wirksamste Methode um die aktuelle Welle bald zu brechen
und das Pandemiegeschehen nachhaltig zu kontrollieren.

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Einleitung
Der Winter steht vor der Tür. Im Vergleich zum vergangenen Jahr sind wir in einem
wesentlichen Punkt besser aufgestellt: Wir haben sehr wirksame Impfstoffe zur Verfügung,
die Mehrzahl der Erwachsenen ist geimpft oder genesen. Trotzdem steigen die Fallzahlen
derzeit wieder stark an. Woran liegt das? Was bedeutet das für die kommenden Monate?
Und wie können wir damit umgehen? Wir wissen inzwischen wesentlich mehr über das
Virus und seine Ausbreitung. Trotzdem gibt es eine Reihe von Missverständnissen und
Mythen. Wir möchten deswegen im Folgenden einige der Missverständnisse aus dem
Weg räumen und den aktuellen Stand des Wissens zusammenfassen. Auf dieser Basis
besprechen wir mögliche Szenarien und diskutieren dann einige ausgewählte Werkzeuge,
um gut über den Winter zu kommen.

                                         Faktengrundlage
Inzidenz
Bisher war in Deutschland nur ein kleiner Teil der Bevölkerung mit SARS-CoV-2
infiziert. Um abzuschätzen, wie sich die Pandemie entwickelt, ist es wichtig zu wissen,
wie viele Menschen schon COVID-19 hatten. Rund 5,5 % der Bevölkerung hatten eine
bestätigte SARS-CoV-2 Infektion. Berücksichtigt man die unentdeckten Fälle, dann hatten
rund 10-15 % der Bevölkerung direkten Kontakt mit dem Virus.12 Das bedeutet gleichzeitig,
dass man im eigenen Familien- und Freundeskreis wahrscheinlich nur wenige Personen
kennt, die infiziert waren, einen schweren Verlauf hatten oder verstorben sind. Dadurch
entsteht manchmal der Eindruck, die Pandemie sei weit weg. Aber genau das ist zu
erwarten: Die Wahrscheinlichkeit nach einer Infektion an COVID-19 zu versterben, ist in
Deutschland etwa 1 %. Diese 1 % sind auch die Wahrscheinlichkeit für eine 60-jährige
Person, nach einer Infektion an COVID-19 zu versterben. Hat eine Person also 100
Freunde und Bekannte, dann sind darunter typischerweise 10 Infizierte, und im
Erwartungswert 0,1, also meist keine verstorbene Personen. Viele haben aber von
Freunden gehört, dass in deren Familien- oder Freundeskreis jemand verstorben ist.
Nimmt man an, dass die “Freunde von Freunden” 10.000 Menschen sind, dann erwartet
man in dieser Gruppe 10 Todesfälle. Hätte man die Pandemie im letzten Winter durch

1
  Gornyk et al, Deutsches Ärzteblatt 2021, https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=221932:
Die Zahl unentdeckter Infektionen war in der ersten Welle etwa 3-6 mal so hoch wie die Zahl der bestätigten Infektionen. In
den darauffolgenden Monaten wurde die Teststrategie deutlich ausgeweitet. Seit Sommer 2020 ist der Anteil unentdeckter
Infektionen deshalb deutlich geringer: Im Mittel nimmt man aktuell an, dass ⅓ bis ½ der Infektionen unentdeckt bleibt; bei
hoher Inzidenz ist diese sogenannte Dunkelziffer etwas höher, bei niedriger auch eher geringer.
2
  https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/Ausgaben/37_21.pdf?__blob=publicationFile

                                                                                                                              2
deutliche Kontaktbeschränkungen und Vorsichtsmaßnahmen nicht so stark abgeschwächt,
hätte es - ähnlich wie in England - deutlich mehr Todesfälle gegeben.

Immunisierung der Bevölkerung und “Herdenimmunität”. Zu Beginn der Pandemie
sind wir davon ausgegangen, dass der R-Wert unter Eins sinken wird, wenn ungefähr 70%
der Bevölkerung immun sind. Das wird manchmal auch als “Herdenimmunitätsschwelle”
bezeichnet. Warum ist das jetzt doch nicht der Fall? Der Grund liegt darin, dass die jetzt
vorherrschende Delta-Variante sehr viel ansteckender ist als die Ursprungsvariante zu
Beginn der Pandemie und dass auch Geimpfte oder Genesene - wenn auch seltener -
sich noch infizieren und das Virus weitergeben können. Es müssen also deutlich mehr
Personen immun sein (sei es durch Impfung oder nach einer Infektion), um auch ohne
Aufrechterhaltung von zusätzlichen Maßnahmen die Inzidenz niedrig zu halten.
Diese Situation hat weitreichende Konsequenzen. Zunächst betrifft das die Ungeimpften.
Denn die meisten aus dieser Gruppe werden sich unweigerlich anstecken. Sind weiterhin
20-30% der Bevölkerung nicht geschützt, kommt es in dieser Gruppe zu entsprechend
vielen schweren Verläufen und Todesfällen. Zudem bleibt das Gesundheitssystem wegen
COVID-19 dauerbelastet (und je nach zeitlichem Verlauf auch überlastet), so dass auch
die Versorgung aller anderen Patient*innen eingeschränkt wird. Spätestens bei einer
deutlichen Überlastung der Krankenhäuser werden weitergehende Einschränkungen
notwendig - mit den bekannten Konsequenzen für unsere Gesellschaft.

Schutz nach durchgemachter Infektion hat in Deutschland bisher nur geringfügig
zur Herdenimmunität beigetragen. Die heftigen Infektionswellen während der letzten ca.
1,5 Jahre haben die Krankenhäuser erheblich belastet und in dieser Zeit regional zu einer
deutlichen Übersterblichkeit geführt - obwohl sich nur 10-15 % der Bevölkerung infiziert
haben (siehe oben). Das zeigt, dass eine sogenannte “natürliche Immunisierung” der
Bevölkerung - also eine Immunisierung als Folge einer SARS-CoV-2-Infektion - keine
realistische Option zur Erreichung einer Herdenimmunität gewesen wäre. Hingegen
können wir mit Impfungen 5 % der Bevölkerung je Woche immunisieren. Für die Mehrheit
derjenigen Menschen, die sich dauerhaft gegen eine Impfung entscheiden, wird es
unweigerlich zu einer Infektion kommen, die mit den bekannten altersentsprechenden
Risiken für schwere Verläufe, Komplikationen und Tod einhergeht. Eine Überlastung des
Gesundheitssystems ist damit in erheblichem Maße davon abhängig, wie viele Personen
geimpft sind und in welchem Zeitraum sich die bisher ungeimpften Menschen - und
insbesondere Ungeimpfte über 60 Jahre - infizieren.

Inzidenzen und Neuaufnahmen auf die Intensivstationen sind weiterhin sehr eng
korreliert. Aktuell werden etwa 0,8-0,9 % aller positiv getesteten Personen
intensivpflichtig. Dieser Faktor ändert sich nur langsam mit der Zeit und lässt sich gut aus
den Daten schätzen. Dadurch ist die Inzidenz ein hilfreicher Frühwarnindikator, selbst
wenn man die Dunkelziffer oder Impfquote nicht ganz genau kennen sollte.

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Eingeschränkte Kapazität auf Intensivstationen
Hohe Inzidenzen werden die Intensivstationen überlasten. Trotz des Impffortschritts
gibt es noch mehr als 3 Millionen Menschen über 60 Jahre und über 11 Millionen zwischen
18 und 59, die nicht geimpft sind. Ein kleiner Anteil hiervon ist genesen. Allerdings lässt
die Immunität sowohl bei Geimpften als auch bei Genesenen mit der Zeit nach. Dadurch
besteht eine sehr hohe Anzahl Menschen, für die eine SARS-CoV-2-Infektion gefährlich
ist. Im Falle einer Infektion muss zum Beispiel eine ungeschützte Person im Alter von 60
mit 2-3 % Wahrscheinlichkeit auf einer Intensivstation behandelt werden. Eine Person, die
20 Jahre jünger ist, hat ein knapp 10 mal geringeres Risiko. Wenn sich alle bisher
ungeschützen Menschen in diesem Winter infizieren würden, hätten wir mindestens 3 mal
mehr Personen auf den Intensivstationen als es im gesamten letzten Winter der Fall war.
Gleichzeitig sind die Reservekapazitäten auf den Intensivstationen dadurch, dass das
Personal dauerhaft überlastet ist, die Kliniken verlassen hat oder die Arbeitszeit reduziert
hat, in diesem Winter deutlich geringer als im letzten Winter. Durch Personalmangel und
Meldekorrekturen stehen rund 4000 Betten weniger zur Verfügung als im letzten Jahr.
Wenn die aktuelle Welle also nicht abgebremst wird, dann werden die Intensivstationen für
Wochen überlastet und viele andere, notwendige Operationen und Behandlungen müssen
verschoben werden.

Die Intensivstationen haben wenig freie Kapazitäten. Schon im “Normalbetrieb”, also
auch ohne COVID-19, sind die Intensivstationen ausgelastet. In Deutschland hat eine
typische Intensivstation im Median 12 Betten. Daher ist eine Belegung von mehr als 90 %
als kritisch zu betrachten, denn 90 % Belegung heißt, dass typischerweise nur noch ein
betreibbares Bett frei ist. Diesen Puffer braucht es mindestens, damit unvorhersehbare
und dringende Fälle wie z.B. Unfallopfer und Menschen mit akutem Herzinfarkt oder
Schlaganfall sofort versorgt werden können. Muss ein Krankenhaus aus
Kapazitätsgründen einen Notfall ablehnen, kann das Verzögerungen in der
Akutversorgung und einen langen Transport bedeuten. Regionale Überlastungen
verschärfen das Problem.

Im Jahr 2020 gab es Engpässe auf den Intensivstationen. Es wurde berichtet, dass im
Jahr 2020 im Jahresmittel nur 3 % der Intensivbetten durch COVID-19 Patient*innen
belegt waren. Dieser Durchschnittswert ist jedoch irreführend. Während es in den
Monaten Januar, Februar und Mai bis Oktober kaum intensivpflichtige Fälle gab und im
März und April nur das südliche Bayern und Baden-Württemberg betroffen waren, stiegen
die Belegungszahlen ab November überall dramatisch an. Die Extrembelastung der
Monate November und Dezember rechnerisch auf das ganze Jahr 2020 zu verteilen, ist
also für die Beurteilung des derzeitigen Geschehens wenig hilfreich. Beim aktuell sehr
dynamischen Infektionsgeschehen drohen sehr viele Patient*innen in kurzer Zeit
anzufallen.

Der Pflegemangel bestimmt den Engpass auf den Intensivstationen, nicht ein
Bettenmangel. Ein Bett auf einer Intensivstation ist nur betreibbar, wenn ausgebildetes

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Fachpersonal zur Verfügung steht. Der Personalmangel auf den Stationen stellt den
eigentlichen Engpass dar und ist nicht schnell und einfach ausgleichbar. Die
Intensivpflegeausbildung ist aufwendig und langwierig. Hinzu kommt, dass ein
signifikanter Teil des Personals durch die Dauerbelastung ausgebrannt ist. Insofern ist es
nicht zielführend, “freie” Betten zu zählen. Es geht in erster Linie darum, wieviel
Patient*innen langfristig ohne Überlastung des Personals betreut werden können.

Grippe, RSV und andere Erreger bringen zusätzliche Belastung. Im Winter 2020/21
gab es aufgrund der Maßnahmen gegen die Ausbreitung von SARS-CoV-2 kaum
Infektionen mit Influenza oder mit anderen Atemwegserregern, die potenziell schwere
Erkrankungen verursachen können. In der Spitze der letzten starken Influenzawelle 2018
lagen zeitgleich etwa 3.000 Patient*innen auf der Intensivstation. Sollte sich dies im Winter
2021/22 wiederholen, käme dies noch zu der aktuell stark steigenden Zahl an COVID-19
Erkrankten hinzu.
Für Frühgeborene, Säuglinge und Kleinkinder führt eine Infektion mit dem
Respiratorischen Synzytial Virus (RSV) und anderer Erreger aus der Gruppe der
Paramyxoviren und Picornaviren relativ häufig zu symptomatischen und auch schwereren
Verläufen mit notwendiger Sauerstoff- oder sogar Intensivbehandlung. Da RSV- und
andere Infektionen der Säuglinge und Kinder im letzten Jahr nicht stattgefunden haben,
holen jetzt viele Kinder Erstinfektionen nach.3 Dies führt bereits aktuell zu einer sehr
deutlichen Belastung der pädiatrischen Gesundheitssysteme, während der Effekt von
COVID-19 hier geringer ist.
Die AHA+LA Maßnahmen, die gegen die Ausbreitung von SARS-CoV-2 schützen,
reduzieren noch effektiver die Ausbreitung von Influenza, RSV und anderer Viren und
können diese Wellen auch im kommenden Winter reduzieren oder - wie in 2020/21
weltweit - sogar komplett vermeiden. Eine Erstinfektion mit RSV lässt sich dabei - anders
als die Grippeerkrankungen dank Impfung - nicht grundsätzlich verhindern, sondern nur
verzögern. Genau da setzen die AHA+LA Maßnahmen an.

Ausbreitung
Der doppelte Nutzen der Impfung. Impfungen gegen COVID-19 schützen nicht nur die
geimpfte Person vor Ansteckung und schwerer Erkrankung. Sie reduzieren auch die
Übertragung des Virus von Geimpften auf deren Kontaktpersonen, da geimpfte Personen
sich seltener anstecken und typischerweise für kürzere Zeit infektiös sind. Es ist für die
gesamte Übertragungskette, und für die Verhinderung der Überlastung des
Gesundheitssystems wichtig, beide Schutzwirkungen zu beachten.

Der Schutz gegen Ansteckung ist sehr gut, lässt aber mit der Zeit nach. Anfangs
beträgt der Schutz durch Impfung rund 90 %, das heißt, eine geimpfte Person hat eine
circa 10 mal geringere Wahrscheinlichkeit, sich selbst anzustecken. Selbst wenn sich die

3
  Buda et al, ARE-Wochenbericht zur 43. Kalenderwoche 2021,
https://influenza.rki.de/Wochenberichte/2021_2022/2021-43.pdf

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geimpfte Person ansteckt, ist das Risiko, dass diese das Virus auf eine andere Person
überträgt, nochmal zusätzlich reduziert. Insgesamt ergibt sich dadurch für kürzlich
Geimpfte eine ca. 20-fach geringere Wahrscheinlichkeit das Virus zu übertragen als für
ungeimpfte Personen. Das ist sehr viel. Nach rund 5 Monaten liegt der Schutz durch die
Impfung noch bei 50 % bis 70 %, die Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken ist also nur
noch um etwa einen Faktor 2-3 reduziert. (Die genauen Werte hängen von Impfstoff, Alter,
Virusvariante und anderen Aspekten ab.) Das Nachlassen des Impfschutzes ist einer der
Gründe, warum die Fallzahlen derzeit steigen. Auch der Schutz gegen einen schweren
Verlauf lässt mit zunehmendem Abstand zur Impfung nach, wenn auch auf höherem
Niveau (anfangs rund 98 % bei Comirnaty, nach 5 Monaten 90 %, er sinkt also von
Schutzfaktor 50 auf einen Schutzfaktor von 10).4 Dieser Schutz kann durch eine dritte
Impfung deutlich erhöht werden. Auch natürliche Infektionen nach einer Impfung können
den Schutz verbessern. Genesene Personen haben wahrscheinlich einen ähnlich guten
Schutz vor einer Infektion wie Geimpfte. Durch eine Impfung von Personen, die bereits
eine SARS-CoV-2-Infektion durchgemacht haben, lässt sich der Schutz nochmal steigern,
so dass dieser dann auch den Schutz bei vollständig geimpften Personen deutlich
übersteigt.

Ungeimpfte Personen, aber auch diejenigen mit nachlassendem Immunschutz,
tragen zur Pandemie bei. Keine Impfung schützt zu 100 %, auch die gegen COVID-19
nicht. Das ist genauso wie kein Medikament mit 100 % Sicherheit wirkt, oder – an einem
Alltagsbeispiel verdeutlicht – der Airbag im Auto nicht 100 % vor einer Verletzung im Fall
eines Unfalls schützt. Es ist möglich, dass eine geimpfte Person sich ansteckt, wenn auch
weniger wahrscheinlich als bei einer ungeimpften Person. Die Zahl der
Durchbruchsinfektionen wird häufig als ein Versagen der Impfung interpretiert. Hierbei wird
jedoch nicht beachtet, dass die Gruppe der Geimpften deutlich größer als die Gruppe der
Ungeimpften ist. Die Schutzwirkung der Impfung ist weiterhin erheblich. Laut
Robert-Koch-Institut beträgt der Schutz vor Krankenhausaufnahme in der Kalenderwoche
40-43 2021 ca. 89 % (Alter 18-59 Jahre) bzw. ca. 85 % (Alter ≥60 Jahre) und der Schutz
vor Behandlung auf Intensivstation ca. 94 % (Alter 18-59 Jahre) bzw. ca. 90 % (Alter ≥60
Jahre).5 Wenn sich eine ungeimpfte Person infiziert, führt das im Mittel zu einer etwa 3-10
mal höheren Belastung der Krankenhäuser, als wenn sich eine Person trotz Impfung
infiziert. Man sieht das auch in den nach Impfstatus separat dargestellten aktuellen
Inzidenzen. Deshalb sprechen Krankenhäuser auch manchmal von einer Pandemie der
Ungeimpften. Diesen Effekt sieht man in allen Altersklassen.
Gleichzeitig würde die jüngere Hälfte der Bevölkerung die Intensivstationen alleine nicht
überlasten, da die Wahrscheinlichkeit, schwer zu erkranken, je 20 Jahre an Alter auch um
einen Faktor 3-10 zunimmt. Für die Krankenhausbelastung sind 20 Jahre
Altersunterschied also ähnlich wie der Unterschied zwischen geimpft und nicht geimpft.
Könnte man daraus schliessen, dass es egal ist, ob jüngere Personen sich infizieren?

4
  Barda et al, The Lancet 2021, https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)02249-2/fulltext und
Tartof et al, The Lancet 2021, https://doi.org/10.1016/S0140-6736(21)02183-8
5
  Robert-Koch-Institut, Wöchentlicher Lagebericht vom 04.11.2021,
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Wochenbericht/Wochenbericht_2021-11-0
4.pdf?__blob=publicationFile
Diese Zahlen gelten spezifisch für diese Kalenderwochen.

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Abgesehen vom ethischen Aspekt, dass Kinder unter 12 Jahren noch keine gute
Möglichkeit haben sich zu schützen, ist ein zweiter Aspekt sehr wichtig: Für die
Ausbreitung, und damit für die Inzidenz in allen Altersgruppen, spielt die Impfung eine
entscheidende Rolle.

Ein Stabilisieren der Fallzahlen ist bei hoher Inzidenz noch schwieriger als bei
niedriger Inzidenz. Manchen Menschen denken intuitiv, dass wir mehr Kontakte (oder
“Freiheiten”) haben können, wenn wir in Kauf nehmen, dass die Krankenhäuser voll sind.
Das gängige Argument ist, dass man für den Schutz einiger Menschen nicht solche
belastenden Einschränkungen akzeptieren sollte. Hier liegt aber ein Missverständnis vor,
solange eine Überlastung der Krankenhäuser droht. Lässt man die Fallzahlen steigen, bis
die Krankenhäuser überlastet sind, muss man spätestens dann den R-Wert auf 1
stabilisieren. Das Stabilisieren braucht bei hohen Fallzahlen genauso viele
Vorsichtsmaßnahmen, wie bei niedrigen Fallzahlen, solange die “natürliche
Immunisierung” nur sehr wenig beiträgt. Es geht dann darum, dass der effektive R-Wert 1
sein muss, also dass jede Person nur so viele Kontakte hat, dass maximal eine Person
infiziert wird, sollte die Person unwissentlich infiziert sein.

SARS-CoV-2 wird aller Wahrscheinlichkeit nach endemisch. Über kurz oder lang wird
also im Prinzip jede Person mit dem Virus in Kontakt kommen. Die Entscheidung, die jede
Person trifft, ist, ob sie sich vorher durch Impfung schützt oder nicht. Dadurch, dass bisher
nicht genug Menschen geschützt sind, kann man die Vorsichtsmaßnahmen noch nicht
vollständig aufheben, ohne die Krankenhäuser deutlich zu überlasten.
Muss also in Zukunft jeden Herbst aufs Neue geimpft werden? Das wissen wir noch nicht.
Es hängt davon ab, wie lange der Schutz gegen einen schweren Verlauf anhält und ob die
Gefahr besteht, dass zu viele Personen gleichzeitig erkranken.

                                     Szenarien
Zur Pandemiebekämpfung stehen inzwischen viele Instrumente zur Verfügung, welche
weiter unten im einzelnen diskutiert werden. Im Folgenden werden daraus einige mögliche
Szenarien entwickelt, die exemplarisch mögliche Kombinationen von Instrumenten und
daraus resultierende Konsequenzen aufzeigen.

Szenario “Weiter so!”
Annahmen: Die Inzidenz steigt weiter mit einem R-Wert von 1,2 und bremst sich nur sehr
langsam durch weitere freiwillige Einschränkungen und vermehrte Vorsicht einzelner
Menschen ab. Es gibt keine anderen Maßnahmen als im Oktober 2021 in Deutschland.
Das Impfen und “Boostern” durch Dritt-Impfungen schreitet mit der aktuellen Rate von
knapp 1,5 % geimpften Personen pro Woche voran.
Konsequenzen: Die Wochennzidenz steigt auf viele hundert je 100.000. Die Impf- bzw.
Boosterquote ist nach 7 Wochen um +10 % höher. Die “natürliche Immunisierung” erreicht
insgesamt nach sieben Wochen rund +10 % (variabel, abhängig von der Inzidenz). Diese

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verbesserte Immunität (+20 %) in der Bevölkerung wird durch eine nachlassende
Immunantwort in den anderen Teilen der Bevölkerung reduziert. Die Immunität ist also
insgesamt etwas verbessert. Ob sie ausreicht, um die Infektionsdynamik deutlich zu
reduzieren, wird regional verschieden sein. In Regionen, die schon jetzt 80 % Geimpfte
haben, könnte es ausreichen. Trotzdem sind die Krankenhäuser vor allem wegen der
vulnerablen und ungeschützten Personen überlastet. Es kommt lokal wahrscheinlich zu
Verzögerungen und Engpässen bei der Krankenversorgung und Versorgung der Notfälle.
Spätestens dann muss man über eine Änderung der Strategie nachdenken.
Kurz: Nicht-Entscheiden ist auch eine “Strategie” und würde wahrscheinlich zu einer
Überlastung des Gesundheitssystems führen.

Szenario “Die Belastungsgrenze des Gesundheitssystems”
Annahmen: Als Maßgabe für die Maßnahmen wird die Belastungsgrenze des
Gesundheitssystems genutzt. Das heißt, zusätzlich zu den Hygienemaßnahmen wie
AHA+LA, 2G/3G gibt es weitere Einschränkungen, evtl. lokal angepasst, wenn das
Gesundheitssystem überlastet ist. Tritt eine Entlastung ein, werden diese Maßnahmen
wieder gelockert.
Konsequenzen: Die Wocheninzidenz steigt weiter an, bis die zusätzlichen Maßnahmen
ihre Wirkung zeigen, kann aber schlussendlich stabilisiert und evtl. auch reduziert werden.
Die Inzidenz liegt typischerweise bei einigen hundert Infizierten je 100.000. Es gibt einen
gewissen Booster- und Impffortschritt, sowie etwa 1 % natürliche Immunisierung je
Woche. Ist das Boostern und Impfen zügig, kann es nach einigen Wochen ausreichen, um
die Maßnahmen (regional) etwas zu lockern. Die Krankenhäuser sind deutlich und
langfristig belastet und es kann lokal zu Engpässen kommen. Die genaue Entwicklung
hängt stark von der Umsetzung der Maßnahmen ab. Wenn die Prämisse ist, erst am Limit
der Gesundheitsversorgung deutlich die Maßnahmen zu verstärken, dann ist die
Regulierung schwierig, da es keinen Spielraum gibt.
Kurz: Insbesondere der Impf- bzw Boosterfortschritt bestimmt die notwendigen
Maßnahmen. Bis die Immunisierung ausreichend hoch ist, können verstärkte Maßnahmen
und Teststrategien die Inzidenz stabilisieren. Die Belastung im Gesundheitssystem ist
jedoch beträchtlich und wird wegen der großen Anzahl ungeschützter Personen, der
langen Liegezeiten gerade von jüngeren Patient*innen und wegen der nur langsam
nachlassenden Inzidenz auch noch eine Weile hoch bleiben.

Szenario: “Impf- und Booster-Offensive”
Grundlage: Da die Wirkung der Impfung gegen einen schweren Verlauf und gegen
Ansteckung mit der Zeit nachlässt, sind derzeit insbesondere die vulnerablen Personen,
die früh geimpft wurden, nicht mehr so gut geschützt. Eine Dritt-Impfung erhöht den
Schutz gegen schweren Verlauf und Ansteckung nochmal um ca. einen Faktor 10. Das ist
beträchtlich. In Israel haben sich rund 50 % der Menschen boostern lassen. Das war
ausreichend, um die Welle dort zu brechen. In Deutschland könnte man sehr
wahrscheinlich eine ähnliche Wirkung erzielen. Je schneller man also boostert, desto
früher kann die Welle gebrochen werden. Die aktuelle Impfgeschwindigkeit reicht dafür bei
weitem nicht aus. Würde es gelingen, rund 7 % der Bürger*innen pro Woche zu boostern,

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wären vor Weihnachten 50 % der Menschen wesentlich besser geschützt. Solange nicht
ausreichend Impfmöglichkeiten bestehen, empfiehlt die STIKO eine klare Priorisierung.
Zur Beschleunigung der Impfungen helfen sehr niedrigschwellige Impfangebote, mobile
Impfteams, Impfen bei Betriebsärzten, sowie möglicherweise Impfangebote in Geschäften
oder Apotheken, begleitet von klarer Kommunikation auch über lokale Influencer. Um 50
% zügig zu erreichen, müsste die sechs-Monatsgrenze der Auffrischung weniger strikt
ausgelegt werden. Parallel zum Boostern kann auch die noch nicht geimpfte Bevölkerung
niedrigschwellig erreicht werden.
Wirkung: Das Boostern von 50 % der Bevölkerung kann einen wesentlichen Beitrag dazu
leisten, die Welle aller Voraussicht nach zu brechen. Die Wirkung wird sich sukzessive in
der Inzidenz und auch der Aufnahme auf die Intensivstation zeigen. Der Immunschutz ist
dann hoch genug, um mit Basismaßnahmen über den Winter zu kommen.
Kurz: Boostern ist eine sehr wirksame Maßnahme zum Brechen der aktuellen Welle.

Anmerkungen
In den Szenarien zeigt vor allem das Impfen und Boostern eine nachhaltige Wirkung.
Andere Maßnahmen dienen der Überbrückung. Hierbei ist zu beachten:
   ● Die bekannten AHA+LA Maßnahmen erzielen richtig durchgeführt eine gute
      Wirkung, aber erscheinen alleine derzeit nicht ausreichend.
   ● 2G und 3G Beschränkungen werden alleine nicht reichen, wenn sie nicht durch
      weitere Maßnahmen unterstützt werden. Grund sind u.a. die privaten Besuche und
      Haushaltkontakte, welche nicht unter 2G/3G fallen. In Österreich wird diskutiert, ab
      einer bestimmten Inzidenz auch private Besuche für Ungeimpfte weitgehend zu
      unterbinden; in Simulationen zeigt dies sehr gute Wirkung. Ob dies politisch
      sinnvoll und/oder staatlich durchsetzbar ist, können wir nicht beurteilen.
   ● Regelmäßiges massives Testen müsste in der Größenordnung von einem Test pro
      Person pro Woche stattfinden und eine Kontaktnachverfolgung und Quarantäne
      beinhalten, um die Ausbreitung deutlich zu reduzieren. Dies ist aber logistisch so
      aufwendig und kostenintensiv, dass eine Umsetzung nicht realistisch erscheint. Ein
      gezielter Einsatz im Verdachtsfall, vor Treffen mit vulnerablen Personen, in großen
      Gruppen oder in Gruppen mit hoher Übertragung (Schüler*innen ohne Impfschutz)
      kann diese Personen schützen.
   ● Falls es notwendig sein sollte, eine akute Überlastung des Gesundheitssystems zu
      reduzieren, kann ein “Not-Schutzschalter” notwendig und hilfreich sein (siehe
      unten). Es ist wichtig, ihn frühzeitig zu planen und so stark wie möglich
      durchzuführen, damit sich der Aufwand überproportional auszahlt. Im Prinzip kann
      er auch angewendet werden, um präventiv die Last im Gesundheitssystem zu
      reduzieren. Ein halbherziger Not-Schutzschalter verfehlt seine Wirkung.

                                                                                        9
Pandemie-Instrumentarium
                              für den kommenden Winter
Das wirkungsvollste Mittel gegen das Virus, das wir haben, ist die Impfung. Je mehr
Menschen sich impfen bzw. Booster-impfen lassen, umso weniger wird sich das Virus
verbreiten und desto weniger werden die Intensivstationen belastet sein. Damit würden
umso weniger andere Maßnahmen und Einschränkungen nötig sein. Ist die Impflücke
jedoch groß, sind Maßnahmen unumgänglich, um das Gesundheitswesen nicht zu
überlasten. Wir erläutern daher im Folgenden eine Übersicht an Maßnahmen und machen
deren Mechanismen und Wirksamkeit verständlich. Die meisten Maßnahmen sind
bekannt, und wir erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Wir betonen, dass diese Mechanismen und ihre Wirksamkeit stark davon abhängen, wie
gut sie umgesetzt werden (können). Ob eine bestimmte verpflichtende Maßnahme
gerechtfertigt ist, muss letztendlich in einer demokratischen Güterabwägung bestimmt
werden. Allen Maßnahmen, die Einschränkung oder Verbot darstellen, sind gleichzeitig ein
Schutz anderer Personen und geben diesen Personen die Freiheit, sich selbst und das
Gesundheitssystem zu schützen.

Impfen und Boostern
Impfen und Boostern ist ein sehr mächtiges Werkzeug zur Vermeidung schwerer
Verläufe. Für die Boosterimpfung sind drei Gruppen besonders wichtig:

       1. Personen mit Immunschwächen. Bei diesen Personen hat die Impfung mitunter
          keine Immunität ausgelöst, so dass durch eine zeitnahe 3. Impfung überhaupt
          erstmal ein Schutz aufgebaut werden muss.
       2. Ältere Menschen, oder Menschen mit bestimmten Risikofaktoren. Nach
          Erkenntnissen aus Israel6 ist für das Risiko an einer Durchbruchinfektion schwer zu
          erkranken das biologische, nicht streng das kalendarische Alter entscheidend.
          D.h., Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen können in einigen Fällen auch
          trotz einer zweifachen Impfung schwer an COVID-19 erkranken. Da eben diese
          vulnerable Gruppe auch als Erste in der Impfkampagne im Frühjahr 2021 geimpft
          wurde, ist eine Boosterimpfung für sie in der aktuellen Situation besonders
          hilfreich.
       3. Beschäftigte im Gesundheitswesen und in Pflegeberufen. Boosterimpfungen in
          dieser Gruppe können die Verbreitung des Virus und damit die Übertragung auf
          die, für die eine Fürsorgepflicht besteht, deutlich reduzieren und sind somit für den
          Schutz der vulnerablen Personen wichtig.

Eine große Studie aus Israel7 hat Personen mit und ohne dritte Impfung verglichen, und
gezeigt, dass sich die Anzahl Hospitalisierungen nach der dritten Impfung nochmal um

6
    Barda et al, The Lancet 2021, https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)02249-2/fulltext
7
    Barda et al, The Lancet 2021, https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)02249-2/fulltext

                                                                                                                        10
einen Faktor von gut 10 reduziert (92 % Wirkung) - im Prinzip in jeder Gruppe. Die
gesamte Anzahl an Hospitalisierungen, die vermieden wird, ist insbesondere bei älteren
Menschen und bei Menschen mit mehreren Risikofaktoren8 hoch9: Personen mit
Risikofaktoren haben ein deutlich über zehnmal größeres Risiko, im Krankenhaus
behandelt werden zu müssen, verglichen mit denen ohne; mit der Anzahl an
Risikofaktoren steigt dieses Risiko deutlich an. Das zeigt deutlich, dass ein Boostern des
älteren Teils der Bevölkerung sowie der Menschen mit Risikofaktoren einen sehr starken
Beitrag zur Entlastung der Krankenhäuser liefern kann. In Deutschland könnte der Effekt
allerdings etwas geringer ausfallen als in Israel, da in Deutschland der Abstand zwischen
erster und zweiter Impfung länger ist. Trotzdem ist von einem sehr starken Effekt
auszugehen.

Boostern ist ein sehr mächtiges Werkzeug zur Eindämmung der Pandemie. Die
Boosterimpfung stellt nicht nur den Schutz, der kurz nach der zweiten Impfung vorhanden
war, wieder her, sondern übertrifft ihn deutlich. Daher sind Personen nach der
Boosterimpfung besser und wahrscheinlich auch länger geschützt. Auch ein Schutz vor
Ansteckung und Weitergabe des Virus ist in der Gruppe mit der Boosterimpfung um einen
Faktor 10 besser als in der Gruppe der zweifach Geimpften. Israel hat mit einem Booster
von 50 % der Bevölkerung die dortige Welle im August sehr zügig und deutlich
zurückgedrängt. Eine konsequente Boosterkampagne kann also auch in Deutschland sehr
wahrscheinlich eine Welle abbremsen, wenn ausreichend viele Menschen zügig erreicht
werden. Allerdings haben wir im letzten Sommer maximal 1 % der Bevölkerung pro Tag
geimpft (Okt/Nov 2021: 0,2 % pro Tag). Es würde also mindestens 7 Wochen dauern, bis
50 % erreicht worden sind. Bis die Krankenhäuser entlastet sind, dauert es entsprechend
länger. Um die Wirkung der Booster zu maximieren, ist es sehr wichtig, zuerst die oben
genannten vulnerablen Gruppen aufzufrischen und insgesamt wieder ein hohes
Impftempo zu erreichen.

Globale Solidarität. Trotz des hohen Nutzens von Boosterimpfungen bleibt es vor allem
wichtig, Ländern, die noch keine hohe Impfrate haben, guten Zugang zu Impfdosen zu
gewähren. Für den solidarischen Erwerb weiterer Impfdosen steht das COVAX-Programm
der Weltgesundheitsorganisation zur Verfügung. Aber auch darüber hinaus gibt es viel zu
tun, um eine gerechtere globale Verteilung von Impfstoffen und anderen Ressourcen zu
erwirken.10

Eine höhere Impfquote kann durch niedrigschwellige Impfangebote und gute
Kommunikation erreicht werden. Neben der Booster-Impfung sollte nicht vergessen
werden, dass eine Steigerung der Impfquote bei den noch nicht Geimpften von großer

8
   Dazu gehören Vorerkrankungen wie z.B. Asthma und Krebs, aber auch Faktoren wie z.B. Schwangerschaft und
Übergewichtigkeit.
9
  Das Risiko einer Hospitalisierung war im Studienzeitraum für die drei Altersgruppen
16–39, 30-69 und 70+ jeweils, 7, 105 und 574 (je 100.000) ohne eine Drittimpfung. Mit Drittimpfung war das Risiko gut einen
Faktor 10 geringer.
Bei Personen mit unterschiedlicher Anzahl Risikofaktoren ist der Effekt ähnlich gross: Mit null oder 1-2 oder 3+
Risikofaktoren war das Risiko 3 bzw. 82 bzw. 504.
10
   Kienzler und Prainsack, Stiftung Entwicklung und Frieden 2021,
https://www.sef-bonn.org/fileadmin/SEF-Dateiliste/04_Publikationen/GG-Spotlight/2021/ggs_2021-02_de.pdf

                                                                                                                        11
Bedeutung ist - insbesondere bei der älteren Hälfte der Bevölkerung. Es wird deutlich,
dass der weitere Zuwachs bei der Impfquote nunmehr sehr langsam ist. Bei der
gegenwärtigen Impfrate ist fraglich, ob diese überhaupt den mit dem Abstand zur Impfung
nachlassenden Schutz vor Infektion kompensieren kann. Zu der aktuell niedrigen Impfrate
haben sowohl eine unterschiedliche Impfbereitschaft in der Bevölkerung als auch Aspekte
der Implementierung der Impfkampagnen beigetragen. Ein Kernaspekt ist es, einen
einfachen und niedrigschwelligen Zugang zu Impfungen auch langfristig zu sichern, samt
einer überzeugenden Informationsstrategie, die der Diversität der Bevölkerung gerecht
wird. Vermehrte Gespräche mit der Hausärztin können offene Fragen klären. Mobile
Impfteams, mehrsprachige Informationen in diversen Informationskanälen und
Zusammenarbeit mit lokalen Institutionen und Influencern, wie religiöse Gemeinden,
Sportvereinen und Hausarztpraxen, sind ein wesentlicher Bestandteil dieser Strategie.
Eine klare Kommunikation ist essentiell und ein Vertrauen in die Regierung und
Wissenschaft hilfreich.

Langfristig ist eine generelle Impfpflicht nicht notwendigerweise zielführend.
Angesichts der Sorge um überfüllte Krankenhäuser ist es verständlich, dass Rufe nach
einer Impfpflicht lauter werden. Damit eine generelle Impfpflicht ihre Wirkung entfaltet, darf
man kaum Ausnahmen erlauben, müssen empfindliche Strafen verhängt werden, und die
Durchsetzung muss flächendeckend funktionieren. Ist dies nicht der Fall, dann läuft man in
der aktuellen polarisierten Situation Gefahr, dass eine generelle Impfpflicht zögerliche
Menschen eher abschreckt, und überzeugte Impfgegner auch nicht erreicht - weil diese
dann lieber die Strafe bezahlen als sich impfen zu lassen. Es ist also unklar, welche
Wirkung eine generelle Impfpflicht hätte. Davon differenziert betrachten muss man eine
Impfpflicht für diejenigen, die sich um vulnerable Gruppen kümmern.

Impfgebot am Arbeitsplatz. Was es bereits heute in bestimmten Institutionen gibt, ist die
Regel, dass nur geimpfte bzw. genesene Personen dort arbeiten dürfen. Dies ist etwa bei
Berufen der Fall, die enge körperliche Nähe zu anderen Menschen benötigen. Das gilt
insbesondere wenn es sich dabei um vulnerable Gruppen handelt, also etwa im
Gesundheits- und Pflegebereich. Diese Erfordernis ist nicht mit einer Impfpflicht
gleichzusetzen. Auch wenn Arbeitgebende Mitarbeiter*innen, die sich nicht impfen lassen
wollen (und nicht anderweitig eingesetzt werden können), kündigen dürfen, darf man
ihnen nicht vorschreiben, sich impfen zu lassen. Das ist ein kleiner, aber wichtiger
Unterschied. Dies bringt erhebliche Herausforderungen für den Zusammenhalt am
Arbeitsplatz und den Zusammenhalt der Gesellschaft mit sich.

Tests
PCR-Tests. PCR-Tests sind nach wie vor die empfindlichsten und spezifischsten Tests auf
SARS-CoV-2. Ein PCR-Test sollte z.B. durchgeführt werden, wenn die Patient*in
symptomatisch ist, unabhängig von vorausgegangener Impfung oder Infektion, oder wenn
die Patient*in Kontakt zu einem bestätigten COVID-19-Fall hatte. Wegen der hohen
Sensitivität, kann PCR-Testung als Präventivmaßnahme vor Treffen Infektionen

                                                                                           12
identifizieren. Wie wirksam die Anwendung von Tests in der Prävention ist, hängt von der
Umsetzung ab. Für PCR-Tests, die nicht älter als 24 Stunden sind, kann man davon
ausgehen, dass in der Praxis grob 90 % der ansteckenden Personen entdeckt werden (je
nach Zeitraum seit Probenahme). Antigen-Schnelltests sind etwas weniger sensitiv. Sie
entdecken rund 50-75 % der Personen, die durch einen PCR-Test entdeckt werden, und
darunter insbesondere diejenigen mit hoher Viruslast. Insbesondere selbst durchgeführte
Schnelltests haben den Vorteil, wenig zu kosten und einfacher verfügbar zu sein.

Antigen-Schnelltests sind nützlich, bieten aber keine vollständige Sicherheit.
Antigen-Schnelltests können nicht alle Infektionen sicher erkennen. Insbesondere zu
Beginn einer Infektion, bei fehlerhafter Durchführung oder asymptomatischer Infektion
steigt das Risiko, dass eine Person ein negatives Testergebnis bekommt, obwohl
tatsächlich eine Infektion vorliegt (falsch-negativ). Die Nutzenden sollte sich daher nie in
falscher Sicherheit wiegen. Dennoch kann man mit Schnelltests bei korrekter Anwendung
im Durchschnitt etwa die Hälfte der infizierten Personen entdecken,11 die auch ein PCR
Test entdecken würde. Bei stark infektiösen und frisch symptomatischen Personen ist die
Entdeckungsrate durch Schnelltests wahrscheinlich sogar höher. Schnelltests eignen sich
also als niedrigschwellige Sicherheitsmaßnahme, um Infektionen zu erkennen, v.a. in
Verdachtsfällen.
Würde theoretisch in der jetzigen Situation jede Person etwa einen Schnelltest pro Woche
machen, dann könnte die Pandemie eingedämmt werden. Das zeigt auch das Beispiel der
Slowakei, wo Massentests eine Prävalenzreduktion von 80 % erreicht haben.12 Zudem
wäre es natürlich notwendig, dass ein möglicherweise positives Ergebnis zeitnah durch
PCR-Tests überprüft wird und die Kontaktnachverfolgung, Isolation und Quarantäne
schnell und zuverlässig durchgeführt wird. Die Kontakt-Nachverfolgung ist allerdings bei
hohen Inzidenzen vom öffentlichen Gesundheitsdienst nicht zu schaffen. Und ein falsch
negatives Ergebnis birgt die Gefahr, dass notwendige Hygiene-Maßnahmen wie das
Tragen einer Maske vernachlässigt werden. Auch scheint etwa die Hälfte der Bevölkerung
selten oder nie einen Test zu machen. Einer der Gründe sind sozioökonomische
Konsequenzen: Wer starke Nachteile am Arbeitsplatz oder im Privatleben befürchtet, hat
einen Anreiz, sich nicht zu testen. Um die Testbereitschaft zu erhöhen, müssen
sozioökonomischen Risiken zum Beispiel durch konsequenten Arbeitnehmer*innenschutz
oder finanziellen Ausgleich verringert werden.

Kosten und Nutzen einer Teststrategie. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis von Tests hängt
von den Kosten eines Tests und der Anzahl entdeckter Fälle ab, die je eingesetztem Test
entdeckt werden. Bei einer Wocheninzidenz von rund 100 je 100.000 erwartet man, dass
maximal einer von 1.000 Tests echt-positiv ist. Diese Werte decken sich mit der Erfahrung
aus der Praxis.13 Setzt man die Kosten pro Test an, lassen sich die Kosten für jeden
entdecken positiven Fall berechnen. Der Vorteil von Tests an Schulen und am Arbeitsplatz

11
   Osterman et al, Medical Microbiology and Immunology 2021,
https://www.springermedizin.de/covid-19/diagnostik-in-der-infektiologie/evaluation-of-two-rapid-antigen-tests-to-detect-sars-c
ov-2-in-a-/18773354
12
   Pavelka et al, Science 2021, https://www.science.org/doi/full/10.1126/science.abf9648
13
   Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.11.2021,
https://zeitung.faz.net/faz/rhein-main/2021-11-02/wenige-positive-tests-an-schulen/683549.html?GEPC=s3

                                                                                                                          13
ist, dass man die Breite der Bevölkerung erreicht. Von den positiven Schnelltests in
Schulen wurden gut 60 % durch einen PCR-Test bestätigt.14 Insgesamt weist das darauf
hin, dass Teststrategien in Schulen und am Arbeitsplatz für Übergangsphasen hilfreich
sein können, insbesondere bei hoher Inzidenz. Hier helfen auch gut durchgeführte
Selbsttests dank ihrer guten Verfügbarkeit.

Die Wirkung von nicht-pharmazeutischen Maßnahmen
2G- und 3G-Veranstaltungen: Das Ziel von 2G und 3G ist, die Ansteckungsgefahr bei
Treffen zu verringern. Hier sind drei Wirkungen zu unterscheiden.

     1. Beide Konzepte, 2G und 3G, haben den Vorteil, dass weniger Infizierte zu einer
        Veranstaltung kommen. Die Inzidenz auf der Veranstaltung wird dadurch
        verringert. Bei Geimpften ist die Inzidenz15 derzeit (Okt./Nov. 2021) etwa 4 mal
        niedriger als bei Ungeimpften; dadurch reduziert sich die Inzidenz auf einer 2G
        bzw. 3G Veranstaltung (je nach Impfquote). Ein Schnelltest kann ½ bis ¾ der
        infektiösen Personen entdecken. Es gibt also bei guter Durchführung der Tests
        (Test findet ¾ der infektiösen Personen) keinen großen Unterschied zwischen 2G
        und 3G bzgl. der infektiösen Personen.
     2. 2G hat den Vorteil gegenüber 3G, dass im Falle der Teilnahme einer infektösen
        Person weniger Menschen infiziert werden, da geimpfte oder genesene Teilnehmer
        eine 3-10 mal geringere Wahrscheinlichkeit haben, sich anzustecken. Der Effekt
        von 3G im Vergleich zu 2G ist aber nicht der Faktor 3-10, sondern hängt vom
        Anteil ungeschützter Personen bei der Veranstaltung ab. Nimmt man an, dass ⅓
        der Personen ungeschützt sind, dann reduziert sich die erwartete Anzahl
        Infektionen bei 2G gegenüber 3G etwa um einen Faktor zwei. Allerdings stecken
        sich auch hier vor allem ungeschützte Personen an, die dann auch noch einen
        geringeren Schutz gegen einen schweren Verlauf haben.16
     3. Weniger schwere Verläufe: Unter den infizierten Personen hat eine geimpfte
        Person eine deutlich geringere Wahrscheinlichkeit, einen schweren COVID-19
        Verlauf zu haben als eine ungeschützte. Damit reduziert 2G die Anzahl Personen,
        die einen schweren Verlauf haben, nochmal weiter. Die genaue Effektgröße ist
        nicht leicht abzuschätzen. Das liegt daran, dass die Gruppen der Geimpften und
        der nicht-Geimpften sich natürlich auch außerhalb der Veranstaltungen treffen -
        und dort das Virus auf die ungeschützten Personen übertragen werden kann.

14
   Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.11.2021,
https://zeitung.faz.net/faz/rhein-main/2021-11-02/wenige-positive-tests-an-schulen/683549.html?GEPC=s3
15
   Explizit: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine geimpfte Person positiv getestet ist.
16
   Annahme: ⅔ der Personen sing genesen oder geimpft. Für die Rechnung gehen wir davon aus, dass die Inzidenz bei
genesenen/geimpften versus ungeschützten+Test dieselbe ist.
Dann ist mit der folgender Reduktion bei der erwarteten Anzahl Infektionen zu rechnen für 2G versus 3G:
Annahme Faktor 3 Reduktion: ⅔ * ⅓ + ⅓ =5/9 = 0.55 → etwas halb so viele Infektionen bei 2G statt 3G
Annahme Faktor 4 Reduktion: ⅔ * 1/4 + ⅓ =3/6 = 0.5 → halb so viele Infektionen bei 2G versus 3G.
Annahme Faktor 10 Reduktion: ⅔*1/10 + ⅓ =12/30 = 0.4 → etwas halb so viele Infektionen bei 2G statt 3G

                                                                                                                    14
Drei Aspekte gilt es ferner zu bedenken: (1) Gleich ob 2G oder 3G, damit die Maßnahmen
wirken, müssen sie auch konsequent umgesetzt werden. (2) Sind Personen, die weder
geimpft noch genesen sind, von den 2G Veranstaltungen ausgeschlossen, dann treffen
sich diese ungeschützten Personen möglicherweise in einem anderen Kontext und haben
dort ein erhöhtes Infektionsrisiko. (3) Ferner spielt es eine Rolle, in wie vielen Bereichen
des Lebens 2G, 3G oder eben keine Einschränkungen gelten, um die Gesamtwirkung
abzuschätzen. 3G am Arbeitsplatz hätte den Vorteil, dass die ungeschützten Personen
aus der Breite der Bevölkerung regelmässig getestet werden.

Verzichtet man bei einer 2G Veranstaltung auf Masken oder sind Veranstaltungen größer,
kann sich der Vorteil von 2G gegenüber 3G in Bezug auf Übertragung von Infektionen
wieder aufheben.

2G oder 3G mit Testpflicht für alle Teilnehmenden. Zusätzlich zu 2G oder 3G kann im
Prinzip auch von den geimpften und genesenen Teilnehmenden ein Test gefordert werden.
Dadurch reduziert sich die Wahrscheinlichkeit eines Ausbruchs im Vergleich zu 2G oder
3G alleine nochmal weiter, da noch weniger Personen infektiös eine Veranstaltung
besuchen. Bei 2G ist der Reduktionsfaktor genauso wie die Wirksamkeit des gewählten
Tests für geimpfte Personen (siehe Abschnitt zu Tests). Bei der Testung aller (3G+Test) ist
ein effektiver Wirkfaktor im Vergleich zu 3G etwas geringer, da ja nur die geimpften und
genesenen Personen zusätzlich getestet werden, und hier die Wahrscheinlichkeit eines
positiven Testergebnisses niedriger ist. Allerdings müssen die Kosten und der Aufwand
der Testungen beachtet werden sowie der Effekt auf die Impfbereitschaft.

Die Veranstaltungsgröße ist wichtig. Bei Veranstaltungen mit wenig Durchmischung
(wie zum Beispiel feste Sitzplätze oder sehr gute Lüftung) steigt die Anzahl der Infizierten
linear mit der Veranstaltungsgröße. Bei starker Durchmischung steigt die Anzahl der
Infizierten im Mittel quadratisch mit der Anzahl Gäste. Starke Durchmischung heißt, dass
alle Personen untereinander Kontakt haben oder sich über Aerosole und schlechte
Belüftung eine Ansteckung gleichmäßig auf alle verbreiten kann. Eine Verdopplung der
Veranstaltungsgröße kann also zu einer Vervierfachung der zu erwarteten Infektionen
führen.17

Innenräume mit hoher Personendichte. Hohe Ansteckungswahrscheinlichkeiten gibt es
vor allem in Innenräumen mit hohen Personendichten. Und dies betrifft nicht nur z.B.
Innengastronomie oder Diskotheken, sondern auch das Empfangen von Gästen in
privaten Wohnungen, genauso wie Besprechungen und Treffen bei der Arbeit. Es betrifft
weniger große Hallen, in denen sich die Personen über die vorhandene Flächen verteilen
und die Durchlüftung gut ist. Es ist wichtig, dass solche potentiellen Infektionskontexte
soweit wie möglich entschärft werden. Die Maßnahmen dafür sind gut bekannt:
Personendichten reduzieren, gut Lüften, vorher Testen und Masken tragen.

17
   Das liegt daran, dass sich zwei Wahrscheinlichkeiten bzw Raten verdoppeln, (1) die Wahrscheinlichkeit, dass eine
infektiöse Person die Veranstaltung besucht ist verdoppelt, und (2) eine Verdopplung der Personen, die sich auf der
Veranstaltung infizieren (könnten). Das gilt bei starker Durchmischung, wenn also alle untereinander direkten Kontakt haben
und/oder die Aerosole sich so im gesamten Raum verbreiten, dass alle Personen erreicht werden.

                                                                                                                        15
In Simulationen18 finden wir, dass ein Selbsttest vor 40% aller Treffen (natürlich gefolgt von
Selbstisolation bei positivem Test) die derzeitige Infektionsdynamik zumindest stabilisieren
würde, wenn dabei alle, auch die Geimpften, mitmachen würden. Z.B. könnten alle
Arbeitgebenden Selbsttests in genügender Anzahl wöchentlich aktiv verteilen; manche
Arbeitgeber*innen machen dies bereits aus eigener Initiative. Sich bei hohen
Personendichten in Innenräumen nur auf die Impfung (ohne Boostern) zu verlassen, reicht
hingegen für diesen Winter leider nicht aus.

Schulen, Kinderbetreuung und Bildungseinrichtungen. Alle Präventions- und
Eindämmungsmaßnahmen tragen dazu bei, Kinderbetreuungs- und Schulschließungen zu
vermeiden. Um auch bei offenen Schulen die Ausbreitung des Virus angemessen zu
reduzieren, sind eine gute Lüftung, der gezielte Einsatz von Luftreinigern, eine
inzidenzabhängige Maskenpflicht in allen Schulformen während des Unterrichtes, AHA
Maßnahmen, Tests und Kohortierung wirksam. Bei den Tests sind PCR-Tests in der Praxis
sensitiver, sie entdecken etwa doppelt so viele infizierte Kinder. Um flächendeckend
PCR-Tests zu ermöglichen, sind Pooltestungen in Form der Lolli-Methode hilfreich. Es
lässt sich außerdem zeigen, dass das regelmäßige Testen an Schulen und anschließende
Quarantänemaßnahmen bei infizierten Schüler*innen und ihren Familien stark dazu
beitragen, die Ausbreitung der Pandemie nicht nur an Schulen sondern in der gesamten
Bevölkerung zu kontrollieren.

Not-Schutzschalter: Gebündelt sind Maßnahmen ungleich wirkungsvoller, um die
Fallzahlen zügig und stark zu reduzieren.
Falls trotz Impfung eine deutliche Beschränkung von Kontakten notwendig werden sollte,
um das Gesundheitssystem zu entlasten, dann ist ein kurzer, intensiver
„Not-Schutzschalter“ sehr effektiv. Je besser man alle Maßnahmen bündelt, desto kürzer
kann er ausfallen und desto weniger Kollateralschäden wird er anrichten. Erreicht man so
einen R-Wert von 0,7, dann halbieren sich die Fallzahlen jede Woche. So kann innerhalb
von nur zwei Wochen die Inzidenz um einen Faktor 4 reduziert werden. In den
kommenden Wochen reduziert sich dadurch die Belastung auf den Intensivstationen.
Erreicht der R-Wert jedoch nur 0,9, dann braucht dieselbe Reduktion fast 2 Monate. Sollte
also ein solcher Eingriff notwendig werden, dann wäre eine Bündelung von allen
Maßnahmen ungleich wirkungsvoller als eine Maßnahme alleine. Dazu gehört (i)
Home-Office und engmaschige Testpflicht am Arbeitsplatz, (ii) Reduktion der
Gruppengröße in Kindergärten, Schulen und am Arbeitsplatz gleichermaßen, (iii)
Schließung/Reduktion       von     Geschäften,   Restaurants,     Dienstleistungen     und
Veranstaltungen, sowie generell (iv) deutliche Reduktion von Kontakten auf der Arbeit, in
der Öffentlichkeit und im privaten Bereich.
Für eine maximale Wirksamkeit wären diese Maßnahmen konzertiert und gleichzeitig
durchzuführen. Verstärkt werden kann die Wirksamkeit durch Testen (je nach Bereich
selbst durchgeführte Tests, Tests am Arbeitsplatz, etc.). Ein solcher konzertierter Eingriff
könnte deutlich Zeit gewinnen und die Gesundheitsversorgung vorübergehend entlasten.
Ferner erscheint die psychologische und wirtschaftliche Belastung eines solchen kurzen

18
     Müller et al, MODUS-COVID Bericht vom 22.10.2021, https://doi.org/10.14279/depositonce-12510

                                                                                                    16
Not-Schutzschalters wesentlich geringer, als die durch leichtere, aber ungleich längere
Beschränkungen. Der Lockdown-light im Winter 2020/2021 war im Gegensatz zu einem
Not-Schutzschalters weder effektiv noch zielführend.
Wegen der hohen negativen gesundheitlichen und edukativen Folgen für Kinder und
Jugendliche sowie der erhöhten Belastungen für Eltern (und hier insbesondere für Mütter)
sollten Schulschließungen dabei nur als ultima ratio erwogen werden, es sei denn sie
wären für eine Entlastung des pädiatrischen Gesundheitssystems notwendig.
Es ist unklar, ob ein Not-Schutzschalter notwendig wird. Aber es wäre trotzdem hilfreich,
schon jetzt einen klaren Plan zu entwickeln, ihn frühzeitig anzukündigen und mögliche
Kollateralschäden präventiv abzufangen. Wichtig ist es deshalb auch, solche Maßnahmen
vorab verfassungsrechtlich und ethisch prüfen zu lassen, und eine klare
Kommunikationsstrategie zu haben. Sollte ein Eingreifen notwendig werden, dann sollte
man sich nicht auf das Schließen von Schulen und Betreuungseinrichtungen beschränken,
da die Belastung stark ist, und da es alleine wesentlich weniger wirksam ist als zusammen
mit den oben aufgeführten Maßnahmen. Ein kurzer aber intensiver „Not-Aus“ an
Kontakten in allen Bereichen für kurze Zeit (zwei Wochen) ist ungleich wirksamer und
entlastet das System durch die starke Reduktion deutlich länger als zwei Wochen.

Masken spielen eine wesentliche Rolle um das Ansteckungsgeschehen zu
reduzieren. Zum einen schützen Masken andere Personen: Der Fremdschutz ist extrem
hoch, da die großen Tropfen in der Maske bleiben und die kleinen Aerosole stark reduziert
werden. Zudem brechen die Masken den Ausatem-Jet und verteilen die Aerosole diffusiv
im Raum. Daher ist es unwahrscheinlich die Ausatemluft einer Person, die eine Maske
trägt, direkt einzuatmen. Ganz anders ist es, wenn die Person keine Maske trägt. Bei der
Delta-Variante ist das Ansteckungsrisiko im Atem-Jet einer infizierten Person sehr hoch,
man kann sich beim Einatmen des Atem-Jets schon nach wenigen Minuten anstecken.
Masken führen auch zu einem erheblichen Eigenschutz. Eine Person-zu-Person
Übertragung in nächster Nähe, wenn beide eine FFP2 Maske tragen, ist massiv reduziert
im Vergleich zu einer Situation ohne Maske (mindestens Faktor 10; bei sehr gutem Sitz
der Maske wird eine Ansteckung extrem unwahrscheinlich).
In einem Raum können sich im Raumvolumen infektiöse Aerosole anreichern. Lüften oder
Luftfiltern reduziert das Risiko einer Ansteckung um ca. einen Faktor 4. Trägt man noch
eine Maske dazu schützt man sich um einen Faktor 10-100. Zur Illustration: Nimmt man
an, die Wahrscheinlichkeit sich ohne Lüften und Masken anzustecken ist 100%, dann
reduziert sich die Wahrscheinlichkeit mit Lüften auf ca 25%. Trägt man zudem eine Maske,
ist sie verschwindend gering.

Gesundheitssystem
Wie oben erläutert, ist es ein sehr wahrscheinliches Szenario, dass Krankenhäuser und
vor allem Intensivstationen diesen Winter erneut an ihre Kapazitätsgrenzen kommen. Um
mit einer solchen eingetretenen Situation bestmöglichst umzugehen, sollten bereits im
Vorhinein gewisse Vorbereitungen getroffen werden. Denn wenn Ressourcen knapp
werden, müssen diese so gerecht und effizient wie möglich eingesetzt werden.

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