Industriezeitalter im Ruhrgebiet - Route Industriekultur
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4 5 Industriezeitalter im Ruhrgebiet stadt Dortmund genossen noch Souveräni- tät innerhalb des alten Deutschen Reiches. Voraussetzungen Die Landschaft des Ruhrgebiets war über- All das änderte sich 1815 nach dem Wie- wiegend agrarisch geprägt. Zu den „großen ner Kongress mit dem Übergang des ge- Städten“ der Region zu Beginn des 19. Jahr- samten rheinisch-westfälischen Raumes hunderts gehörten zum Beispiel Duisburg an Preußen. Jetzt wurden die Territorien mit etwa 5.500 Einwohnern, Essen mit circa neu gegliedert. Mit Arnsberg, Münster und 4.700 und Dortmund mit ungefähr 4.300 Düsseldorf entstanden drei neue Regierungs- Einwohnern. Die „boomende“ Textilin- bezirke, und die beiden Provinzen Rhein- dustrie-Region des 18. Jahrhundert lag in un- land und Westfalen wurden gegründet. mittelbarer Nachbarschaft im Tal der Wup- per mit den großen Städten Elberfeld und Mit der Gründung des SVR 1920 gehör- Barmen. Beide Städte besaßen zu der Zeit mit ten 17 Stadt- und elf Landkreise zum Ver- rund 40.000 Einwohnern mehr Einwohner bandsgebiet. Robert Schmidt, Technischer als das gesamte damalige „Ruhrgebiet“. Auch Beigeordneter und Leiter des Stadterweite- die wichtigsten Manufakturen und Betriebe rungsamtes der Stadt Essen wurde der erste zur Gewinnung von Eisen in der damali- Verbandsdirektor. Hauptzweck des SVR war gen Zeit hatten sich außerhalb des späteren zunächst Wohnraum für 150.000 zusätz- Ruhrgebiets angesiedelt. So zum Beispiel im liche Bergleute und ihre Angehörigen, also Siegerland, im Sauerland und im Bergischen etwa 600.000 Menschen, zu schaffen, um Land, wo die Rohstoffe – Eisenerze und Holz unter anderem die Reparationsleistungen des – sowie die Wasserenergie zum Betreiben von Versailler Vertrages zu gewährleisten. Der Hütten vor Ort vorhanden waren. Diese Hüt- SVR widmete sich aber auch der Begren- ten vertrieben ihre Erzeugnisse in ganz Euro- Zeche Zollverein Essen; Foto: RIK/Ludger Staudinger zung der Bodennutzung durch die Industrie, pa, ebenso wie die märkische Textilindustrie. indem Grünflächen ausgewiesen wurden, sowie der Verbesserung der Verkehrsver- Der Staat Preußen schuf ab dem 18. Jahr- Das Ruhrgebiet regionalen Standorte der Steinkohleför- hältnisse durch den Bau von Straßen. hundert wichtige Voraussetzungen für die derung bzw. deren künftige Abbaugebiete. Von einer beschaulichen, ländlich geprägten, Damit bildete dieser Wirtschaftszweig jahr- etwas peripheren Region zum größten Wirt- zehntelang die entscheidende Grundlage schaftsraum Europas: Das heutige Ruhrgebiet für die Regionalplanung im „Ruhrkohlen- ist innerhalb kürzester Zeit das Herzstück der bezirk“. Mit seinen umfassenden Zustän- Schwerindustrie in Deutschland geworden. digkeiten für Verkehr, Siedlung und Grün Die Industrielle Revolution hat das Gesicht sorgte der SVR dafür, dass das Ruhrgebiet der Region geprägt, unwiederbringlich verän- erstmals als Region in Erscheinung trat. dert und dabei allen Lebensbereichen ihren unverwechselbaren Stempel aufgedrückt. Mit dieser rasanten industriellen Entwicklung entstand eine neue Infrastruktur. Freiräume Annährungen wurden geschaffen, Architektur und Urbani- tät entwickelten sich in neuen Dimensionen, Eine geografische Annäherung an die Region Lebens- und Arbeitswelten veränderten sich lässt den räumlichen Umfang des Gebietes innerhalb von kürzester Zeit in dramatischer eingrenzen. Im Süden die Ruhr, im Norden Weise. Diesen Wandel nachzuvollziehen, die Lippe, die Stadt Hamm im Osten und im hilft die Gegenwart der Region zu verstehen, Westen der Landkreis Moers. Im 18. Jahr- Bohrmühle an der Zukunftsperspektiven zu entwickeln und zu hundert gliederte sich der Raum noch in Spillenburg bei gestalten. Mit der Gründung des Siedlungs- zahlreiche geistliche und weltliche Territorien Essen um 1800, verbandes Ruhrkohlenbezirk (SVR) am wie die Grafschaft Mark und das Herzog- Aquarell von 4. Mai 1920 in Essen als eigene Administra- tum Kleve, die schon zu Preußen gehörten. Heinrich Kunolt tion wurde das Ruhrgebiet als Region zum Andere Herrschaftsgebiete wie das Stift 1915/1936; Quelle: ersten Mal territorial definiert. Auf diesem Essen, die Grafschaft Recklinghausen und Rainer Rothenberg, Territorium befanden sich zu der Zeit alle die Grafschaft Dortmund mit der Reichs- Essen/Ruhr Museum
6 7 Entfaltung der Industrie im Ruhrgebiet. Im Süden des Reviers trat die Steinkohle Dazu gehörten Reformen zur Bauern- und an den steilen Abhängen zum Flussufer hin Gewerbefreiheit sowie die Liberalisierung direkt zutage und konnte daher zunächst des Bergrechts. Auch gesetzliche Änderun- im Tagebau gewonnen werden. Bereits früh gen wie die Einführung des bürgerlichen entwickelten sich „Gewerkschaften“, die ge- Rechts nach dem Vorbild des „Code civil“ nossenschaftlich den Kohleabbau betrieben infolge der französischen Besetzung vor- und Erträge sowie Kosten unter den Mit- maliger preußischer Gebiete schufen die gliedern aufteilten. Man grub die Kohle mit notwendigen Bedingungen für eine erfolg- einfachen Geräten im Brunnen- und Stollen- reiche Industrialisierung der Region. Auch bau ab, wobei der Grundwasserspiegel der Handelserleichterungen wie die Aufhebung Tiefe des Abbaus Grenzen setzte. Der Beginn von Zollschranken durch den Deutschen des 18. Jahrhunderts markiert die erste Zollverein 1834 boten der Industrie und wichtige Wendemarke in der technischen dem sonstigen Gewerbe bessere Rahmen- und rechtlichen Entwicklung des Kohleberg- bedingungen für den Güteraustausch. Und baus. Mit Hilfe von „Erbstollen“ war man last not least waren der von den Preußen jetzt in der Lage, die Gruben zu entwässern initiierte Bau von befestigten Überland- und ihnen Luft zuzuführen (zu bewettern). straßen („Kohlestraßen“) und so genannten Auch der Staat interessierte sich zuneh- Chausseen sowie die Schiffbarmachung mend für den Bergbau als Einnahmequelle. der Ruhr durch die Anlage von Schleusen 1737 ordnete die preußische Regierung erste Maßnahmen zur Entwicklung einer das märkische Bergrecht neu. Die Gruben- industriellen Infrastruktur. Eng mit dieser felder wurden neu vermessen und verteilt. Zeitperiode sind die Namen industrieller Seither unterstanden sie der Kontrolle des Gründerpioniere wie Franz Dinnendahl 1738 gegründeten Bergamtes in Bochum. und Franz Haniel, Heinrich Arnold Huyssen und Mathias Stinnes, Friedrich Krupp und In der Grafschaft Mark bestimmten bis zur Malakowtürme und Maschinenhaus der Zeche Hannover 1/2 in Bochum vermutlich 1856; Quelle: Montanhistori- Friedrich Harkort verbunden. Unmittelbar Mitte des 19. Jahrhunderts preußische Beam- sches Dokumentationszentrum beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv nach Einführung der Gewerbefreiheit und te und Fachleute die Konditionen für den Ab- der Aufhebung des Zunftzwanges gründe- bau der Kohle wie auch die Arbeitszeiten und ten sie ihre Unternehmen in den Bereichen Löhne der Bergleute. Die Zechenbesitzer hat- letarisierung. Für den Staat bedeutete diese nur mit Hilfe der Dampfmaschine mög- Maschinenbau, Bergbau, Eisen und Stahl ten darauf keinen Einfluss. Für die Bergleute Neuregelung den Übergang vom Direktions- lich, die ab den 1840er-Jahren in den sowie Binnenschifffahrt und setzten auf die hatte dieses „Direktionsprinzip“ Vorteile. Sie zum „Inspektionsprinzip“, das heißt, er hatte Tiefbauzechen des Ruhrbergbaus das Einführung technischer Innovationen. waren vom Militärdienst befreit, hatten eine keinen Einfluss mehr auf die technische, Abpumpen des Wassers ermöglichte. eigene Gerichtsbarkeit und genossen eine organisatorische und wirtschaftliche Führung gewisse Absicherung im Unfall- oder Krank- der Bergwerke; den Bergämtern blieb bezüg- Neben den zahlreichen Schachtanlagen in heitsfall. Ab Anfang des 19. Jahrhunderts lich der privaten Zechen nur noch die berg- der Hellwegzone entstanden ab den 1870er- Bergbau wurde das Direktionsprinzip mit seinen Ein- polizeiliche Überwachung und Kontrolle. Jahren viele Zechen in der nördlichen schränkungen für die Zechenbesitzer immer Emscherregion. Ende des 19. Jahrhunderts Das Ruhrgebiet war vor der Industriali- mehr zum Hemmschuh für eine weitere Ent- Die zunächst an der Ruhr geförderte Ma- wurde dann auch an der Lippe Kohle ab- sierung durchweg agrarisch geprägt. Von wicklung des Bergbaus. Das Freizügigkeits- gerkohle mit ihrem begrenzten Brennwert gebaut und damit die nördliche Grenze des Industrie gab es keine Spur – mit Ausnahme gesetz von 1860 ermöglichte den „Gewerken“ war allerdings für die sich zunehmend heutigen Ruhrgebiets erreicht. Zum bedeu- der in Essen ansässigen Büchsenmacher- ihre Betriebe selbst zu führen, die Löhne und entwickelnde (Koks-)Hochofenindustrie tendsten Bergwerk entwickelte sich dabei betriebe. Bis 1800 lebte man im Ruhrgebiet Preise selbst zu bestimmen und sich dem ent- nicht geeignet. Für die Produktion von die Zeche Zollverein in Essen, die 1851 die vornehmlich von Ackerbau und Viehzucht. wickelnden Kapitalmarkt zu öffnen. Mit Hilfe Koks benötigte man die Fettkohle, die Kohleförderung aufnahm. Sie gehörte Franz von ausländischem Kapital vor allem aus sich aber in Lagerstätten in bis zu 1.300 Haniel, der sie direkt an der Strecke der Der zukünftige Reichtum der Region war den Belgien, Frankreich und Irland konnten sie Metern Tiefe unterhalb der so genannten 1847 eröffneten Köln-Mindener Eisenbahn Bodenschätzen geschuldet, dabei spielten ins- jetzt große Investitionen tätigen, was letztlich Mergelschicht insbesondere im nörd- anlegte. Im Verlauf der 1870er-Jahre fand besondere die reichen Steinkohlenvorkom- zu einer Ausweitung des Bergbaus im Ruhr- lichen Ruhrgebiet befanden. Deshalb dann mit der Überschreitung des Rheins eine men eine wichtige Rolle. Seit dem Mittelalter gebiet führte. Bei den Bergleuten führte diese vollzog der Bergbau im 19. Jahrhundert weitere Ausdehnung des Kohleabbaus nach ist der Kohleabbau an der Ruhr belegt. Bis neue rechtliche Situation zu einem Verlust eine Nordwanderung von der Ruhr im Westen statt, im Osten wurden im gleichen ins 18. Jahrhunderts wurde der Kohleab- ihrer bis dahin vom preußischen Staat ge- Süden über die Emscher bis zur Lippe Zeitraum im Kreis Hamm-Unna Schürf- bau im Wesentlichen nur als Nebenerwerb währten Privilegien und zu einer zunehmen- im Norden. Der Kohleabbau unterhalb rechte verliehen. Die Anzahl der fördernden von Bauern und Handwerkern betrieben. den Entrechtlichung und wachsenden Pro- der wasserführenden Mergelschicht war Zechen im Ruhrgebiet lag jetzt bei etwa 170.
8 9 Eisen und Stahl 1730 Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts spielte das Ruhrgebiet als Erzeuger von Eisen für die deutsche Industrie nur eine unterge- 1737/38 Die Neuordnung des märkischen Bergrechtes ermög- ordnete Rolle. Der Schwerpunkt des Eisen- licht eine weitestgehende Kontrolle hüttenwesens lag damals in Südwestfalen. (Direktionsprinzip) des Bergbaus Dort prägte eine teilweise bis heute noch durch den preußischen Staat. vorhandene eher kleinbetrieblich-mittel- ständisch orientierte Gewerbestruktur die Region, die sich auf Schmiede-, Draht- und Walzprodukte der Kleineisenindustrie und St. Antony-Hüt- 1760 deren Verfeinerung spezialisiert hatte. te in Sterkrade im Bauzustand von Bis etwa 1850 bestimmten Eisenerzvorkom- 1834, Gemälde men, Holzkohle und Wasser als Produk- des Kunst- und tionsfaktoren die Standorte der Hütten- Industriemalers werke. Das Eisenerz wurde vorwiegend vor Jakob Weser Krell Ort verarbeitet, und auch das Holz, aus dem 1902; Quelle: LVR- man die für die Schmelze notwendige Holz- Industriemuseum, kohle gewann, stammte aus den umliegen- Oberhausen den Wäldern. Flüsse lieferten die notwen- 1790 dige Wasserkraft, um die Hammerwerke zu betreiben. Erst ab 1849 – als es auch in Preu- Fettkohlevorkommen nördlich der Ruhr einen Konverter mit flüssigem Roheisen zu ßen gelang, anstelle von Holzkohle Koks für mit Hilfe der Dampfmaschine veränderte blasen, um dadurch den Kohlenstoffanteil die Roheisenherstellung zu nutzen – wurde ab etwa 1850 die Situation grundlegend. im Roheisen zu reduzieren und so Stahl das Ruhrgebiet mit seinen reichen Steinkoh- Das Ruhrgebiet wurde jetzt für die Eisen- zu gewinnen. Damit ließ sich in wesent- lenvorräten ein idealer Standort für die Hüt- hüttenindustrie attraktiv, weil sich aus der lich kürzerer Zeit vor allem die Menge an tenindustrie. Zunächst mangelte es im Ruhr- Fettkohle Hüttenkoks als Brennstoff für gewonnenem Stahl erhöhen. 1879 erwar- gebiet am technischen Know-how und dem die Hochöfen herstellen ließ und damit ben der Hörder Verein in Dortmund und wichtigem Rohstoff Eisenerz. Hüttentech- die Holzkohle entbehrlich wurde. 1848/49 die Rheinischen Stahlwerke in Duisburg 1815 Nach dem Wiener Kongress werden die Regierungsbezirke nologie und Eisenerze kamen zunächst aus wurde auf der Friedrich-Wilhelms-Hüt- die Patente des Thomasverfahrens. Diese Arnsberg, Münster und Düssel- 1820 dem Siegerland und waren eine wichtige Vo- te in Mülheim der erste Kokshochofen in Technik stellte eine Weiterentwicklung dorf und die Provinzen Rhein- raussetzung für den industriellen Take-off. Betrieb genommen, über 100 Jahre später des Bessemer-Verfahrens dar. Eine Aus- land und Westfalen gebildet. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden als in England. Ebenfalls mit zeitlicher kleidung des Konverters mit gebranntem aber auch eine Reihe von Verfahrenstech- Verzögerung gelangten auch die wichtigs- Dolomit ermöglichte auch die Verarbei- niken aus den damals führenden Industrie- ten modernen Stahlgewinnungsverfahren tung phosphorreicher inländischer Erze. 1834 Die Gründung des Deut- staaten England und Belgien übernommen. in das Ruhrgebiet. 1784 entwickelte der Damit ließ sich weicher Stahl erzeugen, schen Zollvereins schafft bes- 1837 Ab diesem Zeitpunkt sere Rahmenbedingungen Zu Beginn des 19. Jahrhunderts steckte das Engländer Henry Cort das Puddelverfah- der zur Herstellung billiger Massen- erfolgt der Einsatz der Dampf- für den Güteraustausch von Hüttenwesen des Ruhrgebiets im Unter- ren. Er ließ Eisen unter einer Steinkohle- stahlprodukte benutzt werden konnte. maschine zum Abpumpen Industrie und Handel. schied zum Bergbau noch in den Anfängen. flamme aufkochen und so lange rühren, bis des Wassers in den Tiefbau- zechen des Ruhrgebiets . 1847 Die Eröffnung der Köln-Min- der Kohlenstoffanteil soweit herausoxidiert Die technischen Fortschritte bei der Roh- 1850 dener Eisenbahn verbessert den Um 1830 waren im Raum Oberhausen/ war, dass Stahl entstand. 1826 wandte der eisen- und Stahlerzeugung und die Er- Gütertransport der Montanindus- Essen die St. Antony-Hütte und die Hütten Industriepionier Friedrich Harkort das Ver- schließung neuer Märkte führten nach 1850 1848-1871 In den beiden Jahr- trie im Ruhrgebiet nachhaltig. Gute Hoffnung und Neu-Essen die einzigen fahren erstmalig in seiner „Mechanischen zu einer Phase schnellen wirtschaftlichen zehnten zwischen der Revolution von 1848 und der Reichsgründung bedeutenden Eisen erzeugenden Werke. Werkstätte“ in der Burg Wetter an. Der sehr Wachstums. Innerhalb von zehn Jahren von 1871 findet im preußischen Einer schnellen Verbreitung dieses Indus- arbeitsaufwändige Puddelprozess wurde entstanden im Ruhrgebiet elf Hochofen- Rheinland der entscheiden- triezweiges standen mehrere Hemmnisse ab den 1860-Jahren vom stärker mechani- werke mit 27 Hochöfen, darunter 25 Koks- de Durchbruch auf dem Weg im Weg: die geringen einheimischen Erz- sierten Bessemer-Verfahren abgelöst. Das hochöfen. Im Zeitraum von 1851 bis 1868 zur Industrialisierung statt. vorkommen, die hohen Zölle bei Import- Stahlgewinnungspatent des ebenfalls aus nahmen 25 Puddelwerke die Produktion erzen und der durch Raubbau verursachte England stammenden Ingenieurs Henry auf, und 1876 waren bereits 56 Bessemer- Mangel an Holzkohle als Brennstoff. Erst Bessemer, von Alfred Krupp 1856 in Essen Konverter im Betrieb. Die Stahlproduk- 1880 die Erschließung der riesigen, tief liegenden erworben, sah vor, Luft von unten durch tion des Ruhrgebiets stieg von 157.000
10 11 provinzen wurden Masuren, Polen aus dem zugezogenen Arbeitskräfte aber auch lang- von Preußen annektierten polnischen Tei- fristig an ihre Unternehmen binden konnte. lungsgebiet und Oberschlesier mit dem Ver- sprechen auf bessere Verdienst- und Lebens- Um 1900 war jeder dritte Bergmann im verhältnisse im Ruhrgebiet angeworben. Das Ruhrgebiet polnischer Abstammung. Die führte zu einer ungeheuren Bevölkerungs- polnischen Zuwanderer formten häufig ihr explosion in der Phase der Hochindustriali- eigenes Milieu, konzentrierten sich in Beleg- sierung. Die Einwohnerzahl des Ruhrgebiets schaften („Polenzechen“), in Stadtteilen und wuchs auf mehr als das Dreifache – von unter in Arbeitersiedlungen. Sie gründeten eigene einer Million auf mehr als drei Millionen. Für Gewerkschaften, eigene Sportvereine und die Städte und Industriedörfer bedeutete das eigene soziale Netzwerke, um ihre kulturelle eine ungeheure Herausforderung. Allein die Selbstständigkeit zu bewahren. Diese Ver- Bereitstellung von Wohnraum war eine kaum suche, sich in der neuen Heimat politisch zu zu bewältigende Aufgabe, da es schlicht zu organisieren, um die nationale und kulturelle wenig Kapazitäten in den zum Teil noch Identität zu bewahren, wurden von den preu- vom Mittelalter geprägten Stadtstrukturen ßischen Behörden massiv unterdrückt. Im gab und auch kein investitionsfähiges Bür- Sinne der „Reichseinheit“ war man bestrebt, Krupp‘sche Guss- gertum vorhanden war, um neuen Wohn- die polnischsprachige Bevölkerung zu „ger- stahlfabrik nach Tonnen im Jahr 1860 auf 550.000 Tonnen Wachstum und Zuwanderung raum zu schaffen. Diese Aufgabe übernahm manisieren“. Das hatte zur Folge, dass 1918, einer Zeichnung im Jahr 1870. Wichtigste Abnehmer für daher die Montanindustrie, die einerseits nach der Wiedergründung des polnischen Siedlung Stahl- von J. Scheiner die Eisen- und Stahlindustrie des Ruhr- Die neu entstandene Montanindustrie im das von ihr im großen Stil betriebene Arbei- Staates, viele Polen das Ruhrgebiet wieder hausen des 1879/80; Quelle gebiets waren die Eisenbahn, der Stein- Bergbau und im Eisen- und Stahlbereich ge- tersiedlungsprogramm als Mittel einset- verließen und entweder in den neuen polni- Bochumer Vereins Historisches Archiv kohlenbergbau, der Maschinenbau, die wann durch die Einbeziehung von Kokereien zen konnte, um die dringend benötigten schen Staat oder weiter in die Industrieregio- um 1910, Quelle Krupp, Essen Bauindustrie und das Militär. Beim Absatz und deren Nebenprodukten für die che- Arbeitskräfte anzuwerben, andererseits die nen nach Nordfrankreich oder Belgien zogen. Historisches Archiv in weiter entfernt liegende Gebiete erwies mische Industrie ab Mitte des 19. Jahrhun- Krupp, Essen sich die verkehrsgünstige Lage des Ruhr- derts eine ganz neue Bedeutung. Mit dieser gebiets an Rhein und Ruhr als vorteilhaft. Entwicklung war auch der weitere Ausbau Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kam das der für die Region so typischen Verbund- immer weiter ausgebaute Streckennetz der wirtschaft verbunden. Vom Rohstoff bis zum Eisenbahn und der Kanalbau für die Bin- Endprodukt sollte alles in einer Hand liegen. nenschifffahrt als Standort fördernd hinzu. Auch die Unternehmensorganisation durch- lief einen durchgreifenden Wandel. Nicht Der Aufschwung der Eisen- und Stahl- mehr einzelne Unternehmerpersönlichkeiten industrie des Ruhrgebiets in der zweiten wie zu Beginn der Industrialisierung be- Hälfte des 19. Jahrhunderts war dramatisch. stimmten den Entwicklungsverlauf ihrer Fir- In nur knapp einem halben Jahrhundert men. Nach 1850 entstanden Großunterneh- war die Region zum größten europäi- men in der Form von Aktiengesellschaften, schen Montanzentrum herangewachsen. die sich in Größe, Aufbau und Struktur gänz- Die Produktionsstandorte konzentrierten lich von den ursprünglichen Unternehmens- sich im Westen vor allem auf den Raum formen unterschieden. Kartellabsprachen, Duisburg/Oberhausen/Essen, im mittleren Fusionen und die Gründung einflussreicher und östlichen Ruhrgebiet auf die Städte Interessenverbände wie dem Rheinisch-West- Gelsenkirchen, Bochum und Dortmund. fälischen Kohlensyndikat 1893 oder dem Mit den Städten verbanden sich die Namen Roheisensyndikat 1896 führten zu einem von Unternehmensdynastien – Thyssen in weiteren Machtzuwachs der Konzerne. Duisburg, Krupp in Essen und Hoesch in Dortmund –, die über Generationen Wirt- Am Anfang der industriellen Entwicklung schaft, Industrieentwicklung, Urbanisie- kamen die von der Montanindustrie benötig- rung, Politik und Alltag der Menschen in ten Arbeitskräfte aus der Region selbst, aber der gesamten Region prägten. Aber auch infolge der begrenzten Ressourcen bald auch im Ruhrtal wie zum Beispiel in Hattingen, aus dem Umland des Ruhrgebiets. Nach 1870 Witten und Wetter entwickelten sich wichti- setze dann die Fernwanderung ein. Vor allem ge Standorte der Eisen- und Stahlindustrie. in den ländlich geprägten preußischen Ost-
12 13 1820 Hochwasser an der Emscher, Zechenkolonie Hansemann in Dortmund 1926; 1840 Quelle: Emscher- genossenschaft 1848/49 Der erste Kokshoch- Arbeitswelt und allem im katholischen Milieu verankert, die gebiet immer wieder zum Ausbruch von ofen in Preußen wird auf der Arbeiterbewegung „Polnische Berufsvereinigung ZZP“ vertrat Epidemien. Zur Behebung dieser Missstände Friedrich Wilhelms-Hütte in die Interessen der polnischen Bergarbeiter, wurde 1899 die Emschergenossenschaft ge- Mülheim in Betrieb genommen. Zwischen 1871 und 1914 wurde, insbesonde- der liberale „Gewerkverein Hirsch-Duncker“ gründet. Sie hatte die Aufgabe, die Emscher 1856 Alfred Krupp erwirbt das re in der Montanindustrie, der Großbetrieb blieb im Ruhrgebiet ohne große Bedeutung. und ihre Nebenflüsse zu begradigen und die Stahlgewinnungs-Patent des eng- zur typischen Erscheinungsform. Während Abwässer dem Rhein zuzuführen. Der 1913 lischen Ingenieurs Henry Besse- 1860 1860 Das Freizügigkeitsgesetz in der Landwirtschaft, aus der viele Zu- Die Montanindustrie war und ist bis heute gegründete Ruhrverband sollte sich um den mer und kann damit in kürzerer ermöglicht den Bergwerkseigen- Zeit die Mengen an gewonnenem tümern ihre Betriebe selbst zu gewanderte kamen, der Arbeitsrhythmus eine „Männerwelt“. Aber ohne die Frauen Ausbau der Ruhr für den ständig steigenden Stahl wesentlich erhöhen. führen und sich damit dem euro- vom Eintritt der Helligkeit am Morgen bis wären die Männer nicht in der Lage gewesen, Trink- und Brauchwasserbedarf kümmern. päischen Kapitalmarkt zu öffnen. zum Aufkommen der Dunkelheit am Abend ihrer Arbeit nachzugehen. Die Hausarbeit Dazu sollte der forcierte Ausbau von Tal- begrenzt wurde, war das Symbol der neuen der Frauen war oftmals körperliche Schwerst- sperren am Oberlauf des Flusses dienen. 1870 Das Einsetzen der Fernwan- industriellen Zeiteinteilung die Uhr. Mit ihr arbeit. Dazu gehörte das Heranschaffen von Trotzdem blieb die Trinkwasserversorgung derung in das Ruhrgebiet befriedigt eng verbunden waren Disziplin und Pünkt- Wasser von den öffentlichen Zapfstellen, das noch bis in die 1940er-Jahre prekär, obwohl die große Arbeitskräftenachfrage lichkeit. Glocken oder Sirenen verkündeten Besorgen von Heizmaterial, Gartenarbeit etliche neue Kläranlagen gebaut wurden. im Bergbau und Hüttenwesen. Anfang und Ende des Arbeitsbeginns, ihr zur Selbstversorgung der Familien und das Zu der Zeit wurden auch die Grundlagen Klang drang bis in die Arbeitersiedlungen. Waschen der Berufskleidung der Männer. für ein Problem gelegt, dass aber erst in den 1880 Die Uhr markierte Arbeitsbeginn, Pausen Auch der Transport von warmen Mahl- 1980er-Jahren zunehmend in den Fokus der und Arbeitsende. An diese „Fabrikdiszi- zeiten mit „Henkelmännern“ zur Arbeits- öffentlichen Diskussionen rückte. Während plin“, die mit Überwachung, Abmahnung stelle der Männer gehörte zu den Aufgaben zumindest in den 1960er-Jahren durch die oder Geldbußen verbunden war, mussten der Frauen, die außerdem auch für die Einführung der „Technischen Anleitung zur sich viele Arbeitsimmigranten erst gewöh- Erziehung der Kinder zuständig waren. Reinhaltung der Luft“ bundesweit erstmals 1889 Während dieses ersten großen Streiks der Bergarbei- nen. Individuelle Verweigerungsformen verbindliche Grenzwerte für bestimmte 1893/1896 Die Bildung des ter im Ruhrgebiet wird die erste gegen diese als drakonisch empfunde- Luftschadstoffe festgelegt wurden, war die Bergarbeitergewerkschaft, der Rheinisch-Westfälischen Kohlen- nen Maßnahmen waren durchaus üblich, teilweise massive Verseuchung der Böden syndikats und des Roheisensyn- „Alte Verband“, gegründet. aber es gab auch kollektive Gegenwehr. Umweltzerstörung und des Grundwassers durch die Produk- dikats ermöglicht Marktkontrolle 1899 Die Gründung der Em- tionsabfälle ein riesiges Problem. Während und politische Einflussnahme 1900 schergenossenschaft führt zur Mit Streiks versuchten die Arbeiter ihre Lage Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die der Himmel über der Ruhr allmählich der großen Unternehmen. Flussbegradigung, Abwasserklä- zu verbessern. Ihre Forderungen bezogen durch die Industrie verursachten Umwelt- wieder blau wurde, blieben die Giftstoffe rung und -entsorgung in den sich auf die Verbesserung der Arbeitsbedin- schäden immer offensichtlicher, und deshalb weiterhin im Boden. Etliche Altlasten konn- Rhein. gungen, auf kürzere Arbeitszeiten aber auch wurde auf verschiedenen Ebenen versucht, ten in den 1980er- und 1990er-Jahren mit auf höhere Löhne. Eine Vorreiterrolle über- diesen Missständen zu begegnen. Dabei Hilfe des Wasser-, Polizei- und Ordnungs- nahmen dabei die Bergleute. 1889, 1905 und stand die Wasserversorgung der Region im rechtes („Gefahrenabwehr“) saniert wer- 1912 fanden drei große Bergarbeiterstreiks Mittelpunkt. Der stetig steigende Wasser- den. Aber erst mit der Verabschiedung des 1913 Die Konstituierung des Ruhrverbandes ermöglicht den statt. Im Verlauf des Streiks von 1889 wurde verbrauch der Industrie führte zu Engpäs- Bundesbodenschutzgesetzes 1999 konnten Bau von Talsperren am Oberlauf als erste Gewerkschaft der „Alte Verband“ sen bei der Wasserversorgung. Aber auch die kontaminierten Böden und Grund- des Flusses, die dem Ruhrgebiet gegründet. Er fühlte sich der Sozialdemo- Abwässer, insbesondere der Kohlenschlamm wässer effektiver saniert werden. Dennoch ausreichend Trink- und Brauch- 1920 kratie verbunden. Weitere gewerkschaftliche der zahlreichen Zechen hatten Flüsse und beschäftigt der Umgang mit diesem The- wasser zur Verfügung stellen. Gründungen folgten später. Der „Gewerk- Bachläufe in stinkende Kloaken verwandelt. ma bis heute im hohen Maße weiterhin verein Christlicher Bergarbeiter“ war vor Ende des 19. Jahrhunderts kam es im Ruhr- Städte und Kommunen im Ruhrgebiet.
14 15 Erster Weltkrieg und heimischer Lebensmittelproduktion und Nachkriegskrise fehlender Importe. Zehntausende starben an den Folgen von Hunger und Unterernäh- Im Ersten Weltkrieg stand das Ruhrgebiet im rung. Die Zivilbevölkerung litt an extremer Zentrum der Rüstungsproduktion. Zu einer Ausbeutung ihrer Arbeitskraft. Jugendliche der wichtigsten Firmen in diesem Segment und Frauen ersetzten insbesondere in den gehörte die Firma Krupp in Essen. Mit der Rüstungsbetrieben die im Krieg kämpfen- Herstellung von Munition aber vor allem den Männer. Nach dem verlorenen Krieg mit dem Bau von Geschützen wurde sie und der Revolution von 1918/19 formierte weltbekannt. Das Ruhrgebiet blieb weitest- sich 1920 im Ruhrgebiet eine Rote Armee Deutsches Pro- gehend von den mörderischen Schlachten gegen den reaktionären Kapp-Putsch. Die pagandaplakat des Krieges verschont, lieferte aber die Armee, der auch viele Bergleute angehörten, gegen die franzö- Soldaten, die dann auf den belgischen und kontrollierte mehrere Wochen die Region Adolf Hitler beim sische Besetzung französischen Schlachtfeldern kämpften. Die bevor sie von Freikorps und Regierungs- 90. Geburtstag des des Ruhrgebiets daheimgebliebene Zivilbevölkerung war in einheiten besiegt wurde. Dennoch blieb Schwerindustriel- 1923; Quelle: anderer Weise betroffen. Im Winter 1916/17 das Ruhrgebiet während der gesamten Zeit len Emil Kirdorf Stiftung Haus der kam es im Ruhrgebiet zu einer massiven der Weimarer Republik eine Hochburg der in Mülheim am Geschichte der Versorgungskrise infolge unzureichender Kommunisten und der Zentrumspartei, 8. April 1937; Bundesrepublik die auch von vielen katholischen Arbeitern Quelle: Fotoarchiv Deutschland, Bonn gewählt wurde. Ein weiteres Nachspiel des Ruhr Museum Ersten Weltkrieges war die Besetzung der Region durch französische und belgische Truppen zwischen 1923 und 1925. Dies ge- andere Industriezweige, wie zum Beispiel die Nationalsozialismus schah, um die stockenden Reparationen des mit der Montanindustrie eng verbundene Deutschen Reiches durch Wirtschafts- und Energiewirtschaft, versuchten, in den 1920er- Für die Nationalsozialisten war das Ruhr- Sachlieferungen aus dem Ruhrgebiet, ins- Jahren neue Märkte zu erschließen. Dazu gebiet „ein schwer zu bearbeitendes besondere Kohle und Koks, auszugleichen. gehörte die bereits 1898 von Hugo Stinnes in Pflaster“. Hier hatten eher die das Sagen, Der vom Reich ausgerufene und finanzierte Essen gegründete „Rheinisch-Westfälische die gegenüber der braunen Ideologie am passive Widerstand gegen diese Besetzung Elektrizitätswerk AG“ (RWE) und das spätere resistentesten waren. Dazu gehörte vor heizte die bereits vorhandene Inflation weiter Konkurrenzmodell im östlichen Ruhrgebiet, allem das kommunistische und sozial- an und führte zur „Hyperinflation“. In diesem die „Vereinigte Elektrizitätswerke Westfalen demokratische Arbeitermilieu. Die Mit- Zusammenhang ist auch die Gründung AG“ (VEW) mit Sitz in Dortmund. Bei der glieder von KPD, SPD und Gewerkschaften des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk Gasversorgung kooperierte die VEW mit waren auch diejenigen, die zu Anfang der (SVR) 1920 zu sehen, dessen Hauptzweck der 1928 gegründeten Ruhrgas AG, die noch NS-Diktatur bereit waren, Widerstand zu es zunächst war, die Reparationen aus dem vor dem Zweiten Weltkrieg zu Deutschlands leisten – und auch die meisten Opfer zu Versailler Friedensvertrag zu gewährleisten größtem Ferngasunternehmen aufstieg. beklagen hatten. Aber mit dem wachsenden Eine andere Erfolgsgeschichte war der 1918 Terror und den Anfangserfolgen der Nazis in Bochum gegründete „Benzol-Verband“ nach 1933 wuchs auch die Bereitschaft (B.V.). Mit dem Benzol-Benzin-Gemisch, der Arbeiter sich anzupassen und sich mit Rationalisierung und dessen Name ARAL sich von dessen che- den neuen Machthabern zu arrangieren. Modernisierung mischer Zusammensetzung ableitete, ent- Die Nationalsozialisten bemühten sich wickelte der B.V. den ersten Superkraftstoff durchaus mit Erfolg, der Arbeiterschaft Der verlorene Erste Weltkrieg führte in den der Welt. Die Montanindustriellen suchten positive Angebote und Aufstiegschancen 1920er-Jahren in der Montanindustrie zu aber auch in anderen Sparten nach neuen anzubieten. „Schönheit der Arbeit“, „Kraft enormen Rationalisierungsbemühungen. Absatzmärkten. In diesem Zusammenhang durch Freude“ boten Identifikations- und Zentrales Element im Bergbau war die Me- stand auch die Gründung der „Deutschen Freizeitmöglichkeiten, insbesondere für chanisierung des Kohlentransports und der Libbey-Owens-Gesellschaft“ (DELOG) 1925 junge Arbeiter. NS-Jugendorganisationen Kohlegewinnung durch den massenhaften in Gelsenkirchen-Rotthausen durch die Berg- wie HJ oder BDM versprachen sozialen Einsatz von Presslufthämmern. Höhepunkt werksgesellschaft Dahlbusch. Das Verfah- Aufstieg und eine bessere Zukunft. dieser Entwicklung war die Gründung der ren, das der Gesellschaft ihren Namen gab, Vereinigte Stahlwerke AG (VSt) 1926. Mit diente der Herstellung von Flachglas. Mitte Während der Zeit des Nationalsozialismus 250.000 Beschäftigten war das Unternehmen der 1950er-Jahre kam jede zweite Fenster- nahm das Ruhrgebiet zwar weiterhin eine der größte Stahlkonzerns Europas. Auch scheibe in Deutschland aus Gelsenkirchen. zentrale Position in der Rüstungswirtschaft
16 17 ein, aber längst gab es auch in anderen Wie bereits nach dem Ersten Weltkrieg wur- Teilen des Deutschen Reiches kriegswichtige de die Sozialisierung der Montanindustrie Produktionsstätten. Während des Zweiten gefordert. Man gab wichtigen Vertretern der Weltkrieges war die Region von Großbri- Schwerindustrie eine Mitschuld am Ent- 1916/17 Eine große Hunger- tannien für die alliierten Bomberflotten gut stehen des Nationalsozialismus und seiner krise im Ersten Weltkrieg wirkt erreichbar. Ab 1942 intensivierten sie ihre Verbrechen. Nazi-Diktatur und Zweiter Welt- sich verheerend auf die Bevöl- Luftangriffe, die besonders die Innenstädte, krieg betrachtete man in weiten Kreisen der kerung des Ruhrgebiets aus. die Betriebe und die Arbeiterwohnviertel Bevölkerung, der Gewerkschaften und poli- trafen. Im April 1945 erreichten alliierte tischen Parteien als Folgen einer kapitalisti- Verbände das Ruhrgebiet, in der „Schlacht schen Wirtschaftsordnung. Deshalb forderte 1920 Ruhrarbeiter formieren 1920 1920 Die Gründung des Sied- um die Ruhr“ am 21. April 1945 kamen man eine Demokratisierung der Wirtschaft eine Rote Armee, die den gegen lungsverbandes Ruhrkohlenbe- kurz vor Ende des Krieges noch über 11.000 durch Überführung der Schüsselindustrien in die neue Weimarer Demokra- zirk (SVR) in Essen erfolgt mit Soldaten auf beiden Seiten ums Leben. Gemeineigentum. Nach 1945 stand zunächst tie gerichteten reaktionären dem Hauptzweck, die Repara- Kapp-Putsch zurückschlägt. tionen als Folgen des Versailler der gesamte Kohlebergbau sowie die Eisen- Vertrages zu gewährleisten. Im Zweiten Weltkrieg mussten Hundert- und Stahlindustrie unter alliierter Kontrolle 1923-1925 Die Besetzung des tausende von zivilen Zwangsarbeitern, (North German Coal Control und North Ruhrgebiets durch französi- Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen in German Iron and Steel Control). Die Rechte sche und belgische Truppen und die Hyperinflation führt der Montanindustrie des Ruhrgebiets unter der Eigentümer blieben dabei unangetastet. zu einer schweren politischen 1926 Mit der Gründung der Verei- unmenschlichen Bedingungen arbeiten. Eine Neuregelung der Eigentumsverhältnisse und wirtschaftlichen Krise. nigte Stahlwerke AG (VSt) entsteht Über 6.000 Juden sowie eine nicht näher sollte zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Europas größter Stahlkonzern. bekannte Anzahl von Sinti und Roma und Die Hoffnung der politischen Parteien und „Euthanasie“-Opfern wurden ermordet. der Gewerkschaften auf eine grundsätzliche Neuordnung der wirtschaftlichen Verhält- nisse erfüllten sich aber nicht. 1948 wurde im nordrhein-westfälischen Landtag ein Gesetz 1930 Politischer und zur Sozialisierung des Kohlebergbaus be- wirtschaftlicher Neubeginn schlossen, dem die britische Militärregierung jedoch ihre Zustimmung verweigerte. Einen Nach jahrelanger politischer Unterdrü- vorläufig letzten wichtigen Erfolg konnten die ckung in der NS-Zeit entstanden nach Gewerkschaften nach Androhung von mas- 1933 Die Machtübernahme der 1933 Von dem Einsetzen des Nationalsozialisten stößt im Ruhr- ökonomischen Aufschwungs 1945 auf betrieblicher und lokaler Ebene siven Kampfmaßnahmen noch im Jahr 1951 gebiet auf Proteste und Wider- und der zunehmend dirigisti- antifaschistische Ausschüsse, die sich um mit der Einführung der paritätischen Mitbe- stand aus dem Arbeitermilieu. schen NS-Wirtschaftspolitik eine Ingangsetzung der Produktion und die stimmung in der Montanindustrie erzielen. profitiert vor allem die Rüs- Versorgung der Menschen mit den drin- Plakat zum Mar- tungsindustrie im Ruhrgebiet. gendsten Mitteln des Alltags kümmerten. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam dem Berg- sätzliche Lösung des Arbeitskräfteproblems shallplan 1950; Sehr bald bildeten sich aber auch wieder bau im Ruhrgebiet eine Schlüsselrolle beim wurde aber erst Ende der 1940er-Jahre mit Quelle: Münchener politische Parteien, die an die Traditionen wirtschaftlichen Aufstieg der Bundesrepublik der Anwerbung so genannter Neubergleute Stadtmuseum der Weimarer Zeit anknüpften. Auch ein Deutschland zu. Mit dem Zusammenbruch aus anderen Teilen Deutschlands und der gewerkschaftlicher Neuanfang erfolgte. der Kohlewirtschaft 1944/45 war auch die allgemeinen Verbesserung der wirtschaftli- Nur anders als vor 1933 sollte es keine Versorgung der Einwohner des Ruhrgebiets chen Verhältnisse erreicht. Negativen Einfluss 1940 Richtungsgewerkschaften, sondern eine zusammengebrochen. Es gab weder Brenn- auf die Förderleistung des Ruhrbergbaus Einheitsgewerkschaft in allen Branchen stoff, Lebensmittel noch Wohnraum im hatte auch der in der NS-Zeit betriebene geben.1949 wurden diese Branchengewerk- ausreichenden Maße. Auf den Zechen gab Kohleraubbau, der sich auf die leicht zu 1942 Die alliierten Luftan- schaften unter dem Namen Deutscher es nach der Befreiung der Zwangsarbeiter erschließenden Flöze konzentrierte. Neue griffe auf industrielle Zentren Gewerkschaftsbund (DGB) in einem zu wenig Arbeitskräfte. Die britische Mi- Investitionen blieben nach dem Zweiten und Wohngebiete der Re- Dachverband zusammengeführt. Man litärregierung versuchte, das Problem mit Weltkrieg zunächst wegen der ungeklärten gion werden intensiviert. wollte aus den Fehlern der Vergangenheit Anwerbemaßnahmen, Zwangsverpflich- Eigentumsverhältnisse und des staatlich lernen; die gespaltene Arbeiterbewegung in tungen und der gezielten Verbesserung der festgesetzten Kohlepreises aus. Der Ruhr- 1945 Nach dem Ende des Zwei- der Weimarer Zeit wurde als eine wichtige Ernährungslage der Bergleute in den Griff bergbau war deshalb noch bis in die 1950er- ten Weltkrieges erfolgt die Ursache für die Etablierung der NS-Dik- zu bekommen. Die bergmännischen Arbeits- Jahre nicht in der Lage, die stetig wachsende Beschlagnahme des gesamten Kohlebergbaus und der Eisen- tatur angesehen. Im Ruhrgebiet entwi- leistungen wurden mit einem Punktesystem Nachfrage nach Energie zu befriedigen. Erst und Stahlindustrie durch die ckelte sich die IG Bergbau zur wichtigsten bewertet, wonach sich zusätzliche Lebens- 1956 trug die beginnende Modernisierung britische Militärregierung. und einflussreichsten Gewerkschaft. mittelzuteilungen richteten. Eine grund- der Kohleförderung erste Früchte. Mit über
18 19 124 Millionen Tonnen geförderter Ruhr- kohle machte sie 82 Prozent der gesamten bundesdeutschen Steinkohlenförderung aus. Zu der Zeit förderten im Ruhrgebiet etwa 150 Zechen mit einer Gesamtbelegschaft von fast einer halben Million Bergleute. 1950 1951 Nach Androhung massiver Protestmarsch der Kampfmaßnahmen durch die Strukturkrise und IG Bergbau gegen Gewerkschaften gegen die von Konrad Adenauer geführte erste ökonomischer Wandel die angekündigte Stilllegung der Bundesregierung wird die pari- tätische Mitbestimmung in der Im Februar 1958 wurden auf den Zechen Zeche Graf Bis- Montanindustrie eingeführt. des Ruhrgebiets erste Feierschichten ein- marck in Gelsen- gelegt, die Nachfrage nach Kohle blieb kirchen am 19. hinter den Förderkapazitäten zurück. Die Februar 1966; Foto: 1955-1973 Die gezielte An- 1955 beginnende Kohlekrise traf das Ruhrgebiet Manfred Scholz, werbung ausländischer Arbeit- völlig unerwartet. Wiederaufbau, Marshall- Quelle: Fotoarchiv nehmer durch den Staat und planhilfen und das westdeutsche „Wirt- Ruhr Museum die Industrie führt zu einem schaftswunder“ hatten die strukturellen erhöhten Zuzug von Migranten aus Südeuropa und der Türkei. Schwächen der einseitig auf Kohle und Stahl ausgerichteten Ruhrwirtschaft verdeckt. mit weniger als 30.000 Beschäftigten. Mit viele Stahlarbeiter des Reviers. Dennoch stieg 1958 Im Ruhrbergbau setzt Durch die von der Bundesregierung ge- der Schließung der Zeche Prosper-Haniel die Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet allmählich infolge preisgünstiger Import- förderte Liberalisierung der Energiemärkte in Bottrop wurde letztlich 2018 nicht nur strukturell an und sank auch nicht in Pha- kohle und der staatlich ge- konkurrierten jetzt preisgünstige Import- das letzte Bergwerk im Ruhrgebiet stillge- sen besserer Konjunkturverläufe. Ende der förderten Energieträger Öl kohle, Öl und Gas mit der Ruhrkohle, deren legt – in ganz Deutschland ging damit die 1980er-Jahre wuchsen die Proteste angesichts und Gas die Kohlekrise ein. 1960 Absatz massiv einbrach. Zunehmend wurden Ära des Steinkohlenbergbaus zu Ende. der Werksschließungen in Hattingen, Rhein- Öl-Pipelines und Raffinerien gebaut, im- hausen und Dortmund. Hundertausende portiertes Erdgas ersetzte das Kokereigas. Die Eisen- und Stahlindustrie blieb zu- gingen auf die Straße und nahmen auch an 1968 waren bereits über die Hälfte der ur- nächst von der Krise verschont – bis in spektakulären Aktionen wie der Besetzung 1962 Als erfolgreiche Neu- 1962-1972 Die Gründung von sprünglichen Förderkapazitäten abgebaut den 1970er-Jahren die Folgen der Welt- der Rheinhausener Brücke oder der „Er- ansiedlung der Autoproduk- drei neuen Universitäten in und knapp 80 Zechen der ursprünglich wirtschaftskrise auch die Hüttenwerke des stürmung“ der Villa Hügel in Essen teil. tion im Ruhrgebiet eröffnet Bochum, Dortmund und Essen ca.150 noch existierenden geschlossen. Ruhrgebiets erfassten. In ganz Westeuropa das Opel-Werk in Bochum. führt zur nachhaltigen Etab- stand die Stahlindustrie in harter Konkur- Nach den Werksschließungen wurden die lierung von Wissenschaft und Forschung im Ruhrgebiet. Bis in die 1960er-Jahre reagierten die Ze- renz zu den Werken in Osteuropa und in meisten Fördertürme und Hochöfen ab- chenbelegschaften und ihre Gewerkschaf- so genannten Schwellenländern wie Indien gerissen. Teilweise wurden aber auch ganze 1965 ten mit massiven Protesten, enttäuschte und China und geriet dadurch in Absatz- Hüttenbetriebe und Kokereien an indische Bergleute zogen mit schwarzen und roten schwierigkeiten. Die Unternehmen reagier- oder chinesische Unternehmen verkauft, die Fahnen durch die Straßen des Ruhrgebiets ten mit Fusionen (Krupp-Hoesch-Thys- sie dann demontierten und in ihre Heimat- und setzten Politik und Unternehmen unter sen), Belegschafsabbau, Rationalisierung länder verschifften. Einige Flächen konnten Druck, die gefährdeten Arbeitsplätze zu er- und Schließung von ganzen Standorten. In gewerblich genutzt werden, wie zum Bei- halten. „Kein Bergmann sollte ins Bergfreie Duisburg-Meiderich (1985), in Hattingen spiel das Gelände der ehemaligen Zechen 1968 Die Einheitsgesell- fallen“, lautete die Forderung, und tatsächlich (1987), in Rheinhausen (1993) und in Dort- Dannenbaum und Bruchstraße in Bochum, schaft Ruhrkohle AG über- gelang es durch Sozialpläne, Umschulungs- mund-Hörde (1998/2001) verlöschten die auf dem die Firma Opel ihr Werk zu Be- nimmt die noch im Ruhrge- maßnahmen und Vorruhestandsregelungen, Feuer endgültig. Im Gegensatz zum Berg- ginn der 1960er-Jahre erfolgreich ansiedeln biet verbliebenen Zechen. die meisten Bergleute beruflich und sozial bau erlebte die Stahlindustrie am Anfang konnte. Auch die Anlage des Duisburger 1970 abzufedern. 1968 übernahm die neu ge- des 21. Jahrhunderts mit ihren Produkten Logistikzentrums Logport auf dem ehemali- gründete Einheitsgesellschaft Ruhrkohle AG aber noch einen regelrechten Zwischen- gen Hüttenwerksgelände Rheinhausen kann die noch verbliebenen Zechen, verringerte boom, allerdings in immer weniger Betrieben – als Teil des größten Binnenhafens Europas deren Zahl weiter oder modernisierte die und mit stark reduzierten Belegschaften. mit über 5.000 Arbeitsplätzen (Stand 2021) noch wirtschaftlich rentabel arbeitenden – durchaus als Erfolgsgeschichte angesehen Anlagen. Zuletzt förderte die Ruhrkoh- Ähnlich wie im Bergbau eröffneten Sozialplä- werden. Andere ehemalige Standorte der le AG nur noch in zwei Verbundzechen ne und Umschulungen neue Perspektiven für Schwerindustrie gingen im Rahmen der
20 21 Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (SVR) 1969 Die Denkmal-Unterschutz- gegründet worden. Seinem späteren Nach- 1970 stellung der Maschinenhalle auf der Zeche Zollern in Dort- folger ab 1979, dem Kommunalverband mund führt in der Folgezeit zur Ruhrgebiet (KVR), fehlten aber ausreichende Gründung einer Vielzahl von planerische Kompetenzen, denn diese lagen regionalen Industriemuseen. jetzt bei den drei Bezirksregierungen in 1975-2001 Die weltweite Stahl- Arnsberg, Münster und Düsseldorf. Die Rolle krise erfasst auch die Hütten- des KVR blieb überwiegend auf Öffentlich- werke des Ruhrgebiets, was in keitsarbeit (z.B. Imagekampagnen für das der Folgezeit zu zahlreichen Ruhrgebiet), Kulturförderung sowie Freizeit- Werksschließungen führt. 1979 Als Nachfolger des Siedlungs- und Grünflächenplanung beschränkt. Viele 1980 verbandes Ruhrkohlenbezirk wird Versuche einer übergreifenden regionalen der Kommunalverband Ruhrgebiet Zusammenarbeit scheiterten an gegensätz- gegründet, allerdings ohne ausrei- lichen Interessen, vor allem der Städte in chende planerische Kompetenzen. den Randzonen des Reviers im Osten und im Westen. Nachfolger des KVR wurde 2004 der Regionalverband Ruhr. Seit 2009 ist er erstmals wieder für die staatliche Regional- planung in der Metropole Ruhr zuständig. Das Verbandsgebiet des RVR besteht der- 1989-1999 Die Internationale zeit aus elf Städten und vier Kreisen. Der Bauausstellung (IBA) Emscher 1990 RVR ist Träger bedeutender Infrastruktur- Park versteht sich als struktur- Nordsternpark in projekte wie der „Route Industriekultur“ politisches Modell der öko- Gelsenkirchen; „Industriekultur“ neue Wege als kulturelle Trotz dieser durchaus vorzeigbaren positiven und dem „Emscher Landschaftspark“. nomischen und ökologischen Foto: RIK/Lud- oder museale Highlights der Region. Dabei Elemente im Wandel der Region, die nicht Erneuerung der Emscherregion. ger Staudinger wären an erster Stelle die Industriemuseen zuletzt durch das „Entwicklungsprogramm Die Stilllegungswelle in der Montanindustrie der beiden Landschaftsverbände West- Ruhr“ (1968-1973) angeschoben wurden, ab Mitte der 1980er-Jahre sowie zahlreiche falen und Rheinland zu nennen, wie zum das Europa-, Bundes- und Landesmittel für städtebauliche, soziale und ökologische Beispiel die Zeche Zollern in Dortmund Industrieansiedlungen, Verkehrs-, Bildungs-, Probleme waren Hintergrund für die Inter- oder das Rheinische Industriemuseum und Freizeitinfrastruktur bereitstellte, gelang nationale Bauausstellung Emscher Park (IBA 1999 Als touristisches Netzwerk in Oberhausen. Es entstanden aber auch es nicht, eine nachhaltige Strukturreform Emscherpark) in der Zeit von 1989 bis 1999. 2000 des Regionalverbandes Ruhr weitere Top-Highlights der Region wie die in allen wichtigen Bereichen umzusetzen. Unter der Regie des NRW-Städtebauministe- wird die „Route der Industrie- 2001 Die Zeche und die Koke- UNESCO-Welterbe-Zeche Zollverein in Positive Ansätze gab es zum Beispiel beim riums verstand die IBA sich als neues struk- kultur im Ruhrgebiet“ eröffnet. rei Zollverein in Essen werden Essen, der Landschaftspark Duisburg-Nord Ausbau von Autobahnen und Straßen. Bei turpolitisches Modell der ökonomischen und als Kulturerbe in die Liste der oder der ehemalige Gasometer der GHH der Modernisierung des öffentlichen Nahver- ökologischen Erneuerung der Emscherzone, UNESCO-Welterbe-Stätten in in Oberhausen als spektakuläre Ausstel- kehrs hingegen ist bis heute, auch auf Grund also der nördlichen Region des Ruhrgebiets, Deutschland aufgenommen. lungshalle. Auch Bürgerinitiativen in den von regionalen und lokalen Partikularinteres- die am stärksten von der Strukturkrise be- 1970er-Jahren trugen – etwa in der ältesten sen, noch sehr vieles im Argen. Auch der Er- troffen war. Die IBA verfügte über keine eige- Arbeitersiedlung des Ruhrgebiets in Ober- folg des Opel-Werks in Bochum währte zwar nen Mittel, sondern schöpfte aus bestehenden hausen-Eisenheim – zum langfristigen immerhin mehrere Jahrzehnte, doch 2014 oder aufgestockten Förderprogrammen auf Erhalt des industriekulturellen Erbes der rollte dort der letzte Opel Zafira vom Band europäischer, Bundes- oder Landesebene. Im Region bei. Krönender Abschluss dieser Be- und beendete damit die Ära der Automobil- Vordergrund stand dabei die gezielte Nut- 2010 2010 Essen wird stellvertretend für die dem Regionalverband mühungen war – verbunden mit der Absicht produktion in Bochum. Andere Autoher- zung ehemaliger Industrieareale für Wirt- Ruhr angehörigen Städte und einer touristischen Inwertsetzung – 1999 steller wie Ford oder VW bekamen erst gar schafts-, Wohn-, Freizeit und Kulturprojekte Kreise Kulturhauptstadt Europas. die Eröffnung der Route Industriekultur im nicht die reale Chance, Produktionsstätten und die ökologische Erneuerung. In der Ver- Ruhrgebiet durch den heutigen Regionalver- im Ruhrgebiet aufzubauen. Der Bergbau ver- gangenheit war der Regionalverband Ruhr band Ruhr. Mit der Gründung dreier Uni- hinderte deren Ansiedlung, da er die Abwer- auch ein wichtiger Träger der IBA-Nachfolge- versitäten (Ruhr Universität Bochum 1962, bung qualifizierter Arbeitskräfte befürchtete. Events Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 Technische Universität Dortmund 1968 und Grüne Hauptstadt Europas (Essen, 2018 Die Schließung der Zeche und Gesamthochschule Essen 1972, ab 2003 Um eine einheitliche planerische Gestaltung 2017). Bei der Klimametropole RUHR 2022 Prosper-Haniel in Bottrop als durch Fusion Universität Duisburg-Essen) des Ruhrgebiets zur Überwindung städti- und der Internationalen Gartenbauaus- letztes Bergwerk im Ruhrgebiet be- hielten auch Wissenschaft und Forschung scher, betrieblicher und teilregionaler Einzel- stellung im Ruhrgebiet (2027) ist der RVR siegelt auch das Ende des Steinkoh- 2020 im großen Maßstab Einzug ins Ruhrgebiet. interessen umzusetzen, war bereits 1920 der ebenfalls als wichtigster Projektträger dabei. lebergbaus in ganz Deutschland.
22 23 Gesellschaftliche Veränderungen für die Sozialdemokraten im hohen Maße Literaturempfehlungen Karola Geiß-Netthöfel/Dieter Nellen/ politisch auszahlte. Im Verlauf der 1950er- Wolfgang Sonne (Hrsg.): Vom Ruhr- Für viele Betrachter, auch von außerhalb der und 1960er-Jahre wurden die meisten Städte gebiet zur Metropole Ruhr. SVR KVR Region, ist das „Steigerlied“ gewissermaßen und Kommunen im Ruhrgebiet sozialdemo- RVR 1920-2020, Berlin 2020 ein Synonym für das Ruhrgebiet schlecht- kratisch regiert. Zwischen 1966 und 2005 Stefan Berger: Was ist das Ruhrgebiet? Eine hin. Auch wenn das Lied „Migrations- stellten die Sozialdemokraten kontinuierlich historische Standortbestimmung, in: Aus Bodo Hombach/Brost-Stiftung (Hrsg.): Die Hintergrund“ hat (es stammt ursprünglich in Düsseldorf die Ministerpräsidenten, daran Politik und Zeitgeschichte Ruhrgebiet, 69. Ruhr und ihr Gebiet. Leben am und mit dem aus dem sächsischen Erzgebirge), ist es im hatte das Ruhrgebiet einen wichtigen An- Jahrgang, 1-3/2019. Januar 2019, S. 4-11 Fluss, Band 2. Die Ruhr und das Ruhrgebiet. Ruhrgebiet wie auch in anderen früheren teil. Ab den 1960er-Jahren begann sich ein Fluss, Industrieregion, Strukturwandel seit Bergbauregionen in Deutschland bis heute allmählicher sozialer Wandel im Ruhrgebiet Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grüt- Anfang des 19. Jahrhunderts, Münster 2020 fester Bestandteil öffentlicher Auftritte von abzuzeichnen. Der Rückgang der Industrie- ter (Hrsg.): Ruhr Museum. Natur. Kultur. Bergmannskapellen. Obwohl der Text etwas arbeit im Bergbau und in der Stahlindustrie Geschichte, Ausstellungskatalog, zwei- Toni Pierenkemper: Die Entstehung des antiquiert und verklärend erscheint, spiegelt veränderte die Erwerbsstrukturen. Kleinere te aktualisierte Auflage, Essen 2020 Ruhrgebiets als Wirtschaftsraum im 19. er offensichtlich noch heute Lebensgefühl Familien, höherer Lebensstandard, bessere Jahrhundert, in: Jennifer Garner/Karsten und möglicherweise auch berufsständischen Bildungschancen, auch durch die im Ruhr- Michael Farrenkopf/Stefan Goch/Man- Plewnia/Manuel Zeiler (Hrsg.): Tagungs- Stolz vieler ehemaliger Bergleute wider. gebiet gegründeten Universitäten, begannen fred Rasch/Hans-Werner Wehling band 20. Internationaler Bergbau-& Mon- die vorher geschlossenen Milieus aufzulösen. (Hrsg.): Die Stadt der Städte. Das Ruhr- tanhistorik-Workshop. Zeche Zollern/ Schließlich war es ja diese Berufsgruppe, die gebiet und seine Umbrüche, Essen 2019 Ruhrgebiet 2017, Clausthal-Zellerfeld 2017 nach 1945 mit alliierter Hilfe nicht nur zum Aber auch die verschiedenen Zuwanderungs- Motor des wirtschaftlichen Aufbaus im Ruhr- wellen beschleunigten diese Auflösungs- gebiet, sondern zum Zentrum des bundes- prozesse. Waren es nach 1945 zunächst republikanischen „Wirtschaftswunders“ ins- die Flüchtlinge und Vertriebenen aus den gesamt wurde. Im Steinkohlenbergbau und ehemaligen deutschen Ostgebieten und in der Stahlindustrie verdienten überwiegend später die Flüchtlinge aus der DDR, wurden männliche Arbeiter gutes Geld, das ihren ab Mitte der 1950er-Jahre bis 1973 gezielt Familien eine Teilnahme am wirtschaftlichen ausländische Arbeitnehmer von Staat und Boom erlaubte. Über die 1950er-Jahre hinaus Industrie angeworben. Insbesondere der prägte die Arbeit in der Montanindustrie Bergbau und die Stahlindustrie im Ruhrge- die Mentalität und soziale Situation eines biet unternahmen große Anstrengungen, die großen Teils der Bevölkerung im Ruhrgebiet. so genannten „Gastarbeiter“ aus Südeuropa Arbeit und Kollegen, Heirat und Familie, und der Türkei anzuwerben. Sie sollten die Vereine und Gewerkschaften gaben einen bei Deutschen unbeliebten schweren und stabilen und überschaubaren Rahmen. körperlich anstrengenden Arbeiten überneh- men. Aus den „Gastarbeitern“, die lange Zeit Die nach dem Zweiten Weltkrieg gegrün- fest an eine Rückkehr in ihre ursprünglichen deten Einheitsgewerkschaften waren im Heimatländer glaubten, wurden aber lang- Ruhrgebiet stark. Bei der IG Bergbau lag der fristig schließlich Einwanderer wider Willen Organisationsgrad bei 90 Prozent, schon in einem Einwanderungsland wider Willen. weil das Mitgliedsformular häufig für eine (erfolgreiche) Einstellung im Unternehmen In den 1970er- und 1980er-Jahren kamen unterschrieben werden musste. Aber auch weitere Migranten überwiegend wegen ihrer die IG Metall verzeichnete hohe Mitglieder- zuerkannten deutschen Staatsangehörig- zahlen. Parallel zur Entwicklung der Ge- keit – Bewohner aus dem früheren deut- werkschaften vollzog die SPD nach 1945 schen Oberschlesien, Polen mit deutscher einen grandiosen Aufschwung. War das Abstammung, Russland-Deutsche und Ruhrgebiet bis 1933 politisch von KPD und Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjet- katholischem Zentrum dominiert, wurde es union. Inwieweit man das Ruhrgebiet nun nun zur Hochburg der SPD. Sie wurde zur als „Weltmeister in Sachen Integration“ klassischen „Kümmererpartei“. „Geh mal bezeichnen kann oder einfach als Region, zu Hermann (dem lokalen Parteisekretär), die eine ungeheure Vielfalt an Herkünften, der macht das schon“, wurde zum geflügel- Vorstellungswelten, Mentalitäten und in- ten Wort in der Region. Gewerkschaften dividuellen Verhaltensweisen zur Kenntnis und SPD bildeten eine feste Allianz, die sich nimmt, soll einmal dahingestellt bleiben.
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