Industriezeitalter im Ruhrgebiet - Route Industriekultur

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Industriezeitalter im Ruhrgebiet - Route Industriekultur
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Industriezeitalter im Ruhrgebiet
Industriezeitalter im Ruhrgebiet - Route Industriekultur
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    Industriezeitalter im Ruhrgebiet
Industriezeitalter im Ruhrgebiet - Route Industriekultur
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    Industriezeitalter im Ruhrgebiet                                                                        stadt Dortmund genossen noch Souveräni-
                                                                                                            tät innerhalb des alten Deutschen Reiches.
                                                                                                                                                          Voraussetzungen

                                                                                                                                                          Die Landschaft des Ruhrgebiets war über-
                                                                                                            All das änderte sich 1815 nach dem Wie-       wiegend agrarisch geprägt. Zu den „großen
                                                                                                            ner Kongress mit dem Übergang des ge-         Städten“ der Region zu Beginn des 19. Jahr-
                                                                                                            samten rheinisch-westfälischen Raumes         hunderts gehörten zum Beispiel Duisburg
                                                                                                            an Preußen. Jetzt wurden die Territorien      mit etwa 5.500 Einwohnern, Essen mit circa
                                                                                                            neu gegliedert. Mit Arnsberg, Münster und     4.700 und Dortmund mit ungefähr 4.300
                                                                                                            Düsseldorf entstanden drei neue Regierungs-   Einwohnern. Die „boomende“ Textilin-
                                                                                                            bezirke, und die beiden Provinzen Rhein-      dustrie-Region des 18. Jahrhundert lag in un-
                                                                                                            land und Westfalen wurden gegründet.          mittelbarer Nachbarschaft im Tal der Wup-
                                                                                                                                                          per mit den großen Städten Elberfeld und
                                                                                                            Mit der Gründung des SVR 1920 gehör-          Barmen. Beide Städte besaßen zu der Zeit mit
                                                                                                            ten 17 Stadt- und elf Landkreise zum Ver-     rund 40.000 Einwohnern mehr Einwohner
                                                                                                            bandsgebiet. Robert Schmidt, Technischer      als das gesamte damalige „Ruhrgebiet“. Auch
                                                                                                            Beigeordneter und Leiter des Stadterweite-    die wichtigsten Manufakturen und Betriebe
                                                                                                            rungsamtes der Stadt Essen wurde der erste    zur Gewinnung von Eisen in der damali-
                                                                                                            Verbandsdirektor. Hauptzweck des SVR war      gen Zeit hatten sich außerhalb des späteren
                                                                                                            zunächst Wohnraum für 150.000 zusätz-         Ruhrgebiets angesiedelt. So zum Beispiel im
                                                                                                            liche Bergleute und ihre Angehörigen, also    Siegerland, im Sauerland und im Bergischen
                                                                                                            etwa 600.000 Menschen, zu schaffen, um        Land, wo die Rohstoffe – Eisenerze und Holz
                                                                                                            unter anderem die Reparationsleistungen des   – sowie die Wasserenergie zum Betreiben von
                                                                                                            Versailler Vertrages zu gewährleisten. Der    Hütten vor Ort vorhanden waren. Diese Hüt-
                                                                                                            SVR widmete sich aber auch der Begren-        ten vertrieben ihre Erzeugnisse in ganz Euro-
    Zeche Zollverein Essen; Foto: RIK/Ludger Staudinger                                                     zung der Bodennutzung durch die Industrie,    pa, ebenso wie die märkische Textilindustrie.
                                                                                                            indem Grünflächen ausgewiesen wurden,
                                                                                                            sowie der Verbesserung der Verkehrsver-       Der Staat Preußen schuf ab dem 18. Jahr-
    Das Ruhrgebiet                                        regionalen Standorte der Steinkohleför-           hältnisse durch den Bau von Straßen.          hundert wichtige Voraussetzungen für die
                                                          derung bzw. deren künftige Abbaugebiete.
    Von einer beschaulichen, ländlich geprägten,          Damit bildete dieser Wirtschaftszweig jahr-
    etwas peripheren Region zum größten Wirt-             zehntelang die entscheidende Grundlage
    schaftsraum Europas: Das heutige Ruhrgebiet           für die Regionalplanung im „Ruhrkohlen-
    ist innerhalb kürzester Zeit das Herzstück der        bezirk“. Mit seinen umfassenden Zustän-
    Schwerindustrie in Deutschland geworden.              digkeiten für Verkehr, Siedlung und Grün
    Die Industrielle Revolution hat das Gesicht           sorgte der SVR dafür, dass das Ruhrgebiet
    der Region geprägt, unwiederbringlich verän-          erstmals als Region in Erscheinung trat.
    dert und dabei allen Lebensbereichen ihren
    unverwechselbaren Stempel aufgedrückt. Mit
    dieser rasanten industriellen Entwicklung
    entstand eine neue Infrastruktur. Freiräume           Annährungen
    wurden geschaffen, Architektur und Urbani-
    tät entwickelten sich in neuen Dimensionen,           Eine geografische Annäherung an die Region
    Lebens- und Arbeitswelten veränderten sich            lässt den räumlichen Umfang des Gebietes
    innerhalb von kürzester Zeit in dramatischer          eingrenzen. Im Süden die Ruhr, im Norden
    Weise. Diesen Wandel nachzuvollziehen,                die Lippe, die Stadt Hamm im Osten und im
    hilft die Gegenwart der Region zu verstehen,          Westen der Landkreis Moers. Im 18. Jahr-                                                                                                        Bohrmühle an der
    Zukunftsperspektiven zu entwickeln und zu             hundert gliederte sich der Raum noch in                                                                                                         Spillenburg bei
    gestalten. Mit der Gründung des Siedlungs-            zahlreiche geistliche und weltliche Territorien                                                                                                 Essen um 1800,
    verbandes Ruhrkohlenbezirk (SVR) am                   wie die Grafschaft Mark und das Herzog-                                                                                                         Aquarell von
    4. Mai 1920 in Essen als eigene Administra-           tum Kleve, die schon zu Preußen gehörten.                                                                                                       Heinrich Kunolt
    tion wurde das Ruhrgebiet als Region zum              Andere Herrschaftsgebiete wie das Stift                                                                                                         1915/1936; Quelle:
    ersten Mal territorial definiert. Auf diesem          Essen, die Grafschaft Recklinghausen und                                                                                                        Rainer Rothenberg,
    Territorium befanden sich zu der Zeit alle            die Grafschaft Dortmund mit der Reichs-                                                                                                         Essen/Ruhr Museum
Industriezeitalter im Ruhrgebiet - Route Industriekultur
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    Entfaltung der Industrie im Ruhrgebiet.         Im Süden des Reviers trat die Steinkohle
    Dazu gehörten Reformen zur Bauern- und          an den steilen Abhängen zum Flussufer hin
    Gewerbefreiheit sowie die Liberalisierung       direkt zutage und konnte daher zunächst
    des Bergrechts. Auch gesetzliche Änderun-       im Tagebau gewonnen werden. Bereits früh
    gen wie die Einführung des bürgerlichen         entwickelten sich „Gewerkschaften“, die ge-
    Rechts nach dem Vorbild des „Code civil“        nossenschaftlich den Kohleabbau betrieben
    infolge der französischen Besetzung vor-        und Erträge sowie Kosten unter den Mit-
    maliger preußischer Gebiete schufen die         gliedern aufteilten. Man grub die Kohle mit
    notwendigen Bedingungen für eine erfolg-        einfachen Geräten im Brunnen- und Stollen-
    reiche Industrialisierung der Region. Auch      bau ab, wobei der Grundwasserspiegel der
    Handelserleichterungen wie die Aufhebung        Tiefe des Abbaus Grenzen setzte. Der Beginn
    von Zollschranken durch den Deutschen           des 18. Jahrhunderts markiert die erste
    Zollverein 1834 boten der Industrie und         wichtige Wendemarke in der technischen
    dem sonstigen Gewerbe bessere Rahmen-           und rechtlichen Entwicklung des Kohleberg-
    bedingungen für den Güteraustausch. Und         baus. Mit Hilfe von „Erbstollen“ war man
    last not least waren der von den Preußen        jetzt in der Lage, die Gruben zu entwässern
    initiierte Bau von befestigten Überland-        und ihnen Luft zuzuführen (zu bewettern).
    straßen („Kohlestraßen“) und so genannten       Auch der Staat interessierte sich zuneh-
    Chausseen sowie die Schiffbarmachung            mend für den Bergbau als Einnahmequelle.
    der Ruhr durch die Anlage von Schleusen         1737 ordnete die preußische Regierung
    erste Maßnahmen zur Entwicklung einer           das märkische Bergrecht neu. Die Gruben-
    industriellen Infrastruktur. Eng mit dieser     felder wurden neu vermessen und verteilt.
    Zeitperiode sind die Namen industrieller        Seither unterstanden sie der Kontrolle des
    Gründerpioniere wie Franz Dinnendahl            1738 gegründeten Bergamtes in Bochum.
    und Franz Haniel, Heinrich Arnold Huyssen
    und Mathias Stinnes, Friedrich Krupp und        In der Grafschaft Mark bestimmten bis zur          Malakowtürme und Maschinenhaus der Zeche Hannover 1/2 in Bochum vermutlich 1856; Quelle: Montanhistori-
    Friedrich Harkort verbunden. Unmittelbar        Mitte des 19. Jahrhunderts preußische Beam-        sches Dokumentationszentrum beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv
    nach Einführung der Gewerbefreiheit und         te und Fachleute die Konditionen für den Ab-
    der Aufhebung des Zunftzwanges gründe-          bau der Kohle wie auch die Arbeitszeiten und
    ten sie ihre Unternehmen in den Bereichen       Löhne der Bergleute. Die Zechenbesitzer hat-       letarisierung. Für den Staat bedeutete diese         nur mit Hilfe der Dampfmaschine mög-
    Maschinenbau, Bergbau, Eisen und Stahl          ten darauf keinen Einfluss. Für die Bergleute      Neuregelung den Übergang vom Direktions-             lich, die ab den 1840er-Jahren in den
    sowie Binnenschifffahrt und setzten auf die     hatte dieses „Direktionsprinzip“ Vorteile. Sie     zum „Inspektionsprinzip“, das heißt, er hatte        Tiefbauzechen des Ruhrbergbaus das
    Einführung technischer Innovationen.            waren vom Militärdienst befreit, hatten eine       keinen Einfluss mehr auf die technische,             Abpumpen des Wassers ermöglichte.
                                                    eigene Gerichtsbarkeit und genossen eine           organisatorische und wirtschaftliche Führung
                                                    gewisse Absicherung im Unfall- oder Krank-         der Bergwerke; den Bergämtern blieb bezüg-           Neben den zahlreichen Schachtanlagen in
                                                    heitsfall. Ab Anfang des 19. Jahrhunderts          lich der privaten Zechen nur noch die berg-          der Hellwegzone entstanden ab den 1870er-
    Bergbau                                         wurde das Direktionsprinzip mit seinen Ein-        polizeiliche Überwachung und Kontrolle.              Jahren viele Zechen in der nördlichen
                                                    schränkungen für die Zechenbesitzer immer                                                               Emscherregion. Ende des 19. Jahrhunderts
    Das Ruhrgebiet war vor der Industriali-         mehr zum Hemmschuh für eine weitere Ent-           Die zunächst an der Ruhr geförderte Ma-              wurde dann auch an der Lippe Kohle ab-
    sierung durchweg agrarisch geprägt. Von         wicklung des Bergbaus. Das Freizügigkeits-         gerkohle mit ihrem begrenzten Brennwert              gebaut und damit die nördliche Grenze des
    Industrie gab es keine Spur – mit Ausnahme      gesetz von 1860 ermöglichte den „Gewerken“         war allerdings für die sich zunehmend                heutigen Ruhrgebiets erreicht. Zum bedeu-
    der in Essen ansässigen Büchsenmacher-          ihre Betriebe selbst zu führen, die Löhne und      entwickelnde (Koks-)Hochofenindustrie                tendsten Bergwerk entwickelte sich dabei
    betriebe. Bis 1800 lebte man im Ruhrgebiet      Preise selbst zu bestimmen und sich dem ent-       nicht geeignet. Für die Produktion von               die Zeche Zollverein in Essen, die 1851 die
    vornehmlich von Ackerbau und Viehzucht.         wickelnden Kapitalmarkt zu öffnen. Mit Hilfe       Koks benötigte man die Fettkohle, die                Kohleförderung aufnahm. Sie gehörte Franz
                                                    von ausländischem Kapital vor allem aus            sich aber in Lagerstätten in bis zu 1.300            Haniel, der sie direkt an der Strecke der
    Der zukünftige Reichtum der Region war den      Belgien, Frankreich und Irland konnten sie         Metern Tiefe unterhalb der so genannten              1847 eröffneten Köln-Mindener Eisenbahn
    Bodenschätzen geschuldet, dabei spielten ins-   jetzt große Investitionen tätigen, was letztlich   Mergelschicht insbesondere im nörd-                  anlegte. Im Verlauf der 1870er-Jahre fand
    besondere die reichen Steinkohlenvorkom-        zu einer Ausweitung des Bergbaus im Ruhr-          lichen Ruhrgebiet befanden. Deshalb                  dann mit der Überschreitung des Rheins eine
    men eine wichtige Rolle. Seit dem Mittelalter   gebiet führte. Bei den Bergleuten führte diese     vollzog der Bergbau im 19. Jahrhundert               weitere Ausdehnung des Kohleabbaus nach
    ist der Kohleabbau an der Ruhr belegt. Bis      neue rechtliche Situation zu einem Verlust         eine Nordwanderung von der Ruhr im                   Westen statt, im Osten wurden im gleichen
    ins 18. Jahrhunderts wurde der Kohleab-         ihrer bis dahin vom preußischen Staat ge-          Süden über die Emscher bis zur Lippe                 Zeitraum im Kreis Hamm-Unna Schürf-
    bau im Wesentlichen nur als Nebenerwerb         währten Privilegien und zu einer zunehmen-         im Norden. Der Kohleabbau unterhalb                  rechte verliehen. Die Anzahl der fördernden
    von Bauern und Handwerkern betrieben.           den Entrechtlichung und wachsenden Pro-            der wasserführenden Mergelschicht war                Zechen im Ruhrgebiet lag jetzt bei etwa 170.
Industriezeitalter im Ruhrgebiet - Route Industriekultur
8                                                                                                                                                                                                                                             9

                                                                                    Eisen und Stahl

                                       1730                                         Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts spielte
                                                                                    das Ruhrgebiet als Erzeuger von Eisen für
                                                                                    die deutsche Industrie nur eine unterge-
                                              1737/38 Die Neuordnung des
                                              märkischen Bergrechtes ermög-         ordnete Rolle. Der Schwerpunkt des Eisen-
                                              licht eine weitestgehende Kontrolle   hüttenwesens lag damals in Südwestfalen.
                                              (Direktionsprinzip) des Bergbaus      Dort prägte eine teilweise bis heute noch
                                              durch den preußischen Staat.          vorhandene eher kleinbetrieblich-mittel-
                                                                                    ständisch orientierte Gewerbestruktur die
                                                                                    Region, die sich auf Schmiede-, Draht- und
                                                                                    Walzprodukte der Kleineisenindustrie und                                                                                                    St. Antony-Hüt-

                                       1760                                         deren Verfeinerung spezialisiert hatte.                                                                                                     te in Sterkrade im
                                                                                                                                                                                                                                Bauzustand von
                                                                                    Bis etwa 1850 bestimmten Eisenerzvorkom-                                                                                                    1834, Gemälde
                                                                                    men, Holzkohle und Wasser als Produk-                                                                                                       des Kunst- und
                                                                                    tionsfaktoren die Standorte der Hütten-                                                                                                     Industriemalers
                                                                                    werke. Das Eisenerz wurde vorwiegend vor                                                                                                    Jakob Weser Krell
                                                                                    Ort verarbeitet, und auch das Holz, aus dem                                                                                                 1902; Quelle: LVR-
                                                                                    man die für die Schmelze notwendige Holz-                                                                                                   Industriemuseum,
                                                                                    kohle gewann, stammte aus den umliegen-                                                                                                     Oberhausen
                                                                                    den Wäldern. Flüsse lieferten die notwen-
                                       1790                                         dige Wasserkraft, um die Hammerwerke zu
                                                                                    betreiben. Erst ab 1849 – als es auch in Preu-   Fettkohlevorkommen nördlich der Ruhr           einen Konverter mit flüssigem Roheisen zu
                                                                                    ßen gelang, anstelle von Holzkohle Koks für      mit Hilfe der Dampfmaschine veränderte         blasen, um dadurch den Kohlenstoffanteil
                                                                                    die Roheisenherstellung zu nutzen – wurde        ab etwa 1850 die Situation grundlegend.        im Roheisen zu reduzieren und so Stahl
                                                                                    das Ruhrgebiet mit seinen reichen Steinkoh-      Das Ruhrgebiet wurde jetzt für die Eisen-      zu gewinnen. Damit ließ sich in wesent-
                                                                                    lenvorräten ein idealer Standort für die Hüt-    hüttenindustrie attraktiv, weil sich aus der   lich kürzerer Zeit vor allem die Menge an
                                                                                    tenindustrie. Zunächst mangelte es im Ruhr-      Fettkohle Hüttenkoks als Brennstoff für        gewonnenem Stahl erhöhen. 1879 erwar-
                                                                                    gebiet am technischen Know-how und dem           die Hochöfen herstellen ließ und damit         ben der Hörder Verein in Dortmund und
                                                                                    wichtigem Rohstoff Eisenerz. Hüttentech-         die Holzkohle entbehrlich wurde. 1848/49       die Rheinischen Stahlwerke in Duisburg
 1815 Nach dem Wiener Kongress
    werden die Regierungsbezirke                                                    nologie und Eisenerze kamen zunächst aus         wurde auf der Friedrich-Wilhelms-Hüt-          die Patente des Thomasverfahrens. Diese
  Arnsberg, Münster und Düssel-        1820                                         dem Siegerland und waren eine wichtige Vo-       te in Mülheim der erste Kokshochofen in        Technik stellte eine Weiterentwicklung
   dorf und die Provinzen Rhein-                                                    raussetzung für den industriellen Take-off.      Betrieb genommen, über 100 Jahre später        des Bessemer-Verfahrens dar. Eine Aus-
     land und Westfalen gebildet.                                                   Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden         als in England. Ebenfalls mit zeitlicher       kleidung des Konverters mit gebranntem
                                                                                    aber auch eine Reihe von Verfahrenstech-         Verzögerung gelangten auch die wichtigs-       Dolomit ermöglichte auch die Verarbei-
                                                                                    niken aus den damals führenden Industrie-        ten modernen Stahlgewinnungsverfahren          tung phosphorreicher inländischer Erze.
                                              1834 Die Gründung des Deut-
                                                                                    staaten England und Belgien übernommen.          in das Ruhrgebiet. 1784 entwickelte der        Damit ließ sich weicher Stahl erzeugen,
                                              schen Zollvereins schafft bes-
        1837 Ab diesem Zeitpunkt              sere Rahmenbedingungen                Zu Beginn des 19. Jahrhunderts steckte das       Engländer Henry Cort das Puddelverfah-         der zur Herstellung billiger Massen-
    erfolgt der Einsatz der Dampf-            für den Güteraustausch von            Hüttenwesen des Ruhrgebiets im Unter-            ren. Er ließ Eisen unter einer Steinkohle-     stahlprodukte benutzt werden konnte.
        maschine zum Abpumpen                 Industrie und Handel.                 schied zum Bergbau noch in den Anfängen.         flamme aufkochen und so lange rühren, bis
       des Wassers in den Tiefbau-
          zechen des Ruhrgebiets .            1847 Die Eröffnung der Köln-Min-                                                       der Kohlenstoffanteil soweit herausoxidiert    Die technischen Fortschritte bei der Roh-
                                       1850   dener Eisenbahn verbessert den        Um 1830 waren im Raum Oberhausen/                war, dass Stahl entstand. 1826 wandte der      eisen- und Stahlerzeugung und die Er-
                                              Gütertransport der Montanindus-       Essen die St. Antony-Hütte und die Hütten        Industriepionier Friedrich Harkort das Ver-    schließung neuer Märkte führten nach 1850
   1848-1871 In den beiden Jahr-
                                              trie im Ruhrgebiet nachhaltig.        Gute Hoffnung und Neu-Essen die einzigen         fahren erstmalig in seiner „Mechanischen       zu einer Phase schnellen wirtschaftlichen
 zehnten zwischen der Revolution
von 1848 und der Reichsgründung                                                     bedeutenden Eisen erzeugenden Werke.             Werkstätte“ in der Burg Wetter an. Der sehr    Wachstums. Innerhalb von zehn Jahren
  von 1871 findet im preußischen                                                    Einer schnellen Verbreitung dieses Indus-        arbeitsaufwändige Puddelprozess wurde          entstanden im Ruhrgebiet elf Hochofen-
      Rheinland der entscheiden-                                                    triezweiges standen mehrere Hemmnisse            ab den 1860-Jahren vom stärker mechani-        werke mit 27 Hochöfen, darunter 25 Koks-
     de Durchbruch auf dem Weg                                                      im Weg: die geringen einheimischen Erz-          sierten Bessemer-Verfahren abgelöst. Das       hochöfen. Im Zeitraum von 1851 bis 1868
       zur Industrialisierung statt.
                                                                                    vorkommen, die hohen Zölle bei Import-           Stahlgewinnungspatent des ebenfalls aus        nahmen 25 Puddelwerke die Produktion
                                                                                    erzen und der durch Raubbau verursachte          England stammenden Ingenieurs Henry            auf, und 1876 waren bereits 56 Bessemer-
                                                                                    Mangel an Holzkohle als Brennstoff. Erst         Bessemer, von Alfred Krupp 1856 in Essen       Konverter im Betrieb. Die Stahlproduk-
                                       1880                                         die Erschließung der riesigen, tief liegenden    erworben, sah vor, Luft von unten durch        tion des Ruhrgebiets stieg von 157.000
Industriezeitalter im Ruhrgebiet - Route Industriekultur
10                                                                                                                                                                                                                                        11

                                                                                                                      provinzen wurden Masuren, Polen aus dem          zugezogenen Arbeitskräfte aber auch lang-
                                                                                                                      von Preußen annektierten polnischen Tei-         fristig an ihre Unternehmen binden konnte.
                                                                                                                      lungsgebiet und Oberschlesier mit dem Ver-
                                                                                                                      sprechen auf bessere Verdienst- und Lebens-      Um 1900 war jeder dritte Bergmann im
                                                                                                                      verhältnisse im Ruhrgebiet angeworben. Das       Ruhrgebiet polnischer Abstammung. Die
                                                                                                                      führte zu einer ungeheuren Bevölkerungs-         polnischen Zuwanderer formten häufig ihr
                                                                                                                      explosion in der Phase der Hochindustriali-      eigenes Milieu, konzentrierten sich in Beleg-
                                                                                                                      sierung. Die Einwohnerzahl des Ruhrgebiets       schaften („Polenzechen“), in Stadtteilen und
                                                                                                                      wuchs auf mehr als das Dreifache – von unter     in Arbeitersiedlungen. Sie gründeten eigene
                                                                                                                      einer Million auf mehr als drei Millionen. Für   Gewerkschaften, eigene Sportvereine und
                                                                                                                      die Städte und Industriedörfer bedeutete das     eigene soziale Netzwerke, um ihre kulturelle
                                                                                                                      eine ungeheure Herausforderung. Allein die       Selbstständigkeit zu bewahren. Diese Ver-
                                                                                                                      Bereitstellung von Wohnraum war eine kaum        suche, sich in der neuen Heimat politisch zu
                                                                                                                      zu bewältigende Aufgabe, da es schlicht zu       organisieren, um die nationale und kulturelle
                                                                                                                      wenig Kapazitäten in den zum Teil noch           Identität zu bewahren, wurden von den preu-
                                                                                                                      vom Mittelalter geprägten Stadtstrukturen        ßischen Behörden massiv unterdrückt. Im
                                                                                                                      gab und auch kein investitionsfähiges Bür-       Sinne der „Reichseinheit“ war man bestrebt,
  Krupp‘sche Guss-                                                                                                    gertum vorhanden war, um neuen Wohn-             die polnischsprachige Bevölkerung zu „ger-
     stahlfabrik nach   Tonnen im Jahr 1860 auf 550.000 Tonnen        Wachstum und Zuwanderung                        raum zu schaffen. Diese Aufgabe übernahm         manisieren“. Das hatte zur Folge, dass 1918,
     einer Zeichnung    im Jahr 1870. Wichtigste Abnehmer für                                                         daher die Montanindustrie, die einerseits        nach der Wiedergründung des polnischen           Siedlung Stahl-
      von J. Scheiner   die Eisen- und Stahlindustrie des Ruhr-       Die neu entstandene Montanindustrie im          das von ihr im großen Stil betriebene Arbei-     Staates, viele Polen das Ruhrgebiet wieder       hausen des
     1879/80; Quelle    gebiets waren die Eisenbahn, der Stein-       Bergbau und im Eisen- und Stahlbereich ge-      tersiedlungsprogramm als Mittel einset-          verließen und entweder in den neuen polni-       Bochumer Vereins
Historisches Archiv     kohlenbergbau, der Maschinenbau, die          wann durch die Einbeziehung von Kokereien       zen konnte, um die dringend benötigten           schen Staat oder weiter in die Industrieregio-   um 1910, Quelle
       Krupp, Essen     Bauindustrie und das Militär. Beim Absatz     und deren Nebenprodukten für die che-           Arbeitskräfte anzuwerben, andererseits die       nen nach Nordfrankreich oder Belgien zogen.      Historisches Archiv
                        in weiter entfernt liegende Gebiete erwies    mische Industrie ab Mitte des 19. Jahrhun-                                                                                                        Krupp, Essen
                        sich die verkehrsgünstige Lage des Ruhr-      derts eine ganz neue Bedeutung. Mit dieser
                        gebiets an Rhein und Ruhr als vorteilhaft.    Entwicklung war auch der weitere Ausbau
                        Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kam das         der für die Region so typischen Verbund-
                        immer weiter ausgebaute Streckennetz der      wirtschaft verbunden. Vom Rohstoff bis zum
                        Eisenbahn und der Kanalbau für die Bin-       Endprodukt sollte alles in einer Hand liegen.
                        nenschifffahrt als Standort fördernd hinzu.   Auch die Unternehmensorganisation durch-
                                                                      lief einen durchgreifenden Wandel. Nicht
                        Der Aufschwung der Eisen- und Stahl-          mehr einzelne Unternehmerpersönlichkeiten
                        industrie des Ruhrgebiets in der zweiten      wie zu Beginn der Industrialisierung be-
                        Hälfte des 19. Jahrhunderts war dramatisch.   stimmten den Entwicklungsverlauf ihrer Fir-
                        In nur knapp einem halben Jahrhundert         men. Nach 1850 entstanden Großunterneh-
                        war die Region zum größten europäi-           men in der Form von Aktiengesellschaften,
                        schen Montanzentrum herangewachsen.           die sich in Größe, Aufbau und Struktur gänz-
                        Die Produktionsstandorte konzentrierten       lich von den ursprünglichen Unternehmens-
                        sich im Westen vor allem auf den Raum         formen unterschieden. Kartellabsprachen,
                        Duisburg/Oberhausen/Essen, im mittleren       Fusionen und die Gründung einflussreicher
                        und östlichen Ruhrgebiet auf die Städte       Interessenverbände wie dem Rheinisch-West-
                        Gelsenkirchen, Bochum und Dortmund.           fälischen Kohlensyndikat 1893 oder dem
                        Mit den Städten verbanden sich die Namen      Roheisensyndikat 1896 führten zu einem
                        von Unternehmensdynastien – Thyssen in        weiteren Machtzuwachs der Konzerne.
                        Duisburg, Krupp in Essen und Hoesch in
                        Dortmund –, die über Generationen Wirt-       Am Anfang der industriellen Entwicklung
                        schaft, Industrieentwicklung, Urbanisie-      kamen die von der Montanindustrie benötig-
                        rung, Politik und Alltag der Menschen in      ten Arbeitskräfte aus der Region selbst, aber
                        der gesamten Region prägten. Aber auch        infolge der begrenzten Ressourcen bald auch
                        im Ruhrtal wie zum Beispiel in Hattingen,     aus dem Umland des Ruhrgebiets. Nach 1870
                        Witten und Wetter entwickelten sich wichti-   setze dann die Fernwanderung ein. Vor allem
                        ge Standorte der Eisen- und Stahlindustrie.   in den ländlich geprägten preußischen Ost-
Industriezeitalter im Ruhrgebiet - Route Industriekultur
12                                                                                                                                                                                                                                         13
                                                                                                                                                                                                            1820

      Hochwasser an
        der Emscher,
      Zechenkolonie
      Hansemann in
     Dortmund 1926;                                                                                                                                                                                         1840
 Quelle: Emscher-
      genossenschaft

                                                                                                                                                                                                                   1848/49 Der erste Kokshoch-
                       Arbeitswelt und                                 allem im katholischen Milieu verankert, die    gebiet immer wieder zum Ausbruch von                                                         ofen in Preußen wird auf der
                       Arbeiterbewegung                                „Polnische Berufsvereinigung ZZP“ vertrat      Epidemien. Zur Behebung dieser Missstände                                                    Friedrich Wilhelms-Hütte in
                                                                       die Interessen der polnischen Bergarbeiter,    wurde 1899 die Emschergenossenschaft ge-                                                     Mülheim in Betrieb genommen.
                       Zwischen 1871 und 1914 wurde, insbesonde-       der liberale „Gewerkverein Hirsch-Duncker“     gründet. Sie hatte die Aufgabe, die Emscher          1856 Alfred Krupp erwirbt das
                       re in der Montanindustrie, der Großbetrieb      blieb im Ruhrgebiet ohne große Bedeutung.      und ihre Nebenflüsse zu begradigen und die        Stahlgewinnungs-Patent des eng-
                       zur typischen Erscheinungsform. Während                                                        Abwässer dem Rhein zuzuführen. Der 1913            lischen Ingenieurs Henry Besse-
                                                                                                                                                                                                            1860 1860 Das Freizügigkeitsgesetz
                       in der Landwirtschaft, aus der viele Zu-        Die Montanindustrie war und ist bis heute      gegründete Ruhrverband sollte sich um den          mer und kann damit in kürzerer            ermöglicht den Bergwerkseigen-
                                                                                                                                                                        Zeit die Mengen an gewonnenem              tümern ihre Betriebe selbst zu
                       gewanderte kamen, der Arbeitsrhythmus           eine „Männerwelt“. Aber ohne die Frauen        Ausbau der Ruhr für den ständig steigenden
                                                                                                                                                                                Stahl wesentlich erhöhen.          führen und sich damit dem euro-
                       vom Eintritt der Helligkeit am Morgen bis       wären die Männer nicht in der Lage gewesen,    Trink- und Brauchwasserbedarf kümmern.
                                                                                                                                                                                                                   päischen Kapitalmarkt zu öffnen.
                       zum Aufkommen der Dunkelheit am Abend           ihrer Arbeit nachzugehen. Die Hausarbeit       Dazu sollte der forcierte Ausbau von Tal-
                       begrenzt wurde, war das Symbol der neuen        der Frauen war oftmals körperliche Schwerst-   sperren am Oberlauf des Flusses dienen.          1870 Das Einsetzen der Fernwan-
                       industriellen Zeiteinteilung die Uhr. Mit ihr   arbeit. Dazu gehörte das Heranschaffen von     Trotzdem blieb die Trinkwasserversorgung        derung in das Ruhrgebiet befriedigt
                       eng verbunden waren Disziplin und Pünkt-        Wasser von den öffentlichen Zapfstellen, das   noch bis in die 1940er-Jahre prekär, obwohl       die große Arbeitskräftenachfrage
                       lichkeit. Glocken oder Sirenen verkündeten      Besorgen von Heizmaterial, Gartenarbeit        etliche neue Kläranlagen gebaut wurden.             im Bergbau und Hüttenwesen.
                       Anfang und Ende des Arbeitsbeginns, ihr         zur Selbstversorgung der Familien und das      Zu der Zeit wurden auch die Grundlagen
                       Klang drang bis in die Arbeitersiedlungen.      Waschen der Berufskleidung der Männer.         für ein Problem gelegt, dass aber erst in den                                         1880
                       Die Uhr markierte Arbeitsbeginn, Pausen         Auch der Transport von warmen Mahl-            1980er-Jahren zunehmend in den Fokus der
                       und Arbeitsende. An diese „Fabrikdiszi-         zeiten mit „Henkelmännern“ zur Arbeits-        öffentlichen Diskussionen rückte. Während
                       plin“, die mit Überwachung, Abmahnung           stelle der Männer gehörte zu den Aufgaben      zumindest in den 1960er-Jahren durch die
                       oder Geldbußen verbunden war, mussten           der Frauen, die außerdem auch für die          Einführung der „Technischen Anleitung zur
                       sich viele Arbeitsimmigranten erst gewöh-       Erziehung der Kinder zuständig waren.          Reinhaltung der Luft“ bundesweit erstmals                                                     1889 Während dieses ersten
                                                                                                                                                                                                                    großen Streiks der Bergarbei-
                       nen. Individuelle Verweigerungsformen                                                          verbindliche Grenzwerte für bestimmte
                                                                                                                                                                             1893/1896 Die Bildung des              ter im Ruhrgebiet wird die erste
                       gegen diese als drakonisch empfunde-                                                           Luftschadstoffe festgelegt wurden, war die                                                    Bergarbeitergewerkschaft, der
                                                                                                                                                                       Rheinisch-Westfälischen Kohlen-
                       nen Maßnahmen waren durchaus üblich,                                                           teilweise massive Verseuchung der Böden           syndikats und des Roheisensyn-              „Alte Verband“, gegründet.
                       aber es gab auch kollektive Gegenwehr.          Umweltzerstörung                               und des Grundwassers durch die Produk-           dikats ermöglicht Marktkontrolle
                                                                                                                                                                                                                    1899 Die Gründung der Em-
                                                                                                                      tionsabfälle ein riesiges Problem. Während          und politische Einflussnahme      1900    schergenossenschaft führt zur
                       Mit Streiks versuchten die Arbeiter ihre Lage   Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die      der Himmel über der Ruhr allmählich                      der großen Unternehmen.
                                                                                                                                                                                                                    Flussbegradigung, Abwasserklä-
                       zu verbessern. Ihre Forderungen bezogen         durch die Industrie verursachten Umwelt-       wieder blau wurde, blieben die Giftstoffe                                                     rung und -entsorgung in den
                       sich auf die Verbesserung der Arbeitsbedin-     schäden immer offensichtlicher, und deshalb    weiterhin im Boden. Etliche Altlasten konn-                                                   Rhein.
                       gungen, auf kürzere Arbeitszeiten aber auch     wurde auf verschiedenen Ebenen versucht,       ten in den 1980er- und 1990er-Jahren mit
                       auf höhere Löhne. Eine Vorreiterrolle über-     diesen Missständen zu begegnen. Dabei          Hilfe des Wasser-, Polizei- und Ordnungs-
                       nahmen dabei die Bergleute. 1889, 1905 und      stand die Wasserversorgung der Region im       rechtes („Gefahrenabwehr“) saniert wer-
                       1912 fanden drei große Bergarbeiterstreiks      Mittelpunkt. Der stetig steigende Wasser-      den. Aber erst mit der Verabschiedung des             1913 Die Konstituierung des
                                                                                                                                                                         Ruhrverbandes ermöglicht den
                       statt. Im Verlauf des Streiks von 1889 wurde    verbrauch der Industrie führte zu Engpäs-      Bundesbodenschutzgesetzes 1999 konnten
                                                                                                                                                                        Bau von Talsperren am Oberlauf
                       als erste Gewerkschaft der „Alte Verband“       sen bei der Wasserversorgung. Aber auch        die kontaminierten Böden und Grund-                des Flusses, die dem Ruhrgebiet
                       gegründet. Er fühlte sich der Sozialdemo-       Abwässer, insbesondere der Kohlenschlamm       wässer effektiver saniert werden. Dennoch         ausreichend Trink- und Brauch-      1920
                       kratie verbunden. Weitere gewerkschaftliche     der zahlreichen Zechen hatten Flüsse und       beschäftigt der Umgang mit diesem The-               wasser zur Verfügung stellen.
                       Gründungen folgten später. Der „Gewerk-         Bachläufe in stinkende Kloaken verwandelt.     ma bis heute im hohen Maße weiterhin
                       verein Christlicher Bergarbeiter“ war vor       Ende des 19. Jahrhunderts kam es im Ruhr-      Städte und Kommunen im Ruhrgebiet.
Industriezeitalter im Ruhrgebiet - Route Industriekultur
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                        Erster Weltkrieg und                          heimischer Lebensmittelproduktion und
                        Nachkriegskrise                               fehlender Importe. Zehntausende starben
                                                                      an den Folgen von Hunger und Unterernäh-
                        Im Ersten Weltkrieg stand das Ruhrgebiet im   rung. Die Zivilbevölkerung litt an extremer
                        Zentrum der Rüstungsproduktion. Zu einer      Ausbeutung ihrer Arbeitskraft. Jugendliche
                        der wichtigsten Firmen in diesem Segment      und Frauen ersetzten insbesondere in den
                        gehörte die Firma Krupp in Essen. Mit der     Rüstungsbetrieben die im Krieg kämpfen-
                        Herstellung von Munition aber vor allem       den Männer. Nach dem verlorenen Krieg
                        mit dem Bau von Geschützen wurde sie          und der Revolution von 1918/19 formierte
                        weltbekannt. Das Ruhrgebiet blieb weitest-    sich 1920 im Ruhrgebiet eine Rote Armee
      Deutsches Pro-    gehend von den mörderischen Schlachten        gegen den reaktionären Kapp-Putsch. Die
       pagandaplakat    des Krieges verschont, lieferte aber die      Armee, der auch viele Bergleute angehörten,
 gegen die franzö-      Soldaten, die dann auf den belgischen und     kontrollierte mehrere Wochen die Region                                                                                                        Adolf Hitler beim
     sische Besetzung   französischen Schlachtfeldern kämpften. Die   bevor sie von Freikorps und Regierungs-                                                                                                        90. Geburtstag des
     des Ruhrgebiets    daheimgebliebene Zivilbevölkerung war in      einheiten besiegt wurde. Dennoch blieb                                                                                                         Schwerindustriel-
        1923; Quelle:   anderer Weise betroffen. Im Winter 1916/17    das Ruhrgebiet während der gesamten Zeit                                                                                                       len Emil Kirdorf
 Stiftung Haus der      kam es im Ruhrgebiet zu einer massiven        der Weimarer Republik eine Hochburg der                                                                                                        in Mülheim am
      Geschichte der    Versorgungskrise infolge unzureichender       Kommunisten und der Zentrumspartei,                                                                                                            8. April 1937;
     Bundesrepublik                                                   die auch von vielen katholischen Arbeitern                                                                                                     Quelle: Fotoarchiv
Deutschland, Bonn                                                     gewählt wurde. Ein weiteres Nachspiel des                                                                                                      Ruhr Museum
                                                                      Ersten Weltkrieges war die Besetzung der
                                                                      Region durch französische und belgische
                                                                      Truppen zwischen 1923 und 1925. Dies ge-         andere Industriezweige, wie zum Beispiel die    Nationalsozialismus
                                                                      schah, um die stockenden Reparationen des        mit der Montanindustrie eng verbundene
                                                                      Deutschen Reiches durch Wirtschafts- und         Energiewirtschaft, versuchten, in den 1920er-   Für die Nationalsozialisten war das Ruhr-
                                                                      Sachlieferungen aus dem Ruhrgebiet, ins-         Jahren neue Märkte zu erschließen. Dazu         gebiet „ein schwer zu bearbeitendes
                                                                      besondere Kohle und Koks, auszugleichen.         gehörte die bereits 1898 von Hugo Stinnes in    Pflaster“. Hier hatten eher die das Sagen,
                                                                      Der vom Reich ausgerufene und finanzierte        Essen gegründete „Rheinisch-Westfälische        die gegenüber der braunen Ideologie am
                                                                      passive Widerstand gegen diese Besetzung         Elektrizitätswerk AG“ (RWE) und das spätere     resistentesten waren. Dazu gehörte vor
                                                                      heizte die bereits vorhandene Inflation weiter   Konkurrenzmodell im östlichen Ruhrgebiet,       allem das kommunistische und sozial-
                                                                      an und führte zur „Hyperinflation“. In diesem    die „Vereinigte Elektrizitätswerke Westfalen    demokratische Arbeitermilieu. Die Mit-
                                                                      Zusammenhang ist auch die Gründung               AG“ (VEW) mit Sitz in Dortmund. Bei der         glieder von KPD, SPD und Gewerkschaften
                                                                      des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk          Gasversorgung kooperierte die VEW mit           waren auch diejenigen, die zu Anfang der
                                                                      (SVR) 1920 zu sehen, dessen Hauptzweck           der 1928 gegründeten Ruhrgas AG, die noch       NS-Diktatur bereit waren, Widerstand zu
                                                                      es zunächst war, die Reparationen aus dem        vor dem Zweiten Weltkrieg zu Deutschlands       leisten – und auch die meisten Opfer zu
                                                                      Versailler Friedensvertrag zu gewährleisten      größtem Ferngasunternehmen aufstieg.            beklagen hatten. Aber mit dem wachsenden
                                                                                                                       Eine andere Erfolgsgeschichte war der 1918      Terror und den Anfangserfolgen der Nazis
                                                                                                                       in Bochum gegründete „Benzol-Verband“           nach 1933 wuchs auch die Bereitschaft
                                                                                                                       (B.V.). Mit dem Benzol-Benzin-Gemisch,          der Arbeiter sich anzupassen und sich mit
                                                                      Rationalisierung und                             dessen Name ARAL sich von dessen che-           den neuen Machthabern zu arrangieren.
                                                                      Modernisierung                                   mischer Zusammensetzung ableitete, ent-         Die Nationalsozialisten bemühten sich
                                                                                                                       wickelte der B.V. den ersten Superkraftstoff    durchaus mit Erfolg, der Arbeiterschaft
                                                                      Der verlorene Erste Weltkrieg führte in den      der Welt. Die Montanindustriellen suchten       positive Angebote und Aufstiegschancen
                                                                      1920er-Jahren in der Montanindustrie zu          aber auch in anderen Sparten nach neuen         anzubieten. „Schönheit der Arbeit“, „Kraft
                                                                      enormen Rationalisierungsbemühungen.             Absatzmärkten. In diesem Zusammenhang           durch Freude“ boten Identifikations- und
                                                                      Zentrales Element im Bergbau war die Me-         stand auch die Gründung der „Deutschen          Freizeitmöglichkeiten, insbesondere für
                                                                      chanisierung des Kohlentransports und der        Libbey-Owens-Gesellschaft“ (DELOG) 1925         junge Arbeiter. NS-Jugendorganisationen
                                                                      Kohlegewinnung durch den massenhaften            in Gelsenkirchen-Rotthausen durch die Berg-     wie HJ oder BDM versprachen sozialen
                                                                      Einsatz von Presslufthämmern. Höhepunkt          werksgesellschaft Dahlbusch. Das Verfah-        Aufstieg und eine bessere Zukunft.
                                                                      dieser Entwicklung war die Gründung der          ren, das der Gesellschaft ihren Namen gab,
                                                                      Vereinigte Stahlwerke AG (VSt) 1926. Mit         diente der Herstellung von Flachglas. Mitte     Während der Zeit des Nationalsozialismus
                                                                      250.000 Beschäftigten war das Unternehmen        der 1950er-Jahre kam jede zweite Fenster-       nahm das Ruhrgebiet zwar weiterhin eine
                                                                      der größte Stahlkonzerns Europas. Auch           scheibe in Deutschland aus Gelsenkirchen.       zentrale Position in der Rüstungswirtschaft
Industriezeitalter im Ruhrgebiet - Route Industriekultur
16                                                                                                                                                                                                                                            17

                                                                                  ein, aber längst gab es auch in anderen        Wie bereits nach dem Ersten Weltkrieg wur-
                                                                                  Teilen des Deutschen Reiches kriegswichtige    de die Sozialisierung der Montanindustrie
                                                                                  Produktionsstätten. Während des Zweiten        gefordert. Man gab wichtigen Vertretern der
                                                                                  Weltkrieges war die Region von Großbri-        Schwerindustrie eine Mitschuld am Ent-
                                             1916/17 Eine große Hunger-           tannien für die alliierten Bomberflotten gut   stehen des Nationalsozialismus und seiner
                                             krise im Ersten Weltkrieg wirkt      erreichbar. Ab 1942 intensivierten sie ihre    Verbrechen. Nazi-Diktatur und Zweiter Welt-
                                             sich verheerend auf die Bevöl-       Luftangriffe, die besonders die Innenstädte,   krieg betrachtete man in weiten Kreisen der
                                             kerung des Ruhrgebiets aus.
                                                                                  die Betriebe und die Arbeiterwohnviertel       Bevölkerung, der Gewerkschaften und poli-
                                                                                  trafen. Im April 1945 erreichten alliierte     tischen Parteien als Folgen einer kapitalisti-
                                                                                  Verbände das Ruhrgebiet, in der „Schlacht      schen Wirtschaftsordnung. Deshalb forderte
     1920 Ruhrarbeiter formieren      1920   1920 Die Gründung des Sied-          um die Ruhr“ am 21. April 1945 kamen           man eine Demokratisierung der Wirtschaft
  eine Rote Armee, die den gegen             lungsverbandes Ruhrkohlenbe-         kurz vor Ende des Krieges noch über 11.000     durch Überführung der Schüsselindustrien in
    die neue Weimarer Demokra-               zirk (SVR) in Essen erfolgt mit
                                                                                  Soldaten auf beiden Seiten ums Leben.          Gemeineigentum. Nach 1945 stand zunächst
      tie gerichteten reaktionären           dem Hauptzweck, die Repara-
      Kapp-Putsch zurückschlägt.             tionen als Folgen des Versailler                                                    der gesamte Kohlebergbau sowie die Eisen-
                                             Vertrages zu gewährleisten.          Im Zweiten Weltkrieg mussten Hundert-          und Stahlindustrie unter alliierter Kontrolle
    1923-1925 Die Besetzung des                                                   tausende von zivilen Zwangsarbeitern,          (North German Coal Control und North
      Ruhrgebiets durch französi-
                                                                                  Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen in          German Iron and Steel Control). Die Rechte
      sche und belgische Truppen
     und die Hyperinflation führt                                                 der Montanindustrie des Ruhrgebiets unter      der Eigentümer blieben dabei unangetastet.
    zu einer schweren politischen            1926 Mit der Gründung der Verei-     unmenschlichen Bedingungen arbeiten.           Eine Neuregelung der Eigentumsverhältnisse
       und wirtschaftlichen Krise.           nigte Stahlwerke AG (VSt) entsteht   Über 6.000 Juden sowie eine nicht näher        sollte zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.
                                             Europas größter Stahlkonzern.        bekannte Anzahl von Sinti und Roma und         Die Hoffnung der politischen Parteien und
                                                                                  „Euthanasie“-Opfern wurden ermordet.           der Gewerkschaften auf eine grundsätzliche
                                                                                                                                 Neuordnung der wirtschaftlichen Verhält-
                                                                                                                                 nisse erfüllten sich aber nicht. 1948 wurde im
                                                                                                                                 nordrhein-westfälischen Landtag ein Gesetz
                                      1930                                        Politischer und                                zur Sozialisierung des Kohlebergbaus be-
                                                                                  wirtschaftlicher Neubeginn                     schlossen, dem die britische Militärregierung
                                                                                                                                 jedoch ihre Zustimmung verweigerte. Einen
                                                                                  Nach jahrelanger politischer Unterdrü-         vorläufig letzten wichtigen Erfolg konnten die
                                                                                  ckung in der NS-Zeit entstanden nach           Gewerkschaften nach Androhung von mas-
  1933 Die Machtübernahme der                1933 Von dem Einsetzen des
Nationalsozialisten stößt im Ruhr-           ökonomischen Aufschwungs
                                                                                  1945 auf betrieblicher und lokaler Ebene       siven Kampfmaßnahmen noch im Jahr 1951
   gebiet auf Proteste und Wider-            und der zunehmend dirigisti-         antifaschistische Ausschüsse, die sich um      mit der Einführung der paritätischen Mitbe-
    stand aus dem Arbeitermilieu.            schen NS-Wirtschaftspolitik          eine Ingangsetzung der Produktion und die      stimmung in der Montanindustrie erzielen.
                                             profitiert vor allem die Rüs-        Versorgung der Menschen mit den drin-                                                                                                            Plakat zum Mar-
                                             tungsindustrie im Ruhrgebiet.        gendsten Mitteln des Alltags kümmerten.        Nach dem Zweiten Weltkrieg kam dem Berg-         sätzliche Lösung des Arbeitskräfteproblems       shallplan 1950;
                                                                                  Sehr bald bildeten sich aber auch wieder       bau im Ruhrgebiet eine Schlüsselrolle beim       wurde aber erst Ende der 1940er-Jahre mit        Quelle: Münchener
                                                                                  politische Parteien, die an die Traditionen    wirtschaftlichen Aufstieg der Bundesrepublik     der Anwerbung so genannter Neubergleute          Stadtmuseum
                                                                                  der Weimarer Zeit anknüpften. Auch ein         Deutschland zu. Mit dem Zusammenbruch            aus anderen Teilen Deutschlands und der
                                                                                  gewerkschaftlicher Neuanfang erfolgte.         der Kohlewirtschaft 1944/45 war auch die         allgemeinen Verbesserung der wirtschaftli-
                                                                                  Nur anders als vor 1933 sollte es keine        Versorgung der Einwohner des Ruhrgebiets         chen Verhältnisse erreicht. Negativen Einfluss
                                      1940                                        Richtungsgewerkschaften, sondern eine          zusammengebrochen. Es gab weder Brenn-           auf die Förderleistung des Ruhrbergbaus
                                                                                  Einheitsgewerkschaft in allen Branchen         stoff, Lebensmittel noch Wohnraum im             hatte auch der in der NS-Zeit betriebene
                                                                                  geben.1949 wurden diese Branchengewerk-        ausreichenden Maße. Auf den Zechen gab           Kohleraubbau, der sich auf die leicht zu
       1942 Die alliierten Luftan-                                                schaften unter dem Namen Deutscher             es nach der Befreiung der Zwangsarbeiter         erschließenden Flöze konzentrierte. Neue
    griffe auf industrielle Zentren                                               Gewerkschaftsbund (DGB) in einem               zu wenig Arbeitskräfte. Die britische Mi-        Investitionen blieben nach dem Zweiten
        und Wohngebiete der Re-                                                   Dachverband zusammengeführt. Man               litärregierung versuchte, das Problem mit        Weltkrieg zunächst wegen der ungeklärten
         gion werden intensiviert.                                                wollte aus den Fehlern der Vergangenheit       Anwerbemaßnahmen, Zwangsverpflich-               Eigentumsverhältnisse und des staatlich
                                                                                  lernen; die gespaltene Arbeiterbewegung in     tungen und der gezielten Verbesserung der        festgesetzten Kohlepreises aus. Der Ruhr-
                                             1945 Nach dem Ende des Zwei-         der Weimarer Zeit wurde als eine wichtige      Ernährungslage der Bergleute in den Griff        bergbau war deshalb noch bis in die 1950er-
                                             ten Weltkrieges erfolgt die
                                                                                  Ursache für die Etablierung der NS-Dik-        zu bekommen. Die bergmännischen Arbeits-         Jahre nicht in der Lage, die stetig wachsende
                                             Beschlagnahme des gesamten
                                             Kohlebergbaus und der Eisen-         tatur angesehen. Im Ruhrgebiet entwi-          leistungen wurden mit einem Punktesystem         Nachfrage nach Energie zu befriedigen. Erst
                                             und Stahlindustrie durch die         ckelte sich die IG Bergbau zur wichtigsten     bewertet, wonach sich zusätzliche Lebens-        1956 trug die beginnende Modernisierung
                                             britische Militärregierung.          und einflussreichsten Gewerkschaft.            mittelzuteilungen richteten. Eine grund-         der Kohleförderung erste Früchte. Mit über
Industriezeitalter im Ruhrgebiet - Route Industriekultur
18                                                                                                                                                                                                                                        19

                                                                          124 Millionen Tonnen geförderter Ruhr-
                                                                          kohle machte sie 82 Prozent der gesamten
                                                                          bundesdeutschen Steinkohlenförderung aus.
                                                                          Zu der Zeit förderten im Ruhrgebiet etwa
                                                                          150 Zechen mit einer Gesamtbelegschaft
                                                                          von fast einer halben Million Bergleute.
                                  1950

                                         1951 Nach Androhung massiver                                                                                                                                                       Protestmarsch der
                                         Kampfmaßnahmen durch die         Strukturkrise und                                                                                                                                 IG Bergbau gegen
                                         Gewerkschaften gegen die von
                                         Konrad Adenauer geführte erste
                                                                          ökonomischer Wandel                                                                                                                               die angekündigte
                                                                                                                                                                                                                            Stilllegung der
                                         Bundesregierung wird die pari-
                                         tätische Mitbestimmung in der    Im Februar 1958 wurden auf den Zechen                                                                                                             Zeche Graf Bis-
                                         Montanindustrie eingeführt.      des Ruhrgebiets erste Feierschichten ein-                                                                                                         marck in Gelsen-
                                                                          gelegt, die Nachfrage nach Kohle blieb                                                                                                            kirchen am 19.
                                                                          hinter den Förderkapazitäten zurück. Die                                                                                                          Februar 1966; Foto:
    1955-1973 Die gezielte An-    1955                                    beginnende Kohlekrise traf das Ruhrgebiet                                                                                                         Manfred Scholz,
 werbung ausländischer Arbeit-                                            völlig unerwartet. Wiederaufbau, Marshall-                                                                                                        Quelle: Fotoarchiv
   nehmer durch den Staat und                                             planhilfen und das westdeutsche „Wirt-                                                                                                            Ruhr Museum
   die Industrie führt zu einem
                                                                          schaftswunder“ hatten die strukturellen
erhöhten Zuzug von Migranten
 aus Südeuropa und der Türkei.                                            Schwächen der einseitig auf Kohle und Stahl
                                                                          ausgerichteten Ruhrwirtschaft verdeckt.           mit weniger als 30.000 Beschäftigten. Mit      viele Stahlarbeiter des Reviers. Dennoch stieg
                                         1958 Im Ruhrbergbau setzt        Durch die von der Bundesregierung ge-             der Schließung der Zeche Prosper-Haniel        die Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet allmählich
                                         infolge preisgünstiger Import-   förderte Liberalisierung der Energiemärkte        in Bottrop wurde letztlich 2018 nicht nur      strukturell an und sank auch nicht in Pha-
                                         kohle und der staatlich ge-      konkurrierten jetzt preisgünstige Import-         das letzte Bergwerk im Ruhrgebiet stillge-     sen besserer Konjunkturverläufe. Ende der
                                         förderten Energieträger Öl
                                                                          kohle, Öl und Gas mit der Ruhrkohle, deren        legt – in ganz Deutschland ging damit die      1980er-Jahre wuchsen die Proteste angesichts
                                         und Gas die Kohlekrise ein.
                                  1960                                    Absatz massiv einbrach. Zunehmend wurden          Ära des Steinkohlenbergbaus zu Ende.           der Werksschließungen in Hattingen, Rhein-
                                                                          Öl-Pipelines und Raffinerien gebaut, im-                                                         hausen und Dortmund. Hundertausende
                                                                          portiertes Erdgas ersetzte das Kokereigas.        Die Eisen- und Stahlindustrie blieb zu-        gingen auf die Straße und nahmen auch an
                                                                          1968 waren bereits über die Hälfte der ur-        nächst von der Krise verschont – bis in        spektakulären Aktionen wie der Besetzung
    1962 Als erfolgreiche Neu-           1962-1972 Die Gründung von       sprünglichen Förderkapazitäten abgebaut           den 1970er-Jahren die Folgen der Welt-         der Rheinhausener Brücke oder der „Er-
  ansiedlung der Autoproduk-             drei neuen Universitäten in      und knapp 80 Zechen der ursprünglich              wirtschaftskrise auch die Hüttenwerke des      stürmung“ der Villa Hügel in Essen teil.
   tion im Ruhrgebiet eröffnet           Bochum, Dortmund und Essen       ca.150 noch existierenden geschlossen.            Ruhrgebiets erfassten. In ganz Westeuropa
   das Opel-Werk in Bochum.              führt zur nachhaltigen Etab-
                                                                                                                            stand die Stahlindustrie in harter Konkur-     Nach den Werksschließungen wurden die
                                         lierung von Wissenschaft und
                                         Forschung im Ruhrgebiet.         Bis in die 1960er-Jahre reagierten die Ze-        renz zu den Werken in Osteuropa und in         meisten Fördertürme und Hochöfen ab-
                                                                          chenbelegschaften und ihre Gewerkschaf-           so genannten Schwellenländern wie Indien       gerissen. Teilweise wurden aber auch ganze
                                  1965                                    ten mit massiven Protesten, enttäuschte           und China und geriet dadurch in Absatz-        Hüttenbetriebe und Kokereien an indische
                                                                          Bergleute zogen mit schwarzen und roten           schwierigkeiten. Die Unternehmen reagier-      oder chinesische Unternehmen verkauft, die
                                                                          Fahnen durch die Straßen des Ruhrgebiets          ten mit Fusionen (Krupp-Hoesch-Thys-           sie dann demontierten und in ihre Heimat-
                                                                          und setzten Politik und Unternehmen unter         sen), Belegschafsabbau, Rationalisierung       länder verschifften. Einige Flächen konnten
                                                                          Druck, die gefährdeten Arbeitsplätze zu er-       und Schließung von ganzen Standorten. In       gewerblich genutzt werden, wie zum Bei-
                                                                          halten. „Kein Bergmann sollte ins Bergfreie       Duisburg-Meiderich (1985), in Hattingen        spiel das Gelände der ehemaligen Zechen
       1968 Die Einheitsgesell-                                           fallen“, lautete die Forderung, und tatsächlich   (1987), in Rheinhausen (1993) und in Dort-     Dannenbaum und Bruchstraße in Bochum,
    schaft Ruhrkohle AG über-                                             gelang es durch Sozialpläne, Umschulungs-         mund-Hörde (1998/2001) verlöschten die         auf dem die Firma Opel ihr Werk zu Be-
   nimmt die noch im Ruhrge-                                              maßnahmen und Vorruhestandsregelungen,            Feuer endgültig. Im Gegensatz zum Berg-        ginn der 1960er-Jahre erfolgreich ansiedeln
     biet verbliebenen Zechen.
                                                                          die meisten Bergleute beruflich und sozial        bau erlebte die Stahlindustrie am Anfang       konnte. Auch die Anlage des Duisburger
                                  1970                                    abzufedern. 1968 übernahm die neu ge-             des 21. Jahrhunderts mit ihren Produkten       Logistikzentrums Logport auf dem ehemali-
                                                                          gründete Einheitsgesellschaft Ruhrkohle AG        aber noch einen regelrechten Zwischen-         gen Hüttenwerksgelände Rheinhausen kann
                                                                          die noch verbliebenen Zechen, verringerte         boom, allerdings in immer weniger Betrieben    – als Teil des größten Binnenhafens Europas
                                                                          deren Zahl weiter oder modernisierte die          und mit stark reduzierten Belegschaften.       mit über 5.000 Arbeitsplätzen (Stand 2021)
                                                                          noch wirtschaftlich rentabel arbeitenden                                                         – durchaus als Erfolgsgeschichte angesehen
                                                                          Anlagen. Zuletzt förderte die Ruhrkoh-            Ähnlich wie im Bergbau eröffneten Sozialplä-   werden. Andere ehemalige Standorte der
                                                                          le AG nur noch in zwei Verbundzechen              ne und Umschulungen neue Perspektiven für      Schwerindustrie gingen im Rahmen der
20                                                                                                                                                                                                                                          21

                                                                                                                      Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (SVR)                                                        1969 Die Denkmal-Unterschutz-
                                                                                                                      gegründet worden. Seinem späteren Nach-                                                 1970   stellung der Maschinenhalle
                                                                                                                                                                                                                     auf der Zeche Zollern in Dort-
                                                                                                                      folger ab 1979, dem Kommunalverband                                                            mund führt in der Folgezeit zur
                                                                                                                      Ruhrgebiet (KVR), fehlten aber ausreichende                                                    Gründung einer Vielzahl von
                                                                                                                      planerische Kompetenzen, denn diese lagen                                                      regionalen Industriemuseen.
                                                                                                                      jetzt bei den drei Bezirksregierungen in
                                                                                                                                                                           1975-2001 Die weltweite Stahl-
                                                                                                                      Arnsberg, Münster und Düsseldorf. Die Rolle
                                                                                                                                                                             krise erfasst auch die Hütten-
                                                                                                                      des KVR blieb überwiegend auf Öffentlich-             werke des Ruhrgebiets, was in
                                                                                                                      keitsarbeit (z.B. Imagekampagnen für das                der Folgezeit zu zahlreichen
                                                                                                                      Ruhrgebiet), Kulturförderung sowie Freizeit-               Werksschließungen führt.
                                                                                                                                                                                                                     1979 Als Nachfolger des Siedlungs-
                                                                                                                      und Grünflächenplanung beschränkt. Viele
                                                                                                                                                                                                              1980   verbandes Ruhrkohlenbezirk wird
                                                                                                                      Versuche einer übergreifenden regionalen                                                       der Kommunalverband Ruhrgebiet
                                                                                                                      Zusammenarbeit scheiterten an gegensätz-                                                       gegründet, allerdings ohne ausrei-
                                                                                                                      lichen Interessen, vor allem der Städte in                                                     chende planerische Kompetenzen.
                                                                                                                      den Randzonen des Reviers im Osten und
                                                                                                                      im Westen. Nachfolger des KVR wurde 2004
                                                                                                                      der Regionalverband Ruhr. Seit 2009 ist er
                                                                                                                      erstmals wieder für die staatliche Regional-
                                                                                                                      planung in der Metropole Ruhr zuständig.
                                                                                                                      Das Verbandsgebiet des RVR besteht der-
                                                                                                                                                                            1989-1999 Die Internationale
                                                                                                                      zeit aus elf Städten und vier Kreisen. Der
                                                                                                                                                                           Bauausstellung (IBA) Emscher       1990
                                                                                                                      RVR ist Träger bedeutender Infrastruktur-            Park versteht sich als struktur-
 Nordsternpark in                                                                                                     projekte wie der „Route Industriekultur“                politisches Modell der öko-
     Gelsenkirchen;   „Industriekultur“ neue Wege als kulturelle    Trotz dieser durchaus vorzeigbaren positiven      und dem „Emscher Landschaftspark“.                    nomischen und ökologischen
     Foto: RIK/Lud-   oder museale Highlights der Region. Dabei     Elemente im Wandel der Region, die nicht                                                              Erneuerung der Emscherregion.
     ger Staudinger   wären an erster Stelle die Industriemuseen    zuletzt durch das „Entwicklungsprogramm           Die Stilllegungswelle in der Montanindustrie
                      der beiden Landschaftsverbände West-          Ruhr“ (1968-1973) angeschoben wurden,             ab Mitte der 1980er-Jahre sowie zahlreiche
                      falen und Rheinland zu nennen, wie zum        das Europa-, Bundes- und Landesmittel für         städtebauliche, soziale und ökologische
                      Beispiel die Zeche Zollern in Dortmund        Industrieansiedlungen, Verkehrs-, Bildungs-,      Probleme waren Hintergrund für die Inter-
                      oder das Rheinische Industriemuseum           und Freizeitinfrastruktur bereitstellte, gelang   nationale Bauausstellung Emscher Park (IBA
                                                                                                                                                                                                                     1999 Als touristisches Netzwerk
                      in Oberhausen. Es entstanden aber auch        es nicht, eine nachhaltige Strukturreform         Emscherpark) in der Zeit von 1989 bis 1999.
                                                                                                                                                                                                              2000   des Regionalverbandes Ruhr
                      weitere Top-Highlights der Region wie die     in allen wichtigen Bereichen umzusetzen.          Unter der Regie des NRW-Städtebauministe-                                                      wird die „Route der Industrie-
                                                                                                                                                                           2001 Die Zeche und die Koke-
                      UNESCO-Welterbe-Zeche Zollverein in           Positive Ansätze gab es zum Beispiel beim         riums verstand die IBA sich als neues struk-                                                   kultur im Ruhrgebiet“ eröffnet.
                                                                                                                                                                           rei Zollverein in Essen werden
                      Essen, der Landschaftspark Duisburg-Nord      Ausbau von Autobahnen und Straßen. Bei            turpolitisches Modell der ökonomischen und            als Kulturerbe in die Liste der
                      oder der ehemalige Gasometer der GHH          der Modernisierung des öffentlichen Nahver-       ökologischen Erneuerung der Emscherzone,             UNESCO-Welterbe-Stätten in
                      in Oberhausen als spektakuläre Ausstel-       kehrs hingegen ist bis heute, auch auf Grund      also der nördlichen Region des Ruhrgebiets,            Deutschland aufgenommen.
                      lungshalle. Auch Bürgerinitiativen in den     von regionalen und lokalen Partikularinteres-     die am stärksten von der Strukturkrise be-
                      1970er-Jahren trugen – etwa in der ältesten   sen, noch sehr vieles im Argen. Auch der Er-      troffen war. Die IBA verfügte über keine eige-
                      Arbeitersiedlung des Ruhrgebiets in Ober-     folg des Opel-Werks in Bochum währte zwar         nen Mittel, sondern schöpfte aus bestehenden
                      hausen-Eisenheim – zum langfristigen          immerhin mehrere Jahrzehnte, doch 2014            oder aufgestockten Förderprogrammen auf
                      Erhalt des industriekulturellen Erbes der     rollte dort der letzte Opel Zafira vom Band       europäischer, Bundes- oder Landesebene. Im
                      Region bei. Krönender Abschluss dieser Be-    und beendete damit die Ära der Automobil-         Vordergrund stand dabei die gezielte Nut-                                               2010   2010 Essen wird stellvertretend
                                                                                                                                                                                                                     für die dem Regionalverband
                      mühungen war – verbunden mit der Absicht      produktion in Bochum. Andere Autoher-             zung ehemaliger Industrieareale für Wirt-                                                      Ruhr angehörigen Städte und
                      einer touristischen Inwertsetzung – 1999      steller wie Ford oder VW bekamen erst gar         schafts-, Wohn-, Freizeit und Kulturprojekte                                                   Kreise Kulturhauptstadt Europas.
                      die Eröffnung der Route Industriekultur im    nicht die reale Chance, Produktionsstätten        und die ökologische Erneuerung. In der Ver-
                      Ruhrgebiet durch den heutigen Regionalver-    im Ruhrgebiet aufzubauen. Der Bergbau ver-        gangenheit war der Regionalverband Ruhr
                      band Ruhr. Mit der Gründung dreier Uni-       hinderte deren Ansiedlung, da er die Abwer-       auch ein wichtiger Träger der IBA-Nachfolge-
                      versitäten (Ruhr Universität Bochum 1962,     bung qualifizierter Arbeitskräfte befürchtete.    Events Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010
                      Technische Universität Dortmund 1968                                                            und Grüne Hauptstadt Europas (Essen,
                                                                                                                                                                           2018 Die Schließung der Zeche
                      und Gesamthochschule Essen 1972, ab 2003      Um eine einheitliche planerische Gestaltung       2017). Bei der Klimametropole RUHR 2022
                                                                                                                                                                              Prosper-Haniel in Bottrop als
                      durch Fusion Universität Duisburg-Essen)      des Ruhrgebiets zur Überwindung städti-           und der Internationalen Gartenbauaus-            letztes Bergwerk im Ruhrgebiet be-
                      hielten auch Wissenschaft und Forschung       scher, betrieblicher und teilregionaler Einzel-   stellung im Ruhrgebiet (2027) ist der RVR        siegelt auch das Ende des Steinkoh-
                                                                                                                                                                                                              2020
                      im großen Maßstab Einzug ins Ruhrgebiet.      interessen umzusetzen, war bereits 1920 der       ebenfalls als wichtigster Projektträger dabei.      lebergbaus in ganz Deutschland.
22                                                                                                                                                                                              23

     Gesellschaftliche Veränderungen                 für die Sozialdemokraten im hohen Maße         Literaturempfehlungen                         Karola Geiß-Netthöfel/Dieter Nellen/
                                                     politisch auszahlte. Im Verlauf der 1950er-                                                  Wolfgang Sonne (Hrsg.): Vom Ruhr-
     Für viele Betrachter, auch von außerhalb der    und 1960er-Jahre wurden die meisten Städte                                                   gebiet zur Metropole Ruhr. SVR KVR
     Region, ist das „Steigerlied“ gewissermaßen     und Kommunen im Ruhrgebiet sozialdemo-                                                       RVR 1920-2020, Berlin 2020
     ein Synonym für das Ruhrgebiet schlecht-        kratisch regiert. Zwischen 1966 und 2005       Stefan Berger: Was ist das Ruhrgebiet? Eine
     hin. Auch wenn das Lied „Migrations-            stellten die Sozialdemokraten kontinuierlich   historische Standortbestimmung, in: Aus       Bodo Hombach/Brost-Stiftung (Hrsg.): Die
     Hintergrund“ hat (es stammt ursprünglich        in Düsseldorf die Ministerpräsidenten, daran   Politik und Zeitgeschichte Ruhrgebiet, 69.    Ruhr und ihr Gebiet. Leben am und mit dem
     aus dem sächsischen Erzgebirge), ist es im      hatte das Ruhrgebiet einen wichtigen An-       Jahrgang, 1-3/2019. Januar 2019, S. 4-11      Fluss, Band 2. Die Ruhr und das Ruhrgebiet.
     Ruhrgebiet wie auch in anderen früheren         teil. Ab den 1960er-Jahren begann sich ein                                                   Fluss, Industrieregion, Strukturwandel seit
     Bergbauregionen in Deutschland bis heute        allmählicher sozialer Wandel im Ruhrgebiet     Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grüt-        Anfang des 19. Jahrhunderts, Münster 2020
     fester Bestandteil öffentlicher Auftritte von   abzuzeichnen. Der Rückgang der Industrie-      ter (Hrsg.): Ruhr Museum. Natur. Kultur.
     Bergmannskapellen. Obwohl der Text etwas        arbeit im Bergbau und in der Stahlindustrie    Geschichte, Ausstellungskatalog, zwei-        Toni Pierenkemper: Die Entstehung des
     antiquiert und verklärend erscheint, spiegelt   veränderte die Erwerbsstrukturen. Kleinere     te aktualisierte Auflage, Essen 2020          Ruhrgebiets als Wirtschaftsraum im 19.
     er offensichtlich noch heute Lebensgefühl       Familien, höherer Lebensstandard, bessere                                                    Jahrhundert, in: Jennifer Garner/Karsten
     und möglicherweise auch berufsständischen       Bildungschancen, auch durch die im Ruhr-       Michael Farrenkopf/Stefan Goch/Man-           Plewnia/Manuel Zeiler (Hrsg.): Tagungs-
     Stolz vieler ehemaliger Bergleute wider.        gebiet gegründeten Universitäten, begannen     fred Rasch/Hans-Werner Wehling                band 20. Internationaler Bergbau-& Mon-
                                                     die vorher geschlossenen Milieus aufzulösen.   (Hrsg.): Die Stadt der Städte. Das Ruhr-      tanhistorik-Workshop. Zeche Zollern/
     Schließlich war es ja diese Berufsgruppe, die                                                  gebiet und seine Umbrüche, Essen 2019         Ruhrgebiet 2017, Clausthal-Zellerfeld 2017
     nach 1945 mit alliierter Hilfe nicht nur zum    Aber auch die verschiedenen Zuwanderungs-
     Motor des wirtschaftlichen Aufbaus im Ruhr-     wellen beschleunigten diese Auflösungs-
     gebiet, sondern zum Zentrum des bundes-         prozesse. Waren es nach 1945 zunächst
     republikanischen „Wirtschaftswunders“ ins-      die Flüchtlinge und Vertriebenen aus den
     gesamt wurde. Im Steinkohlenbergbau und         ehemaligen deutschen Ostgebieten und
     in der Stahlindustrie verdienten überwiegend    später die Flüchtlinge aus der DDR, wurden
     männliche Arbeiter gutes Geld, das ihren        ab Mitte der 1950er-Jahre bis 1973 gezielt
     Familien eine Teilnahme am wirtschaftlichen     ausländische Arbeitnehmer von Staat und
     Boom erlaubte. Über die 1950er-Jahre hinaus     Industrie angeworben. Insbesondere der
     prägte die Arbeit in der Montanindustrie        Bergbau und die Stahlindustrie im Ruhrge-
     die Mentalität und soziale Situation eines      biet unternahmen große Anstrengungen, die
     großen Teils der Bevölkerung im Ruhrgebiet.     so genannten „Gastarbeiter“ aus Südeuropa
     Arbeit und Kollegen, Heirat und Familie,        und der Türkei anzuwerben. Sie sollten die
     Vereine und Gewerkschaften gaben einen          bei Deutschen unbeliebten schweren und
     stabilen und überschaubaren Rahmen.             körperlich anstrengenden Arbeiten überneh-
                                                     men. Aus den „Gastarbeitern“, die lange Zeit
     Die nach dem Zweiten Weltkrieg gegrün-          fest an eine Rückkehr in ihre ursprünglichen
     deten Einheitsgewerkschaften waren im           Heimatländer glaubten, wurden aber lang-
     Ruhrgebiet stark. Bei der IG Bergbau lag der    fristig schließlich Einwanderer wider Willen
     Organisationsgrad bei 90 Prozent, schon         in einem Einwanderungsland wider Willen.
     weil das Mitgliedsformular häufig für eine
     (erfolgreiche) Einstellung im Unternehmen       In den 1970er- und 1980er-Jahren kamen
     unterschrieben werden musste. Aber auch         weitere Migranten überwiegend wegen ihrer
     die IG Metall verzeichnete hohe Mitglieder-     zuerkannten deutschen Staatsangehörig-
     zahlen. Parallel zur Entwicklung der Ge-        keit – Bewohner aus dem früheren deut-
     werkschaften vollzog die SPD nach 1945          schen Oberschlesien, Polen mit deutscher
     einen grandiosen Aufschwung. War das            Abstammung, Russland-Deutsche und
     Ruhrgebiet bis 1933 politisch von KPD und       Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjet-
     katholischem Zentrum dominiert, wurde es        union. Inwieweit man das Ruhrgebiet nun
     nun zur Hochburg der SPD. Sie wurde zur         als „Weltmeister in Sachen Integration“
     klassischen „Kümmererpartei“. „Geh mal          bezeichnen kann oder einfach als Region,
     zu Hermann (dem lokalen Parteisekretär),        die eine ungeheure Vielfalt an Herkünften,
     der macht das schon“, wurde zum geflügel-       Vorstellungswelten, Mentalitäten und in-
     ten Wort in der Region. Gewerkschaften          dividuellen Verhaltensweisen zur Kenntnis
     und SPD bildeten eine feste Allianz, die sich   nimmt, soll einmal dahingestellt bleiben.
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