News Asyl - Tandem im Austausch Umsetzung NA-BE: Die wichtigsten Änderungen - KKF OCA

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Asyl
News
Nr. 2, Juni 2020

KKF

Tandem im Austausch
Seite 4

Fachinformationen
                             Fokus: Altern anderswo

Umsetzung NA-BE:
Die wichtigsten Änderungen
Seite 13

International

Das Recht auf Asyl gilt
auch in Krisenzeiten
Seite 19
Editorial                                                               Übersicht
Liebe Leserinnen, liebe Leser                                           Neues aus der KKF
                                                                        Tandem im Austausch                                           4
Ende Mai schreibe ich diese Zeilen und lasse die vergangenen
Wochen Revue passieren. Corona war und bleibt das alles
beherrschende Thema. Zeitweise hätte man meinen können,
                    alle anderen Krisen und Konflikte seien
                                                                        Fokus: Altern anderswo
                    zum Stillstand gekommen. Syrien – wird
                    da überhaupt noch gekämpft und vertrie-             Ältere Menschen auf der Flucht                               5
                    ben? Klimademos – aus den Augen, aus
                                                                        Die besondere Situation älterer Flüchtlinge                  6
                    dem Sinn? Mittelmeerflüchtlinge – die
                    wollen doch jetzt sowieso nicht mehr                Ältere Migrierende in der Forschung                           7
                    nach Europa kommen, oder?
                                                                        Die freiwillige Rückkehr älterer Menschen                    8

Aber natürlich stand die Welt nicht still, lösten sich die Tragö-       Wie die IOM arbeitet                                         9
dien nicht in Luft auf, sondern nahmen vielmehr fernab der
Weltöffentlichkeit vielfach eine noch tragischere Wende. Das
wissen wir natürlich, Illusionen machen wir uns diesbezüg-
lich keine. Und trotzdem: unsere Sorgen, unsere Gedanken                Fachinformationen
und unsere Aufmerksamkeit galten mehrheitlich anderen
                                                                        Asylwesen Schweiz
Themen, einem anderen Thema: der Corona-Pandemie und
ihren Folgen.                                                           Ein Jahr neue Asylverfahren – erste Bilanz                   11

                                                                        Umsetzung NA-BE: Die wichtigsten
Auch das AsylNews kann sich diesem nicht entziehen, und
                                                                        Änderungen                                                   13
dies aus gutem Grund. Als Fachstelle des Asylbereichs wollen
wir aufzeigen, wie die Corona-Krise weltweit zum Vorwand                Verordnung über die Sozialhilfe im Asyl- und
genommen wurde, um das Recht auf Asyl zu beschneiden                    Flüchtlingsbereich                                          14
und wie, trotz der schweizweit geltenden Hygienevorschriften,
                                                                        Asylpolitik in Coronazeiten                                  15
viele Geflüchtete nach wie vor in Zentren mit engen Platz-
verhältnissen untergebracht sind und teilweise ihre Zimmer
nicht verlassen dürfen.                                                 Rechtsprechung

                                                                        Gewalterlebnisse im Drittstaat sind relevant                 17
Gleichzeitig möchten wir aber auch andere Themen wieder in
den Fokus rücken und daran erinnern, dass gerade im Asyl-               Vulnerabilität Minderjähriger ist zu
und Flüchtlingswesen grosse Umwälzungen bevorstehen                     berücksichtigen                                              17
oder bereits stattgefunden haben. Diesen März jährte sich
die Einführung der neuen Asylverfahren. Die Bilanz ist durch-
                                                                        International
zogen. Trotz einiger positiver Erfahrungen hat sich gezeigt,
dass der ausgebaute Rechtsschutz – einer der Grundpfeiler               Das Recht auf Asyl gilt auch in Krisenzeiten                 18
der neuen Verfahren – durch die kurzen Fristen in vielen Fällen
                                                                        Push-Backs in Spanien: Welche legalen
nicht gewährleistet ist. Hier gilt es weiterhin, genau hinzu-
                                                                        ­Fluchtege?                                                  19
schauen und, wo nötig, Anpassungen vorzunehmen, damit
die Fairness der Verfahren nicht dem beschleunigten Tempo               Gastbeitrag: Als möchten sie uns nicht mit
zum Opfer fällt.                                                        ihren Sorgen belasten                                        20

Und trotz Corona ging wohl bei niemandem vergessen, dass
bereits am 1. Juli das Grossprojekt NA-BE umgesetzt wird.
Für viele unserer Leserinnen und Leser bedeutet dies einen              Kurzinfos                                                   23
Neuanfang; für viele der Geflüchteten eine neue Ausgangs-
lage. Wir wünschen allen einen guten Start und hoffen nicht
zuletzt, dass der Neunanfang auch eine Chance bietet für
                                                                        Impressum
Verbesserungen zum Wohle der Geflüchteten im Kanton Bern.
                                                                        Redaktion Franziska Müller Gestaltung Source Associates AG
                                                                        Druck Druckerei Läderach
Lisa Schädel, Projektleiterin                                           Kontakt KKF-OCA, Effingerstrasse 55, 3008 Bern

AsylNews, 2/2020                                                    2
Neues aus der KKF
Weiterbildung                            Dienstleistungen                              Herzlichen Dank!

                                                                                       Die KKF bedankt sich von Herzen bei
                                                                                       allen bisherigen Partnerinnen und
Horizonte Herbst 2020                    Aktualisierte FachInfos
                                                                                       Partnern im Asyl- und Flüchtlings-
                                                                                       bereich für ihre wertvolle Tätig-
Wir freuen uns, das Weiterbildungspro-   Der KKF-Fachbereich «Grundlagen und
                                                                                       keit und die stets vertrauensvolle
gramm Horizonte für das zweite Halb-     Support» arbeitet regelmässig relevante
                                                                                       Zusammenarbeit. Wir haben die
jahr 2020 dieser AsylNews-Ausgabe        Themenkomplexe des Asyl- und Flücht-
                                                                                       unzähligen persönlichen Kontakte
beizulegen. Rechtzeitige Anmeldungen     lingsbereichs auf und stellt sie Organi-
                                                                                       auf allen Ebenen stets geschätzt und
lohnen sich, da die Kursplätze jeweils   sationen und Mitarbeitenden im Asyl-
                                                                                       wünschen allen Betroffenen, welche
beschränkt sind. Im Kurs 20/7 sind nur   und Flüchtlingsbereich zur Verfügung.
                                                                                       nicht mehr im Asyl- oder Flücht-
noch wenige Plätze frei.                 Folgende FachInfos wurden überarbeitet
                                                                                       lingsbereich tätig sein werden, das
                                         und sind auf dem neusten Stand:
                                                                                       Beste auf Ihrem weiteren Weg.
Horizonte 20/5                           • Asylsozialhilfe
                                                                                       Gleichzeitig begrüssen wir die neuen
Perspektiven für Rückkehrende            • Bestrafung wegen illegalen Aufenthalts
                                                                                       regionalen Partner und alle neu im
Wege zur Wiedereingliederung             • FAQ Asylsozialhilfe
                                                                                       Asyl- und Flüchtlingswesen tätigen
Dienstag, 18. August 2020                • Härtefallregelungen im Kanton Bern
                                                                                       Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
13.30 bis 17.00 Uhr                      • Invalidenversicherung
                                                                                       Wir freuen uns auf eine intensive
                                         • Nothilfe
                                                                                       und kreative Zusammenarbeit in
Horizonte 20/6                           • Quellensteuer
                                                                                       den nächsten Jahren.
Sozialhilfe im Asyl- und Flüchtlings-    • Subsidiarität
bereich                                  • Verwaltungshandeln und Verfügungen.
Neue Gesetzgebung und Anwendung
in der Praxis                                www.kkf-oca.ch/fachinfos

Montag, 7. September 2020
13.30 bis 17.30 Uhr
                                                                                     Jahresbericht 2019
                                         Jobs4refugees.ch in der
Horizonte 20/7
Schleusenwärterin Türkei                 Nordwestschweiz                             NA-BE im Fokus
Aktuelle Situation, aktuelle ​
                                         Die Personalplattform von jobs4refu-
Fluchtgründe                                                                         Die KKF blickt auf ein intensives Jahr
                                         gees.ch hat expandiert. Seit Mitte Mai
Donnerstag, 22. Oktober 2020                                                         zurück. Die Neustrukturierung des
                                         2020 sind auch Profile von Stellen-
13.00 bis 17.30 Uhr                                                                  Asyl- und Flüchtlingswesens im Kanton
                                         suchenden aus der Nordwestschweiz
                                                                                     Bern (NA-BE) forderte alle Akteure und
                                         zu finden. Dank der Partnerschaft mit
Horizonte 20/8                                                                       Akteurinnen des Asylbereichs. Wie die
                                         dem Verband «z’RächtCho NWCH» fin-
Konstruktives Kommunizieren in der                                                   KKF mit Information, Beratung und Wei-
                                         den nun auch Arbeitgebende aus der
Betreuung                                                                            terbildung sowie als Austauschplattform
                                         Nordwestschweiz passende neue Mit-
Grundlagen der Gesprächsführung                                                      zur Orientierung und Unterstützung in
                                         arbeitende. Zudem erlaubt ein neuer
Mittwoch, 11. November 2020                                                          dieser Übergangszeit beitragen konnte,
                                         Filter die Auswahl des Wohnkantons der
13.30 bis 17.00 Uhr                                                                  lesen Sie im Jahresbericht 2019.
                                         Stellensuchenden. Wir freuen uns über
                                         die neue Partnerschaft und hoffen auf die
    Anmeldeformular:                                                                     www.kkf-oca.ch/jahresbericht
    www.kkf-oca.ch/horizonte             Vermittlung vieler erfolgreicher Arbeits-
    Auskünfte: Daphna Paz                verhältnisse. Auch im Kanton Bern stre-
    daphna.paz@kkf-oca.ch                ben wir weitere Partnerschaften an und
                                         freuen uns über Ihre Kontaktaufnahme.

                                             www.jobs4refugees.ch
                                             Kontakt: Lisa Schädel
                                             lisa.schaedel@kkf-oca.ch

                                                              3
Tandem im Austausch

                                                                                                                                         Foto: zvg
Carole und Runak sind eines der ersten
Tandems im Projekt «zusammen hier».
Die wöchentlichen Treffen möchten sie nicht
mehr missen, und auch die lokale Projekt-
koordinatorin Andrea Zürcher freut das
geglückte Matching.

«Als Andrea von ihrem neuen Projekt erzählte, war ich sofort
interessiert», sagt Carole. Sie hat eine kleine Tochter, arbeitet
Teilzeit als Lehrerin und hat nebenbei ein bisschen Zeit, um
Neues zu entdecken. Verbindungen zum Migrationsbereich
hatte sie bisher kaum. «Beim Kennenlern-Treffen war neben               Carole und Runak treffen sich einmal die Woche. Sie spazieren,
meiner Tandempartnerin Runak auch die Lokalkoordinato-                  plaudern und teilen ihr Wissen.

rin von «zusammen hier» dabei; wir haben uns gegenseitig
vorgestellt und den Rahmen unseres Tandems geklärt. Gleich              ihre Sprachkenntnisse nun auch ausserhalb des Kurses anwen-
danach stellten Runak und ich fest, dass wir sowieso beide              den kann: «Ausser den Frauen im Frauentreff kenne ich fast
noch einkaufen gehen mussten und nur fünf Gehminuten                    niemanden im Dorf, das ist traurig. Ich möchte mehr Leute
voneinander entfernt wohnen. Seitdem sehen wir uns jeden                kennenlernen und mit ihnen sprechen können.» Sie wünscht
Montag. Ich schätze diese Begegnungen sehr.» Initiiert wurde            sich später eine kleine Familie mit Kindern und freut sich
dieses Frauen-Tandem von Andrea Zürcher, die selber in Lang-            deshalb immer besonders, die kleine Tochter ihrer Tandem-
nau wohnt und das Projekt vor Ort leitet. Interessierte Frei-           partnerin zu sehen. Seit diese auf der Welt ist, steht Carole
willige findet sie in ihren Netzwerken und in ihrem eigenen             für ihre Familie vermehrt in der Küche. Sie will Runak bald
Bekanntenkreis.                                                         einmal fragen, ob sie ihr ein paar kulinarische Tipps geben
                                                                        könnte, «denn Kochen ist sonst nicht so mein Ding, Runaks
Runak besucht regelmässig den Frauentreff des Vereins «Lang-            dagegen schon.»
nau Interkulturell» und hat dort davon erfahren. Andere
geflüchtete Personen erfahren von ihren Sozialarbeiterin-               So ungezwungen es im Tandem läuft, ab und zu gibt es auch
nen oder Deutschkursleitern vom Tandem-Angebot. Runak                   Unsicherheiten. So möchte Carole mit ihren Fragen Runak
geniesst es, sich einmal die Woche mit Carole zu verabreden             unter keinen Umständen zu nahe treten. «Ich freue mich
und einfach ein bisschen Zeit mit ihr zu verbringen: «Wir gehen         deshalb auf den Kurs für Tandem-Freiwillige, da werden wir
zusammen spazieren und plaudern oder trinken einen Kaffee               solche Unsicherheiten bestimmt miteinander besprechen kön-
bei uns zu Hause. Manchmal hilft mir Carole auch mit den                nen» und spricht damit den zweitägigen Fundamente-Grund-
Deutschaufgaben». Runak kommt ursprünglich aus dem Irak                 lagenkurs an, den die KKF im Herbst anbietet.
und lebt seit drei Jahren mit ihrem Mann in der Schweiz. Sie
besucht einen Deutschkurs in Langnau und ist froh, dass sie             Ob sie das Tandem weiterempfehlen würden? «Klar», sagt
                                                                        Runak und Carole ergänzt: «Ich fände es schön, wenn alle eine
                                                                        solche Begleitung hätten, um sich in der Gesellschaft einzu-
                                                                        leben».
   «zusammen hier»
                                                                             Fundamente Grundlagenkurs für Freiwillige

   Das Tandemprojekt «zusammen hier» richtet sich an                         16./17. Oktober 2020
                                                                             www.kkf-oca.ch/dienstleistungen-freiwillig-engagierte
   Freiwillige aus der lokalen Bevölkerung und geflüchtete
   Personen in den Regionen Büren a.A., Konolfingen
   und Langnau. Es ist kostenlos und steht allen Men-
   schen offen, unabhängig von Religionszugehörigkeit,
   Aufenthaltsstatus, Herkunft, Alter und Geschlecht.
   Trägerschaft des zweijährigen Pilotprojekts sind die
   Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn und die
   KKF.

        https://zusammen-hier.ch

AsylNews, 2/2020                                                    4
Fokus:
               Altern anderswo
               Ältere Menschen auf der Flucht
               Wie ergeht es älteren Menschen unterwegs auf der Flucht, in den Camps und
               Aufnahmelagern? Haben sie Zugang zu einem fairen und effektiven Asyl­
               verfahren? Und unter welchen Bedingungen werden geflüchtete Menschen
               in der Schweiz älter? Im Fokus «Altern anderswo» beleuchtet die KKF aus
               verschiedenen Blickwinkeln und in unterschiedlichen Kontexten Rechte und
               Schutz einer vulnerablen Gruppe, die zu oft aus dem Blick gerät.

Internationaler Flüchtlingsschutz                                      Status. Biografische Brüche, Statusverlust, fehlende Unter-
In diesem Fokus werfen wir einen Blick auf die internationale          stützung und Gewalterfahrungen können Menschen auf der
Ebene der Fluchtmigration und auf Menschen, die sich in die-           Flucht einschneidend verletzen. In dieser Situation werden
sem Kontext bewegen. Im internationalen Flüchtlingsschutz              der aufenthalts- und arbeitsrechtliche Status und der damit
und nach europäischer Gesetzgebung gelten ältere Menschen              verbundene Zugang resp. Ausschluss noch entscheidender für
auf der Flucht als besonders verletzliche Gruppe mit erhöhten          ein gutes Altern und ein gesundes, selbstbestimmtes Alter.
Schutzbedürfnissen und besonderen Rechten. Ihre Beachtung
bleibt trotzdem gering, und Flüchtlingsorganisationen fehlt es         Zugang und Partizipation
oft an spezifischem Wissen, um ihren Schutz zu gewährleisten.          Der zweite Fokus in der September-Ausgabe des AsylNews
Zu starre Kategorien, das lehrt die Migrationsforschung und            wendet sich der Situation älterer geflüchteter Personen in der
wissen wir aus der Altersforschung, werden den individuellen           Schweiz zu. Wir fragen nach Möglichkeiten und Aktivitäten,
Situationen und Strategien älterer Migrierender nicht gerecht.         Rechten und Spielräumen älterer Flüchtlinge, vorläufig auf-
In Bezug auf ältere Personen auf der Flucht stehen jedoch              genommener Personen und Sans-Papiers: Wie ist es um ihre
offensichtliche Herausforderungen und Hürden im Weg – die              finanzielle Absicherung im Alter bestellt? Wie offen sind die
unüberbrückbare Entfernung etwa zu Wasser, Nahrung und                 Angebote und Einrichtungen an Wohnen, Gesundheitsvor-
medizinischer Hilfe – und die praktische Nichterreichbar-              sorge, Betreuung und Pflege für ihre Bedürfnisse? Welche
keit von staatlichen Stellen. Diese Hindernisse können und             Organisations- und Vernetzungskanäle kommen ihnen ent-
müssen abgebaut werden, damit ältere Menschen gleichen                 gegen? Und vor allem: Wie und wo bringen sie als Akteure und
Zugang finden zu einem fairen und effektiven Asylverfahren             Expertinnen des Alterns in der Migration ihre Ressourcen und
und menschenrechtskonformen Aufnahmebedingungen wie                    Kompetenzen ein, um Ungleichheit zu bekämpfen und Altern
andere Gruppen von Flüchtlingen.                                       in der Migration menschenwürdig zu gestalten? Der dritte
                                                                       Fokus im AsylNews vom Dezember nimmt das Altern von
Vielfalt und Aufenthaltsstatus                                         geflüchteten Personen auf dem Schauplatz des Kantons Bern
Altern ist ein Prozess, Migration eine Erfahrung. Wie sie gelebt       und insbesondere unter NA-BE unter die Lupe.
und erlebt werden, wie ihre Biografien sich fortschreiben
und verschränken, hängt von verschiedenen Faktoren und
Einflüssen ab: Persönliche Voraussetzungen spielen ebenso
eine Rolle wie soziale und materielle Ressourcen und sozialer
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Fokus: Altern anderswo

Die besondere Situation                                               Ältere Migrierende bilden die Schnittmenge der beiden zentra-
                                                                      len – und als problematisch eingestuften – gesellschaftlichen
älterer Flüchtlinge                                                   Prozesse «demographische Alterung» und «internationale
                                                                      Migration», sodass sie zunehmend in den Fokus der Alters- und
Ältere Menschen haben keinen Zugang                                   Migrationsforschung geraten. Die spezifische Situation von
zu einem fairen und effektiven Asylver-                               Menschen, die auf der Flucht und im Asyl altern, wird dabei
                                                                      noch kaum beleuchtet.
fahren. Die Hürden sind für sie nicht zu                              Humanitäre Zuwanderung spielt in der Schweiz eine wichti-
schaffen, nicht auf den Fluchtwegen und in                            ge Rolle. In den 1990er-Jahren war eine starke Zunahme von
den Camps, nicht in den Unterkünften der                              Asylsuchenden zu verzeichnen. Unter den Asylsuchenden sind
potentiellen Aufnahmeländer. Zugang zu                                ältere Menschen deutlich unterrepräsentiert. Als ein zahlen-
                                                                      mässig relativ kleiner und sehr spezifischer Teil der Bevölke-
Zuflucht ist deshalb oberste Priorität, um                            rung mit transnationaler Migrationserfahrung finden ältere
soziale und ökonomische Aspekte über-                                 Flüchtlinge bis heute wenig Aufmerksamkeit, sie werden von
haupt erst diskutieren zu können.                                     der Gesellschaft kaum wahrgenommen.

«Ältere Flüchtlinge waren zu lange unsichtbar.», sagte die ehe-       Hürden abbauen
malige UN-Hochkommissarin für Flüchtlinge, Sadako Ogata,              Die Weltbevölkerung altert, der Anteil der älteren Flüchtlinge,
1999. Auch heute, zwanzig Jahre später, sind sie es immer             international je nach Kontext definiert als Personen über 55
noch. Ältere Menschen auf der Flucht gelten als besonders ver-        oder 60, wird zunehmen. Ältere Flüchtlinge sind besonders
letzlich und werden von Institutionen und Organisationen im           gefährdet. Auf der Flucht sind sie vielen zusätzlichen Heraus-
Migrationsbereich der Gruppe der vulnerablen Personen zuge-           forderungen ausgesetzt. Und auch im Flüchtlingslager und in
ordnet (vgl. die Aussagen von IOM, S. 9). Doch wird ihnen nicht       den Aufnahmeländern stehen sie vor zahlreichen Hinder-
so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie Kindern, Frauen und              nissen. Gemäss UNCHR laufen ältere Menschen Gefahr, die
traumatisierten Flüchtlingen. Daher haben Organisationen,             Registrierungsstellen nicht erreichen zu können, weil diese zu
die Flüchtlinge unterstützen, tendenziell weniger Wissen über
die Bedürfnisse älterer Flüchtlinge als über Anliegen anderer
Flüchtlingsgruppen.                                                       Zahlreiche Hürden verbauen
                                                                          älteren Menschen den Zugang
Konjunktur der Interessen
                                                                          zu einem fairen und effektiven
Zwar bemühten sich Institutionen wie die UNO-Flüchtlings-
hilfe und NGOs wie European Council on Refugees (ECRE) in                 Asylverfahren.
den 1990er-Jahren darum, Wissen über ältere Menschen auf
der Flucht zu generieren und das Thema zu lancieren. Das Inte-        weit weg liegen oder weil das lange Anstehen in einer Schlange
resse verebbte, bevor es zu Programmen und Finanzierungen             zu kräftezehrend ist. Das gleiche Problem besteht bei Versor-
                                                                      gungsstellen für Nahrung, Wasser und medizinischer Hilfe.
                                                                      In Flüchtlingslagern und in den Aufnahmeländern können
    Die spezifische Situation von ​                                   ungünstig gestaltete Unterkünfte die Bewegungsfreiheit von
    Menschen, die auf der Flucht                                      körperlich eingeschränkten Flüchtlingen stark einschränken.
    altern, wird kaum beleuchtet.                                     Zuflucht gewähren
                                                                      Die besondere Situation älterer Flüchtlinge verdient Beach-
zum Schutze älterer Menschen auf der Flucht kam. So blieb             tung, damit ältere Menschen auf der Flucht Zugang zu einem
der Bedarf an Unterstützungsleistungen für diese Gruppe am            fairen und effektiven Asylverfahren und menschenrechtskon-
bewährten Platz, in den Transitländern.                               formen Aufnahmebedingungen haben.

Demographie und Migration im Blickfeld                                    www.uno-fluechtlingshilfe.de

Statistisch gesehen sind ältere Flüchtlinge sowohl in der                 > Hilfe weltweit > Flüchtlingsschutz > Ältere Flüchtlinge

Schweiz wie international eine Minderheit. Obwohl ältere
Menschen schon länger Thema wissenschaftlicher und poli-
tischer Diskussionen sind, erfahren ältere Migranten und
­Migrantinnen erst in jüngster Zeit verstärkte Aufmerksamkeit.
AsylNews, 2/2020                                                  6
Fokus: Altern anderswo

Ältere Migrierende in der                                              schen befinden, deren Kinder ausgewandert sind. King und
                                                                       Vullnerati (7) verwenden den Begriff «Orphan Pensioners» –
Forschung                                                              verwaiste Rentnerinnen und Rentner, um zu zeigen, inwieweit
                                                                       diese älteren Menschen der sozialen Unterstützung beraubt
Verschiedene europäische Studien widmen                                bleiben, wenn ihre Kinder ausgewandert sind. Mit den Mög-
sich älteren Menschen mit Migrationerfah-                              lichkeiten der Familienzusammenführung von Migrantinnen
                                                                       und Migranten, die in Europa und der Schweiz etabliert sind,
rung. Mit wenigen Ausnahmen konzentrieren                              und ihrer Eltern befasst sich ein weiterer Forschungszweig.
sie sich auf die Situation der Arbeitsmig-                             Diese Studien bringen die Hürden zutage, die den Verfahren
rantinnen und -migranten, die vor der Rente                            der Familienzusammenführung im Wege stehen (8).
stehen und sich damit konfrontiert sehen,
                                                                       In ihrem Bericht im Auftrag der Eidgenössischen Kommis-
im Einwanderungsland älter zu werden.                                  sion für Migrationsfragen und des Nationalen Forums «Alter
                                                                       und Migration» (9) untersuchen Hildegard Hungerbühler und
Wissenschaftliche Untersuchungen machen deutlich, dass                 Corinna Bisegger die Lebenssituation von Menschen, die in
Migration, entgegen der verbreiteten Annahme, kein vorü-               einem anderen Land geboren wurden, im Laufe ihres Lebens
bergehendes Phänomen ist, das mit der Rückkehr in das Her-             in die Schweiz gekommen sind und hier altern. Sie kommen zum
kunftsland endet. Im Gegenteil: Die meisten Migrantinnen und           Schluss, dass es zwar migrationsspezifische Besonderheiten
Migranten bleiben nach der Pensionierung im Land, in dem               gebe, die ältere Migrationsbevölkerung jedoch nicht als homo-
                                                                       gene Gruppe behandelt werden könne. Denn die Bezeichnung
                                                                       «ältere Migrationsbevölkerung» fasse eine Personengruppe,
   Entgegen der weit verbreiteten                                      die in sich so unterschiedlich sei wie die Bevölkerung im Ruhe-
   Ansicht ist Migration kein                                          stand im allgemeinen.
                                                                       Heute setzt sich die Gruppe der älteren Migrantinnen und
   vorübergehendes Phänomen.
                                                                       Migranten in der Schweiz aus Menschen aus mehr als 160
                                                                       Ländern zusammen. Und auch wenn die Herkunftsregion und
sie als Erwachsene gelebt haben (1), oder sie pendeln zwischen         die Einwanderungsgründe unterschiedlich sind, haben doch
diesem Lebensort und ihrem Herkunftsland hin und her (2).              alle Migrierenden eine Erfahrung gemeinsam: Sie haben ihre
Mehrere Studien zeigen die prekären Lebensbedingungen von              gewohnte Umgebung verlassen und haben Verluste erlebt.
Migrantinnen und Migranten im Alter auf, sowohl in Bezug auf
ihre wirtschaftliche Situation (3) wie auf ihre Gesundheit (4).            Je prekärer der Status, desto
Eine Studie hebt vor allem die als schwierig erfahrene Kommu-
nikation zwischen Geriatriefachleuten und Klienten und Kli-                eingeschränkter der Zugang zu ​
entinnen sowie die mangelnde interkulturelle Sensibilität der              sozialer Sicherung.
Einrichtungen und Angebote für ältere Menschen hervor (5).​
Mängel stellt diese Studievor allem in der Gesundheitspolitik          Ihr Aufenthaltsstatus ist entscheidend für ihr Leben und
verantwortlicher Institutionen fest. So würden sie sich einer-         Altern hier. Denn, je prekärer der Status, desto beschränk-
seits zu wenig einstellen auf die Bedürfnisse der Bewohner             ter der Zugang zu Mobilität, Aufenthaltssicherheit, Bildung,
und Bewohnerinnen mit Migrationshintergrund und hätten                 Gesundheitsvorsorge und sozialer Sicherung.
es andererseits bislang verpasst, auf formelle und anerkannte
Weise das Potential migrantischer Fachkräfte zu mobilisieren.              (1) Sayad, 1991; Dietzel-Papakiriakou, 1993; Toullier et Baudet, 1998;
                                                                           Bolzman, Fibbi, 1993; 2001; Bolzman, C., Poncioni-Derigo, R., et Vial,
                                                                           M.,2004
Eine andere Forschungslinie zu älteren Migrierenden befasst                (2) Attias-Donfut, 2006; Serra-Santana, 2000; Schaeffer, 2001
sich mit ihren Familienbeziehungen und fragt nach der Rolle                (3) Bolzman, Fibbi, Vial, 1999

der Familie bei der Unterstützung älterer Personen. Diverse                (4) Pitaud, 1999; Patel, 2003
                                                                           (5) Christen-Gueissaz et al., 2011
Untersuchungen heben den innerfamilialen Austausch und                     (6) Brubaker, 1990
die konkrete Solidarität hervor, speziell in Familien, die ihren           (7) King, Vullnerati, 2006

Ursprung im Süden haben. In den Beziehungen zwischen den                   (8) Bolzmann et al., 2008
                                                                           (9) Hungerbühler, Hildegard und Bisegger, Corinna, 2012: «Und so
Generationen seien die gegenseitigen Erwartungen zwischen                  sind wir geblieben …», Ältere Migrantinnen und Migranten in der
den älteren Eltern und den Kindern ein Schlüsselfaktor (6).                Schweiz

Aus anderer Perspektive weisen einige Studien auf die Ver-
lassenheit hin, in der sich viele zurückbleibende ältere Men-
                                                                   7
Fokus: Altern anderswo

Die freiwillige Rückkehr                                         Wie Frau N. mit sechzig zurückkehrt
älterer Menschen                                                 Bei ihrem ersten Termin bei der Rückkehrberatung Bern wirk-
                                                                 te die sechzigjährige Tamilin Frau N. gebrochen und viel älter,
Ältere Migrantinnen und Migranten machen                         als sie es tatsächlich war. So verletzlich Frau N. jedoch wirkte,
nicht die Mehrheit der freiwilligen Rückkeh-                     so entschlossen war sie, ihrem Leben noch einmal eine neue
                                                                 Wende zu geben und in ihr Herkunftsland zurückzukehren.
renden aus. Die Rückkehrberatungsstelle
des Kantons Bern (RKB) organisiert jedoch                        Frau N. flüchtete vor über zehn Jahren gemeinsam mit ihrem
jedes Jahr die Rückkehr einiger älterer Men-                     erwachsenen Sohn vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka und
schen. Sie haben alle ihre eigenen Gründe, in                    wurde in der Schweiz vorläufig aufgenommen. Beide verloren
                                                                 im Krieg zahlreiche Familienmitglieder und Bekannte. Doch
ihr Herkunftsland zurückkehren zu wollen.                        auch in der Schweiz sollte die Familie vor Schicksalsschlägen
                                                                 nicht verschont bleiben. Der Sohn nahm sich das Leben und
Die Frage des Lebensalters allein ist kein entscheidender Fak-   Frau N., die bereits vor ihrer Flucht gesundheitlich angeschla-
tor bei der Organisation einer Rückkehr. Um eine Rückkehr in     gen war, erkrankte an einer schweren Depression.
Würde zu organisieren, die tatsächlich Möglichkeiten bietet,
sich im Herkunftsland wieder zu integrieren, muss die RKB

                                                                                                                                     Foto: IOM
alle Aspekte berücksichtigen, die zu einer besonderer Verletz-
lichkeit rückkehrender Menschen führen können: Wie steht es
mit ihrer Mobilität? Können sie sich während der Reise selbst
versorgen? Verfügen sie über Schrift- und Sprachkompetenz in
mehreren Sprachen? Gibt es medizinische Probleme? In Bezug
auf die Ankunft im Zielland stellen sich dann die Fragen der
Betreuung und Pflege Begleitung und Betreuung: Kann sie von
der Familie oder einer sozialen Einrichtung geleistet werden,
zuhause oder in einem Heim? Auch die Auszahlung der AHV-
und BVG-Renten muss geklärt werden.

Auch nach der Pensionierung bleiben Migrierende Pionierin-
nen und Pioniere. Da sie sich nicht auf bewährte Modelle des
Alterns beziehen können, müssen sie neue Strategien entwi-       Beim Monitoringbesuch in ihrer Wohnung bespricht Frau N. mit
                                                                 der lokalen IOM-Mitarbeiterin, Mary Lambert, ihre gesundheitliche
ckeln. Um neue Wege zu finden, verbinden sie ihr Wissen über     Siutation.
das Altern mit ihren Kompetenzen der Selbstorganisation. Alle
älteren Personen, mehrheitlich Frauen, die bisher mit Unter-
stützung der RKB zurückgekehrt sind, hatten eine klare Vor-      Frau N. verblieben in Sri Lanka zwei erwachsene Söhne, die
stellung, wie ihre Rückkehr ablaufen und welche Aktivitäten      inzwischen verheiratet waren. Zu ihnen wollte Frau N. nun
sie zurück im Herkunftsland ergreifen wollten, um sich wieder    definitiv zurückkehren. Sie selbst und ihre Familie waren
einzufinden.                                                     überzeugt, dass es ihr an ihrem Herkunftsort im Kreis ihrer
                                                                 Familie trotz schlechterer medizinischer Versorgung besser
                                                                 gehen würde als in der Schweiz.

                                                                 Für die Organisation und Beratung zu dieser freiwilligen
                                                                 Rückkehr suchte Frau N. zusammen mit ihrer ebenfalls in der
                                                                 Schweiz lebenden Nichte die Rückkehrberatungsstelle Bern
                                                                 (RKB) auf. Wenige Wochen später konnte sie die Rückreise mit
                                                                 einer medizinischen Begleitperson aus Sri Lanka antreten, die
                                                                 von der Internationalen Organisation für Migration (IOM)
                                                                 organisiert worden war. Bei ihrer Ankunft in der Hauptstadt
                                                                 Colombo wurde Frau N. von ihrem Bruder empfangen. Das
                                                                 Wiedersehen sei für alle Familienmitglieder sehr emotional
                                                                 gewesen, wie Frau N.’s Nichte später berichtete.
AsylNews, 2/2020                                             8
Fokus: Altern anderswo

Frau N. erwarb sich von ihrer Reintegrationshilfe, die über             Wie die IOM im Kontext der
die Rückkehrberatungsstelle beim Staatssekretariat für Mig-
ration (SEM) beantragt wurde, ein TukTuk, für das sie einen             freiwilligen Rückkehr arbeitet
Fahrer engagierte. Damit generiert sie heute ein zwar beschei-
denes, aber regelmässiges Einkommen und kann so zum                     Die Rückkehrberatung des Kantons Bern
Familieneinkommen beitragen. Mit einer Zusatzhilfe konnte               (RKB) arbeitet mit der Internationalen
ein zusätzliches Zimmer im Haus des Sohnes gebaut werden.
Zudem erhielt Frau N. während sechs Monaten medizinische
                                                                        ­Organisation für Migration (IOM) zusam-
Rückkehrhilfe für Medikamente und Therapien.                             men, um Projekte für Personen zu ent-
                                                                         wickeln, die aufgrund ihres Alters, ihrer
Die Geschichte von Frau N. steht exemplarisch für viele ältere           familiären Situation oder ihres Gesund-
anerkannte Flüchtlinge und vorläufig aufgenommene Perso-
nen, die sich dazu entschliessen, freiwillig in ihr Herkunfts-
                                                                         heitszustands als besonders verletzlich
land zurückzukehren – und die die Möglichkeit dazu haben.                gelten. Die Mitarbeitenden der IOM Bern
Denn damit die freiwillige Rückkehr überhaupt eine Option                geben Auskunft über ihren Ansatz und ihre
ist, ist es neben der generellen und individuellen (Sicherheits-)        Praxis.
Lage vor Ort gerade für ältere Rückkehrende fast unerläss-
lich, dass ein Familiennetz vorhanden ist, das sie aufnehmen
und unterstützen kann. Dieses Glück haben längst nicht alle.            E-Mail-Interview: Joëlle Hediger
Insbesondere für ältere und andere vulnerable abgewiesene
Asylsuchende, die kein Unterstützungsnetz vor Ort haben,                Wie aufmerksam sind die Mitarbeitenden der Internationa-
kann die Rückkehr in ihr Herkunftsland eine existentielle               len Organisation für Migration Bern (IOM) gegenüber dem
Bedrohung darstellen.                                                   Thema Alter, wenn es um die freiwillige und einvernehmliche
                                                                        Rückkehr geht?

                                                                        Die Rolle und Aufgabe der IOM-Mitarbeitenden bei der Orga-
                                                                        nisation der freiwilligen Rückkehr ist, alle Aspekte persön-
                                                                        licher und kontextbezogener Verletzlichkeit einer Person zu
                                                                        erfassen. Deshalb betrachten wir Alter nicht nur als Lebens-
                                                                        alter, also als objektive Variable, sondern berücksichtigen alle
                                                                        subjektiven Faktoren, die auf ein frühes Altern hinweisen. Auf-
                                                                        grund der indiduellen Situation einer Person und ihrer Verletz-
                                                                        lichkeitsfaktoren, klären wir im Herkunftsland die lokalen
                                                                        Gegebenheiten ab in Bezug auf die sozialen Verhältnisse, die
                                                                        Altersversicherung und die individuellen Voraussetzungen für
                                                                        eine Person.
                                                                        Wenn IOM Mitarbeitende feststellen, dass der präventive
                                                                        Schutz vor Verletzlichkeit lokal nicht gegeben ist, können
                                                                        sie gemäss der Richtlinie des Staatsekretariats für Migra-
                                                                        tion (SEM) ein Unterstützungsgesuch für Härtefälle stel-
                                                                        len und so für die Betroffenen spezifische Unterstützung
                                                                        und Leistungen im Rahmen der Rückkehrhilfe erwirken.

                                                                        Welchen spezifischen Ansatz verfolgt IOM, wenn es um ältere
                                                                        Rückkehrende geht?

                                                                        Ältere Menschen gehören wie andere vulnerable Personen zu
                                                                        einer Kategorie, die unsere besondere Aufmerksamkeit ver-
                                                                        langt. Das IOM-Handbuch enthält einen eigenen Abschnitt
                                                                        zu «älteren Menschen». Als IOM Bern sind wir uns der Pro-
                                                                        blematik bewusst, auch wenn die Zahl der Betroffenen bis-
                                                                        her zu gering ist, um eine vertiefte Analyse vorzunehmen.
                                                                    9
Fokus: Altern anderswo

IOM Bern beteiligt sich an Präventionsprojekten zur Bekämp-           Welches sind die wichtigsten Aspekte und Hürden, die bei der
fung des Menschenhandels oder zur Rückkehrbegleitung                  Organisation der Rückkehr älterer Menschen berücksichtigt
unbegleiteter Minderjähriger. Wie wichtig ist das Thema der           werden müssen?
älteren Migrantinnen und Migranten, ihrer Gesundheit und
ihrer sozialen Lage für die Organisation?                             Die Beachtung folgender Aspekte halten wir für unumgänglich:

Alle Gesundheitsfragen können im Zusammenhang mit dem                 • Eine nachhaltige Lebensperspektive im Herkunftsland
Alter eine spezielle Verletzlichkeit darstellen, sowohl in der          (Zugang zu Unterstützungsquellen und medizinischer Ver-
Schweiz als auch im Herkunftsland, und werden von uns                   sorgung im Krankheitsfall;
demtsprechend berücksichtigt. Im Hinblick auf die Organi-
sation einer freiwilligen – und nachhaltigen – Rückkehr orga-         • Die Dimension sozialer, gemeinschaftlicher und familiärer
nisieren wir in diesem Fall entweder lokale Mittel oder eine            Reintegration;
individuelle Reintegrationshilfe.
                                                                      • Alle anderen Aspekte wie auch extreme Gesundheitsbedin-
Ab welchem Alter gelten Migrierende gemäss internationaler              gungen stellen an sich kein Hindernis dar, sondern erfordern
Standards und Konventionen als alte Menschen?                           eine spezielle Organisation der Rückreise mit angemessener
                                                                        Betreuung;
Offiziell gibt es dazu keine präzisen und verfügbaren Infor-
mationen.                                                             • Da ältere Menschen oft unter multiplen medizinischen Prob-
                                                                        lemen leiden, können medizinische Untersuchungen länger
Gibt es bei der freiwilligen Rückkehr signifikante Unterschiede         dauern, wodurch sich die Organisation der Rückreise ver-
zwischen Männern und Frauen?                                            längert;

Generell gibt es unter den Rückkehrenden wohl mehr                    • Je nach Integration und Lebenssituation (soziales Netz, Ein-
Männer. Für die Schweiz verfügen wir nicht über die sig-                kommen, usw.) dauert es länger, die Situation der Person im
nifikanten Daten, die wir in Korrelation mit der Variable               Herkunftsland abzuklären;
Alter bringen könnten. Der Grund für allfällige Unter-
schiede ist jedoch – objektiv und subjektiv – nicht alters-           • Ältere Menschen haben oft keinen Zugang zu modernen
bedingt, sondern hat mit den vielfältigen Gründen und                   Kommunikationsmitteln (Internet, soziale Medien), was
Faktoren zu tun, die Menschen zur Migration bewegen.                    ihre Kontakte im Herkunftsland einschränken kann;

Würden Sie sagen, dass das Alter ein echtes Handicap dar-             • Wenn Personen in Konflikt stehen mit ihrer Familie, ist es
stellen kann bei der Organisation der freiwilligen Rückkehr             schwierig, im Herkunftsland sicherzustellen (möglicherwei-
und der Rückkehrhilfe?                                                  se mit den Sozialdiensten vor Ort), dass sie eine angemessene
                                                                        Betreuung erhalten;
Eher als ein Handicap an sich ist das Alter ein zusätlicher
Vulnerabilitätsfaktor im Zusammenhang mit anderen. Eine               • Manchmal können Menschen aufgrund medizinischer
Person mag aufgrund eines Lebens in Instabilität und Schwie-            Probleme oder Angst nicht mit dem Flugzeug reisen. Dann
rigkeiten mit 65 Jahren in einen physischen und psychischen             müssen wir andere Transportmöglichkeiten finden;
Gesundheitszustand sein, der als prekär bezeichnet werden
kann. Doch das Lebensalter ist nicht der ausschlaggebende             • Die Abhängigkeit von externer materieller Unterstützung
Faktor. Entscheidender sind die medizinischen Probleme und              kann ein grosses Hindernis darstellen für die Reintegra-
die soziale Integration im Herkunftsland.                               tion älterer Menschen, insbesondere in Ländern, in denen
In bestimmten Fällen kann das Alter jedoch schon ein Handi-             Renten- und Versicherungssysteme schlichtweg keine Option
cap darstellen. Im Zusammenhang mit der Reintegration im                sind.
Herkunftsland impliziert das Lebensalter nämlich, dass die
Person oft nicht in der Lage sein wird, eine einkommensschaf-
fende Tätigkeit aufzunehmen, folglich von den öffentlichen
Institutionen vor Ort oder vom familiären und sozialen Netz
abhängig bleiben wird. Ohne Unterstützung von dieser oder
jener Seite kann sie sich auf längere Frist in einer sehr verletz-
lichen sozioökonomischen Situation wiederfinden.
AsylNews, 2/2020                                                 10
Fachinformationen

Asylwesen Schweiz                                                  Tempo vor Fairness
                                                                   Die Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH zieht eine kritische-
                                                                   re Bilanz. Zwar befürwortet sie das neue System und dessen
                                                                   Zielsetzung, rasche und faire Verfahren durchzuführen bei
Ein Jahr neue Asylverfahren                                        gleichzeitiger Stärkung der Rechte der Asylsuchenden durch
                                                                   kostenlose Rechtsvertretung und Beratung ab Verfahrensbe-
– eine erste Bilanz                                                ginn. Doch werde der Akzent seitens des SEM derzeit einseitig
                                                                   auf das Tempo gelegt – zu Lasten von Fairness und Qualität.
Seit Inkrafttreten des neuen Asylgesetzes                          Insbesondere vulnerablen Personen mit psychischen oder
am 1. März 2019 wird ein Grossteil der                             physischen Leiden blieben in den beschleunigten Verfahren
                                                                   oftmals nicht genügend Zeit, diese zu beweisen und Sachver-
Asylgesuche in beschleunigten Verfahren                            halte würden nur ungenügend abgeklärt. Die Rechtsprechung
behandelt. Während das Staatssekretariat                           des Bundesverwaltungsgerichtes (BVGer) belege diese Kritik.
für Migration (SEM) nach einem Jahr eine                           So liege die Rückweisungsquote nach Beschwerden gegen den
positive Bilanz zieht, weisen verschiedene                         erstinstanzlichen Entscheid im ersten Jahr bei Fällen nach
                                                                   neuem Recht mit 15 Prozent deutlich höher als jene in den ver-
öffentliche Institutionen und zivilgesell-                         gangenen Jahren (4.8 Prozent zwischen 2007 und 2018). Die
schaftliche Organisationen auf Mängel im                           hohe Rückweisungsrate verweist auf die kurzen Behandlungs-
neuen System hin.                                                  fristen und damit den Zeitdruck im beschleunigten Verfahren
                                                                   (siehe dazu auch S.12).

Die Schweiz nimmt international eine Vorreiterrolle ein mit        Effizienz vor Qualität
ihren beschleunigten Verfahren. Asylsuchende, deren Gesuch         Auch die Richterinnen und Richter des BVGer unterliegen seit
in einem Dublin- oder beschleunigten Verfahren behandelt           März 2020 einem enormen Zeitdruck. Bei Nichteintretensent-
wird, bleiben neu für die Dauer des Verfahrens (max. 140 Tage)     scheiden stehen dem Gericht fünf Arbeitstage, bei beschleu-
in einem Bundesasylzentrum (BAZ). Dies betraf 2019 vier von        nigten Verfahren zwanzig und bei erweiterten Verfahren
fünf Gesuchen und damit deutlich mehr als die ursprünglich         dreissig Kalendertage zur Verfügung, um zu einem Urteil zu
erwarteten 60 Prozent aller Gesuche. Erhalten Asylsuchende         gelangen. Im ersten Jahr gelang es dem BVGer, bei 70 Prozent
im beschleunigten Verfahren einen negativen Asylentscheid
oder müssen gemäss Dublin-Abkommen die Schweiz verlas-
sen, verbleiben sie bis zur Ausreise in den BAZ. Nur Personen          Bei Nichteintretensentscheiden
mit einem Schutzstatus und Asylsuchende, für die es ein erwei-         stehen dem Gericht fünf Arbeits-
tertes Verfahren braucht, werden den Kantonen zugeteilt.               tage zur Verfügung, um zu einem
Damit die Rechtsstaatlichkeit trotz kürzerer Verfahrens- und
Beschwerdefristen gewährleistet bleibt, haben sämtliche Asyl-          Urteil zu gelangen.
suchende Anspruch auf eine kostenlose Rechtsberatung und
Rechtsvertretung.                                                  der Fälle diese gesetzlich vorgegebenen Fristen einzuhalten,
                                                                   bei den weiteren Fällen gab es gemäss Gericht nur gering-
Aus Behördensicht erfolgreich                                      fügige Verzögerungen. Es stellt sich die Frage, ob so kurze
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) zieht ein Jahr nach      Fristen nicht die Entscheidqualität beeinträchtigen. Gerade
der Einführung der beschleunigten Asylverfahren eine posi-         beim BVGer, das als zweite Instanz einen zentralen Pfeiler des
tive Bilanz. So werden die Asylverfahren im Durchschnitt           rechtsstaatlichen Kontroll- und Schutzmechanismus darstellt,
innerhalb von 50 Tagen und somit deutlich rascher als früher       muss diese weiterhin Prioriät haben.
abgeschlossen. Zudem ist die Zahl der freiwillig ausreisenden
Personen klar gestiegen. Einen Grund dafür sieht das SEM           Wenig Handlungsspielraum für den Rechtsschutz
unter anderem in der Einführung eines degressiven Modells          Damit die rechtsstaatlich korrekte und faire Durchführung
der Rückkehrhilfe, wonach Personen in beschleunigten Ver-          der Verfahren sowie die Qualität der Asylentscheide gewähr-
fahren eine höhere Unterstützung erhalten, je früher sie sich      leistet ist, fordert die SFH daher mehr Zeit für die einzelnen
für eine freiwillige Rückkehr in ihre Herkunftsländer entschei-    Verfahrensschritte und eine flexiblere Handhabung der Fris-
den. Zudem führe auch der kostenlose Rechtsschutz während          ten. Ausserdem müsse die siebentägige Beschwerdefrist in den
der gesamten Verfahrensdauer zu einer höheren Akzeptanz            beschleunigten Verfahren erweitert werden. Dass das SEM
der Asylentscheide.                                                sogar deutlich mehr Fälle im beschleunigten Verfahren ent-
Grundsätzlich sei die Einführung der beschleunigten Ver-           scheidet als ursprünglich vorgesehen, wirft ebenfalls kritische
fahren daher ein Erfolg, wie das SEM Anfang Februar 2020           Fragen auf: Gemäss SFH werden bisher noch viele komplexe
bekannt gab. Es gebe aber auch noch einige Herausforderun-         Fälle dem beschleunigten Verfahren zugewiesen, so dass keine
gen zu bewältigen, beispielsweise in den Abläufen der Zusam-       sauberen Einzelfallabklärungen durchgeführt werden können.
menarbeit mit den Rechtsvertretungen.                              Dass in den Abläufen und Prozessen der Zusammenarbeit mit
                                                                  11
Fachinformationen

den Rechtsvertretungen Verbesserungen nötig sind, räumt                         «Die systemischen Mängel, die mit dem Zeitdruck des Ver-
auch das SEM ein. Hierzu fordert die SFH eine Zusammenarbeit                   fahrenstaktes auftreten, kann auch die Rechtsvertretung, die
auf Augenhöhe, bei der dem Rechtsschutz ein grösserer Hand-                    von Beginn des Verfahrens an zur Verfügung gestellt wird,
lungsspielraum eingeräumt wird. Ansonsten könne dieser                         nicht ausreichend kompensieren», sagt Rechtsanwältin Mullis.
seine zentrale Aufgabe im neuen System nur begrenzt wahr-                      Dies gelte umso mehr, wenn berücksichtigt werde, dass die
nehmen und ein wichtiges Ziel der neuen Asylverfahren, näm-                    zugewiesene Rechtsvertretung nach Eröffnung eines negativen
lich rasche und faire Verfahren, könne nicht erreicht werden.                  Entscheides das Mandat niederlegen kann. Im beschleunig-
                                                                               ten Verfahren bedeutet das, dass während einer laufenden
     BVGR, Asyl, 23.03.2020: Bundesverwaltungsgericht hält neue Fristen        Beschwerdefrist von lediglich sieben Arbeitstagen mitgeteilt
     weitgehend ein
                                                                               wird, der bisherige Rechtsbeistand stehe für eine Beschwerde
     www.bvger.ch > Medien > Medienmitteilungen
                                                                               nicht zur Verfügung. Die betroffene Person muss sich in die-
                                                                               sem Fall entweder an eine externe Rechtsvertretung wenden
     SEM, 06.02.2020: Beschleunigte Asylverfahren: Erste Bilanz
     www.sem.admin.ch/sem > Aktuell > News
                                                                               oder selbständig eine Beschwerde einreichen. «Das ist eine
                                                                               Mandatsniederlegung zur Unzeit und wäre mir durch meine
     SFH, 04.02.2020: Beschleunigung darf nicht auf Kosten von Fairness        anwaltschaftlichen Standesregeln untersagt».
     und Qualität gehen
     www.fluechtlingshilfe.ch > Medien > Medienmitteilungen 2020
                                                                               In der Praxis müsse auch Annina Mullis Anfragen von Asylsu-
                                                                               chenden nach externer Rechtsvertretung meistens ablehnen,
                                                                               da derart kurzfristig nicht genügend Zeit vorhanden sei für
                                                                               Aktenstudium, Instruktionsgespräch und Redaktion einer
Die unentgeltliche Rechtshilfe kann die                                        Beschwerde. Dementsprechend müsse angenommen werden,
kurzen Fristen nicht kompensieren                                              dass Betroffenen nach einem negativen Entscheid regelmässig
                                                                               der Zugang zu (ausreichender) juristischer Beratung und Ver-
Die auf 15 Prozent gestiegene Rückweisungsquote des Bundes-                    tretung fehle.
verwaltungsgerichts (BVGer) kann als Gradmesser für unvoll-
ständige Sachverhaltsabklärungen durch das SEM gelesen
werden. Gemäss den Zahlen, die vom BVGer Ende Februar
                                                                                 Reisefreiheit für Flüchtlinge weiter
2020 veröffentlicht wurden, stellte die Beschwerdeinstanz die
meisten Abklärungslücken bei den jeweilig geltend gemachten                      eingeschränkt
Asylgründen. gemachten Asylgründen an sich fest. An zwei-
                                                                                 Anerkannte Flüchtlinge und vorläufig aufgenommene
ter Stelle steht die mangelhafte Untersuchung medizinischer
                                                                                 Flüchtlinge haben grundsätzlich Anspruch auf einen
Probleme der Beschwerdeführenden – dies sei nicht zuletzt
                                                                                 Reiseausweis, mit welchem sie ins Ausland und wieder
dem Umstand geschuldet, dass die Verfahrensabläufe in den
                                                                                 zurück in die Schweiz reisen können. Lediglich Reisen
BAZ nicht auf das Erkennen psychischer Probleme ausgerichtet
                                                                                 in den Herkunfts- oder Heimatstaat sind nicht erlaubt,
seien, sagt Annina Mullis, Rechtsanwältin und Vorstandsmit-
                                                                                 weil diese der Flüchtlingeigenschaft widersprechen
glied der Demokratischen Juristen und Juristinnen Schweiz.
                                                                                 würde. Eine Missachtung kann zur Aberkennung der
                                                                                 Flüchtlingseigenschaft und dem Widerruf des Asyls
Obwohl viele Asylsuchende durch Erlebnisse im Herkunfts-
                                                                                 oder der vorläufigen Aufnahme in der Schweiz führen.
staat oder auf der Flucht unter Traumafolgestörungen leiden,
                                                                                 Seit 1. April 2020 sind die Gesetzes- und Verordnungsän-
stünden insbesondere somatische und übertragbare Krank-
                                                                                 derungen in Kraft, welche die Reisefreiheit für Flücht-
heiten im Fokus der medizinischen Abklärungen im BAZ. Dies
                                                                                 linge weiter einschränken. So können in Zukunft auch
zeige bereits ein Blick auf den standardisierten Gesundheits-
                                                                                 Reisen in bestimmte Nachbarstaaten der Heimat- oder
fragebogen, in welchem lediglich eine von neunzehn Fragen
                                                                                 Herkunftsländer verboten werden, wenn der Verdacht
implizit auf die psychische Verfassung abziele: «Schlafen Sie
                                                                                 besteht, dass hierdurch das Heimatreiseverbot umgan-
gut?»
                                                                                 gen werden soll. Wer trotzdem eine entsprechende Reise
                                                                                 antreten will, kann bei Vorliegen von wichtigen per-
Die kurzen Behandlungsfristen im beschleunigten Verfahren
                                                                                 sönlichen Gründen wie Tod oder schwerer Krankheit
reichten regelmässig nicht aus, um die Indizierung psychia-​
                                                                                 enger Familienangehöriger ein Gesuch an die kantonale
trisch-psychologischer Behandlung zu erkennen, geschweige
                                                                                 Migrationsbehörde stellen. Diese leitet das Gesuch an
denn eine Therapie zu beginnen und einen Fachbericht ein-
                                                                                 das Staatssekretariat für Migration (SEM) zur Beurtei-
zuholen. Auch die Beschaffung von Beweismitteln im Her-
                                                                                 lung weiter.
kunftsstaat kann einige Zeit in Anspruch nehmen, weshalb
                                                                                 Welche Länder von der neuen Regelung genau betroffen
es besonders stossend erscheint, wenn – wie bei Fällen von
                                                                                 sein werden, ist zurzeit noch nicht bekannt. Das SEM
Annina Mullis geschehen – in Aussicht gestellte medizinische
                                                                                 muss diese noch definieren und bekannt geben. Erst
Unterlagen und Beweismittel nicht abgewartet und stattdessen
                                                                                 dann wird das Reiseverbot wirksam.
in antizipierter Beweiswürdigung als unerheblich verworfen
werden.
AsylNews, 2/2020                                                          12
Fachinformationen

Umsetzung NA-BE:                                                  lektivunterkünfte Eschenhof (Gampelen), Bözingen (Biel)
                                                                  und Aarwangen. Aufgrund der Massnahmen gegen die Coro-
Die wichtigsten Änderungen                                        na-Pandemie verzögerte sich die Umplatzierung in die Zent-
                                                                  ren, bis Juli soll sie aber nach Plan abgeschlossen sein. Alle drei
Per 1. Juli 2020 wird die Neustrukturierung                       Rückkehrzentren werden im Auftrag der Sicherheitsdirektion
des Asyl- und Flüchtlingsbereiches im                             des Kantons Bern von der ORS Service AG geführt. Der finan-
                                                                  zielle Rahmen der Nothilfe bleibt gleich, die Ausrichtung wird
Kanton Bern umgesetzt. Die groben Leit-                           jedoch mit strikteren Anwesenheitsregelungen verknüpft sein.
planken sind bekannt – viele Detailfragen
hingegen sind noch ungeklärt.                                     Unterbringung in Kollektivunterkünften
                                                                  Mit NA-BE werden auch die neuen Transferkriterien für den
Die Abkürzung NA-BE für «Neustrukturierung des Asyl- und          Wechsel von einer Kollektivunterkunft in eine individuelle
Flüchtlingsbereichs im Kanton Bern» ist seit über zwei Jah-       Wohnung wirksam. Fortan sollen Asylsuchende, vorläufig auf-
ren im bernischen Asylwesen in aller Munde. 2019 wurden           genommene Personen und anerkannte Flüchtlinge erst in eine
neue regionale Partner für die Betreuung, Unterbringung,          Individualunterkunft wechseln können, wenn sie mindestens
Fallführung und Integration im Asyl- und Flüchtlingsbe-           Sprachniveau Stufe A1 erreicht haben und eine Erwerbstätig-
reich gesucht und im März 2020 wurde der Entscheid auch in        keit oder Ausbildung im Rahmen von mindestens 60 Prozent
der Region (Emmental-Oberaargau) definitiv bestätigt. Die         absolvieren. Ausnahmen sind lediglich für vulnerable Perso-
Beschwerde der Heilsarmee Flüchtlingshilfe gegen die Vergabe      nen vorgesehen. Eine Rückplatzierung von Personen, die diese
des Zuschlags an die ORS Service AG wurde vom Berner Ver-         Kriterien nicht erfüllen, sich aber bereits in der zweiten Phase
waltungsgericht abgelehnt. Damit ist klar, dass die definitive    (Unterbringung in Wohnungen, Wohngemeinschaften usw.)
Übergabe per 1. Juli 2020 in allen Regionen erfolgt. Aber was     befinden, ist jedoch nicht vorgesehen.
ändert sich genau im Sommer?
                                                                  Auszahlung der Sozialhilfe
Neue Zuständigkeiten                                              Höhe und Umfang der finanziellen Leistungen für anerkannte
Ab Mitte 2020 ist die Gesundheits-, Sozial- und Integrations-     und vorläufig aufgenommene Flüchtlinge sind wie bis anhin an
direktion (GSI), konkret das Amt für Integration und Soziales     die Regelungen der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe
(AIS), für alle Personen des Asyl- und Flüchtlingsbereiches       (SKOS) angelehnt. Asylsuchende und vorläufig aufgenomme-
zuständig. Ausgenommen sind einzig abgewiesene Asylsu-            ne Ausländerinnen und Ausländer, die seit weniger als sie-
chende, diese bleiben auf kantonaler Ebene in der Zuständig-      ben Jahren in der Schweiz sind, erhalten weiterhin die tiefer
keit des Amtes für Bevölkerungsdienste (ABEV), welches der        angelegte Asylsozialhilfe. In der Deckung des Grundbedarfs
Sicherheitsdirektion (SID) angehört.                              sind kaum Abweichungen zum heutigen System vorgesehen.
Die GSI delegiert die operative Verantwortung für die Aus-        Weitere Aspekte der finanziellen Abgeltung wie Einkommens-
richtung der Sozialhilfe, die Unterbringung, die Betreuung        freibeträge, Erwerbsunkosten, Integrations- und Motivations-
und die Integrationsförderung an öffentlich-rechtliche und        zulagen oder situationsbedingten Leistungen sind noch nicht
private Trägerschaften, die sogenannten regionalen Partner.       abschliessend geklärt.
                                                                  Die Übertragung von vorläufig aufgenommenen Auslände-
Kantonale Rückkehrzentren                                         rinnen und Ausländern an die Gemeinden nach sieben Jahren
Personen, die einen rechtskräftigen Wegweisungsentscheid          Aufenthalt (VA7+) wird zudem an strengere Integrationskrite-
erhalten haben, werden ab April 2020 gestaffelt in spezielle      rien geknüpft. So sollen nicht erwerbstätige VA7+ nicht mehr
Rückkehrzentren transferiert. Vorgesehen sind die drei Kol-       automatisch an die Gemeinden übertragen werden.

Ab 1. Juli 2020 zuständig für die Unterbringung und Betreuung im Asyl- und Flüchtlingsbereich

Perimeter                               Regionaler Partner

Bern-Stadt und Umgebung                 Kompetenzzentrum Integration der Stadt Bern (KI),
                                        [Betrieb der Kollektivunterkünfte durch die Heilsarmee Flüchtlingshilfe (HAF)]

Bern-Mittelland                         Schweizerisches Rotes Kreuz Kanton Bern (SRK)

Bern Jura und Seeland                   Schweizerisches Rotes Kreuz Kanton Bern (SRK)

Emmental-Oberaargau                     ORS Service AG

Berner Oberland                         Asyl Berner Oberland (ABO)

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Fachinformationen

Neue Gesetze und grosse Unsicherheit                             Verordnung über die
Die Grundlage für die Umstrukturierung und Ausrichtung
der Sozialhilfe wird in neuen Gesetzen konsolidiert. Während     Sozialhilfe im Asyl- und
auf Gesetzesstufe alle notwendigen Änderungen erfolgt sind,
befanden sich die präzisierenden Verordnungen im Mai 2020
                                                                 Flüchtlingsbereich
teilweise noch in Bearbeitung. Es ist deshalb aktuell nicht
möglich, die Änderungen per 1. Juli 2020 abschliessend zu
beurteilen. Ebenso sind die regionalen Partner noch in der
Aufbauphase und es kann in vielen Bereichen noch nicht auf-
                                                                 Auf den Verordnungsentwurf, den die
gezeigt werden, wie die Konzepte von NA-BE, insbesondere die     Gesundheits-, Sozial- und Integrations-
Integrationsförderung mit dem Ziel einer raschen Integration     direktion der Kantons Bern (GSI) Anfang
in den Arbeitsmarkt, in der Praxis effektiv umgesetzt werden.    2020 in die Vernehmlassung schickte, gab
Kontinuität bei UMA/UMF
                                                                 es kritische Rückmeldungen, insbesondere
Am wenigsten spürbare Änderungen dürfte es im Bereich der        zum vorgesehenen Betrag für die Grund-
unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden und Flüchtlinge       bedarfsdeckung. Nun kürzt der Regierungs-
geben. Den Zuschlag für deren Betreuung hat die bisherige        rat des Kantons Bern die Sozialhilfe für
Organisation Zentrum Bäregg GmbH erhalten. Sie kann ihren
Auftrag somit fortführen.‌
                                                                 vorläufig Aufgenommene weniger stark als
                                                                 vorgesehen.

                                                                 Es muss alles darangesetzt werden, dass die Arbeitsmarkt-
                                                                 integration von Personen aus dem Asylbereich gelingt. Das
                                                                 ist unbestritten. Dessen ungeachtet muss die Sozialhilfe
                                                                 ein menschenwürdiges Leben in bescheidenem Rahmen
                                                                 gewährleisten. Deshalb ist es erfreulich, dass die GSI die
                                                                 kritischen Rückmeldungen zur neuen Verordnung über die
                                                                 Sozialhilfe im Asyl- und Flüchtlingsbereich (SAFV) sowie
                                                                 zur Änderung der Verordnung über die öffentliche Sozial-
                                                                 hilfe (SHV) geprüft und die Höhe des Grundbedarfs für den
                                                                 Lebensunterhalt (GBL) überarbeitet hat.

                                                                 Die gegenüber der Vernehmlassungsvorlage angepassten
                                                                 Unterstützungsansätze sehen für eine vorläufig aufgenom-
                                                                 mene Person im Privathaushalt (unabhängig ihrer Aufent-
                                                                 haltsdauer) neu 696 Franken als Grundbedarf pro Monat
                                                                 vor. Damit stellt sich weiterhin die Frage, ob unter den
                                                                 vom Kanton vorgesehenen Bedingungen eine Integration
                                                                 der Betroffenen überhaupt möglich ist. Denn auch wenn
                                                                 die Kürzung für vorläufig aufgenommene Personen nach
                                                                 sieben Jahren Aufenthalt in der Schweiz nun geringer aus-
                                                                 fällt als vorgesehen: Der bisherige Betrag von 977 Fran-
                                                                 ken ist bereits sehr tief. Die nun vorgesehene Kürzung um
                                                                 30 Prozent verunmöglicht die Teilhabe am sozialen Leben,
                                                                 was einer gelingenden Integration entgegensteht.

                                                                 Mit Inkrafttreten der rechtlichen Grundlagen zur Neu-
                                                                 strukturierung des Asyl- und Flüchtlingsbereichs im Kan-
                                                                 ton Bern wechselt die Zuständigkeit für den Asylsozialhilfe-
                                                                 bereich per 1. Juli 2020 von der Sicherheitsdirektion (SID)
                                                                 zur Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI).

AsylNews, 2/2020                                            14
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