PARITÄTREPORT 3 | 2022 - SCHWERPUNKT: Energiekrise und Inflation IM INTERVIEW: Sozialökonom Marcel Fratzscher - Der Paritätische Niedersachsen
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PARITÄTREPORT
3 | 2022
SCHWERPUNKT: Energiekrise und Inflation
IM INTERVIEW: Sozialökonom Marcel Fratzscher
ROT-GRÜN REGIERT: Das halten wir vom Koalitionsvertrag
IMPRESSUM
Herausgeber
Paritätischer Wohlfahrtsverband Niedersachsen e.V.
Gandhistraße 5a
30559 Hannover
Tel.: 0511 / 5 24 86-0
landesverband@paritaetischer.de
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Registergericht Hannover LIEBE LESERINNEN
Vereinsregister-Nummer 2156
UND LESER,
Steuernummer
Finanzamt Hannover-Nord
25/206/21596 was für ein Jahr! Nach der Corona-Pandemie hat uns Wir brauchen ein Förderprogramm für die Digitalisie-
der russische Angriff auf die Ukraine– erschreckt und rung der sozialen Arbeit, ähnlich, wie es das für die
Bankverbindung die sicher geglaubte Friedensordnung in Europa in produzierende Wirtschaft gibt. Was wir sonst noch
Bank für Sozialwirtschaft, Frage gestellt. Aus Putins Angriffskrieg ist eine Ener- von der Landesregierung erwarten und wie wir den
BIC: BFSWDE33HAN giekrise in Deutschland entstanden mit entsprechen- rot-grünen Koalitionsvertrag beurteilen, auch das le-
IBAN: DE73 2512 0510 0007 4495 00 den Folgen für Kosten und Preise. Viele Menschen sen Sie in diesem Heft.
haben angesichts der Inflation von zehn Prozent gro-
Verantwortlich für den Inhalt ße Sorgen. Auch viele Einrichtungen der sozialen In- Liebe Leserinnen und Leser, der Jahreswechsel ist stets
Kerstin Tack, Vorsitzende frastruktur sind von den massiven Preissteigerungen Gelegenheit, zurückzublicken und vorauszuschauen.
Rainer Flinks, Vorstand Wirtschaft und Finanzen betroffen. Es ist daher ein wichtiger Erfolg unserer po- Beim Blick zurück dürfen wir bei allem Schrecken das
litischen Arbeit, dass es nun Entlastungen und Unter- Gute nicht übersehen. Und der Ausblick in die Zu-
Redaktion stützungen – sowohl vom Land als auch vom Bund – kunft sollte uns nicht bange machen. Die Menschen
Abteilung Grundsatz und Kommunikation geben wird. in Niedersachsen stehen zusammen, und sie stellen
Leitung: Jens Starkebaum sich Herausforderungen. Gemeinsam können wir da-
Red.: Anika Falke und Uwe Kreuzer Denn: Als im Frühjahr Hunderttausende Menschen für sorgen, dass unsere Gesellschaft auch weiterhin
report@paritaetischer.de aus der Ukraine nach Deutschland flohen, war die niemanden allein lässt. Dass wir sozial bleiben, hier in
Hilfsbereitschaft riesig. In der aktuellen Krise zeigt sich Niedersachsen.
Druck wiederum der Wert unserer gewachsenen sozialen In-
UmweltDruckhaus Hannover GmbH, Langenhagen frastruktur – soziale Einrichtungen sind wichtige An- Wir wünschen Ihnen eine informative Lektüre und fro-
laufstellen für Menschen, die sich mit existenziellen he Feiertage!
Gestaltung Sorgen plagen. So stehen auch der Paritätische Nieder-
neuwaerts GmbH, Hannover sachsen und seine knapp 900 Mitgliedsorganisationen
für ein zentrales Versprechen unseres Sozialstaats: Wir
Hinweis lassen niemanden allein! Wir helfen Geflüchteten! Wir
Artikel anderer Organisationen oder Publikationen unterstützen wirtschaftliche schwache Familien bei Kerstin Tack Rainer Flinks
sowie namentlich gekennzeichnete Beiträge geben ihren Problemen! Damit beschäftigt sich diese Ausga- Vorsitzende Vorstand Wirtschaft und Finanzen
nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wie- be des Parität Report.
der. Bei der Veröffentlichung von Zuschriften behält
sich die Redaktion das Recht auf redaktionelle Über- Damit dieses Versprechen auch in der Zukunft einge-
arbeitung und Kürzungen vor. Der Parität Report löst werden kann, muss die Sozialwirtschaft weiter ge-
erscheint dreimal im Jahr, der Bezug ist im Mitglieds- stärkt werden. Die neue niedersächsische Landesre-
beitrag enthalten. gierung muss schnell Antworten darauf finden, wie sie
etwa mit dem Fachkräftemangel in der sozialen Arbeit
Bildnachweis umgehen will, wie sie gemeinnützige Vereine bei der
Titelbild: Halfpoint/istockphoto.com Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen unterstützt
oder wie sie dafür sorgen will, dass die Freie Wohlfahrt
Gedruckt auf FSC-zertifiziertem Papier mit mineralöl- den Anschluss an die digitalisierte Welt nicht verliert.
freien Druckfarben und CO2-neutralem Versand.
3
INHALT INHALT
NACHRICHTEN
2 IMPRESSUM
3 EDITORIAL
28 EINORDNUNG DES KOALITIONSVERTRAGS DER NEUEN ROT-GRÜNEN LANDESREGIERUNG
Viele Forderungen des Paritätischen wurden aufgegriffen und berücksichtigt
30 ERLEBNIS SPRACHE – SPRACHE ERLEBEN!
Das Studentenwerk Göttingen ist Träger einer ganz bilingualen Kindertagesstätte
31 MITGLIEDSORGANISATIONEN IM FOKUS
Preise und Umbenennung: Nachrichten aus der paritätischen Familie
SCHWERPUNKT – ENERGIEKRISE UND INFLATION 32 HANNOVERSCHE WERKSTÄTTEN ÜBERNEHMEN TAGESSTÄTTE WERTE
Die Tagestätte, die psychisch Erkrankten Struktur bietet, stand vor der Auflösung
8 „BLIND GEGENÜBER DEN BEDÜRFTIGEN“ 33 VEREINT IN DIE NEUE SPIELZEIT
Interview mit Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin Deutsches Taubblindenwerk verlängert Kooperation mit Hannover United
12 DIE SOZIALE INFRASTRUKTUR IST GEFÄHRDET 34 SCHWEDEN…SKANDINAVIEN-INFIZIERT!
Umfrage des Paritätischen zeigt: 90 Prozent der Einrichtungen fühlen sich in ihrer Existenz bedroht Erlebnistour für Jugendliche des Paritätischen
14 ENERGIEKRISE UND INFLATION VERSCHIEBEN DIE ARMUTSGRENZE 35 BÄM-KAMPAGNE 2.0 – JETZT AUCH IM RADIO!
Immer mehr Menschen in Niedersachsen suchen Schuldnerberatungsstellen auf Neues vpon der zweiten Runde der Kampagne zur Stärkung der Offenen Jugendarbeit
16 DAMIT DAS LICHT NICHT AUSGEHT
Webportal gestartet: Der Paritätische und der Erwerbslosenverein Tacheles e.V. bieten Beratung an 42
18 DAS AUTARKE GEBÄUDE – GAR NICHT SO EINFACH
Wärmepumpe, Solaranlage: Auch soziale Einrichtungen können sich unabhängiger machen
20 AUF ZWEI RÄDERN RICHTUNG ZUKUNFT
Der Pflegedienst kommt künftig mit dem Lastenrad
22 ARMUT: VOM SKANDAL ZUM GESELLSCHAFTLICHEN SPRENGSTOFF
Arme Menschen sind die Verlierer*innen der Dauerkrise
24 RAUS AUS DER KRISE – MIT KLIMASCHUTZ UND SOZIALER SICHERHEIT
Bündnis fordert massive Investitionen in Klimaschutz, soziale Sicherheit und gerechte Lastenverteilung
PANORAMA UND SERVICE
8
38 DER PARITÄTISCHE MITTENDRIN
Talk zur Landtagswahl, Kita-Job-Speeddating, Wahlzeit? Mahlzeit! und #solidarischerherbst
40 PERSONALIA
41 LEBENSHILFE FEIERT 60-JÄHRIGES BESTEHEN
Beim Festakt zum Jubiläum standen Vielfalt und Teilhabe im Mittelpunkt
20
42 PARITÄTISCHER NIEDERSACHSEN UNTERSCHREIBT #POSITIVARBEITEN – SIE AUCH?
Deklaration macht deutlich: Diskriminierung und Ausgrenzung haben bei uns keinen Platz!
43 WILLKOMMEN IM PARITÄTISCHEN NIEDERSACHSEN
Foto: noorulabdeen ahmad/unsplash.com
Foto: krakenimages/unsplash.com
44 VERANSTALTUNGEN
45 VERBANDSJUBILÄEN
46 DER PARITÄTISCHE STELLENMARKT
47 IHR PARITÄTISCHER IN NIEDERSACHSEN
SCHWERPUNKT –
ENERGIEKRISE
UND INFLATION
6 www.paritaetischer.de 7
INTERVIEW
SCHWERPUNKT
„BLIND GEGENÜBER DEN BEDÜRFTIGEN“
Ökonom Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, kritisiert das
Gießkannenprinzip, das die Bundesregierung bei der Krisenbekämpfung anwendet. Er will mehr Unterstützung
für Armutsbetroffene, Unterstützung für soziale Einrichtungen und mehr Tempo bei der Energiewende.
Foto: Şahin Sezer Dinçer/unsplash.com
Parität Report: Herr Fratzscher, wir befinden uns Geld? Da hapert es daran, die relevanten Informatio-
in einer Krise, wie sie die meisten Menschen in nen der Sozialsysteme zusammenzubringen.
Deutschland noch nie erlebt haben. Zweistellige
Inflationsraten, die Sorge vor Gasknappheit – Aber trotzdem hätte die Bundesregierung gerechte-
viele Menschen haben große Sorgen. Sind Sie zu- re Modelle finden können, um die Menschen in dieser
frieden mit den Entlastungen, die die Ampel-Ko- Krise zu unterstützen. Ein Energiegeld von 1200 Euro
alition bislang beschlossen hat? pro Person und Jahr wäre so eine Möglichkeit gewe- Arbeit muss sich lohnen: Wer ein Leben lang für den Mindestlohn arbeitet, darf nicht in der Altersarmut landen.
Prof. Marcel Fratzscher: Was die Größenordnung an- sen. Dieses hätte man ans Haushaltseinkommen kop-
geht, auf jeden Fall. Keine Regierung in Europa schüt- peln können, sodass einkommensschwache Haus- fällt alles nicht vom Himmel. Ob die Bürgergeld-Re- viel günstiger, das wäre also auch volkswirtschaftlich
tet mehr Hilfen aus als Deutschland. Wenn man die halte in kleinen Mietwohnungen davon profitiert form da Besserung bringt, muss sich noch zeigen. vernünftig. Dadurch erlangt unsere Gesellschaft auch
Gas- und Strompreisbremse einrechnet, sind wir da hätten, nicht aber wohlhabende Menschen. Dieses mehr Souveränität und Unabhängigkeit. Aktuell ver-
jetzt schon bei rund 200 Milliarden Euro. Und da Geld hätte man auch zur freien Verwendung auszah- Und der zweite Ansatz? schieben wir die Abhängigkeit nur von einem Auto-
kommt bestimmt noch mehr. len können. Dann hätten armutsbetroffene Haushal- Die Arbeitseinkommen müssen steigen, und ganz kraten zum nächsten, und dem Klima helfen neue
te das Geld auch für den Lebensmitteleinkauf nutzen generell müssen sie auskömmlich sein. Der Mindest- Gaslieferverträge auch nicht. Die Energiewende ist
Aber? können. Dafür geben Arme ja anteilig viel mehr Geld lohn, vor allem nach der Anhebung auf zwölf Euro, nicht einfach zu bewerkstelligen, klar. Aber wir müs-
Die Verteilung stimmt einfach nicht, das ist gerade- aus als Reiche. So hat jeder Mensch unterschiedliche ist da eine gute Grundlage. Aber viele Menschen sen das hinkriegen. Entbürokratisierung, schnellere
zu miserabel geregelt. Das Gießkannenprinzip, das Bedürfnisse in dieser Krise. Das kann keine Gaspreis- arbeiten in Teilzeit, denen reicht das Geld dann trotz- Genehmigungsverfahren – das sind wichtige Schlüs-
die Regierung hier anwendet, wird der gesellschaft- bremse und kein Tankrabatt ausreichend abdecken. dem nicht zum Leben. Minijobs sind in vielen Fällen sel. Eine Europäisierung der Verfahren wäre auch hilf-
lichen Lage nicht gerecht. Nehmen wir die Gaspreis- Solche Modelle helfen den Wohlhabenden immer katastrophal. Der reine Nebenjob, wie ihn die Politik reich, allein schon, um Risiken zu teilen.
bremse als Beispiel. Wer eine Villa besitzt oder eine mehr als den Armen. ursprünglich geplant hatte, ist der Minijob für sehr
große Eigentumswohnung und wahrscheinlich über viele Menschen eben nicht. Die Politik könnte da vie- Brauchen wir auch mehr dezentrale Energieer-
genug Einkommen oder Vermögen verfügt, um die Welche Unterstützung – oder Entlastung – brau- les zum Besseren wenden und für bessere Arbeitsbe- zeugung?
höheren Energiepreise abzufedern, bekommt mehr chen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dingungen sorgen. Sie könnte mehr der Tarifverträge Da gibt es sehr interessante Projekte, aber eine tota-
Unterstützung als eine alleinerziehende Mutter, die Verbraucherinnen und Verbraucher langfristig, für allgemeingültig erklären, Steuern für Geringver- le Regionalisierung der Energieversorgung würde zu
überhaupt keine Rücklagen hat. An dieser Stelle zeigt um gut durch die Krise zu kommen – und um für diener und die Sozialabgaben senken, Arbeit weni- viel Ungleichheit führen. Wichtiger wäre, die Teilhabe
die Ampel-Koalition leider eine gewisse Blindheit ge- kommende Krisen gewappnet zu sein? ger und Vermögen stärker belasten. Die allermeisten an der Energiewende nicht großen Konzernen allein
genüber sozial Bedürftigen. Wir sehen gerade sehr deutlich, dass so eine Krise Menschen wollen sich ihren Lebensunterhalt selbst zu überlassen, sondern die Bürgerinnen und Bürger
nicht nur Menschen im Leistungsbezug trifft, das verdienen und nicht vom Staat abhängig sein. Dafür viel stärker einzubeziehen. Das geht gut zum Beispiel
Was hätten Sie sich anders gewünscht? Wo hätte geht bis weit in die gesellschaftliche Mitte. Entspre- ist wichtig, dass der Lohn zum Leben reicht. bei Windkraftanlagen. Gerade in Niedersachsen gibt
die Regierung noch mehr machen können? chend müssen wir parallel zwei unterschiedliche An- es tolle Projekte, wo Menschen, die in der Nähe eines
Man muss der Ehrlichkeit halber feststellen, dass die sätze verfolgen. Punkt eins: Wir müssen die Grund- Die Energiekrise zeigt uns, wie fatal die Abhän- Windrads leben, selbst in die Anlage investiert haben
Verantwortung für diese gesellschaftliche Unwucht sicherung stärken, auch die Grundsicherung im Alter. gigkeit von einem großen Energieträger (und und so vom Gewinn profitieren. Solche Modelle kön-
nur in begrenztem Maß bei den aktuell handelnden Die Anhebung um 53 Euro ist ein Anfang, sie gleicht von einem Lieferanten) ist. Wie muss die Energie- nen die Akzeptanz der Erneuerbaren massiv steigern,
Personen zu suchen ist. Tatsächlich ist die angespro- aber eigentlich nur die Inflation aus. Die Regelsätze versorgung in Deutschland umgebaut werden, selbst in Ländern wie Bayern, die sich mit dem Aus-
chene Blindheit systemisch bedingt. Unser Staat hat waren vor der Krise schon nicht ausreichend, also um nicht wieder in eine solche Abhängigkeit zu bau bisher schwertun.
schlicht zu wenige Informationen über seine Bürge- sind sie es trotz dieser Erhöhung jetzt auch nicht. Wir geraten?
rinnen und Bürger, um sie zielgerichtet unterstüt- müssen arbeitslose Menschen auch besser als bis- Wir müssen vor allem die Erneuerbaren Energien wei- Machen wir so Energie auch günstiger?
zen zu können. Wir wissen nicht genau: Wer ist in her dabei unterstützen, wieder in Arbeit zu kommen. ter ausbauen, und zwar viel schneller als bisher. Bei Perspektivisch auf jeden Fall, kurz- und mittelfristig
welchem Maß bedürftig? Wer braucht jetzt wie viel Gute Beratung, Weiterbildung, Unterstützung – das den Grenzkosten sind die Erneuerbaren ja jetzt schon vielleicht noch nicht. Aber während Energie aus rege-
8 www.paritaetischer.de 9
INTERVIEW
SCHWERPUNKT
wir ein Investitionsprogramm für die soziale Ar- Sie sozial gerechter Klimaschutz aus?
beit? Für mich bedeutet das, dass die Gesellschaft die
Wir brauchen überhaupt massive Investitionen in den Menschen am meisten unterstützt, die am stärksten
Energiesektor. Da brauchen wir an der einen oder an- von den Umwälzungen und auch vom Klimawandel
deren Stelle tatsächlich auch Deregulierung, um zum belastet werden. Das kann man am Einkommen fest-
Beispiel Windkraft- und Solaranlagen schneller bau- machen oder, wenn wir über klimatische Verände-
en zu können. Wir brauchen massive Investitionen in rungen sprechen, am Wohnort. Das kann man zum
die Gebäudesanierung. Also, ja, ein Förderprogramm Beispiel über ein Klimageld regeln. Um das gerecht
für soziale Einrichtungen wäre bestimmt eine gute zu verteilen, bräuchten wir aber, wie eingangs er-
Sache. Da ist der Staat meiner Meinung nach auch in wähnt, noch genauere Informationen. Außerdem
der Pflicht. Das sieht man gut am Beispiel der Tafeln. müssen wir einerseits weiter Klimaschutzmaßnah-
Eigentlich hat der Staat die Aufgabe, die Grundver- men unterstützen, aber auch die Anpassungen an
sorgung seiner Bürgerinnen und Bürger zu sichern. die Folgen der Klimaerwärmung in den Blick neh-
Das schafft er aber nicht, die Gründe sind da erst mal men. Die Landwirtschaft muss sich verändern, und
egal. Jedenfalls füllen die Tafeln eine Lücke, wo der die Küstenorte an Nord- und Ostsee werden massiv
Staat versagt. Dann darf der Staat wiederum die Ta- betroffen sein. Da muss die Gesellschaft, da muss
feln und andere soziale Einrichtungen nicht allein der Staat aktiv werden, sonst droht ein enormes so-
lassen, wenn sie Unterstützung bei der politisch ge- ziales Ungleichgewicht. Das gilt für die Situation in
wünschten Energiewende benötigen. Und prinzipiell Deutschland, und das gilt erst recht global gesehen.
betrifft das ja nicht nur das Thema Energiewende – Wer über sozial gerechten Klimaschutz spricht, darf
überhaupt müssen sich die Rahmenbedingungen in die Situation in den armen Ländern, die am meisten
der sozialen Arbeit verbessern. Da ist viel zu lange unter der Klimaerwärmung leiden, nicht ignorieren.
Foto: Tafel Deutschland e.V./Monique Wuestenhagen
gespart worden.
Zur aktuellen Energiekrise kommt die Sorge um
den Klimawandel – mit Wasserknappheit, Wald-
bränden und Überflutungen ist der längst auch in UWE KREUZER
Deutschland angekommen. Der Paritätische en- Referent für Presse und Medien
gagiert sich gemeinsam mit anderen Organisati- Paritätischer Wohlfahrtsverband Niedersachsen e.V.
onen, zum Beispiel aus dem Naturschutzbereich, uwe.kreuzer@paritaetischer.de
Ehrenamtlicher im Einsatz für die Tafel: Die Tafeln füllen eine Lücke, wo der Staat versagt – in der aktuellen Krise darf der Staat die Tafeln nicht alleinlassen. für die sozial-ökologische Wende. Wie sieht für
nerativen Quellen tendenziell günstiger wird, steigen noch einmal passieren. Die haben sich sehenden Au-
die Preise für fossile Rohstoffe. Es ist also so oder so ges total von Russland abhängig gemacht und damit
der richtige Weg. jahrelang sehr gut verdient. Jetzt rächt sich diese INTERVIEWPARTNER
Abhängigkeit, das Geschäftsmodell stürzt in sich zu-
Muss der Energiemarkt künftig auch stärker re- sammen, und der Steuerzahler muss dafür aufkom- Marcel Fratzscher ist Wissenschaftler, Autor und
guliert werden? men, dass die Scherben zusammengekehrt werden. Kolumnist zu wirtschafts- und gesellschaftspoliti-
Ich bin ja Ökonom. Ich sehe nicht nur die Schwä- Das darf nicht sein. Da muss der Staat seine Hausauf- schen Themen, Präsident des Deutschen Instituts
chen, sondern auch die vielen Stärken unserer Markt- gaben machen. für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Profes-
wirtschaft. Ich halte zum Beispiel nichts davon, den sor für Makroökonomie an der Humboldt-Univer-
Energiesektor zu verstaatlichen. Dadurch würde uns Viele unserer Mitgliedsorganisationen melden sität. Er ist Mitglied des High-Level Advisory Board
Kapital verloren gehen, aber auch Unternehmergeist uns zurück, dass nicht nur ihre Klientinnen und der UN zu den Nachhaltigen Entwicklungszielen
und Innovation. Wir brauchen finanzstarke Akteure Klienten, sondern auch die sozialen Einrichtun- und Mitglied des Beirats des Bundeswirtschafts-
in der Wirtschaft, um bei innovativen Technologien gen selbst in existenziellen Schwierigkeiten ste- ministeriums. Seine Arbeit fokussiert sich auf The-
schnell gewisse Skaleneffekte zu erreichen. Dafür cken. Oft geht es um alte, sanierungsbedürftige men der Makroökonomie und Finanzmärkte, der
sind mitunter riesige Investitionen nötig, aber nur so Gebäude. Und weil gemeinnützige Vereine ja kei- Ungleichheit, der Globalisierung und Integration
Foto: DIW Berlin/B. Dietl
werden neue Technologien langfristig erschwinglich. ne großen Rücklagen bilden dürfen, fehlt meist Europas. Im März 2022 ist sein Buch „Geld oder
Aber: Ja, der Energiemarkt braucht bessere Kontrolle das Geld für Investitionen, zum Beispiel in Solar- Leben – Wie unser irrationales Verhältnis zum
und Regulierung. So etwas wie mit Uniper darf nicht anlagen oder eine Gebäudedämmung. Brauchen Geld unsere Gesellschaft spaltet“ erschienen.
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SCHWERPUNKT
k.com
shut terstoc
DIE SOZIALE INFRASTRUKTUR IST GEFÄHRDET
GaudiLab/
ock.com,
Umfrage in sozialen Einrichtungen zu steigenden Energiekosten: 90 Prozent der Einrichtungen und Dienste sind
gefährdet! Der Paritätische schlägt Alarm und fordert einen umfassenden Schutzschirm für soziale Angebote.
lStock/ist om, So
ut terstock.c
Für gemeinnützige soziale Einrichtungen stellen die Wärme bereits kurzfristig greifen. Gemeinnützige
aktuellen Preissteigerungen unddie Energiekrise ein Träger können Kostensteigerungen nicht einfach an
b Lund/sh
existenzielles Risiko dar. Das ist das Ergebnis einer ihre Klient*innen weitergeben, Rücklagen dürfen sie
Fotos : Jaco
bundesweiten Umfrage des Paritätischen Wohl- nur in begrenztem Umfang bilden und aufgrund der
fahrtsverbands in seiner Mitgliedschaft, an der sich besonderen Schutzbedürftigkeit der von ihnen un-
über 1.300 Einrichtungen aus dem gesamten Spek- terstützten Personen lässt sich auch nicht einfach die
trum sozialer Arbeit beteiligten. 90 Prozent der Be- Heizung runter drehen”, mahnt Joachim Rock, Leiter
fragten sehen ihre Einrichtung gefährdet. 46 Prozent der Abteilung Arbeit, Soziales und Europa des Paritä-
der teilnehmenden Einrichtungen geben an, dass sie tischen Gesamtverbands.
es ohne Hilfe maximal ein Jahr schaffen, ihre Angebo-
te weiterzuführen. Die Ergebnisse der Umfragen belegen die Dring-
lichkeit: Bei 28 Prozent der befragten Einrichtun-
Der Paritätische Niedersachsen startete eine zusätz- gen stehen bereits in diesem Monat steigende Ab-
liche Umfrage unter seinen eigenen mehr als 870 Mit- schlagszahlungen für Strom an, für zwei Drittel aller
gliedsorganisationen, die ähnliche Ergebnisse brach- Einrichtungen werden steigende Abschläge zeitnah
te. Die Organisationen konnten bei der Umfrage bis Januar 2023 erwartet. Bei den Heizkosten, für die
auch angeben, welche Themen sie aktuell besonders 71 Prozent der Befragten eine Verdopplung und 26
beschäftigen. 87,20 Prozent der Teilnehmer*innen Prozent sogar eine Verdreifachung erwarten, ist es
bezeichnen die Energiekosten als die größte Belas- ähnlich. Über 77% der befragten Einrichtungen rech-
tung für ihre Organisation. Darauf folgen mit deut- nen neben den drastischen Preissteigerungen für
lichem Abstand Lebensmittelkosten (57,32 Prozent), Strom und Heizung zudem mit weiteren Kostenstei-
Beschaffungskosten (53,05 Prozent), Personalkosten gerungen, insbesondere die gestiegenen Lebensmit-
(46,43 Prozent), Baumaterialkosten (40,24 Prozent) tel- und Spritkosten belasten die sozialen Einrichtun-
und Investitionskosten (36,59 Prozent). Daraus ergibt gen schon jetzt. Die gestiegenen Energiekosten und die allgemeine Inflation belasten soziale Einrichtungen und Dienste – Mahlzeitendienste, Betreuungsangebote, die Obdachlosen-
hilfe und Beratungsstellen sind nur einige Beispiele.
sich ziemlich konkret, welche Unterstützung die so-
zialen Einrichtungen benötigen. Ein Energiepreisde- “Wenn gemeinnützige soziale Einrichtungen und
ckel allein reicht nicht, um die soziale Infrastruktur fit Dienste nicht schnell, umfassend und unbürokratisch
für die Zukunft zu machen. unterstützt werden, droht im Sozialen ‚Tabula Rasa‘”,
warnt Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des “Es kommt jetzt auf echte Solidarität an, damit wir Auf dem Weg hin zu einer sozial gerechten und inklu-
Der Paritätische schlägt vor diesem Hintergrund Paritätischen Gesamtverbands. Schneider appelliert unsere Gesellschaft sozial und ökologisch krisen- siven Gesellschaft, in der alle Menschen über gleiche
Alarm und fordert einen umfassenden Schutzschirm an die Politik, keine Zeit verstreichen zu lassen. Sozia- fest und zukunftsfähig gestalten”, so Schneider. Es Teilhabechancen verfügen, bleibt in Niedersachsen
für soziale Einrichtungen und Dienste. Der Verband le Einrichtungen und Dienste bräuchten umgehend brauche zielgerichtete Entlastungen für jene, die noch einiges zu tun. Vor diesem Hintergrund haben
geht davon aus, dass ein zweistelliger Milliardenbe- eine verbindliche Zusage, dass man sie nicht im Re- Unterstützung dringend brauchen, aber auch eine wir am 27. Juni unsere politischen Forderungen in
trag notwendig ist und mahnt Eile an. Bund, Länder gen stehen lasse. Gemeinnützige Organisationen mit Gesamtstrategie für eine nachhaltige, bezahlbare einer Lang- und Kurzfassung sowie unsere Kampag-
und Kommunen müssten schnellstmöglich unbüro- ihrer Arbeit für und mit Menschen, die selber auf Hil- Grundversorgung. Gemeinsam im breiten zivilgesell- nenwebseite veröffentlicht und damit unsere paritä-
kratisch verlässliche und finanziell auskömmliche Ab- fe, Beratung und Schutz angewiesen sind, leisteten schaftlichen Bündnis ruft der Paritätische unter dem tische Erwartungshaltung an die zukünftige Landes
sicherung schaffen. täglich einen unverzichtbaren Beitrag für den gesell- Motto “Solidarisch durch die Krise – Soziale Sicher-
schaftlichen Zusammenhalt und seien auch für die heit schaffen und fossile Abhängigkeiten beenden!”
“Die Umfrage zeigt, dass es akuten Hilfebedarf gibt, Krisenbewältigung existenziell. für Samstag, den 22. Oktober 2022 zu Demonstratio-
da die massiven Preissteigerungen bei Strom und nen in sechs Städten auf.
12 www.paritaetischer.de 13
SCHWERPUNKT
ENERGIEKRISE UND INFLATION
VERSCHIEBEN DIE ARMUTSGRENZE
Immer mehr Menschen in Niedersachsen suchen Schuldnerberatungsstellen auf. Das Land will diese wichtigen
Anlaufstellen nun schnell unterstützen.
Energiekrise und Inflation sind insbesondere für Bür- dass sich ihre Arbeit kaum noch rentiert – die Grün-
ger*innen mit kleinen und mittleren Einkommen de für den Gang zur Beratung sind vielschichtig, aber
existenziell spürbar. Die Armutsgrenze verschiebt immer wieder werden ähnliche Ursachen genannt.
sich, die Ängste unter den Betroffenen sind groß.
Die Landesregierung will unter anderem mit zusätz- In dieser Situation heißt es zuerst, sich einen Über-
lichem Personal in den sozialen Schuldnerberatungs- blick zu verschaffen: eine Übersicht über die festen
stellen gegensteuern. Einnahmen und Ausgaben sowie über die variablen
Zahlungen etwa für Lebensmittel oder Kraftstoff bil-
Nach Abschwächung der Coronakrise hat sich die den die Basis der Budgetberatung. Hierzu werden
Lebenssituation vieler Menschen gerade erst wieder Kontoauszüge und Kassenzettel ebenso ausgewertet
stabilisiert. Nun steht insbesondere für Bezieher*in- wie ein Haushaltsbuch, welches auch digital geführt
nen kleiner und mittlerer Einkommen ökonomisch werden kann. Gemeinsam mit dem oder der Ratsu-
eine viel bedrohlichere Notlage vor der Tür. Und chenden wird überlegt, welche Einsparpotenziale es
dies zeigt sich auch bei den Ratsuchenden in der gibt und wie das Einkommen eventuell erhöht wer-
Schuldnerberatung. Der überwiegende Teil der Kli- den kann. Hier spielt Sozialleistungsberatung eine
ent*innen verfügt nur über ein geringes Einkommen. wichtige Rolle: Der Kreis der Wohngeldberechtigten
Häufig sind es Bezieher*innen von (aufstockenden) wird sich ab 2023 beispielsweise stark erweitern; in Für viele Menschen ein schwieriger Schritt – aber die Schuldnerberatung kann bei vielen Problemen helfen.
Sozialleistungen, Menschen, die im Niedriglohnsek- den Monaten, in denen die Jahresabrechnung der
tor arbeiten, oder Personen, die aus gesundheitli- Energieversorger fällig wird, kann ein Anspruch auf
chen Gründen nicht (voll) arbeiten können. Sehr oft ALG II oder Grundsicherung bestehen. Über Leistun- Es ist Aufgabe der Wohlfahrtsverbände, deutlich auf Gleichzeitig suchen 64 Beratungsstellen zusätzlich
tragen sie nicht nur für sich allein die Verantwortung, gen wie den Kinderzuschlag oder auch kommunale diese sozialpolitischen Gefahren hinzuweisen. zur üblichen Personalfluktuation neue Kräfte.
sondern auch für ihre Kinder, denn Kinder sind leider Angebote sind viele Familien nicht ausreichend in-
auch ein nicht geringes Armutsrisiko. Und die Ratsu- formiert. Eine zusätzliche zielgruppenspezifische, Das Land Niedersachsen hat auf die Krise sehr schnell Ob und wie die Stellenbesetzung gelingen wird,
chenden sind jung, mehr als 50 Prozent der Klient*in- umfassende Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit reagiert: mit der zusätzlichen Schaffung von einer bleibt also abzuwarten. Die Schuldnerberatungsstel-
nen in der Schuldnerberatung sind unter 40 Jahre alt. könnte die Selbsthilfepotenziale von Menschen stär- halben Stelle pro geförderter sozialer Schuldnerbe- len rechnen für das kommende Jahr mit einer deut-
ken, die noch nicht verschuldet sind, denen aber ratungsstelle wahlweise als Verwaltungskraft oder lichen Zunahme der Ratsuchenden abseits des bis-
Spätestens seit dem Angriff auf die Ukraine sind möglicherweise bald die Verschuldung droht. als Berater*in. Ob dieser Umfang ausreicht, wird sich herigen Klientels und damit einhergehend mit einer
Nachrichten über die steigende Inflation und explo- anhand des sich in den nächsten Monaten zeigenden ebenso deutlich steigenden Nachfrage nach Bud-
dierende Energiepreise tagtäglich in aller Munde. Allerdings kann der Weg, eine Entlastung in erster Bedarfs bald herausstellen. getberatung, um eine akute Verschuldungssituation
Seit etwa Mitte dieses Jahres sind diese Themen auch Linie über eine Ausweitung der Gruppe von Sozial- zu vermeiden. Bedient werden kann die steigende
in der Schuldnerberatung sehr präsent. leistungsbezieher*innen herbeizuführen, auch sehr Das größere Problem wird die kurzfristige Gewin- Nachfrage tatsächlich nur mit einer Erweiterung der
kritisch gesehen werden: Wenn es jemandem nicht nung von qualifiziertem Personal sein. Der Markt an Personaldecke.
Kamen die Ratsuchenden bisher meist erst dann, mehr möglich ist, mit einer Vollzeitbeschäftigung in Sozialarbeiter*innen, Pädagog*innen und Betriebs-
wenn eine akute Verschuldungssituation vorlag, einem Ausbildungsberuf sich und die eigenen Kinder wirt*innen ist an sich schon weitgehend leergefegt.
mehren sich jetzt die Anfragen von Menschen, die zu ernähren, sinkt das Selbstwertgefühl der Betroffe- Eine Zusatzausbildung in Schuldnerberatung und
merken, dass sie mit ihrem Haushaltseinkommen ein- nen stark, der Wert der eigenen Arbeit und Person Fachkräfte, die sich in diesem Bereich fortbilden und
fach nicht mehr auskommen. Sei es, dass der Energie- wird hinterfragt und so die Spaltung der Gesellschaft arbeiten wollen, sind selten. DOROTHEE RENSEN
versorger höhere Abschlagszahlungen angekündigt vorangetrieben. Denn die derzeitige Krise führt Be- Leiterin Arbeitskreis Schuldnerberatung
hat; sei es, dass der wöchentliche Lebensmittelein- völkerungsgruppen aus der Mittelschicht direkt in Schuldnerberatung ist auch nur zu einem sehr ge- Leiterin Schuldnerberatung Paritätischer Oldenburg-
kauf nicht mehr in gewohnter Form machbar ist; sei die Armut. Die Polarisierung als Folge von immer ringen Anteil Bestandteil der einschlägigen Studien- Ammerland/Wittmund
es, dass die stark gestiegenen Kraftstoffpreise den größer werdender Einkommensungleichheit nimmt gänge, sodass an dieser Stelle kaum Interesse für Paritätischer Wohlfahrtsverband Niedersachsen e.V.
Weg zur Arbeit für Pendler*innen so stark verteuern, rasant zu. das Arbeitsfeld Schuldnerberatung geweckt wird. dorothee.rensen@paritaetischer.de
14 www.paritaetischer.de 15
SCHWERPUNKT
Angesichts stark steigender Energiekosten haben Ta- Harald Thomé, Vorstand von Tacheles e.V., ergänzt:
DAMIT DAS LICHT NICHT AUSGEHT cheles e.V. und der Paritätische Wohlfahrtsverband "Mit dieser Kampagne richten wir uns insbesondere
die bundesweite Kampagne "Energie-Hilfe" gestartet, auch an die Menschen, die ihre hohen Energiekosten
Webportal freigeschaltet: Erwerbslosenverein Tacheles e.V. und Paritätischer Wohlfahrtsverband starten mit der Menschen über ihre Rechte auf behördliche mit ihrem Einkommen nicht mehr bezahlen können
Aufklärungs- und Unterstützungskampagne für Betroffene hoher Energiekosten Übernahme von Energiekosten aufgeklärt werden und deshalb einen Anspruch auf zumindest teilweise
sollen. Im Zentrum der Kampagne steht die Webseite Übernahme der Kosten haben. Anspruchsberechtig-
www.energie-hilfe.org, die Betroffene hoher Ener- te, wie Erwerbstätige, Rentner*innen, Wohngeldbe-
giekosten umfangreich über ihre sozialrechtlichen ziehende oder Auszubildende, müssen zur Wahrung
Ansprüche informiert und Musteranträge zur Ver- ihrer Ansprüche jetzt schnell Anträge stellen. Für sie
fügung stellt. Der Mangel an ausreichenden, geziel- sind schnelle Aufklärung und Hilfe jetzt wichtig, nicht
ten Hilfen für die von Inflation und explodierenden erst im nächsten Jahr!"
Energiekosten am härtesten Betroffenen wird nach
Einschätzung des Paritätischen Wohlfahrtsverbands
und des Erwerbslosen- und Sozialhilfevereins Tache-
les e.V. zu einer deutlichen Steigerung der Anzahl an
Anspruchsberechtigten im Bereich der Grundsiche-
rung führen.
Um Betroffenen die Antragstellung zu erleichtern Flugblätter und Plakate, die auf die Aufklärungskam-
und die fristgerechte Wahrung von Ansprüchen zu pagne hinweisen, können auf der Website www.
ermöglichen, werden auf dem Portal leicht verständ- energie-hilfe.org heruntergeladen oder bestellt
liche und einfach zugängliche Informationen be- werden.
reitgestellt und die nötigen Antragsformulare zum
Download angeboten. Beratungsstellen und -ein- Unterstützt wird das Projekt auch von Tafel Deutsch-
richtungen können sich auf der Website umfangreich land e.V., dem Deutschen Mieterbund, Sanktionsfrei
über Anspruchsberechtigungen und Möglichkeiten e.V. und der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher
zur Rechtsdurchsetzung informieren. Arbeitslosengruppen.
"Trotz Doppelwumms wird es viele Menschen geben, GWENDOLYN STILLING
die ihre Energierechnungen nicht mehr zahlen kön- Pressesprecherin
nen", warnt Werner Hesse, Geschäftsführer des Pari- Der Paritätische Wohlfahrtsverband – Gesamtverband
tätischen Wohlfahrtsverbands. "Die Website Energie- pr@der-paritaetische.de
Hilfe.org leistet konkrete Hilfe, indem sie Betroffene www.der-paritaetische.de
über ihre Ansprüche aufklärt und die Antragstellung
erleichtert."
ENERGIESPARTIPPS ALS DOWNLOAD
Der Bundesverband der Lebenshilfe hat auf seiner Wertvolle Hinweise zum Umgang mit Energie lie-
Webseite Tipps zum Energiesparen in einfacher fert auch ein gemeinsamer Flyer der niedersächsi-
Sprache veröffentlicht. Es finden sich Hinweise zum schen Landesverbände des Paritätischen und des
Heizen und Lüften, Wäschewaschen, Energiesparen SoVD. Das Flugblatt wurde schon an viele soziale
in Bad und Küche sowie bei Fernseher und Compu- Einrichtungen und über die Beratungsstellen und
ter. Außerdem gibt es Links zu weiterführenden In- Ortsverbände des SoVD auch an viele Einzelperso-
formationen zum Thema. nen verteilt.
Der Link zur Seite der Lebenshilfe: Der Flyer ist hier zum Downolad zu finden:
https://www.lebenshilfe.de/informieren/fami- https://www.paritaetischer.de/energiespar-
Foto: natalya letunova/unsplash.com
lie/energie-sparen tipps/
16 www.paritaetischer.de 17
SCHWERPUNKT
DAS AUTARKE GEBÄUDE – Bundesebene für ein Investitions- und Sanierungs-
paket ein. Die Sozialwirtschaft muss genauso dabei
GAR NICHT SO EINFACH unterstützt werden, nachhaltiger zu werden, wie die
produzierende Industrie. Das betrifft die Umstellung
Ob Eigenheim, Kita oder Vereinstreff: Der Wunsch, unabhängig von fossilen Rohstoffen und von großen Energie- auf klimafreundliche Mobilität genauso wie die Ver-
versorgern zu werden, treibt derzeit viele Menschen um. Kann das gelingen? besserung der Gebäudeinfrastruktur.
Wie wichtig eine solche Förderinitiative wäre, zeigt
Viele Menschen googeln zurzeit nach Wärmepum- gen und nach Bedarf ans Haus abgegeben wird. Die das Beispiel des Schullandheims Haus Hoher Hagen
pen, nach Fotovoltaikanlagen – ja, und nach Teelicht- Solarkollektoren sind für die Wärmeversorgung da, in Südniedersachsen. "Die Energiekosten-Explosion
öfen. Die sind aber nun wirklich nicht dazu geeignet, bis zu 70 Prozent des jährlichen Bedarfs sollen sie ab- bringt unsere Einrichtung in finanzielle Schieflage",
eine ganze Wohnung oder gar ein Haus zu beheizen. decken. Den Rest steuert ein Holzvergaser bei – ein sagt Reinhardt Kalbow vom Göttinger Verein Pro
Ungefährlich sind sie auch nicht, und die Abhängig- äußerst leistungsfähiger Ofen, der mit handelsübli- Gesamtschule e.V., der das Haus mitbetreibt. "Wir
keit vom russischen Gas tauscht man gegen die Ab- chem Stückholz befeuert wird. Damit es Warmwasser heizen mit Flüssiggas, dessen Kosten sich nahezu
hängigkeit vom schwedischen Möbelhaus ein. auch dann gibt, wenn die Sonne gerade nicht scheint verdoppelt haben. Nur mit viel ehrenamtlichem En-
und der Ofen nicht läuft, gibt es einen großen Warm- gagement können wir eine Vollzeitstelle für unseren
Wie man energieautark wird, das hat das Dorf Ellrin- wasserspeicher im Haus. Er ist sozusagen das Herz Hausmeister finanzieren. Als Selbstversorgerhaus ha-
gen schon vor Jahren vorgemacht. Ellringen liegt ein der Wärmeversorgung. ben wir zwar keine weiteren hohen Personalkosten,
Stück östlich von Lüneburg, zählt rund 50 Haushal- aber unsere Besuchergruppen müssen jetzt die enor-
te – und ist unabhängig von großen Gasversorgern. Mit der Kombination aus energieerzeugenden und men Preissteigerungen für Lebensmittel mitkalkulie-
Denn die Wärmeversorgung des Dorfs übernimmt energiespeichernden Einheiten sowie einer zeitge- ren. Viele Schullandheime mit Verpflegungsangebot
eine Biogasanlage. Die produziert eigentlich in erster mäßen Gebäudedämmung soll das Haus quasi aut- sind durch die höheren Personal- und Lebensmittel-
Linie Strom, aber der wird ins allgemeine Netz einge- ark sein. Sogar ein E-Auto sollen die Bewohner*innen kosten besonders gefährdet. Deshalb brauchen die
speist. Dabei entsteht aber so viel Wärme, dass sie für laden können, zusätzlich vom Strom, der im Haus Schullandheime dringend eine finanzielle Überbrü-
alle Ellringer Haushalte reicht. verbraucht wird. Toppen lässt sich das noch durch ckungshilfe für die nächsten zwölf Monate, zusätzlich
die Installation einer Erdwärmepumpe. Die ist zwar eine Anpassung der Fördermittel für die Jugendar-
Die Biomasse, die in der Anlage vergärt, kommt von mit höheren Kosten verbunden, weil zum Beispiel beit und die Förderung energetischer Sanierungen."
Fotos: BanksPhotos/istock.com, NAPA74/istock.com, cgj0212/istock.com
örtlichen Landwirten – sie liefern ihre Gülle frei Haus, umfangreiche Erdarbeiten nötig sind. Aber die kons-
anstatt sie auf den Feldern auszubringen und so im tante Umgebungstemperatur im Erdboden sorgt für Eine ganz andere Herausforderung für viele Einrich-
schlimmsten Fall auch noch das Grundwasser zu be- einen hohen Wirkungsgrad. Den Ofen braucht man tungen: Gerade kleinere Vereine, zum Beispiel Eltern-
lasten. Die Ellringer Familien wiederum zahlen einen dann nicht mehr. Gute Planung, die die örtlichen Ge- initiativen, die einen Kindergarten betreiben, sind oft
sehr konstanten Preis und blicken ganz entspannt gebenheiten berücksichtigt, ist das A und O. nur Mieter. Dann haben sie noch weniger Einfluss da-
auf die aktuellen Turbulenzen an den Energiemärk- rauf, wie im Haus geheizt wird, wie der Strom erzeugt
ten. Gerade erst mussten aber auch hier die Preise Geht so etwas auch im Bestand? Da kommt es auf wird. Neben Gesprächen mit den Vermietern sind
angehoben werden. Die Inflation machten den Land- viele Faktoren an, zum Beispiel Neigung und Ausrich- aber auch eigene – kleine – Schritte möglich. Ein so-
wirten enorm zu schaffen, so müssen sie für ihre tung der Dachfläche. Genügend Platz zur Installation genanntes Balkonkraftwerk zum Beispiel: Solarzellen
Gülle jetzt etwas mehr Geld nehmen. Aber alles kein von Strom- und Warmwasserspeichern wird auch be- gibt es inzwischen auch im Kleinformat, die Panee-
Vergleich zu den Preiserhöhungen, die den meisten nötigt. Neben Fotovoltaikanlagen werden bei beste- le lassen sich an fast jedem Balkon (oder an anderen
Menschen in Niedersachsen zuletzt in den Briefkas- henden Gebäuden gern Luftwärmepumpen nachge- geeigneten Stellen) anbringen. Der Strom wird über Die Wege zur Energieunabhängigkeit sind vielfältig – von oben nach unten: Ein
Balkonkraftwerk können auch Mieter*innen installieren; eine Luftwärmepumpe
ten geflattert sind. rüstet. Die sind günstiger als die Erdwärmevariante, einen Wandler ins hauseigene Stromnetz eingespeist
kann auch an einem älteren Haus leicht nachgerüstet werden; eine Erdwärme-
allerdings bei weitem nicht so wirkungsvoll. Meist und vorrangig verbraucht – die vom Energieversor- pumpe braucht Platz. Sie ist nicht günstig, aber sehr effizient.
In Ellringen hat sich also ein ganzes kleines Dorf zu- muss dann doch eine Gasleitung liegen bleiben, um ger bezogene Strommenge kann dadurch deutlich
sammengetan, um energieunabhängig zu werden. zuzuheizen. Und aktuell wartet man bis zu zwei Jah- sinken. Die Genehmigung des Vermieters ist dafür
Geht das auch im kleineren Maßstab? Für ein einzel- re auf die Lieferung. Mit dem Anbau von Solarzellen aber unbedingt notwendig.
nes Gebäude? Klar, geht. Ein Fertighausproduzent oder einer Luftwärmepumpe allein ist es ohnehin
zeigt in einem Musterhauspark in Lehrte bei Hanno- nicht getan. Das Gebäude muss gut gedämmt sein, Wer eine große Außenfläche zur Verfügung hat, kann
ver, wie das gelingen kann. Das Musterhaus verfügt damit die erzeugte Energie ausreicht – ist es das noch auch mit Camping-Modulen Strom erzeugen: mit UWE KREUZER
über Fotovoltaikzellen und Solarkollektoren auf dem nicht, stehen weitere Kosten ins Haus. Und die können mobilen Solarpanels, die an speicherstarke Batterien Pressereferent
steilen Dach. Die Fotovoltaikanlage erzeugt Strom, sich gerade soziale Einrichtungen oft nicht leisten. angeschlossen sind. Damit lässt sich dann abends lo- Paritätischer Wohlfahrtsverband Niedersachsen e.V.
der in mehreren leistungsfähigen Akkus aufgefan- Deshalb setzt sich der Paritätische auf Landes- und cker die Außenbeleuchtung betreiben. uwe.kreuzer@paritaetischer.de
18 www.paritaetischer.de 19SCHWERPUNKT
Schmuddelwetter sind es die Pflegekräfte, die sich
jedesmal in der Wohnung ihrer Klient*innen aus den
nassen Klamotten schälen und dann wieder aufwän-
dig anziehen müssen. Der Pluspunkt: In der Regel
können sie bis vor die Haustür fahren, müssen nicht
vom weit entfernten Parkplatz noch durch Wind und
Regen laufen.
Am Ende macht es wahrscheinlich die Mischung.
Foto: AleksandarNakic/istock.com
Kein Pflegedienst muss von jetzt auf gleich komplett
aufs Fahrrad umstellen. Ein Lastenrad zum Auspro-
bieren kann viel bewirken – und am Ende können
immer noch ein, zwei Autos auf dem Hof stehen, die
sich die Pflegekräfte bei schlechtem Wetter oder für
weite Fahrten teilen können. Für den Arbeitgeber lie-
gen die Vorteile auf der Hand: Die Anschaffungs- und
Instandhaltungskosten sind geringer als beim Auto, aufgelegte Programm der niedersächsischen Lan-
lästige Auseinandersetzungen mit der Pflegekas- desregierung, ausgestattet mit 1,5 Millionen Euro,
se, ob sie gestiegene Benzinkosten komplett über- war schnell ausgebucht. Andere Bundesländer inves-
Foto: visualspace/istock.com
nimmt, fallen weg. Und: Auch für ein E-Bike brauchen tieren mehr Geld. Es gibt aber auch noch ein bundes-
Pflegekräfte keinen Führerschein – ein klarer Plus- weites Förderprogramm beim Bundesamt für Wirt-
punkt angesichts des großen Fachkräftemangels. schaft und Ausfuhrkontrolle – bis zu 2500 Euro gibt
es da für die Anschaffung, allerdings explizit nur für
Da passt einiges drauf: Lastenrad im Einsatz. Nicht nur in der Pflege macht der Einsatz von Las- E-Lastenräder. Kommunale Förderprogramme sind in
tenrädern Sinn: Das Jugendzentrum kann seinen ganz Deutschland zu finden, nachfragen lohnt sich.
Wocheneinkauf mit dem E-Lastenrad erledigen, die
AUF ZWEI RÄDERN RICHTUNG ZUKUNFT Kita kann ihr Cargo-Bike am Wochenende auch an
die Familien verleihen. Ideen gibt es viele. Nur, selbst
Zeitgewinn, niedrige Kosten, gesunde Mitarbeiter*innen – der Einsatz von Fahrrädern in der sozialen Arbeit bie- wenn ein Lastenrad deutlich günstiger ist als ein
tet viele Vorteile. Vorbehalte lassen sich ausräumen. Auto: Die Anschaffungskosten sind gerade für kleine
Einrichtungen trotzdem eine Hürde. Mit Elektromo- UWE KREUZER
tor und viel Ladefläche kann so ein Rad ja schnell mal Pressereferent
In Berlin kommt der Pflegedienst jetzt mit dem Las- Der Pflegedienst "Frauen pflegen Frauen" aus Heidel- 8000 Euro kosten. Deswegen gibt es verschiedene Paritätischer Wohlfahrtsverband Niedersachsen e.V.
tenrad zu den betreuten Personen. Gleich mehrere berg, über seinen Träger Mitglied des Paritätischen, Förderprogramme. Das im vergangenen Jahr neu uwe.kreuzer@paritaetischer.de
Pilotprojekte laufen dazu in der Hauptstadt. In der setzt sogar schon seit 1995 ausschließlich aufs Fahr-
staugeplagten Metropole macht das gleich mehr- rad. Das Pflegeteam hat den Schritt nie bereut. "Wir
fach Sinn: Die Pflegekräfte stecken nicht im Berufs- schonen damit unsere Umwelt, vermeiden verkehrs-
SUBVENTIONIERTE KLIMASCHÄDLINGE
verkehr fest, sie müssen nicht lange herumkurven, bedingt längere Fahrtzeiten und umgehen auch die
um einen Parkplatz zu finden – oder gar in zweiter leidige und zeitraubende Suche nach einem Park- 60 Prozent der jährlich in Deutschland neu zuge- Außerdem gehen dem deutschen Staat jährlich Mil-
Reihe parken und so selbst den Verkehr behindern. platz", heißt es in einem Statement. lassenen Autos sind Firmen- und Dienstwagen. liarden Euro verloren, weil privat genutzte Dienst-
Die Fahrt mit dem Lastenrad reduziert den Stress, Besonders beliebt: teure, große und PS-starke Mo- wagen nur mit einem Prozent des Listenpreises
sorgt für Bewegung – und am Ende auch dafür, dass Berlin, Heidelberg – klar, im städtischen Umfeld ist das delle. Mehr als zwei Drittel aller Autos mit 200 und versteuert werden müssen. Selbst konservative
die Pflegekräfte mehr Zeit bei ihren Klient*innen ver- Fahrrad eine echte Alternative. Aber was ist mit dem mehr PS werden in Deutschland an Unternehmen Berechnungen wie die des Umweltbundesamts ge-
bringen können. Wetterfeste Kleidung wird gestellt, ländlichen Raum? Im sächsischen Pirna, 37.000 Ein- ausgeliefert. Und weil Dienst- und Firmenwagen re- hen davon aus, dass der Staat rund drei Milliarden
und das notwendige Equipment passt locker in die wohner, setzen die Johanniter aufs E-Bike –und fah- gelmäßig augetauscht werden, kommen diese um- Euro einnehmen könnte, wenn die Dienstwagen-
große Ladewanne. Zumal die Hersteller von Lasten- ren damit auch zu Kund*innen im Umland. Viele Pfle- weltschädlichen Autos dann als Gebrauchtwagen nutzung adäquat besteuert würde. Andere Organi-
rädern immer besser auf individuelle Wünsche der gekräfte haben allerdings Vorbehalte, gerade, was auf den Markt und schaden dem Klima weiterhin. sationen gehen von bis zu fünf Milliarden aus. Be-
Kundschaft eingehen, speziell angepasste Räder für den Einsatz in der kalten Jahreszeit und bei schlech- Dass Deutschland die Verkehrswende nicht schafft, sonders sozial ist das Dienstwagenprivileg ohnehin
Handwerker*innen sind längst Usus – warum nicht tem Wetter angeht. Klar, die regenfeste, warmhalten- liegt also zu einem guten Teil an den großen Dienst- nicht – in den Genuss eines Dienstwagens kommen
auch für Pflegekräfte? de Kleidung muss der Arbeitgeber stellen. Aber bei wagenflotten. in der Regel Beschäftigte höherer Gehaltsgruppen.
20 www.paritaetischer.de 21SCHWERPUNKT
ARMUT: VOM SKANDAL ZUM
GESELLSCHAFTLICHEN SPRENGSTOFF
Wir befinden uns in einer Dauerkrise: Corona, Krieg, Inflation, Energiearmut, Rezession, Migration, Wohnungsnot
in Ballungsräumen... Und niemand weiß, was als Nächstes kommt. Es gibt Krisengewinner*innen – Superreiche,
Immobilienbesitzer*innen, Energiekonzerne. Und es gibt Krisenverlierer*innen: Arme.
Arm ist, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Staatsform. Diese Demokratieverdrossenheit wird in
Nettoeinkommens zur Verfügung hat. Das sind in Krisenzeiten noch zunehmen. Schon jetzt ist in sozia-
Niedersachsen 2021 für Singles etwa 1.250 Euro im len Brennpunkten die Wahlverweigerung bis zu dop-
Monat gewesen. Betroffen von dieser Einkommens- pelt so hoch wie in gutsituierten Wohnvierteln, und
armut sind fast 17 Prozent, 1,3 Millionen Menschen in die AfD erzielt dort durchgehend Rekordergebnisse.
Niedersachsen.
Vor diesem Hintergrund ist der Kompromiss zum neu-
Diese Menschen leiden unter Krisen am meisten. en Bürgergeld ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen.
Sie haben, anders als Normalverdienende oder gar Die Erhöhung fällt viel zu gering aus, sie deckt noch
Foto: Landesarmutskonferenz Niedersachsen
Wohlhabende, weder die materiellen noch immate- nicht einmal die Inflation ab. Der Wegfall der Vertrau-
riellen Ressourcen zur Krisenbewältigung. enszeit von einem sanktionsfreien halben Jahr wirkt
bei der Integration in Arbeit kontraproduktiv, weil er
Armut fällt aber nicht vom Himmel. Armut ist die bei den Betroffenen den Stress der ohnehin schon
Konsequenz von politischem (Fehl-)Handeln. belastenden Arbeitslosigkeit zusätzlich erhöht. Das
Gleiche gilt für die Reduzierung der Vermögens-
Die wachsende Spaltung der Gesellschaft zwischen schongrenze. Das alles, obwohl die weitaus meisten
Arm und Reich ist ein Prozess. Seit Mitte der Neun- Betroffenen sich nichts mehr wünschen, als wieder in Immer wieder macht die Landesarmutskonferenz – hier Geschäftsführer Klaus-Dieter Gleitze vor dem Landtag – mit Aktionen auf die Armut im Land aufmerksam.
ziger hat Armut als Folge von Deregulierung, Glo- Arbeit zu kommen.
balisierung, Abbau sozialer Sicherungssysteme und
Krisenfolgen um circa 50 Prozent zugenommen. Die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro darf rung, wie diese Maßnahmen, teils im wahren Sinn der LAK zusammenarbeitet, zum neuen Bürgergeld:
Gleichzeitig sind die Vermögen der Superreichen ex- nur ein erster Schritt sein. Wer sein Leben lang für des Wortes, auf die Straße gebracht werden können. „Hurra! Ein großer Schritt Richtung Verteilungsge-
plodiert: Die zehn reichsten Personen in Deutschland den Mindestlohn oft unter prekären Bedingungen rechtigkeit! Ab Januar 2023 sollen die Armen der
haben laut Oxfam ihr Vermögen während der Coro- geschuftet hat, liegt am Ende nur knapp über der Die Landesarmutskonferenz (LAK), an der sich auch Republik etwa 50 Euro Regelsatzerhöhung erhalten.
na-Krise von 144 Milliarden Dollar auf etwa 256 Mil- Grundsicherungsgrenze. Arbeit in Würde? Fehlanzei- der Paritätische beteiligt, sagt: Anders ist besser. Und Zwar fordern Sozialverbände 200 Euro mehr, um ein
liarden gesteigert. Das ist ein Anstieg in zwei Jahren ge. Zumal Menschen, die lediglich um ein paar Euro fordert daher: halbwegs erträgliches Leben führen zu können. Aber
um circa 78 Prozent. 78 Prozent mehr! In zwei Jahren! über der Armutsgrenze liegen, mitunter genauso • Sofortige Erhöhung der Regelsätze und der so erreichen wir immerhin nach 20 Jahren in etwa die
Dieses Vermögen entspricht dem von 33 Millionen von Ausgrenzung betroffen sind, weil für sie manche Grundsicherung um 200 Euro im Monat Summe, die Peter Hartz schon 2003, zu Beginn der
anderen Deutschen – den ärmsten 40 Prozent. Zehn Hilfsangebote nicht greifen. • Sanktionsmoratorium für ein Jahr Hartz-IV-Reform, als Regelsatz vorgeschlagen hat:
Menschen besitzen so viel wie 33 Millionen andere. • Mobilitätsticket für neun Euro, das sich auch 500 Euro."
Die Landesarmutskonferenz sieht in diesen Prozessen Arme leisten können
Wer in Armut lebt, wird öfter krank als der Rest und ein Bedrohungspotenzial für den demokratischen • Einführung eines Sozialen Arbeitsmarkts für Kurz: Das neue Bürgergeld orientiert sich im Großen
stirbt früher. Armutsbetroffene können weder aus- Zusammenhalt wie seit Jahrzehnten nicht. Armut: Langzeitarbeitslose und Ganzen an dem altbekannten Motto: Aus Raider
reichend heizen noch sich angemessen oder gar ge- vom Skandal zum gesellschaftlichen Sprengstoff. • Betroffene an der Armutsbekämpfung beteiligen wird Twix – sonst ändert sich nix.
sund ernähren. Ein Beispiel für Inflation, wie sie arme • Bessere Aufklärung über Hilfen, vor allem in sozi-
Menschen besonders betrifft: 500 Gramm Spaghetti Das Handeln der Verantwortlichen in den vergan- alen Brennpunkten – Betroffene waren schon vor
haben 2019 35 Cent gekostet. Mitte 22 waren es dann genen Jahren lässt sich so beschreiben: Zu spät, zu der Krise nicht ausreichend über ihnen zustehen-
89 Cent. Ein Anstieg um 154 Prozent. Zehn Prozent wenig und teilweise regelrecht kontraproduktiv. Wo- de Hilfen informiert oder haben sie aus Scham
Inflation? Schön wär's. bei der aktuelle Nachtragshaushalt in Niedersachsen nicht beansprucht KLAUS-DIETER GLEITZE
einen Lichtblick bildet, weil in ihm auch Maßnahmen • Eine Vermögensabgabe für Superreiche Geschäftsführer
Als Folge dieser Prozesse halten lediglich 68 Prozent für Menschen mit wenig Geld beschrieben sind. Wie Landesarmutskonferenz Niedersachsen
der Armutsbetroffenen Demokratie für die beste so oft, mangelt es aber auch hier an der Konkretisie- Abschließend ein Zitat einer Betroffenen, die mit www.landesarmutskonferenz-niedersachsen.de
22 www.paritaetischer.de 23Sie können auch lesen
