Protest - zum Beispiel Nr. 1 / 2023 Beiträge zur Jugendarbeit in Südtirol und Tirol - Land Tirol
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zum Beispiel Nr. 1 / 2023 Beiträge zur Jugendarbeit in Südtirol und Tirol THEMENBEITRÄGE ZU: Protest PROTESTVERHALTEN PROTESTBEWEGUNGEN CHILLIGER IM JUGENDALTER IN ITALIEN WIDERSTAND Wie Jugendliche erwachsen werden Ein roter Faden des Konfliktes Über die Bedeutung des Nichtstuns Seite 4 Seite 8 Seite 12
Leitartikel Protest Beim Wort „Protest“ denken viele zuerst derung. Die Aufmerksamkeit wird auf che Erfahrung. Er gehört bis zu einem an etwas Negatives, dagegen sein, Wi- besondere Anliegen gelenkt, die betei- gewissen Grad zur gesunden Entwick- derstand. Aufgeheizte Stimmung, Stra- ligten Menschen sind dabei aktiv. Das lung des Menschen vom Kleinkind ßenblockaden, gewalttätige Auseinan- sind grundsätzlich erstrebenswerte zum*zur Erwachsenen. Die von Eltern, dersetzungen. Das Politiklexikon für Haltungen, die eine gelebte Demokratie der Schule, der Gesellschaft vorgegebe- junge Leute (www.politik-lexikon.at) ausmachen. nen Regeln werden massiv in Frage leitet Protest vom lateinischen Wort Ein interessantes Projekt für Jugendli- gestellt und ignoriert. Die Phasen des protestari ab, das auf Deutsch so viel che und politisch Interessierte ist der Trotzes, des pubertären Aufbegehrens heißt wie „öffentlich bezeugen“. Dieser Erste Wiener Protestwanderweg (www. sind für alle Beteiligten anstrengend kann verschiedene Formen annehmen protestwanderweg.at). Dieser Wander- und mühsam. Oft enden sie in Streit – von Einsprüchen über Demonstratio- weg zeigt auf, was in der Vergangenheit und mieser Stimmung, Ratlosigkeit und nen bis hin zu massiven Protestbewe- an Rechten für uns alle errungen wur- dem Gefühl versagt zu haben. Über gungen. Protest kann und sollte man de. Er führt zu Orten, die den Themen diese negativen Gefühle kann man aus allerdings auch als etwas Positives be- Protest, Widerstand, Solidarität und den Augen verlieren, dass das sich Ab- trachten, steckt hier doch die Vorsilbe Zivilcourage gewidmet sind. An mittler- grenzen können eine wichtige Entwick- „Pro“ drin. Der Fokus kann mit dieser weile 19 Stationen können mithilfe von lungsaufgabe im Leben eines*r jeden Lesart auf das „für etwas sein“ gerich- mobilen tags Informationen zu unter- Einzelnen darstellt. „Nein“ sagen kön- tet werden. Protestieren bedeutet auch schiedlichen Formen von Protest abge- nen zu Situationen, Angeboten, Verlo- das Formulieren und Unterstützen von rufen werden. So wird via Ton, Bild und ckungen etc. ist eine enorm wichtige konkreten Themen und Notwendigkei- Schrift Geschichte lebendig. Fähigkeit. Wer diese nicht oder zu wenig ten, das Einstehen für die eigene Mei- In der Beziehung zu Kindern und Her- hat, verliert die eigenen Ziele, Vorhaben nung sowie die Forderung nach Verän- anwachsenden ist Protest eine alltägli- allzu leicht aus den Augen. Christine Kriwak Impressum Beiträge zur Jugendarbeit in Südtirol und Tirol • Offenlegung (Gem. § 25 Mediengesetz) • Medieninhaber (Verleger): Land Tirol in Kooperation mit dem Amt für Jugendarbeit in Südtirol • Für den Inhalt der einzelnen Beiträge sind die jeweiligen Autor*innen verantwortlich. • Redaktion: Gianluca Battistel, Christine Kriwak • Kontakt: Gianluca.Battistel@provinz.bz.it oder Abteilung Gesellschaft und Arbeit, Meinhardstraße 16, 6020 Innsbruck, Tel. +43 (0)512-508-7851, ga.jugend@tirol.gv.at • Fotoredaktion: Abteilung Gesellschaft und Arbeit, shutterstock, Amt für Jugendarbeit, Titelfoto: shutterstock.com • Unternehmensgegenstand: „z. B.“ dient zur Information für die Jugendarbeit. Die Zeitschrift wird den Verantwortlichen in der Jugendarbeit und allen Interessierten gratis zur Verfügung gestellt. Grundlegende Richtung: Im „z. B.“ werden nach überparteilichen, sachbezogenen Gesichtspunkten und nach journalistischen Kriterien eigene und fremde Beiträge für die Jugendarbeit publiziert. • Layout und grafische Gestaltung: mediamacs, Bozen • Druck: Fotolito Varesco, Auer. Das „z. B.“ ist ein Fachmagazin, in welchem Gastbeiträge zur Jugendarbeit in Tirol und Südtirol publiziert werden. Diese namentlich und grafisch gekennzeichneten Beiträge spiegeln die Meinungen der jeweiligen Autor*innen wider und nicht jene des Landes Tirol als Medieninhaber und Herausgebers des Fachmagazins. 2 zum Beispiel | Nr. 1 / 2023
Editorial Inhalt Schwerpunkt dieser Ausgabe ist Themenbeiträge zu das Thema „Protest“, das aus unterschiedlichen Perspektiven 4 Protestverhalten im Jugendalter beleuchtet wird. Gabriela Gniewosz „Rebellieren und 22 Gutes Klima in und mit der Alpenverein-Akademie erläutert die Wichtigkeit des Protests Protestieren – ein Weg zum Erwachsenwerden“ im Prozess des Erwachsenwerdens, 22 Natur-Camps in Kooperation mit Sabrina Schmitt vertieft das Thema 6 „Greta-Effekt“?! der Lebenshilfe der politischen Partizipation von Überlegungen zur politischen Mädchen, Gianluca Battistel Partizipation von Mädchen* aus 23 LRin Mair: „Den Jugendlichen rekonstruiert die Geschichte der einer Care-Perspektive Heimat bieten!“ Protestbewegungen in Italien, Tirols Familienlandesrätin über Jeva Griskjane erklärt den die Jugend in Krisenzeiten Zusammenhang zwischen Protest 24 TOGETHER to get there – und Kunst und Yağmur Mengilli den Jugendarbeiter*innen gemeinsam zwischen Protest und Chillen. gegen Hate Speech und Fake News Wir wünschen eine FOTO: Tano D’Amico anregende Lektüre. 25 70. Jugendredewettbewerb mit Bundesfinale in Innsbruck Für das Redaktionsteam Gianluca Battistel 26 Internet Challenges – Digitale 8 Protestbewegungen in Italien Mutproben Eine Geschichte des Konfliktes 10 Letzter Zustand – Widerstand 12 Chilliger Widerstand?! FOTO: Opeartion Daywork 15 Seitenweis AKTUELLES 16 Ein Lernlabor für Europa? 27 Gewinner*innen des 19 Bosnienreise 2023 Menschenrechtspreises in Südtirol 20 Genderfachkreis: Rap & Hip-Hop in der Jugendarbeit 28 Jukas Bildungsangebot 21 DA:FÜR! Für mich, meine 30 Menschen und Jobs Umgebung, für unsere Welt Wofür es sich lohnt, mutig zu sein Redaktionsschluss Thema 21 InfoEck für die nächste xxxxxx Kreativität Ideen verwirklichen mit Ausgabe: Solidaritätsprojekten xx. April 2023 20. zum Beispiel | Nr. 1 / 2023 3
FOTO: Kelly, www.pexels.com, Nr. 4552859 Protestverhalten im Jugendalter „Rebellieren und Protestieren – ein Weg zum Erwachsenwerden“ Das Jugendalter ist eine Phase bedeutsamer psychischer und sozialer Ent- lektiven Handelns ebenso umfassen wie wicklung, die zwischen der Kindheit und dem Erwachsenenalter stattfindet und typi- weitere Ausprägungen rebellischen Ver- scherweise in der Altersspanne zwischen dem 12. und 25. Lebensjahr liegt. Während haltens wie dem Experimentieren mit dieser Zeit erleben junge Menschen eine Reihe von körperlichen, kognitiven und Drogen und Alkohol oder dem Engage- emotionalen Veränderungen, die sowohl aufregend als auch herausfordernd sein ment in riskanten Aktivitäten. können, aber hilfreich sind, den Weg ins Erwachsenenalter zu finden. Während solche Verhaltensweisen für Die Veränderungen, die Jugendliche durchlaufen, sind nicht nur von außen sichtbar, Eltern und andere Bezugspersonen eine zum Beispiel durch enormes körperliches Wachstum. Die Veränderungen beinhalten Herausforderung darstellen können, häufig auch einen Wandel der eigenen Identität. So beginnen junge Menschen ver- sind sie für Jugendliche ein normaler – stärkt damit, ihre eigenen Überzeugungen und Werte zu vertreten und ein Gefühl der und sogar notwendiger – Teil des Pro- Unabhängigkeit von ihren Eltern und anderen Bezugspersonen zu entwickeln. Jugend- zesses des Erwachsenwerdens. Diese als liche können auch Veränderungen in ihren Beziehungen zu Freund*innen und Gleich- unangemessen erscheinenden Verhal- altrigen erleben, beispielsweise indem sie nach neuen sozialen Kontakten wie tensweisen dienen ihnen als Möglich- Partnerschaften suchen. So lernen keit, ihre eigene Identität und FOTO: Helena Lopes, www.pexels.com, Nr. 697244 die Heranwachsenden sich in der Unabhängigkeit zu behaupten. Welt als eigenständige Person zurecht Eine der theoretischen Erklä- zu finden und mit komplexen sozialen rungsansätze ist der Prozess Interaktionen umzugehen. der Identitätsbildung, bei dem Interessanterweise ist das Jugendal- junge Menschen damit begin- ter auch eine Zeit, in der junge Men- nen, ihre eigene Selbstwahr- schen Verhaltensweisen zeigen kön- nehmung sowie persönliche nen, die vom Umfeld als „rebellisch“ Werte und Überzeugungen zu oder nicht „konform“ angesehen wer- entwickeln. Dies umfasst bei- den. Dies kann das Teilnehmen an spielsweise Fragen, wie man Protesten und anderen Formen kol- sein möchte, wie man aktuell 4 zum Beispiel | Nr. 1 / 2023
Protest | Gabriela Gniewosz ist, wie man von anderen wahrgenom- leisten, indem sie ihre Meinungen und tig zu erkennen, dass die Teilnahme an men wird und wie man möchte, dass Bedenken zu einem für sie wichtigen Protestverhalten während des Jugendal- andere einen wahrnehmen. Thema äußern. Besonders für junge ters ein bedeutsamer und wichtiger Teil Dieser Prozess ist oft mit einer Phase Menschen, die das Gefühl haben, dass des Entwicklungsprozesses hin zum Er- der „Rebellion“ und des Austestens von ihre Stimmen nicht gehört werden oder wachsensein sein kann, aber es ist auch Grenzen verbunden, da die Jugendlichen dass sie wenig Einfluss auf die Entschei- wichtig, die damit verbundenen Risiken versuchen, ihre eigene Unabhängigkeit dungen haben, die ihr Leben betreffen, im Auge zu behalten. und Selbstbestimmung zu erlangen. He- kann eine solche Form von Protestver- Insgesamt ist Protest und rebellisches ranwachsende beginnen also, ihre eige- halten sinn- und identitätsstiftend sein. Verhalten ein normaler und notwendiger ne Identität zu bilden und ein Selbstver- Neben den beschriebenen Funktionen Teil jugendlicher Entwicklung. Er beglei- ständnis zu entwickeln, das sich von gehen mit dem Protestverhalten Jugend- tet Jugendliche und ihr Umfeld beim dem ihrer Eltern oder anderer Bezugs- licher noch weitere – vor allem gruppen- „Übergang“ von Kindheit in das Erwach- personen unterscheidet. Dies wird in dynamische – Aspekte einher. Protest- senenalter. Statt zu versuchen, solches sozialen Interaktionen immer wieder verhalten kann jungen Menschen helfen, Verhalten zu unterdrücken oder zu kon- getestet, zum Beispiel mit Eltern, Ge- wichtige soziale und kommunikative trollieren, kann es hilfreicher sein, Unter- schwistern, Gleichaltrigen, Lehrer*innen Fähigkeiten zu entwickeln, während sie oder Trainer*innen. Das in Frage stellen gemeinsam mit anderen für eine Sache FOTO: Anonym, www.pexels.com, Nr. 159395 von (bisher etablierten und tendenziell eintreten (z.B. Konflikte innerhalb der gut bewährten) Regeln, Überzeugungen Gruppe lösen). Sie kann auch ein Gefühl und Werten, ist für alle Beteiligten an- von Gemeinschaft und Zugehörigkeit strengend und mit vielen Diskussionen fördern, wenn sich junge Menschen mit und teilweise auch Streitigkeiten ver- anderen zusammenschließen, die ähn- bunden. Dennoch lohnt sich die wieder- liche Werte und Überzeugungen teilen. kehrende Auseinandersetzung und hilft Bei all den verschiedenen entwicklungs- Jugendlichen „ihren“ Weg ins Erwach- förderlichen Funktionen des Protestver- sensein zu finden. haltens gibt es allerdings auch hier eine Jugendliches Protestverhalten hat noch „zweite Seite“ der Medaille. Die Teilnah- weitere entwicklungsfördernde Funktio- me an Protesten und anderen kollekti- nen: Das Teilnehmen an Protesten und ven Aktionen kann auch eine Reihe von stützung und Anleitung zu bieten, wäh- anderen Formen kollektiven Handelns Risiken für Jugendliche mit sich bringen. rend Jugendliche diese wichtige Entwick- kann Jugendlichen ein Gefühl von Hand- Dazu können körperliche Risiken wie die lungsphase durchlaufen. Dies kann das lungsfähigkeit bieten. Über den Protest Möglichkeit von Verletzungen oder Ge- Setzen von klaren Erwartungen und haben Jugendliche die Möglichkeit, ihre walt, rechtliche Risiken wie Festnahmen Grenzen beinhalten, während man auch Meinungen und Bedenken zu äußern, oder Geldstrafen, emotionale Risiken für Diskussionen und Verhandlungen of- beispielsweise bezüglich Themen, die wie Stress, Angst oder Frustration sowie fen ist. Auf diese Weise können Eltern ihnen wichtig sind. soziale Risiken wie die Möglichkeit, Be- und andere Bezugspersonen jungen Ein Beispiel: „Fridays for Future“ kann ziehungen zu Freund*innen, Familie Menschen die Fähigkeiten und das als eine Form „rebellischen“ Verhaltens oder Gemeindemitgliedern zu schädi- Selbstvertrauen vermitteln, die sie benö- für Jugendliche gesehen werden, da es gen, gehören. tigen, um unabhängige und verantwor- junge Menschen dazu veranlasst, Auto- Es ist wichtig, dass Jugendliche sich die- tungsbewusste Erwachsene zu werden. ritäten und konventionelle Normen in ser Risiken bewusst sind und Maßnah- Frage zu stellen, um für eine Sache ein- men ergreifen, um diese möglichst zu Gabriela Gniewosz Ass.-Prof.in Dr.in, Dipl.-Psych. zutreten, an die sie glauben. Durch die minimieren. Dies kann das Suchen von Lehr- und Forschungsbereich Teilnahme an „Fridays for Future“-Pro- Unterstützung und Anleitung durch ver- Generationenverhältnisse & Bildungsforschung testen können Jugendliche ihre eigene trauenswürdige Erwachsene genauso Institut für Erziehungswissenschaft Universität Innsbruck Identität und Unabhängigkeit behaup- umfassen, wie ein Austausch über die E-Mail: gabriela.gniewosz@uibk.ac.at ten und das Gefühl entwickeln, einen potenziellen Risiken und Konsequenzen bedeutsamen Beitrag zur Gesellschaft zu ihres Handelns. Letztendlich ist es wich- zum Beispiel | Nr. 1 / 2023 5
„Greta-Effekt“?! Überlegungen zur politischen Partizipation von Mädchen* aus einer Care-Perspektive Dieser Beitrag ist in einer längeren Version in der Betrifft Mädchen (2/2022) unter dem Titel „Die neue „weibliche Protestbewegung“?! Zur politischen Partizipation von Mädchen* aus einer Care-Perspektive“ erschienen. Seit Beginn der Klima-Proteste überwiegend junger Menschen wird vor allem in der medialen Öffentlichkeit über die gestiegene politische Partizipation von Mädchen*1) berich- tet – international ist vom „Greta-Effekt“ die Rede. Im Folgenden wird diese Beobachtung aufgegriffen und die politische Parti- zipation von Mädchen* aus einer Care- und geschlechtertheo- retisch inspirierten Perspektive diskutiert. Care wird dabei als „Bereich weiblich konnotierter Fürsorge und Pflege, d.h. famili- alisierter und institutionalisierter Aufgaben der Versorgung, Erziehung und Betreuung“ (Brückner 2010, S. 43) wie etwa Kin- derbetreuung oder Haushaltstätigkeiten verstanden. FOTO: Birgit Erbe Tag der unsichtbaren Ein kurzer Überblick zur politischen Arbeit Partizipation von Mädchen* Studien verdeutlichen, dass junge Frauen* und Mädchen* in Deutschland und international den Hauptanteil der Teilneh- nicht die Regel, sondern immer noch der berichtenswerte menden bei „Fridays for Future“ (FFF) Demonstrationen ausma- Sonderfall sind. Zwei Gründe für die Persistenz dieses Gender chen (vgl. de Moor et. al. 2020; Institut für Protest- und Bewe- Gaps in der politischen Partizipation lassen sich aus einer gungsforschung o.J). Auch die „Black Lives Matter“ Proteste Care-Perspektive erkennen: wurden insbesondere von afrodeutschen und/oder Schwarzen jungen Frauen organisiert (vgl. DeZIM Research Institut 2021: 8). Mädchen* als Fürsorgende statt Die Shell Jugendstudie geht mit Blick auf das gestiegene En- politisch Handelnde gagement davon aus, dass „junge Frauen zu Vorreiterinnen ei- ner bewussten und damit auch gerechteren Lebensführung“ Die in der feministischen Politikwissenschaft herausgearbeite- (2018: 22) werden. Gleichzeitig zeigen Befragungen, dass sich die te Bedeutung der Trennung der privaten und öffentlichen Teilnehmenden der Klimaproteste überwiegend der oberen Sphäre für politische Partizipation (vgl. Drüeke/Klaus 2018: 932 oder unteren Mittelschicht zurechnen und nur 16,8% der Teil- f.) lässt sich um eine Care-Perspektive erweitern. Denn Care wird nehmenden einen Migrationshintergrund hatten (vgl. Institut im Zuge dieser Trennung mit einem naturalisierten Bild von für Protest- und Bewegungsforschung o.J.). Weiterhin wird fürsorglicher, nährender, einfühlsamer und gefühlsbetonter deutlich, dass Mädchen* in der Partei- und Gremienarbeit nach Weiblichkeit und Privatheit verknüpft. Männlichkeit wird dem- wie vor unterrepräsentiert sind (Friedrich-Ebert-Stiftung o.J.: 3). gegenüber mit der Sphäre der Öffentlichkeit assoziiert (vgl. So steht ein Paradigmenwechsel im Hinblick auf die politische Riegraf 2018: 3). Weiblichkeit wird so zum vermeintlichen Ge- Partizipation von Mädchen* in ihrer Diversität und in den un- genentwurf zur öffentlichen Sphäre und begründet Geschlech- terschiedlichen Engagementformen noch aus. Zugespitzt kann terbilder, die Mädchen* primär als Fürsorgerinnen und eben gesagt werden, dass politisch aktive Mädchen* nach wie vor nicht als politisch handelnde, öffentliche Subjekte etikettieren. Auf diese Weise sorgt die Verknüpfung von Care und Weiblich- 1) Das * in Mädchen* und Mädchen*arbeit soll im Anschluss an Bongk keit dafür, dass die Präsenz und Kompetenz von Frauen und et al. (2020) verdeutlichen, dass es sich bei der Kategorie Mädchen um eine, auf der Idee von Zweigeschlechtlichkeit beruhende, soziale Konstruktion Mädchen in der politischen Sphäre zumindest begründungs- handelt und dass Mädchen* in unterschiedlicher Weise Diskriminierung erfahren. und explizierungsbedürftig ist. Sie wird darüber hinaus als Ar- 6 zum Beispiel | Nr. 1 / 2023
Protest FOTO: Benjamin Schmidt | Sabrina Schmitt gumentationsfigur für Diskreditierungsversuche des politischen Literatur: Engagements von Frauen und Mädchen im Rahmen antifemi- − Bongk, A./Prieß, J./Krug, B. 2020: Das * in der feministischen nistischer Diskurse genutzt (vgl. Drüeke/Klaus: 934). Mädchen*arbeit – mehr als gendersensible Sprache. In: Be- trifft Mädchen (2), 2–55. Die politische Partizipation von Mädchen* ist weiterhin einge- − Brückner/M. 2010: Entwicklungen der Care-Debatte: Wurzeln bunden in ihre Lebenslagen und so „bieten bessere materielle und Begrifflichkeiten. In: Apitzsch, U./Schmidbaur, M. (Hg.). Lebensbedingungen natürlich auch mehr Freiräume für eigenes Care und Migration: Die Ent-Sorgung menschlicher Reproduk- Engagement“ (Shell Jugendstudie 2018: 18). Aus einer Care-Per- tionsarbeit entlang von Geschlechter- und Armutsgrenzen. spektive rückt als eine Barriere für Mädchen* insbesondere die Opladen, 43–58. Zeitarmut in den Blick. Dieser Mangel an Zeit entsteht gerade − de Moor, J./Uba, K./Wahlström, M./Wennerhag, M./De Vydt, für Mädchen*, weil sie aufgrund geschlechtsspezifischer Zu- M.(Hg.) 2020: Protest for a Future II: Composition, Mobilization and Motives of the Participants in Fridays For Future Climate schreibungen schon früh Haushaltstätigkeiten und Versor- Protests. https://mfr.de-1.osf.io/render?url=https://osf.io/3h- gungsaufgaben in großem Umfang übernehmen. So unterstüt- cxs/?direct%26mode=render%26action=download%26mo- zen sie Verwandte bei Behördengängen, sie versorgen pflege- de=render Zugriff 12.01.2022. bedürftige Eltern und Geschwister oder holen Wasser am − DeZIM Research Institut 2021: DeZIM Research Notes. Black Brunnen. Auf diese Weise verbringen Mädchen zwischen fünf Lives Matter in Europe. https://www.rassismusmonitor.de/fi- und 14 Jahren weltweit zwischen 30% und 50% mehr Zeit mit leadmin/user_upload/NaDiRa/Pdfs/DeZIM_Research_No- tes__06_-_Black_Lives_Matter_in_Europe.pdf Zugriff Haushaltstätigkeiten als Jungen (vgl. United Nations Children’s 13.01.2022. Fund). Diese mit Care-Arbeit verbrachte Zeit begrenzt dann − Drüeke, R./Klaus, E. 2018: Feministische Öffentlichkeiten: For- wiederum ihre zeitlichen Ressourcen und schränkt so die Gele- men von Aktivismus als politische Intervention. In: Korten- genheitsstrukturen für politische Partizipation, insbesondere in diek, B./Riegraf, B./Sabisch, K. (Hg.). Handbuch interdiszipli- Parteien und Gremien, ein (vgl. Hyde et al. 2020). näre Geschlechterforschung. Wiesbaden, 931–939. − Friedrich-Ebert-Stiftung o.J.: FES-Studie zur politisch-gesell- schaftlichen Teilnahme Jugendlicher: Zusammenfassung der Ansatzpunkte für die wichtigsten Ergebnisse. https://www.fes.de/index.ph- Mädchen*arbeit p?eID=dumpFile&t=f&f=5347&token=c2d547b4f81e83d44f- 718de27b57bd4e3a2fe7db Zugriff 12.01.2022. Es gilt, trotz und gerade wegen der care-bedingten Barrieren, − Hyde, E./Greene, M./Darmstadt, Gary K. 2020: Time Poverty: Perspektiven für die politische Partizipation aller Mädchen* zu Obstacle to Women’s Human Rights, Health and Sustainable schaffen. Und das bedeutet, geschlechtsspezifische Arbeitstei- Development. In: Journal of Global Health, 10(2). http://jogha. org/documents/issue202002/jogh-10-020313.pdf Zugriff: lung und Geschlechterstereotype schon in der Kindheit und 15.01.2022. Adoleszenz sozial- und bildungspolitisch in den Blick zu neh- − Institut für Protest- und Bewegungsforschung o.J.: Fridays for men und Future. Eine neue Protestgeneration? https://protestinstitut. eu/wp-content/uploads/2019/03/Befragung_Fridays-for-Fu- » Mädchen* in ihrem vielfältigen ture_online.pdf Zugriff 11.01.2022. politischen Engagement ernst zu nehmen, − Riegraf, B. 2018: Care, Care-Arbeit und Geschlecht: Gesell- » verlässlich Finanzierung von Mädchen*arbeit schaftliche Veränderungen und theoretische Auseinanderset- zungen. In: Kortendiek, B./ Riegraf, B./ Sabisch, K.(Hg.) Hand- zu ermöglichen, buch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, Wiesbaden, » Mädchen* auch in ihrem Wunsch nach Selfcare zu stärken 763–771. − Shell Jugendstudie 2018: Zusammenfassung. https://www. » und Interventionsforschung zu politischer shell.de/about-us/shell-youth-study/_jcr_content/par/ Teilhabe von Mädchen* durchzuführen. toptasks.stream/1570708341213/4a002dff58a7a9540cb9e83ee- 0a37a0ed8a0fd55/shell-youth-study-summary-2019-de.pdf Sabrina Schmitt Zugriff: 12.01.2022. Prof., Dr. − United Nations Children’s Fund 2016: Harnessing the Power of Frankfurt University of Applied Sciences Data for Girls: Taking stock and looking ahead to 2030. htt- Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit E-Mail: sabrina.schmitt@fb4.fra-uas.de ps://data.unicef.org/resources/harnessing-the-power-of-da- ta-for-girls/ Zugriff 12.01.2022. zum Beispiel | Nr. 1 / 2023 7
Protestbewegungen in Italien Eine Geschichte des Konfliktes Die 68er Bewegung Seit der Gründung der Republik 1946 regierte die konservative Democrazia Cristiana ßerparlamentarischen Linken gewann. das Land, während der Partito Comunista Italiano als Oppositionspartei die stärkste Ein entscheidendes Ereignis im Radikali- kommunistische Partei Westeuropas repräsentierte. Italien entwickelte sich in den sierungsprozess der Arbeiter*innen- und ersten zwei Jahrzehnten der Nachkriegszeit vom Agrar- zum Industrieland, starke Student*innenbewegung nach den Pro- Migrationsflüsse von Süden nach Norden sowie der Ausschluss breiter Bevölkerungs- testen von 1968 war der Bombenan- schichten vom wirtschaftlichen Aufschwung erzeugten wachsende soziale Spannun- schlag von Piazza Fontana in Mailand am gen. Das Bildungssystem sowie wichtige Sektoren der Verwaltung und der Justiz 12. Dezember 1969. Im Hauptsitz der Ban- waren stark konservativ geprägt. ca Nazionale dell’Agricoltura tötete eine Links vom Partito Comunista entstand eine außerparlamentarische radikale Bewe- Bombenexplosion 17 Menschen. Das At- gung, in der sich die Instanzen der Arbeiterklasse und der Student*innen vereinten. tentat wurde von Anhängern der rechts- Die Proteste entflammten im Herbst 1968 mit Massendemonstrationen, Streikaktionen extremen Gruppierung Ordine Nuovo in den Betrieben und Mobilisierungen der Student*innen an den Universitäten, die durchgeführt, im Laufe mehrerer Prozes- oft durch die brutale Intervention der Ordnungskräfte aufgelöst wurden. In den da- se konnte aber auch die Beteiligung von rauf folgenden Jahren entstanden aus der 68er Bewegung mehrere marxistisch ins- Staatsapparaten und insbesondere von pirierte Gruppierungen, von denen Lotta Continua und Potere Operaio die zwei Sektoren der Informationsdienste, in der wichtigsten waren. gezielten Fehlleitung der Ermittlungen Der sogenannte Operaismus entwickelte sich als marxistische Bewegung in klarer sowie in der Geheimhaltung der Auftrag- Abgrenzung zum Partito Comunista und strebte die Befreiung der Fabrikarbeit vom geber nachgewiesen werden. Das Atten- entfremdenden Ausbeutungsverhältnis der Lohnarbeit an. Bedeutende Intellektuelle tat, das erste einer bis 1980 anhaltenden wie Giangiacomo Feltrinelli und Antonio Negri gründeten Verlage, Zeitschriften und Reihe, hatte nämlich das Ziel, die Span- Bewegungen wie Autonomia Operaia, die in den 70ern breite Zustimmung in der au- nungen im Land zu verschärfen, die FOTO: Tano D’Amico 8 zum Beispiel | Nr. 1 / 2023
Protest | Gianluca Battistel Angst vor Gewalt und Unordnung zu die herkömmlichen Protestformen und ner Mitglieder der Organisation. Alle Ver- schüren und somit die Zustimmung der konventionellen Organisationsstruktu- mittlungsversuche scheiterten, am 9. Mai Wählerschaft für den konservativen ren ablehnten und den politischen Akti- wurde Aldo Moro hingerichtet. Machtblock zu sichern. Die sogenannte vismus weitgehendst als Happening „Strategie der Spannung“ kennzeichnete gestalteten, zum anderen der leninisti- La Pantera eine lange Reihe von Terroranschlägen, sche Flügel, der die verschiedenen Kom- die unter falscher Flagge von Geheim- ponenten der Bewegung zu organisieren Am 5. Dezember 1989 besetzten Stu- diensten und Rechtsextremisten mit dem versuchte, um die spontane Revolte auf dent*innen die Fakultät für Literatur Ziel ausgeführt wurden, die öffentliche die Ebene eines organischen Angriffs auf und Philosophie in Palermo aus Protest Meinung zu Gunsten der Regierungspar- das bürgerlich-kapitalistische System zu gegen die Reform der Universität des teien zu manipulieren. Die Aufdeckung heben. damaligen sozialistischen Ministers An- der realen Motive der Attentate erzeugte Die neue Protestwelle verschärfte sich tonio Ruberti. Die Reform führte Ele- im linken politischen Spektrum ein Anfang 1977, vor allem in den Großstäd- mente der Privatisierung in das Univer- wachsendes Misstrauen in die politi- ten des Nordens und den Universitäten. sitätssystem ein, indem sie die private schen Institutionen des Landes und eine Nach einem faschistischen Überfall auf Finanzierung der Forschung und den zunehmende Radikalisierung, bis hin eine Vollversammlung der Universität in Eintritt der Unternehmen in die akade- zum Übergang eines kleinen Teiles der Rom im Februar kam es zu einer Mas- mischen Verwaltungsräte ermöglichte, außerparlamentarischen Bewegung zum sendemonstration, die von Polizei und womit eine Entwertung der geisteswis- bewaffneten Kampf. Carabinieri mit Gewalt aufgelöst wurde. senschaftlichen Fakultäten und der klei- Zum ersten Mal machten auch Demons- neren Institute eingetreten wäre. Außer- trant*innen von Schusswaffen Ge- dem sah die Reform die Reduktion der Die 77er Bewegung brauch. Wenige Tage später wurde der Präsenz der Student*innen in den Ent- Ab Anfang der 70er Jahre verschärfte Generalsekretär der CGIL Luciano Lama, scheidungsgremien und die Einführung sich der soziale Konflikt zunehmend. der in der besetzten Universität eine von Student*innenräten mit reiner Be- Demonstrationen mündeten immer öf- Rede halten wollte, von den Student*in- ratungsfunktion vor. ters in Ausschreitungen zwischen De- nen vertrieben. Dieses Ereignis vollen- In wenigen Wochen verbreitete sich der monstrant*innen und Polizeikräften, dete den definitiven Bruch zwischen der Protest auf die meisten geisteswissen- während in den Fabriken die ersten Ak- in Gewerkschaft und Partei organisier- schaftlichen Fakultäten Italiens. In der tionen der Roten Brigaden, eine 1970 ten Arbeiterklasse und der Bewegung Nacht vom 27. Dezember wurde in Rom gegründete kommunistische Terrororga- der Autonomia. ein Panter gesichtet, der tagelang dem nisation, von Sabotagen am Arbeitsplatz, Der Konflikt mit dem Staat erreichte am Fang entfliehen konnte, die Student*in- der Zerstörung der Autos von Betriebs- 16. März 1978 seinen Höhepunkt, als die nen der Protestbewegung übernahmen leitern bis hin zur Entführung von Mana- Roten Brigaden den Präsidenten der De- den Slogan „der Panter sind wir“. Auf- gern durchgeführt wurden. mocrazia Cristiana Aldo Moro entführten, grund des massiven Aktivismus wurden Die Bewegung der Autonomia Operaia in der Aktion wurden die fünf Agenten wesentliche Bestandteile der Reform bezog sich im Unterschied zur 68er Be- seiner Eskorte erschossen. Ziel der Roten zurückgenommen, die Bewegung löste wegung nicht mehr vorwiegend auf die Brigaden war der „Angriff auf das Herz sich im Frühjahr 1990 wieder auf. Fabrikarbeiter*innen, sondern auf Ar- des Staates“ sowie die Etablierung als Gianluca Battistel beitslose, prekär Beschäftigte und Mar- hegemoniale Kraft im linksradikalen La- Mitarbeiter des Amtes für Jugendarbeit Bozen, ginalisierte. Die Bewegung gliederte sich ger. In den Wochen nach der Entführung PhD in Philosophie und Publizist in zwei Hauptströmungen: zum einen die forderten sie ihre politische Anerkennung sogenannte „kreative Autonomie“, die sowie die Freilassung mehrerer gefange- zum Beispiel | Nr. 1 / 2023 9
Letzter Zustand Widerstand „Jeder Mensch ist ein Künstler“ Joseph Beuys Seit Jahrhunderten stellt sich im- Smartphones-Video ein*e Aktivist*in zu man sich genau darüber im Klaren mer noch die Frage, was Kunst soll und werden und somit eine zusätzliche Stim- sein, wofür man eigentlich steht. was sie kann. Daraufhin sind bereits me gegen die Ungerechtigkeiten in der Wie bildet sich ein humanes Bewusst- unzählige Antworten von Künstler*innen Welt zu erheben, mehr Sichtbarkeit für sein, eine umweltloyale Lebensform und und Kunstexpert*innen definiert wor- Intoleranz zu verschaffen – wären unse- wer sind die Referent*innen, die ein den; die Mission der Kunst gewinnt aber re Gegenwart und Zukunft dann womög- gutes Beispiel für tolerantes aber auch im Laufe der Zeit immer weiter an neuen lich erträglicher, die Gesellschaft aufge- kritisches Denken in die Welt bringen? Bedeutungen, angefangen von der rea- klärter und die Beziehungen harmoni- Zweifellos sind es unter anderem krea- litätstreuen Nachahmung der Wirklich- scher? tive Persönlichkeiten – Künstler*innen, keit in vorherigen Jahrhunderten bis hin Besonders heute, vor dem Hintergrund Musiker*innen oder Schriftsteller*innen zu der gattungs- und technikübergrei- des aktuellen Weltgeschehens, wie – die für Reflexionen sorgen und oft fenden Konzeptkunst der 1970er Jahre, dem Russland-Ukraine Krieg, dem Auf- mithilfe von modernen Technologien versuchen Kunstschaffende die Welt zu stand gegen die repressive Herrschaft höchstschnell ein breites Publikum er- durchschauen. im Iran oder dem wiederkehrenden reichen. Besonders wichtig ist es für Kann heute, im digitalen Zeitalter, jeder weltweiten Aufstieg rechtspopulisti- jede Gemeinschaft, den Zugang und Mensch ohne großen Aufwand ein*e scher Regierungen, ist es enorm wich- Netzwerke zum Austausch und zur Be- Künstler*in sein? Wenn jede Person tig, eine eigene Meinung über solche wusstmachung herzustellen, Begeg- heute mit einem Smartphone einen Film höchstkomplexen Sachverhalte bilden nungsorte zu schaffen, in denen junge drehen kann, wie kann man nachher und äußern zu können. Bevor man Generationen an der Schnittstelle zwi- unterscheiden, ob das Kunst ist oder aber auf dem Protest-Banner etwas schen Kunst, Politik und Wissenschaft nicht? Angenommen aber, jede Person Aufregendes schreibt und sich ent- sich fortbilden und entfalten können. bekäme die Möglichkeit, mithilfe eines schlossen auf die Demo begibt, sollte Immer mehr öffnet sich Südtirol für In- puts aus der ganzen Welt und schöpft wichtige Orte für zukunftsorientiertes Denken, Meinungsfreiheit und kulturel- len Austausch. Museion, das Museum für moderne und zeitgenössische Kunst in Bozen, gehört sicherlich zu einem der wichtigen Be- gegnungsorte in der Region. Seit 2020 kuratiert von Direktor Bart van der Heide und einem internationalen Team zeigt Museion höchstaktuelle internationale Projekte, fördert aber überdies auch kontinuierlich die regionale, junge Kul- tur-Community. Die aktuelle Ausstellung Kingdom of the Ill zeigt eine Gruppenausstellung von Kunstwerk „La terra dei buchi“ über 20 Künstler*innen, die unter ande- von Mattia Marzorati rem im Hinblick auf die Pandemie-Rea- lität bedeutende Themen, wie Gesund- 10 zum Beispiel | Nr. 1 / 2023
Protest | Jeva Griskjane heit und Krankheit, (Selbst)Fürsorge und ell sind im Museion mehrere Projekte seine Motive, die folgend für mehr die Rolle des Gesundheitssystems, Um- der Künstlerin zu sehen, unter anderem Rechtsmaßnahmen in der kontaminier- weltverschmutzung und soziale Aus- fotografische Dokumentationen und die ten Region sorgen. grenzung aufarbeiten. Banner der von Goldin gegründeten Ak- Protest schafft Protestkunst – eine für Auch diesmal schafft Museion Raum für tivist*innen-Gruppe P.A.I.N. Diese führen heute dringend notwendige Kunstart – international anerkannte Künstler*in- weltweit Proteste gegen internationale mit deren Hilfe die Welt an Teilnahme, nen und ihren kreativen Widerstand. Das Pharmaunternehmen durch, welche auf- Sicherheit und Zuwendung gewinnt. Kunstwerk von Nan Goldin, eine der grund der aggressiven Vermarktung Wäre die tragische Wirklichkeit im Iran bedeutendsten Fotografinnen und Akti- süchtig machender Medikamente, wie heute auszuhalten und auszuhandeln das Opioidhaltige OxyContin, eine Über- ohne Künstler*innen, wie den irani- dosierungskrise bewirken. schen Sänger Toomaj Salehi, der sich für Rauschmittelkonsum im Jugendalter ist die freie Meinungsäußerung und gegen ein stark zunehmendes Problem auch in die Unterdrückung in seinem Land aus- Südtirol, daher ist die Sensibilisierung sprach und mit seiner Kunst Menschen der Jugendlichen auf das Thema Sucht informierte, bis er inhaftiert wurde? heutzutage höchstrelevant. Mehr Trans- Mehr Stimmen wiederum gegen Putinis- parenz für dieses Thema bewirkt auch mus hätte Russland wohl gebraucht – der Gewinnerfilm des letzten 79. Filmfes- die Geschichte hat bereits gezeigt, wie tivals in Venedig: All the Beauty and the überlebenswichtig es ist, sich gegen Ge- Bloodshed erzählt über Nan Goldins waltherrschaften kollektiv zu erheben. Leben und ihren eigenen Kampf gegen Menschen kreieren Kunst, aber Kunst die Toxizität auf der persönlichen und kreiert auch Menschen. Wenngleich globalen Ebene. Kunst selbst nicht alle Probleme lösen Hinzu stellt der italienische Fotograf kann, kann sie inspirieren, aufklären, Mattia Marzorati im Rahmen von King- Grenzen setzen oder aufbrechen, inno- dom of the Ill aufrüttelnde fotografische vative Visionen, Freiräume und geltende Arbeiten aus. LA TERRA DEI BUCHI be- Zeugnisse schaffen, Mut machen. Wenn leuchtet den Lebensnotstand in Brescia jeder Mensch, auch nur zum Teil, ein*e und bezeugt, wie von Mafia gehandelter Aktivist*tin für das eigene Leben aber Kunstwerk „Müll-Business“ sich vom Süden nach auch für die schöne und fragile Welt um der Gruppe P.A.I.N. Norden Italiens ausdehnt und wie auf- uns herum werden könnte, hätten wir grund der illegalen Entsorgung toxischer bereits eine viel bewusstere, zwanglose- vistinnen des letzten Jahrhunderts, ge- Abfälle die Gegend der weltweit höchs- re und somit für die Umwelt nützlichere hört fraglos in die Must-See Liste dieser ten Dioxinkonzentration ausgesetzt ist. Gemeinschaft etablieren können — und Kunstsaison. Seit den 70er Jahren doku- Das Leben der dort erkrankten Men- an dieser Stelle sage ich ganz lebensbe- mentiert Nan Goldin kompromisslos und schen und zerstörten Natur, aber auch jahend — yes, we (still) can! angelehnt an eigene Lebenserfahrungen der zivile Kampf der Bewohner*innen die Realität von marginalen Gruppen, und Aktivist*innen gegen die Verant- Jeva Griskjane wie LGBTQ Subkulturen, reflektiert foto- wortlichen für diesen Schaden, wie das Kunstvermittlerin in Museion Bozen und Sozialarbeiterin bei Caritas/Odos grafisch die AIDS-Krise, Drogenmiss- Chemieunternehmen Caffaro oder der brauch und das Thema der Sucht. Aktu- Energieversorgungskonzern A2A, sind zum Beispiel | Nr. 1 / 2023 11
Chilliger Widerstand?! Begrüßungsrituale wie „Was geht ab? Nichts, chillen bei Dir?“ dienen als all- tungen an sie gestellt (vgl. Mansel 2002: tägliche Statusabfrage unter Jugendlichen. In Momenten, in denen „Erwachsene“ das 329). Daher wird unter anderem gefor- Chillen kritisch betrachten und abwertend als „Rumhängen“ oder „Nichtstun“ be- dert, dass Jugendliche sich „mehr“ ge- zeichnen, schreiben junge Menschen ihren gemeinsamen Praktiken beim Chillen eine sellschaftlich engagieren statt (ver- hohe Bedeutung zu. Mit der Gleichsetzung und auch Übersetzung des Chillens als meintlich) untätig „herumzusitzen“ und Nichtstun deuten sich bereits Vorstellungen und auch Erwartungen Erwachsener zu chillen (vgl. Mengilli 2021). Gerade mit FOTO: shutterstock.com hinsichtlich jugendlicher Lebenspraxis an. Hinweise auf unterschiedliche Verständ- Blick auf aktuelle gesellschaftliche Ent- nisse darüber, was das Chillen eigentlich bedeutet, geben Aufschluss über das Span- wicklungstendenzen, (Klima-)Krisen, nungsverhältnis zwischen Jugendlichen und Erwachsenen.1) Konflikte und Kriege erscheint der An- Da Jugendliche als Seismograph für drohende gesellschaftliche Entwicklungen gelten spruch an gesellschaftlicher Teilhabe und auch den Fortbestand der Gesellschaft sichern sollen, werden spezifische Erwar- junger Menschen dringlicher denn je 1) Als Erwachsene werden jene bezeichnet, die das Chillen Jugendlicher mit Distanz betrachten, beispielsweise Eltern, Lehrer*innen und andere Pädagog*innen. 12 zum Beispiel | Nr. 1 / 2023
Protest | Yağmur Mengilli und trotzdem chillen sie. Daraus resul- „(ab)kühlen“ zu „sich entspannen“ er- der sozialen Herkunft der Jugendlichen tiert die Frage danach, wer eigentlich fuhr. Ein Beispiel für weitere Wandlun- folgern die Wissenschaftler*innen, dass was unter dem Wort „chillen“ versteht. gen ist die Spielart „chill (dich) mal!“, „Jungen aus den unteren sozialen In diesem Beitrag wird zunächst nachge- was als „entspann dich“ beziehungswei- Schichten besonders häufig medienzen- zeichnet, aus welchen Kontexten das se „reg dich nicht auf“ gedeutet werden trierten und ‚häuslichen‘ Beschäftigun- Wort „chillen“ in den alltäglichen kann. Deutlich werden hier die Mehr- gen nach[gehen]: Internetsurfen, Fern- Sprachgebrauch eingeführt wurde. An- deutigkeit und die diversen Einsatzmög- sehen, die Nutzung sozialer Medien oder schließend werden unterschiedliche lichkeiten des Wortes und dennoch Chillen“ (ebd.: 218). Bei der Darstellung Verständnisse darüber, was das Chillen bleibt offen, was junge Menschen ei- dieser Erkenntnisse wird ein ambivalen- bedeuten könnte, skizziert und den Per- gentlich meinen und machen, wenn sie tes Bild des Chillens Jugendlicher ge- spektiven junger Menschen2) gegenüber- vom Chillen sprechen? zeichnet, denn Geselligkeit und der gestellt. Letztlich geht es darum zu dis- Rückzug ins Nichts-Tun werden gegen- kutieren, inwiefern das Chillen als Aus- übergestellt. Außerdem werden mit der Was machen Jugendliche? druck von Politikverdrossenheit, Desin- Zusammenfassung des Nichts-Tuns und teresse oder als Widerstandsform gegen In aktuellen repräsentativen Jugendstu- Chillens beide Aktivitäten letztlich das meritokratische Prinzip der Leis- dien werden unter anderem die Alltags- gleichgesetzt. Mit dieser Form der Dar- tungsgesellschaft und die Reduzierung welten, die Lebenslagen und auch die stellung entsteht eine Hierarchisierung Jugendlicher auf die Schüler*innenrolle (Freizeit-)Aktivitäten junger Menschen von Freizeitaktivitäten, bei denen unklar betrachtet werden kann. zum Forschungsgegenstand gemacht. bleibt, ob sie nicht gleichzeitig vollzogen Dabei wird auch das Chillen relevant werden können, denn ob beim Chillen und auch unterschiedliche Lesarten des Musik gehört oder Freund*innen getrof- Chillen: Von der Jugendszene Chillens aufgemacht. fen wird, bleibt offen. Deutlich wird aber, in den Sprachgebrauch Beispielsweise werden im Rahmen der dass Jugendliche chillen und für Erwach- Das Wort „chillen“ – abgeleitet vom eng- „Shell-Jugendstudie“ (vgl. Albert et al. sene uneindeutig ist, was dabei passiert. lischen Verb to chill (kühlen) – kam 2019) von unabhängigen Forschungsins- erstmals gegen Ende der 1980er Jahre im tituten kontinuierlich empirische Daten Spaß am Widerstand? Zusammenhang mit den Chill-Out-Räu- über Einstellungen, Werte und das Sozi- men der Techno-Szene als Möglichkeit alverhalten junger Menschen erhoben. Chillen, Nichtstun oder Abhängen sind des Runterkommens nach einer In der Studienausgabe von 2019 wurden altbekannte Aktivitäten, die im England durchtanzten Nacht auf. Zur selben Zeit Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahren der 1970er Jahren vom Birminghamer wurde das Chillen auch als ein zentraler mit standardisierten Fragebögen und Centre for Contemporary Cultural Stu- Bestandteil von Events in der Hip-Hop- vertiefenden Interviews zu ihrer Lebens- dies (CCCS) untersucht wurden. Paul Wil- Szene ausgemacht. Der Duden nahm im situation und Einstellung befragt. Als lis und Paul Corrigan haben sich im Jahr 2003 den Begriff in das Fremdwör- häufigste Freizeitaktivitäten der befrag- Rahmen des CCCS in ihren Studien mit terbuch als mit „dem Nichtstun frönen; ten Jugendlichen werden das „Musik der britischen Arbeiterjugend auseinan- faulenzen; sich ausruhen“ (Wissen- hören“ (57 %) und „sich mit Leuten tref- dergesetzt. Zentral war dabei die The- schaftl. Rat 2003: 256) auf. Diese Über- fen“ (55 %) herausgestellt. „Nichts tun, matisierung des Verhältnisses zwischen setzungen sind nur einige Beispiel für ‚chillen‘ “ wird durchschnittlich von 26 % der Jugend und der Gesellschaft sowie das Chillen, das bereits im anglophonen der befragten Jugendlichen angegeben deren Opponieren gegen die Überheb- Raum einen Bedeutungswandel von (vgl. ebd.: 214). Im Zusammenhang mit lichkeit der „Erwachsenen-Gesellschaft“. 2) Im Rahmen der Studie „Chillen als jugendkulturelle Praxis“ wurde das Chillen auf der mittels Gruppendiskussionen mit Jugendlichen im Alter von 14 und 27 Jahren erforscht. Diese empirische Arbeit bildet die Grundlage der vorliegenden Ausführungen (vgl. Mengilli 2023). zum Beispiel | Nr. 1 / 2023 13
Protest In der Studie „Spaß am Widerstand“ Chillens drückt sich ein Generationenkonflikt aus, denn Erwachsene begrenzen das (1977) untersuchte Willis das Rumhängen Chillen, während es für Jugendliche sowohl drinnen in der Schule als auch draußen in der Schule als alltägliche Widerstands im öffentlichen Raum einen bedeutsamen Teil ihrer Zeit ausmacht. Inwiefern kann praktik im Unterricht sowie als Oppositi- das Chillen nun als Protest gelesen werden? on gegen die Lehrer*innen und das Bil- dungssystem. Die „feindlichen Übergrif- Resümee: Chillen als Widerstand?! fe“ der Jugendlichen reichten von mit- täglichen Schulferien-Besäufnissen bis Die eingangs formulierte Frage danach, was sich im Chillen Jugendlicher ausdrückt, zu geheimer Rede. Die Jugendlichen aus kann folgendermaßen beantwortet werden: In diesen Praktiken zeigen sich sowohl der Arbeiterschicht, so Willis, lehnten Reaktionen auf gesellschaftliche Erwartungen und Anforderungen als auch eigensin- sich dort auf, wo das Gesetz der Schule nige Umgangs- und Ausdrucksweisen. Beim Chillen oder auch mit dem Codewort sie nicht mehr erreichte. „Rumhängen, „chillen“ versuchen Jugendliche (Un-)Verfügbarkeit zu markieren, um sich von Erwar- Blödeln, Schwänzen“ stellten ein Ringen tungen anderer abzugrenzen. Da Erwachsene das Chillen offensichtlich nicht nach- um Freiräume dar, mit dem sie sich von vollziehen können, versehen sie es mit eigenen Bedeutungen und begrenzen es, in- der Schule und deren Regeln abgrenz- dem sie Jugendlichen Plätze zum Chillen zuweisen. Dies widerspricht jedoch der Ei- ten. Das übergeordnete Ziel des Schwän- genlogik der Praxis, denn das Chillen kann als ein Möglichkeitsraum zwischen zens und im Unterricht Nichtstuns dien- „Nichts-Tun-Müssen und Etwas-Tun-Können“ gefasst werden. Um den Anpassungs- te als Strategie zur Vereitlung des Ver- und Leistungsdruck im Bildungs- und Arbeitssystem gelegentlich entkommen zu suchs „einen zum Arbeiten zu bringen“. können, erfüllt die jugendkulturelle Praxis des Chillens eine wichtige Funktion der Corrigan stellte im Jahr 1979 in seiner Lebensbewältigung und Identitätsarbeit. Studie die Straße als Ort für Jugendliche Die Funktionalisierung des Chillens als Ausdruck des Widerstands, Protests oder heraus, wo etwas los ist und hauptsäch- Hedonismus verkennt die jugendkulturelle Praxis. Mit der Benennung des Chillens lich nichts getan oder rumgehangen als „Nichtstun“ wird das Verhältnis zu einem nützlichen oder zielorientierten Tun wird. Er stellte fest, dass das Herumhän- aufgemacht, von dem sich beim Chillen abgegrenzt wird. Durch die Mehrdeutigkeit gen der Jugendlichen auf der Straße von des Wortes eignet es sich als Code gegenüber Erwachsenen und auch Peers, der nur Außenstehenden als Nicht-Aktivität ver- von Gleichgesinnten entschlüsselt werden kann. kannt wird, obwohl viele Aktionen dabei geschehen würden. Die Auseinanderset- zung mit dem Nichtstun wurde für ihn Yağmur Mengilli Dr.in zentral und er zeigte auf, dass Jugendli- Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich che beim Nichtstun beispielsweise inte- Erziehungswissenschaften der ressante Stories austauschten. Darüber Goethe-Universität Frankfurt am Main hinaus führten die aus dem Nichtstun entstehenden Dynamiken häufig zu ak- tionistischem Verhalten Jugendlicher, Literatur: das kriminalisiert wurde. − Albert, M. et al. (2019): Jugend 2019. 18. Shell Jugendstudie, Weinheim. Mit den Studien von Willis und Corrigan − Corrigan, P. (1979): Nichts tun. In: Clarke, J. et al. (Hrsg.), Jugendkultur als Widerstand. Milieus, wird die spezifische Qualität jugendkul- Rituale, Provokationen, Frankfurt/M. tureller Praktiken ersichtlich: Jugendli- − Mansel, J. (2002): Sektion Jugendsoziologie in der DGS. In: Zinnecker, J. et al. (Hrsg.): Jahrbuch che setzten das Nichtstun als Strategie der Jugendforschung. 2. Ausgabe 2002. Leske + Budrich. ein, um sich bestimmten Erwartungen zu − Mengilli, Y. (2023): Chillen als jugendkulturelle Praxis, Wiesbaden. entziehen und nutzen es zugleich als − Willis, P. (2000): Spaß am Widerstand. Learning to Labour, Hamburg. einen Code für spontane ungeplante − Wissenschaftlicher Rat (Hrsg.) (2003): Duden: Das große Fremdwörterbuch. Herkunft und Aktionen. Durch die Regulierung des Bedeutung der Fremdwörter. Leipzig. 14 zum Beispiel | Nr. 1 / 2023
SEITENWEIS Protest Eva von Redecker Revolution für das Leben Philosophie der neuen Protestformen Eine neue Kapitalismuskritik – und eine Liebeser- Klimaveränderungen und einer globalen Pandemie klärung an menschliches Handeln. In Zeiten der zeigt er seine verheerendsten Seiten. In den neu- Krise entzündet sich politisches Engagement. Pro- en Protestformen erkennt Eva von Redecker, die testbewegungen wie Black Lives Matter, Fridays for als Philosophin zu Fragen der Kritischen Theorie Future und NiUnaMenos kämpfen derzeit weltweit forscht und auf einem Biohof aufgewachsen ist, die gegen Rassismus, Klimakatastrophe und Gewalt ge- Anfänge einer Revolution für das Leben, die die zer- gen Frauen. störerische kapitalistische Ordnung stürzen könnte So unterschiedlich sie scheinen mögen, verfolgen und unseren grundlegenden Tätigkeiten eine neue diese Widerstandskräfte doch ein gemeinsames solidarische Form verspricht: Wir könnten pflegen Ziel: die Rettung von Leben. Im Kern richtet sich ihr statt beherrschen, regenerieren statt ausbeuten, Kampf gegen den Kapitalismus, der unsere Lebens- teilhaben statt verwerten. grundlagen zerstört, indem er im Namen von Profit Die erste philosophische Analyse des neuen Akti- und Eigentum lebendige Natur in toten Stoff ver- vismus. wandelt: Der Kapitalismus verwertet uns und unse- ren Planeten rücksichtslos. In autoritären Tenden- S. Fischer, 2020 zen und rassistischen Ausschreitungen, in massiven ISBN: 978-3103970487 Maximilian Graeve, Hanna-Lena Neuser, Robert Wolff (Hg.) Was ist mit der Jugend los? Protestbewegung und Protestkultur im 20. und 21. Jahrhundert Theorie und Praxis, analog und digital, klassisch erstaunlichen Weg beschritten hat, um ihre Anlie- und innovativ: Das Buch präsentiert Einblicke in die gen in die Öffentlichkeit zu bringen. Protestkultur junger Menschen aus vielen verschie- denen Perspektiven. Wie engagiert sich die junge Wochenschau-Verlag, 2021 Generation? Wofür steht sie ein? Welche Protestfor- ISBN: 978-3-7344-1281-3 men wählen junge Menschen? Eine spannende Zusammenstellung über eine be- sondere Generation, die in den letzten Jahren einen Benjamin Bunk, Susanne Maurer (Hrsg.) Protest und Selbstverhältnisse Erziehungswissenschaftliche und soziologische Perspektiven auf soziale Bewegungen Wie verändern sich Menschen in sozialen Bewegun- Wandel deutlich. Protest ist demnach nicht nur als gen? Facettenreich konturiert der interdisziplinäre Strategie zur Durchsetzung politischer Einstellun- Band eine neue Perspektive auf Protestbewegun- gen oder als Ausdruck kultureller Normen zu ver- gen. So rücken Prozesse des Aufbaus und Wandels stehen – diese werden vielmehr situativ, biografisch von Selbstverhältnissen derjenigen in den Blick, die und in vielschichtigen Auseinandersetzungen mit an den sozialen Praktiken im Umfeld von Protest anderen hervorgebracht. Hierbei kann die kollekti- beteiligt sind. Im Horizont sozialisations- und bil- ve Gestaltung des eigenen Selbstverhältnisses gar dungstheoretischer Beiträge, jugendtheoretischer zum eigentlichen Zweck des politischen Protests und moralsoziologischer Ansätze sowie qualitativer werden. empirischer Analysen wird die herausragende Rolle von Selbstverhältnissen im Kontext von Bewegun- Beltz Juventa, 2023 gen und im Hinblick auf sozialen und kulturellen ISBN: 978-3-7799-7122-1 FOTOS: Buch 1: S. Fischer Verlag | Buch 2: Wochenschau-Verlag | Buch 3: Verlagsgruppe Beltz, Weinheim zum Beispiel | Nr. 1 / 2023 15
Ein Lernlabor für Europa? Eine Studienreise führt Julia Tappeiner nach Srebrenica, wo Serben und Bosniaken zusammenlebten, bis 1995 ein Genozid stattfand. Könnte das auch in Südtirol passieren? „Bekir, wie hast du so gut Deutsch gelernt?“, Geflüchtete unter. 2003 kehrten sie in ihre Heimatstadt zurück. Doch frage ich den Bosnier, der unsere Reisegruppe als Srebrenica war nicht mehr dieselbe. Übersetzer durch Bosnien-Herzegowina begleitet. „Ich habe als Kind zu viel SpongeBob Schwammkopf auf Die Erinnerung an Srebrenica Deutsch geschaut“, antwortet er lachend. „Andere kann uns vieles lehren Kinder zum Spielen hatte ich kaum. Ich konnte also nicht viel mehr machen als fernzuschauen.“ 30 Jahre nach Beginn des Bosnienkrieges führt uns die Studienreise, Warum er wenige Kinder zum Spielen hatte, wird klar, organisiert vom Amt für Jugendarbeit, dem Kulturverein Arci Bozen und wenn man auf seine Heimatstadt schaut. Bekir Hali- dem Forum Prävention, an dunkle Orte der Erinnerung. Wir laufen durch lović ist in Srebrenica aufgewachsen, Anfang der die Gedenkstätte des Genozids nahe der Stadt Srebrenica. In den heu- 2000er Jahre. In dieser Stadt und im umliegenden te leeren Hallen der ehemaligen Batteriefabrik errichteten die Vereinten Talkessel erreichte der Bosnienkrieg (1992-1995) sei- Nationen im Sommer 1995 eine Schutzzone. Muslimische Bosniaken nen grausamen Höhepunkt: das Massaker von Sre- hätten darin Sicherheit finden sollen. Stattdessen wurden die Männer brenica. Zwischen dem 11. und dem 19. Juli 1995 wur- vor geschlossenen Toren zurückgelassen, als die Armee der Republika den geschätzt 8.000 muslimische Bosniaken, vorwie- Srpska kam, sie in die umliegenden Wälder drängte und in Massen er- gend Männer und Jungen, vom serbischen General schoss. Wir betrachten die Graffitis der UN-Friedenstruppen, teils ras- Ratko Mladić und seiner „Armee der Republika Srps- sistische und sexistische Motive, die heute noch anklagend von den ka“ sowie serbo-faschistischen Paramilitärs umge- nackten Wänden der sogenannten „Schutzzone“ starren. bracht. Der Völkermord von Srebrenica gilt als das Allen Studienteilnehmenden, die meisten in der Jugendarbeit oder Kon- schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende fliktprävention tätig, geistert eine Frage durch den Kopf: Wie konnte es zu des Zweiten Weltkriegs. solchen Gräueltaten kommen? Warum betrachten serbische Bosnier ihre Auch Bekirs Vater fiel dem Massaker zum Opfer. Die muslimischen Nachbar*innen, Bekannten, Arbeitskolleg*innen plötzlich restliche Familie floh und kam in einer Siedlung für als Feind*innen und machen sogar einen Völkermord mit? Als Südtirole- FOTO: Julia Tappeiner Bekir Halilović vor der Gedenkstätte des Genozids von Srebrenica 16 zum Beispiel | Nr. 1 / 2023
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