PLUS DU haSt Die WahL! - Magazin für eine generationensensible Pastoral - katholische-kirche-horbach.de
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Ausgabe 11/2021 PLUS Magazin für eine generationensensible Pastoral Du hast die Wahl! Wahlprüfsteine: Praxistipp: Interview: Altersarmut S. 12 Glück im Leben S. 18 Gleichberechtigung S. 19
EDITORIAL muss ich noch mal wenn weiß nicht drüber jemand nachdenken nein vielleicht mitmacht ja Du hast die Wahl! Liebe Leserinnen und Leser! Martin Matl. Bernd Heil erinnert an eine grundlegende Wahlentscheidung, die Ist PLUS über Nacht jetzt auch zu einem uns die Bibel zumutet. Sitta von Schenck Politmagazin geworden? Na klar! Das berichtet kurz vor ihrem Ruhestand, wie Superwahljahr 2021 mit Kommunal-, wichtig menschliche Nähe und das Thema Landtags- und Bundestagswahlen hat uns „Gott“ am Ende eines Lebens werden. Im gereizt, dem Thema „Du hast die Wahl!“ PLUS-Fragebogen steht eine junge Frau in seinen unterschiedlichen Facetten Rede und Antwort zur alltäglichen Wahl nachzugehen. zwischen Beruf und Familie. Und schließ- lich fehlt auch der satirische Seitenblick So spannt PLUS 11 einen breiten Bogen: nicht, diesmal von Gisela Matthiae über KAB-Diözesansekretär Michael Schmitt all die Wahlmöglichkeiten im Supermarkt, stellt Wahlprüfsteine zum Thema Alters- beim Friseur und bei der Religion. armut vor. ZdK-Vizepräsidentin Claudia Lücking-Michel findet klare Worte zu Darüber, welche ‚Wahl‘ einen guten Weg „Macht und Gewaltenteilung in der Kir- in die Zukunft öffnet, wird an vielen che“. Der Wiener Ethiker Gunter Prüller- Stellen und deshalb auch in unserem Jagenteufel erläutert, dass Wahlfreiheit Magazin gerungen. nicht schrankenlos, sondern an Verant- wortung zurückgebunden ist. In den Wir wünschen eine spannende und Titelstories erzählen Frauen, die bei anregende Lektüre Maria 2.0 und in der Kommunalpolitik aktiv sind, warum sie sich für dieses Engagement entscheiden. Ein Palliativ mediziner berichtet von schwierigen Entscheidungen in seinem Arbeitsalltag. Zu Entscheidungen und dem Glück im Leben gibt Hannelore Dauzenroth eine Gesprächsanregung. Und von miteinander verbundenen statt durch Auswahl vonei- nander getrennten Kunstwerken berichtet Mathias Ziegler Dr. Andreas Ruffing 2 | PLUS 11/2021
INHALT An den Grenzen des Lebens, der Macht, der Politik Drei Wahl-Geschichten .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 4 Du hast die Wahl – und die Verantwortung Prof. Dr. Gunter Prüller-Jagenteufel über Lust und Wirklichkeit .. .. .. .. .. .. .. .. .. 8 Sie haben die Häresie, äh die Wahl! Ein schräger Blick auf ein paar Wahlmöglichkeiten von Dr. Gisela Matthiae .. .. .. 10 „Du hast die BundestagsWahl“ Michael Schmitt zeigt Wahlprüfsteine zu Alterssicherung und Altersarmut .. .. .. .. .. .. 12 Unsere vier PLUS-Praxistipps zum Herausnehmen Bewegen zu Musik, anders beten, Gedächtnistraining, Gesprächsanregung „sich entscheiden“ .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 15 Ohne rückhaltlose Gleichberechtigung verspielt die Kirche ihre Zukunft Interview mit ZdK-Vizepräsidentin Dr. Claudia Lücking-Michel .. .. .. .. .. .. .. .. .. 19 Bildgedanken: Miteinander verbunden Diözesanbaumeister Martin Matl zu den 25 Bildwerken im „KunstRaumkirche“ .. .. .. .. .. 22 Biblischer Impuls: „Ja“ zu einem unheimlich schönen Leben Was uns an Gutem begegnet, fragt Bernd Heil .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 24 Wir haben die Wahl! Aber was wählen wir? Ein Zwischenruf von Stefan Reinders .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 26 Beruf und Familie – eine Entscheidung mit Folgen Der PLUS-Fragebogen mit Antonia Rudolf .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 27 Altenheimseelsorge: Grundbedürfnis nach Gott und Zeit Sitta von Schenck zum Abschied: „Hört nicht auf, Menschen am Ende ihres Lebens zu begleiten" .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 28 Termine Seniorennetzwerk WerkstattTag 20.09. und Motorrad-Treffen am 04.09. / 03.10. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 30 Impressum .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 31 Zum guten Schluss Lassen Sie sich das PLUS-Magazin nach Hause schicken! .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 32 PLUS 11/2021 | 3
Titel An den Grenzen des Lebens, der Macht, der Politik – drei Wahl-Geschichten Situationen, in denen wir eine Wahl zu treffen haben, lassen sich manchmal als Situationen beschreiben, in denen wir an eine Grenze geraten. Da geht es nicht einfach weiter, vielleicht wollen wir woanders hin, vielleicht werden wir mit etwas konfrontiert, das eine Entscheidung braucht? PLUS-Redakteur Christoph Baumanns hat vier Menschen zugehört, die eine Wahl getroffen haben: Peter Fehrenbach wählt die Begleitung von Menschen bis an ihr Lebensende. Irene Heigel und Barbara Vogler wählen den Einsatz für Gleichberechtigung. Helga Böhm wählt ihre Dorfgemeinschaft, in der sie sich politisch engagiert. Das Leben wählen? Dr. Peter Fehrenbach arbeitet im Angesicht des Unausweichlichen Es sind heuer dreißig Jahre, die Peter Feh- hat, der über sein Leben bestimmt. Im Ernst- renbach seinen Beruf ausübt. Der All- fall heißt das, Arzt und Patient treffen ge- gemeinarzt, Anästhesist und Schmerz- meinsam die Entscheidung. Als Arzt gehört therapeut gehört zum Ärzteteam des deshalb zu meinen wichtigen Aufgaben, „Schmerz&PalliativZentrum Fulda“, eines den Patienten über die Behandlungsmög- von 22 Palliativteams in Hessen. lichkeiten zu informieren.“ Der 57jährige Fehrenbach – verheiratet, Vater von vier Palliativ? Das bedeutet laut Duden „die Be- Kindern und Großvater von zwei Enkelkin- schwerden einer Krankheit lindernd, aber dern – erlebt Menschen, die ein Gefühl für nicht [mehr] die Ursachen bekämpfend“. den richtigen Zeitpunkt einer Entscheidung In diesem „nicht [mehr]“ stecken viele von haben. Er ist mit Menschen konfrontiert, den Situationen, in denen Peter Fehren- die sich viel zu früh in ihr Schicksal fügen, bach vor die Wahl gestellt wird: Welche die schwer an biographischen Altlasten lei- Therapie braucht der schwerkranke, unter den, die maximale Leidenslinderung bean- chronischen Schmerzen leidende Mensch, spruchen. Und er hat mit Menschen zu tun, oft auch welche Therapie braucht er als die ‚von all dem‘ nichts wissen wollen. nächste? Das Ziel der Heilung nicht wei- Seit 2007 hat jeder Mensch laut Sozialge- ter zu verfolgen und sich auf Linderung setzbuch (§ 37b SGB V) den Anspruch auf zu konzentrieren, ist einer der manchmal „spezialisierte ambulante Palliativversor- schwersten, manchmal leichtesten „nicht gung (SAPV)“ in seinem häuslichen Um- [mehr]-“Schritte in der Behandlung. feld. Für Fehrenbach ist das eine histori- „Wenn wir bei der Palliativmedizin von sche Weiterentwicklung: „Zum ersten Mal Wahlmöglichkeiten sprechen, dann sind seit 200 Jahren fragt die Medizin, die sich das ja nicht nur die, die ich als Arzt habe, bis dahin klar naturwissenschaftlich auf- sondern auch, die die der leidende Mensch gestellt hat, nicht nur nach medizinischer 4 | PLUS 11/2021
Persönlich Diagnose und Therapie, sondern ganzheit- lich auch nach den pflegerischen Notwen- digkeiten, dem sozialen Umfeld, den see- lischen und spirituellen Bedürfnissen der Foto: www.schmerzzentrumfulda.de schwerstkranken Menschen.“ Selbst Fehrenbach, der sich zwei Tage die Eine alte Frau ist unheilbar an Altersleu Woche ausschließlich um Sterbende küm- kämie erkrankt. Eine Zeit lang helfen Blut- mert, sagt, dass das Sterben immer noch Transfusionen. „Aber irgendwann werden ein Tabuthema ist und auf die Intensiv- diese zur Quälerei. Und wir haben dann im stationen verbannt wird. „Aber mit der Gespräch mit ihr und der Familie entschie- ambulanten Palliativversorgung kommen den, keine Transfusionen mehr durchzu- das Sterben und damit die existenziel- führen. Ich werde die respektvolle Haltung len Fragen am Ende eines Lebens zurück nicht vergessen, mit der die Frau ihre letz- nach Hause.“ Für Peter Fehrenbach ist das ten Lebenstage verbrachte.“ eine sehr positive Entwicklung. Was ihm in diesem „Care-System“ noch fehlt, ist die Seelsorge. Einen „prekären Seelsor- geraum“ nennt er die palliative Situation Die Kirche wählen? beim Menschen zu Hause: „Alle existen- Irene Heigel und Barbara Vogler engagieren ziellen Fragen liegen auf dem Tisch, alle sich bei Maria 2.0 Weltanschauungen treffen aufeinander, zwischen kirchlich distanziert und ab- Obwohl es beim Thema Männer und Frau- lehnend, sinnsuchend, evangelisch, ka- en in der Kirche gerade nicht viel zu lachen tholisch“, sagt Peter Fehrenbach, der sich gibt, sind Irene Heigel und Barbara Vogler gern schon mal als „Lebensend-Mediziner ohne Frage sehr humorvolle Frauen. Doch mit ungeklärtem Behandlungsauftrag“ sind sie müde an den immer gleichen Streit- bezeichnet. themen über die Rolle der Frau in der katho- lischen Kirche. Die zwei lebens- und kirche- Eine ältere Frau nicht-europäischer Her- erfahrenen Frauen haben schlicht den Papp kunft, gut deutsch sprechend, alleinste- auf von ihrer Kirche. „Da muss sich endlich hend, vier kleine Kinder, auf Hilfe durch etwas ändern! Es geht nicht mehr an, dass das Jugendamt angewiesen, leidet an ei- Frauen in der Kirche benachteiligt werden. nem fortschreitenden Tumor. Sie soll eine Menschenrechte gelten für alle: Frauen sind bestimmte Behandlung bekommen, entlässt gleichberechtigt. Wir bestehen hier so viele sich aber aus dem Krankenhaus, will in ein Jahre schon auf Selbstverständlichkeiten!“ anderes Krankenhaus. Für den Palliativ mediziner ist diese Behandlung nicht er- Für Irene Heigel und Barbara Vogler hat es folgversprechend: „Aber wenn die Patien- nicht zur Wahl gestanden, zur Kirche da- tin das so will und die Energie aufwendet, zuzugehören oder nicht. „Wir wurden ja in das zu machen, ist das angemessen, und unsere Gemeinden förmlich hineingebo- meine Aufgabe heißt, sie darin zu begleiten ren“, sagen sie. Heute sind sie in St. Georg und die Symptome zu kontrollieren.“ in Poppenhausen kirchlich zu Hause. Die PLUS 11/2021 | 5
Titel 67jährige Irene Heigel ist verwitwet und hat drei Kinder. Sie arbeitete zuletzt als Kun- denberaterin in einem Juweliergeschäft. Barbara Vogel ist 69 Jahre alt, verheira- tet, drei Töchter und sieben Enkelkinder. Sie führte zusammen mit ihrem Mann ein Irene Heigel und Barbara Vogler plakatieren im Februar die sieben Thesen von Maria 2.0 Maler- und Putzgeschäft. an die Kirchentür von St. Georg, Poppenhausen (Foto: privat) Als vor zwei Jahren in Münster und Hil- Die Welt hat sich geändert, das sollten wir desheim die ersten Maria 2.0-Gruppen auch tun. Euer Beharren schafft Leid und starteten, war das für Heigel und Vogler Unglück. Hört nicht immer nur auf Rom!“ eine Initialzündung, in dieser Kirche auf Und den jungen Frauen, die Heigel und neue Weise noch einmal die Auseinan- Vogler vermissen: „Kämpft mit uns! Für dersetzung zu suchen. „Für die erste Akti- unseren Glauben lohnt es sich!“ on, als wir die Schuhe vor die Kirche auf weiße Tücher bis zum Marktplatz gestellt Eine Frage gibt es, die die beiden scheu- haben, bekamen wir einigen Zuspruch. en: Welche Wahl treffen sie, wenn sich Das hat uns Mut gemacht und Kraft gege- nichts ändert: Gehen oder bleiben sie in ben“, berichtet Irene Heigel. Es folgte ein der Kirche? „Wir wissen, nur wenn wir offener Brief mit 150 Unterschriften an bleiben, können wir auch etwas bewegen. Bischof Dr. Michael Gerber, der die Frau- Wir glauben an die Geistkraft Gottes, dass en zu einem Gespräch einlud. „Es war ein sich etwas bewegt.“ gutes Gespräch aber eben mit, wie soll ich sagen, neutralen Ergebnissen.“ Und an neutralen Ergebnissen haben Irene Heigel und Barbara Vogler definitiv kein Interes- Die Dorfgemeinschaft se mehr. wählen? Helga Böhm ist Dorfpolitikerin „Für unsere Kinder“ ist die erste und lau- te Antwort auf die Frage, warum sich die Für Helga Böhm ist Politik etwas Selbst- beiden überhaupt noch für „gleiche Wür- verständliches. Politisches Handeln be- de und gleiche Rechte“ von Frauen in deutet für die 82jährige vor allem, sich für der katholischen Kirche einsetzen. „Aber ihre Dorfgemeinschaft einzusetzen. „Was wenn wir selbst unsere Kirche unglaub- gibt es sonst noch für Fragen?“, fragt sie würdig finden, wie sollen wir sie dann und lacht. unseren Kindern nahebringen?“ Die bei- den Rhöner Frauen wünschen sich mehr Helga Böhm ist eigentlich Landwirtin. Mitstreiterinnen. „So viele haben sich in- Zusammen mit ihrem Mann hat sie ei- nerlich und äußerlich verabschiedet, all nen Bauernhof im Eichenzeller Ortsteil die Charismen, die der Kirche so guttä- Rönshausen geführt. Als ihr Mann vor ten.“ Den leitenden Männern in der Ka- 26 Jahren starb, gab sie die selbstständi- tholischen Kirche würden die beiden am ge Landwirtschaft ab, blieb aber auf dem liebsten zurufen: „Lasst die Kirche nicht Hof wohnen. Viele Jahre arbeitete sie dann zugrunde gehen, indem ihr nichts ändert! im Speisesaal des Kneippkurheims Lud- 6 | PLUS 11/2021
Persönlich wigsstift Gersfeld. „Man muss sehen, dass Themen Umweltschutz und Nachhaltig- man klarkommt. Das Leben geht immer keit eine wichtige Rolle. Da ist es für mich weiter.“ Das ist für Helga Böhm eine wich- klar, das zu unterstützen.“ tige Lebensgrundhaltung. Drei Kinder hat die siebenfache Großmutter großgezogen, Die Familie Schönberger unterhält den be- ist auch schon Ur-Oma. Heute lebt sie mit kannten Schulbauernhof Rönshausen. Mit ihrer Tochter, deren Ehemann und beiden ihrem Selbstversorgerhof haben sie sich Kindern zusammen auf dem Hof. zum Ziel gesetzt, auch heute noch Land- wirtschaft erlebbar zu machen und den Dass sie sich bei der Partei „Bündnis 90/ Schülern/innen und Besucher/innen ein Die Grünen“ engagiert, hat wesentlich mit Gespür und einen Zugang zur ländlichen ihrem Nachbarn Helmut Schönberger zu Kultur anzubieten. Auch auf dem Schul- tun. Der Bio-Landwirt und stellvertre- bauernhof hilft Helga Böhm tatkräftig tende Fraktionsvorsitzende des Grünen mit – jedenfalls als Veranstaltungen noch Kreisverbands Fulda setzt sich seit vielen möglich waren. „Corona ist ein schlimmes Jahren für die Erhaltung der bäuerlichen Thema.“ findet Helga Böhm. Landwirtschaft und für das Biosphären- reservat Rhön ein. „Er hat mich gefragt, Zu ihren politischen Tätigkeiten zählt ob ich bei den Grünen mithelfen will, und Helga Böhm auch ihre Vorstandstätigkeit da habe ich selbstverständlich ja gesagt.“ bei der Katholischen Frauengemeinschaft; Dazu gehörte dann auch, bei der dies- seit über 52 Jahren ist sie kfd-Mitglied. jährigen hessischen Kommunalwahl von Außerdem engagiert sich als Patientenfür- „Bündnis 90/Die Grünen“ zu kandidieren. sprecherin im Klinikum Gersfeld. Böhm ist Darüber, dass sie es auf Listenplatz 31 unabhängig unterwegs, fährt Auto, „mal nicht in den Kreistag geschafft hat, ob- sehen, wie lange das noch geht.“ wohl die Grünen um vier Prozent zulegen konnten, ist Helga Böhm nicht traurig. „In Gefragt, was sie den Jungen gerne mitge- meinem Alter sind parlamentarische Sit- ben würde, antwortet Helga Böhm: „Ehr- zungen doch etwas anstrengend.“ Gerne lichkeit ist wichtig, sich nicht verstellen aber besucht Helga Böhm die Veranstal- und zu seiner Meinung stehen ist sehr tungen der Grünen. „Der Kontakt zu den wichtig im Leben.“ jungen Leuten und die Gespräche mit ih- nen gefallen mir gut. Obwohl ich schon ganz schön alt bin, will ich immer noch gerne das Neueste mitbekommen.“ Helga Böhm weiß, dass sie sich auf ihre Nachbarschaft verlassen kann. Diese Nachbarschaft war beim Tod ihres Man- nes und den nachfolgenden Veränderun- gen in ihrem Leben eine wichtige Stütze, ganz besonders die Familie Schönberger vom Nachbarhof. Gute Nachbarschaft ist für Helga Böhm wie gute Politik. „In un- serer Nachbarschaft spielen die grünen Foto: Privat PLUS 11/2021 | 7
Freiheit Du hast die Wahl – und die Verantwortung! Ist die Freiheit in Gefahr? Wer die Demonstrationen vor Augen hat, die vor einer „Corona-Diktatur“ warnen – Lockdown als Anschlag auf die verfassungsmäßigen Grundfreiheiten –, könnte diesen Ein- druck gewinnen. Der so geäußerte Widerspruch führt aber absurderweise in einen Selbst-Widerspruch: Die Verweigerung der Freiheitseinschränkungen führt dazu, dass diese umso länger nötig sind. Natür- lich stimmt es: „Die Menschen sind der Pandemie müde“, sie „tragen die Maßnahmen nicht mehr mit“ und „wollen endlich wieder normal leben“. Wer möchte das nicht? Aber haben wir eine Wahl? Wenn ja: zwischen welchen Alternativen? Der freie Wille ist mehr als ein bloßer den entsprechenden technischen Hilfs- Wunsch mitteln, versteht sich. Immanuel Kant, der große Denker des freien Willens, hält gleich zu Beginn sei- Freiheit bewegt sich also zuallererst im ner „Grundlegung zur Metaphysik der Rahmen des Möglichen: Wählen kann Sitten“ fest, dass der Wille „freilich nicht ich nur zwischen Alternativen, die auch etwa ein bloßer Wunsch“ ist, „sondern realistisch sind. Und diese Alternativen die Aufbietung aller Mittel, soweit sie in sind meist komplex miteinander verkop- unserer Gewalt sind“. Wünschen kann pelt: Wir haben die Wahl zwischen zwei ich vieles, z.B. dass ich einen Sechser im Möglichkeiten: (1.) Wir halten uns an Lotto gewinne. Aber „wollen“ kann ich die – wissenschaftlich wohlbegründeten– das nicht, würde Kant einwerfen, weil es Covid-Maßnahmen oder (2.) wir nehmen nicht in meinen Möglichkeiten steht (und in Kauf, dass die Pandemie Ausmaße er- darüber hinaus extrem unwahrscheinlich reicht, die unser Gesundheitssystem zu- ist). Das mag eine narzisstische Kränkung sammenbrechen lassen. Eine dritte Mög- bedeuten, aber damit muss ich leben. lichkeit gibt es nicht – zumindest so lange nicht, bis eine ausreichend hohe Durch- Sigmund Freud, der Begründer der Psy- impfungsrate erreicht ist. choanalyse, hat davon gesprochen, dass sich eine gesunde Person dadurch aus- Natürlich kann man diesen Zusammen- zeichnet, dass sie das Lustprinzip durch hang auch leugnen. Allerdings hat man das Realitätsprinzip umgestaltet. Nur so dann den Boden der gesicherten Erkennt- kann nämlich aus dem bloßen Wunsch ein nis, das heißt die Realität und die Ver- kreativer Wille werden, der die Wirklich- nunft, hinter sich gelassen. Freiheit ist keit verändert. So wurde der jahrtausen- aber nur dann Freiheit, wenn sie auch dealte „Traum vom Fliegen“ Wirklichkeit, vernünftig ist. als das Flugzeug erfunden wurde. Heute Du hast die Wahl = du musst dich für können die meisten von uns fliegen – mit etwas entscheiden 8 | PLUS 11/2021
Konsequenzen Ein zweiter Gedanke: Die Freiheit von Du hast die Wahl = du trägst die Verant- Zwang, also die negative Freiheit, ist we- wortung sentlich, aber für sich allein ist sie noch Ich habe die Wahl! Habe ich damit nicht gar nichts. Denn gegen Zwang wehre ich auch das Recht auf Unvernunft, auf Reali- mich ja deshalb, weil man mir etwas ver- tätsverweigerung? Bis zu einem gewissen bietet, eine Möglichkeit verbaut. Es geht Grad wohl schon. In einer liberalen Ge- in der Freiheit also tatsächlich um etwas, sellschaft wird niemand zu seinem Glück Kant nennt das die positive Freiheit: die gezwungen. Aber – so die jahrtausen- Freiheit etwas zu verwirklichen. Und hier dealte Erfahrung der Menschen – Glück zeigt die Freiheit ihre paradoxe Struktur: besteht nicht in der Unverbindlichkeit, Um in Freiheit etwas zu verwirklichen, sondern in der Kreativität: dass ich etwas bin ich gezwungen, anderes außen vor zu geschafft/geschaffen habe, das mich mit lassen und mich an dieses eine, für das Freude erfüllt. Und das – so die Philoso- ich mich entschieden habe, zu binden. Die phie der Aufklärung, die unserer demo- freie Wahl macht also in gewissem Sinne kratischen Gesellschaft zu Grunde liegt – unfrei. gelingt nur im Rahmen der Vernunft. Ein Beispiel: Ich habe die Wahl, ein ge- Zumindest darf meine Unvernunft nicht wisses Maß an Talent vorausgesetzt, ein so weit gehen, dass dadurch andere ge- Musikinstrument zu erlernen. Ich habe fährdet oder geschädigt werden. Denn die Wahl: Entscheide ich mich z.B. da- wenn ich die Wahl habe, dann trage ich für, Klavier spielen zu lernen, muss ich auch die Verantwortung für das, was wohl oder übel auf das Cello, die Posau- ich tue. Meine Freiheit korrespondiert ne etc. verzichten. Für die hätte ich viel- mit Pflichten; jedenfalls mit der Pflicht, leicht auch Talent; aber um wirklich gut die anderen ebenso zu achten wie mich zu spielen, muss ich mich konzentrieren, selbst. Und da stoßen wir dann unver- muss üben – auch, wenn ich gerade keine sehens auf den Kern unseres Glaubens: Lust habe. Dann und nur dann werde ich „Alles, was ihr wollt, dass euch die Men- das Ziel, das ich mir selbst gesteckt habe, schen tun, das tut auch ihnen! Darin auch erreichen. Mit jeder Wahl entscheide besteht das Gesetz und die Propheten.“ ich mich also gegen andere Möglichkeiten (Matthäus 7,12) und trage die Konsequenzen. Gunter Prüller-Jagenteufel Freiheit kann also nicht in der Unver- gunter.prueller-jagenteufel@univie.ac.at bindlichkeit bleiben. Wer die Wahl hat, Prof. Dr. Gunter Prüller-Jagenteufel- muss sich auch entscheiden, und zwar unterrichtet theologische Ethik an der konsequent. Wer heute Klavier spielen Universität Wien. möchte und morgen Fußball und über- morgen Dressurreiten und dann vielleicht Aquarellmalen wird am Ende zwar Zeit verbracht – „totgeschlagen“– haben, aber wohl nichts erreicht. PLUS 11/2021 | 9
Satire Sie haben die Häresie, äh, Wahl! Ein schräger Blick auf ein paar Wahlmöglichkeiten, die das Leben so bietet, von Dr. Gisela Matthiae, Theologin und Clownin Übergroße Wahlzettel, nein Fahnen. Wo- Zeiten auf Wahlmöglichkeiten bestand, hin damit in dieser engen Kabine? War- als keine gegeben waren, galt eben nicht um haben sie keine Tapeziertische aufge- als freier Wähler, sondern als Ketzer. Wer stellt? Ich hatte mir vorher schon ein paar sich die Wahl nahm, war abtrünnig. Dazu Namen notiert, bei meiner ersten Wahl in braucht man gar nicht in vergangene Zei- diesem Wahljahr. Denn wie sollte ich hier ten zu schauen, das trifft auch auf Län- alle kennen! Und nur nach Parteien zu der heutzutage zu, und zwar zunehmend. entscheiden, das ging ja auch nicht. Kom- Völlig anders sei es in unseren pluralisti- munal ist die Wahl! Und nicht nur ein schen Gesellschaften mit den unzählba- Kreuz, nein, mehrere. Das Wort kann ich ren Wahlmöglichkeiten, meinte der Autor mir merken, denn ich weiß, es gibt Hau- des Buches Peter L. Berger, ein US-ame- fenwolken, die auch so heißen: cumulus, rikanischer Religionsphilosoph bereits im also kumulieren. Und das gemischte Bier Jahr 1980. Häresie, also Wahlmöglichkei- mit Limo heißt in Frankreich Panaché: ten zu haben, sei eine Chance, aber auch panachieren, wenn ich Parteien mischen ein Zwang. Nicht nur wählen zu können, will, also die Namen auf der Liste. sondern auch zu müssen, das sei die Her- Ja, wenn ich Parteien mischen könnte: ausforderung. Im Großen wie im Kleinen. Was von dieser und was von jener, das Da ist was dran. Wer die Wahl hat, hat wäre eine feine Sache. Wer die Wahl hat, die …. hat die Wahl – zwischen dem Gegebenen. Nun gut, ich will mich nicht beschwe- Es fängt schon an im Supermarkt. Sind ren. Immerhin ist es erst gut 100 Jahre die Unterschiede zwischen diesen Seifen her, dass ich als Frau überhaupt wählen wirklich so groß, dass ich eine entschie- darf und also überhaupt eine Wahl habe. dene Wahl treffen sollte? Warum gibt es Aber trotzdem, die Auswahl ist nicht so hier drei Sorten Bio-H-Milch, die ich viel- prickelnd. leicht sowieso nicht trinken sollte? Aber unter den frischen Sorten habe ich die In meinem Regal steht ein Buch mit dem Wahl gleich zwischen sechs verschiede- Titel „Der Zwang zur Häresie“. Das Wort nen. Ich war auch mal in so einem Coffee- Häresie kommt aus dem Griechischen und Shop, nicht jetzt, irgendwann vor über heißt zu Deutsch „Wahl“. Doch wer zu einem Jahr. Large, Medium oder Small, 10 | PLUS 11/2021
In der Wahlkabine Foto: Dr. Gisela Matthiae Dr. Gisela Matthiae Die in Gelnhausen lebende evangelische Theo- login und Clownin arbeitet als freie Referentin, wobei Small mir schon zu groß erschien. Autorin und Humortrainerin: Sie bildet Clown*s Mit welcher der wieviel Sorten Kaffee, aus und steht selbst auf der Bühne: mit oder ohne oder nur teilweise Koffein. www.clownin.de und www.kirchenclownerie.de. Ob noch so eine Soße drauf, und Sahne Über Humor, auch theologisch betrachtet, oder Milch. Und ob ich Punkte sammle. schreibt sie unter anderem in ihrem Blog Ich entschied mich angesichts der vielen www.humorladen.wordpress.com Wahlmöglichkeiten für eine radikale, ich verließ den Laden. Ohne Kaffee, aber ir- gendwie erleichtert. eines? Sollte ich mal eine andere Religi- on ausprobieren? Es gibt inzwischen so Ständig muss man sich entscheiden. Und viele interessante neue Religionen, meine da ist das mit dem Kaffee noch eine Lap- eigene kenne ich ja, mit ihren Vor- und palie. Soll ich, wenn ich kann, wieder in Nachteilen. Sollte ich umziehen, abtau- Urlaub fahren? Wo ich doch jetzt erfahren chen und gar meine Identität wechseln? habe, dass davon nicht mein Jahresglück abhängt. Aber wenn ja, wohin? Ist das Hast du sie noch alle? frage ich mich völlig Meer in Ligurien wirklich so anders als überrumpelt von all den Wahlmöglichkei- das an der Costa Brava? Ich kenne weder ten und all den Nötigungen zur Wahl. Ich das eine noch das andere. Augen auf bei will mich gar nicht ständig entscheiden der Berufswahl! Die entscheidet schließ- müssen! Die allermeisten Wahlmöglich- lich für einen längeren Zeitraum als für keiten sind doch bloße Ablenkungsma- zwei Wochen. Welches Ehrenamt passt növer! Reine Beschäftigungsprogramme! zu mir? In der nachberuflichen Lebens- Damit ich nicht mitkriege, wie eng an- phase will ich auch noch was tun, mich sonsten meine Wahlmöglichkeiten sind. einbringen, Anregungen geben, aber auch Nicht nur diese Kabine da im März, in der welche bekommen. Sollte ich mal den ich mich mit gigantischen Wahlzetteln Zahnarzt wechseln oder die Gynäkolo- herumgeschlagen habe. Behaltet euren gin? Die Friseurin habe ich ja bereits öf- Kaffee, aber gebt mir eine echte Stimme! ters gewechselt. Sollte ich mein umwelt- verschmutzendes Auto wegtun, einfach Dr. Gisela Matthiae weg und kein neues oder falls ja, was für matthiae@clownin.de PLUS 11/2021 | 11
Wählen „Du hast die BundestagsWahl“ am 26. September Unter die Lupe genommen: Alterssicherung und Altersarmut Schon 2018 waren in Deutschland 3,1 Millionen Rentner/innen von Altersarmut betroffen. – Tendenz steigend. Von Altersarmut spricht man unter anderem bei einem Einkommen von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung. Bei Alleinstehenden bedeutete das 2018: Wer nicht mehr als 13.628 Euro Jahreseinkommen hat, gilt als arm. Nach Daten des Europäischen Statistikamtes Eurostat ist in Deutschland fast jede/r Fünfte über 65 Jahren von Altersarmut betroffen. Sieben Wahlprüfsteine Prüfstein 1: Viele erwarteten, dass das Thema „Rente“ Die künftigen Regierungsparteien stehen mit den Fragen nach Alterssicherung und vor zwei Aufgaben: (1) zu verhindern, Altersarmut ein zentrales Thema bei der dass das Rentenniveau unter 48 Prozent Bundestagswahl 2021 spielen würde, ge- fällt; (2) zu versuchen, das Rentenniveau puscht noch durch den Renteneintritt der auf über 50 Prozent anzuheben. geburtenstarken Jahrgänge. Die Corona- Für die Sozialpolitik sehr belastend war Pandemie jedoch verschob die Aufmerk- die in der Agenda 2010 geplante Absen- samkeit drastisch: Die Bewältigung der kung des Rentenniveaus auf 43 % bis Pandemie steht seit März 2020 im Vorder- zum Jahr 2030. Eine Absenkung auf die- grund nahezu jedes politischen Handelns. ses Niveau würde unweigerlich zu einem Dennoch bleibt „Rente“ ein gesellschaft- zahlenmäßigen Anstieg derjenigen führen, liches Thema von großer Bedeutung. Die die Grundsicherung beantragen müssten, KAB bietet hier sieben Prüfsteine an, mit insbesondere bei denjenigen mit unterbro- denen Wahlaussagen und Wahlprogramme chenen Erwerbsbiografien oder denen, die in Sachen rentenpolitische Vorstellungen, zeitlebens für einen niedrigen Lohn arbei- Alterssicherheit und Altersarmut kritisch teten. Deshalb wurde Ende 2018 im § 154 hinterfragt werden können. des Sozialgesetzbuches VI eine „Haltelinie eingezogen“. Bis 2025 darf demnach das Rentenniveau nicht unter 48 % fallen. Al- Wahlprogramme tersarmut zu verhindern ist eine „Minimal- Gerne hätten wir die Wahlprogramme der Parteien in grenze“. Würdiges Leben im Alter bedeutet ihren Renten-Aussagen kritisch durchleuchtet, aber aber nicht, an einer „Untergrenze“ zu leben. Corona hat auch das verhindert. Die meisten Program- me lagen bei Redaktionsschluss nur als Entwürfe vor Prüfstein 2: und waren noch nicht verabschiedet: Kommt es zu Mindereinnahmen in https://www.bundestagswahl-2021.de/wahlprogramme/ der Rentenversicherung, dürfen keine „Rückschritte“ erfolgen. Gegebenenfalls 12 | PLUS 11/2021
Prüfen sind zusätzliche Bundeszuschüsse not- Prüfstein 4: wendig. Künftige Regierungsparteien sollten für Mit der Einführung der Grundrente ab 1. alle Kinder 30 Monate Erziehungszeit Januar 2021 (die teilweise jedoch erst ab anerkennen. Diese von der Rentenver- Ende 2022 ausgezahlt wird) brauchen sich sicherung auszuzahlenden Leistungen viele Menschen auf das Prozedere des sind durch einen Bundeszuschuss aus- Grundsicherungsantrags, bei dem alle Ver- zugleichen, da die Kindererziehung von mögensverhältnisse offen gelegt werden höchster gesellschaftlicher Relevanz ist. müssen, nicht mehr einlassen; ein Proze- In der laufenden Legislaturperiode wurde dere, das für viele am Ende eines Arbeits- die Anerkennung von Kindererziehungszei- lebens entwürdigend war. Ob ein Anspruch ten zugunsten der Rentenbezieherinnen ge- auf Grundrente vorhanden ist, wird jetzt ändert. Für Kinder, die nach dem 1. Januar seitens der Rentenversicherung automa- 1992 geboren wurden, werden ab 2019 30 tisch berechnet. Da bei Bestandsrenten die- Monate Erziehungszeit anerkannt. Welchen se Berechnungen erst Ende 2022 beendet Grund gibt es, hier nur Kinder, die ab 1992 sein werden, ist die Belastung der Renten- geboren wurden, zu berücksichtigen? kassen durch die Einführung der Grund- rente noch nicht konkret abzusehen; es Prüfstein 5: könnte also hier zu deutlich höheren Aus- Für die Beiträge, die in die Betriebsren- gaben der Rentenkassen kommen, denen te einfließen, sind bereits Kranken- und zu wenig Einnahmen gegenüberstehen. Pflegeversicherungsbeiträge gezahlt worden. Von der künftigen Regierung Prüfstein 3: ist zu fordern, dass eine „Zweifachver- Eine künftige Regierungsmehrheit beitragung“ für die volle Betriebsrente muss sich auch daran messen lassen, ausgeschlossen wird. schnellst möglichst Verbesserungen Dass die gesetzliche Rente schon jetzt wie auch für die Menschen zu beschließen, auch in Zukunft nur ein Standbein der die vor dem 1. Januar 2019 schon Er- Altersversorgung sein kann, ist unstrittig. werbsminderungsrente bezogen haben. Unterschiedlichste Modelle von Betriebs- Auch die Abschlagsregelung muss renten, die zur Ergänzung notwendig nachgebessert werden. sind, haben in den letzten Jahren Stärken Die derzeitige Regierungskoalition hat und Schwächen deutlich gemacht. Eine in den vergangenen Jahren eine deutli- Schwäche war und ist die zweifache Ver- che Verbesserung bei der Erwerbsminde- beitragung der Betriebsrenten zur Kran- rungsrente umgesetzt. Diese bezieht sich ken- und Pflegeversicherung, also einmal jedoch nur auf diejenigen, die nach dem bei der Gehaltszahlung und das zweite 1. Januar 2019 Anspruch auf Erwerbsmin- Mal bei der Rentenzahlung. Zwar hat man derungsrente erhoben. Fragwürdig sind einen Pauschalbetrag der Betriebsrenten auch die Abschläge von bis zu 10,8 % bei krankenversicherungsfrei gestellt, nicht den Bezieher/innen unter 63 Jahren. jedoch vom Pflegeversicherungsbeitrag. PLUS 11/2021 | 13
Wählen Prüfstein 6: Prüfstein 7: Die zur Wahl antretenden Parteien Die Katholische Arbeitnehmer-Bewe- sollten sich für eine Verbesserung der gung (KAB) fordert eine Erhöhung des Altersversorgung ganz besonders der- gesetzlichen Mindestlohns auf jenigen Menschen mit unterbrochener 14,09 Euro pro Stunde. Erwerbsbiografie oder Erwerbsminde- Ein weiterer Hebel zur Vermeidung von rungsrente einsetzen. Altersarmut ist eine Erhöhung des ge- Das sind wichtige Verbesserungen der setzlichen Mindestlohns auf 14,09 Euro Alterssicherheit, die nicht unbedingt alle pro Stunde; dies entspricht 60 Prozent Rentner/innen betreffen, aber insbeson- des statistischen Durchschnittslohns, der dere Personen, die aufgrund ihrer Lebens- gleichzeitig die „Armutsgrenze“ ist. Die- umstände benachteiligt sein können. Das se Mindestlohnhöhe verhindert schon im gilt zum Beispiel für Frauen und Männer, Erwerbsleben ein Leben unterhalb der Ar- die aufgrund von Kindererziehung eine mutsgrenze. Sie trägt ebenso dazu bei, dass unterbrochene Erwerbsbiografie haben, sich nach 45 Erwerbsarbeitsjahren auf die- oder auch Menschen, die gesundheitlich sem Lohnniveau ein Rentenanspruch ober- eingeschränkt sind und eine Erwerbsmin- halb der Grenze der Grundsicherung ergibt. derungsrente beziehen. Michael Schmitt michael.schmitt@kab-fulda.de Diözesansekretär Katholische Arbeitneh- Begriffserklärung „Rentenniveau“ mer-Bewegung (KAB), Diözesanverband Das Rentenniveau wird in Prozent angegeben und Fulda e.V. zeigt die Höhe einer Rente im Vergleich zum durchschnittlichen Einkommen eines/r Arbeitsneh- mers/in (45 Jahre Beitragszahlung) an. Beträgt dieses durchschnittliche Einkommen beispielsweise 2.500,- Euro/Monat und das Rentenniveau liegt wie derzeit (2020) bei 48,21 Prozent, so würde die monatliche Rente mit 1.205,25 Euro ausfallen. 14 | PLUS 11/2021
Bewegen und Tanz zu Musik PLUS-praxistipp Körperhaltung und Beweglichkeit trainieren Bewegung zu Musik trainiert das Gedächtnis, bringt Freude an Bewegung, lenkt vom Alltag mit seinen Schmerzen und seiner Langeweile ab, verbessert Körperhaltung, Beweglichkeit, Geschick- lichkeit und Atmung. Bewegung zu Musik ist einfach. Die Teilnehmer/innen können dabei im Kreis stehen oder sitzen. Jede/r kann teilnehmen. Tipps zum Ausprobieren: • Kleben Sie nicht an Beschreibungen/Vorgaben, sondern vereinfachen Sie falls erforderlich. • Die Bewegungen sollen den Möglichkeiten der Teilnehmer/innen entsprechen. • Gehen Sie vom Leichten zum Schweren (einfache Tänze, Bewegungen zuerst, Bekanntes oft wiederholen). • Ermutigen Sie dazu, Bewegungen und Tanzfiguren selbst zu erfinden Bewegungstanz im Sitzen mit Tüchern (Musik: Begrüßungswalzer) • Teil 1 Arme hoch – runter – hoch // 2x mit den Füßen aufstampfen Arme runter – hoch – runter // 2x mit den Füßen aufstampfen Arme hoch – runter – hoch // 2x mit den Füßen aufstampfen Arme hoch – runter – hoch // 2x mal mit den Füßen aufstampfen • Teil 2: Schwingen abwechselnd mit rechts und links • Teil 1 und Teil 2 noch 5x wiederholen (insgesamt 6 Durchgänge) Bewegungstanz: Variation ohne Tücher • Teil 1: Arme schwingen vor dem Körper von einer Seite zur anderen Seite. 2x klatschen (4x wiederholen) • Teil 2: rechter Fuß 2x anwinkeln, ausstrecken, anwinkeln, abstellen, 2x mit linkem Fuß. PLUS-Praxistipp 1 | Bewegen und Tanz zu Musik • Teil 1: wiederholen • Teil 2: rechter und linker Fuß abwechselnd kreisen • Teil 1: wiederholen • Teil 2: rechtes und linkes Bein abwechselnd nach vorne strecken • Teil 1: wiederholen Treffen für Seniorinnen und Senioren sind zur Zeit kaum möglich. Die Übungen können Sie mit wenigen Personen umsetzen oder am Bildschirm, falls Sie sich virtuell treffen. Hinweise und Bezugsquellen zu Musik mit Bewegung finden Sie auf https://www.bistum-eichstaett.de > Glaube-Leben > Senioren > Materialien Christine Stüß DRK Seniorenzentrum Fulda, Pflegefachkraft Telefon 0170/2323776 · E-Mail christine.stuess@drk-fulda.de PLUS PLUS03/2017 7/2019 | 15
Anders miteinander beten PLUS-PRAXISTIPP Rosenkranz und Gottesdienste vor dem Fernseher Gebetsvorschlag Rosenkranz Schauen Sie sich den Rosenkranz an: Die Perlenkette ist ein Hilfsmittel beim Beten. Er besteht aus einem Kreuz und 59 Perlen. Man beginnt mit dem Kreuzzeichen und spricht dazu: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Es folgt das Glaubensbekenntnis. Bei jeder großen Perle wird das „Vater unser“ gebetet, bei jeder kleinen das „Gegrüßet seist du, Maria“. Je zehn kleine Perlen bilden ein Rosenkranzgesätz. In einem Gesätz sprechen wir jedes Mal beim „Gegrüßet seist du, Maria" nach dem Wort „Jesus“ dieselben Worte. Es sind die „Geheimnisse“ des freudenreichen, des lichtreichen, des schmerzhaften oder des glorreichen Rosenkranzes. Beten Sie den Rosenkranz in einer kleinen Gruppe, vielleicht zu zweit. Sie können die jeweiligen Gesätze auf zwei „Gegrüßet seist du, Maria“ verkürzen. Betrachten Sie die Geheimnisse dabei ganz konkret. Übertragen Sie sie auf heute - möglichst einfach und lebensnah. • Hier ein Beispiel zum Gesätz „Jesus, der für uns Blut geschwitzt hat …“: Sinnen Sie darüber nach und versuchen Sie, ins Wort zu bringen, wann habe ich in meinem Le- ben Krieg, Flucht oder totale Ablehnung erfahren? Sprechen Sie darüber ganz konkret. Spüren Sie der Angst nach. Ganz offen. • Hier ein weiteres Beispiel zum Gesätz „den du, oh Jungfrau, zu Elisabeth getragen hast …“: Manche Frauen haben schwere Schwangerschaften erlebt, die sie körperlich oder seelisch be- lasteten. An wen konnte ich mich wenden? Wen konnte ich um Hilfe oder Tipps bitten? Wer hat sich mit mir gefreut, die eigene Schwangerschaft gefeiert…? So wird ein Rosenkranz zu einem ganz persönlichen Gebet und die Nähe Gottes wird konkret. Das vergisst man nie. Gebetsvorschlag vor dem Fernseher Viele Menschen feiern die Eucharistie allein vor dem Fernseher und erleben das als Ausschluss von der Gottesdienstgemeinde: „Ich bin alt und kann nicht mehr live mitfeiern.“ Das trifft sie schmerz- haft. PLUS-Praxistipp 2 | Anders miteinander beten Bieten Sie an, die Gottesdienstübertragung gemeinsam anzuschauen. Diese Gebets-Gemeinschaft kann tief erlebt werden. Gott lädt uns zur Eucharistiefeier ein. • Wiederholen Sie diesen Termin und machen Sie einen Plan, wann und wo werde ich Menschen besuchen, mit Ihnen vor dem Fernseher feiern. • Binden Sie andere in der Gemeinde mit ein. Eine solche Gemeinschaft im Gebet wirkt belebend und gibt Sinn. Sr. Eva-Maria Klinikseelsorgerin am Herz-Jesu-Krankenhaus Fulda Telefon 0661-159704 · E-Mail Sr.Maria@mutterhaus-fd.de
Wie leicht fällt es Ihnen, die Wahl zu haben? PLUS-PRAXISTIPP Zwei Übungen für das Gedächtnistraining 1. Der ‚Rückwärts-Text‘ Sie können den folgenden „Rückwärts“-Text (beginnend mit dem letzten Wort) einzeln oder gemeinsam in einer kleinen Gruppe lesen. Bitte achten Sie dabei auf die geltenden Hygienevor- schriften: .lhaW eid ? eis nebah riw rebA .thciel remmi thcin tsi ,nebah uz lhaW eiD .nies uz hcsirrüm redo tumeghorF .nediehcstne uz rediw redo rüf snU .nelhäw riw rekitiloP nehclew redo nirekitiloP ehclew dnu ietraP ehclew dnu nelhäw riw bo ,nediehcstne uZ .neffahcsrev uz röheG snU .nehielrev uz thciweG emmitS reresnU .tgeil nezreH ma snu sad ,netertuznie sawte rüF .nediehcstne uz nebelnehcriK redo nebeL mi gnuthciR etmmitseb enie rüf snU .nies uz rehcisnu redo hcilthcis- revuZ .nednew uz ttoG na tebeG mi snU .nies uz trewhcsebnu redo llovnegroS .nies uz nessaleg redo negeruzfua snU .nies uz hcsiuartssim redo neuartrev uZ .nies uz hcildnuerfnu redo tteN .thcin redo nenohcs uz rutaN eiD .thcin redo neuerfre uz rutaN red na snU -- lhaW eid nebah riW .thcin redo netert uz tkatnoK ni nosreP renie tiM .nehcam uz nehcrekciN nie redo neheg uz nereizaps nessE med hcaN .thcin saw dnu nefuaknie riw saW .negart uz tor redo ualB .neknirt uz eeT redo eeffaK lhaW eiD .netlatseg uz eueN sfua gaT nedej dnu ednutS edej lhaW eid nebah riW .nethcöm riw saw ,nessal dnu nut uZ .lhaW eid nebah riW (Auflösung unter www.bistum-fulda.de >leben_glauben > seniorennetzwerk) Fragen zum Gespräch und für den Austausch: • Wie sehen Sie das für sich selbst? • Wo haben Sie das letzte Mal bewusst eine Wahl getroffen? • Was möchten Sie ergänzen? 2. Welches Sprichwort spricht Sie an? PLUS-Praxistipp 3 | Wie leicht fällt es Ihnen, die Wahl zu haben? Lesen Sie sich die Sprichworte durch. Welches der Sprichworte zu ‚Wahl‘ und ‚Entscheidung‘ weckt Erinnerungen bei Ihnen. Erzählen Sie Ihrem Gegenüber davon. • „Im Leben muss man dauernd zwischen Aufrichtigkeit und Höflichkeit wählen.“ (Sophia Loren) • „Es gibt Fälle, in denen vernünftig sein, feige sein heißt.“ (Marie von Ebner-Eschenbach ) • „Die Fähigkeit, das Wort „Nein“ auszusprechen, ist der erste Schritt zur Freiheit.“ (Nicholas Chamfort) • „Das Schlimmste in allen Dingen ist die Unentschlossenheit.“ (Napoléon I. Bonaparte) • „Demokratie ist die Notwendigkeit, sich gelegentlich den Ansichten anderer Leute zu beugen.“ (Winston Churchill) • „Es ist besser, unvollkommene Entscheidungen durchzuführen als beständig nach vollkommen- den Entscheidungen zu suchen, die es niemals geben wird.“ (Charles DeGaulle) • „Die größte Entscheidung deines Lebens liegt darin, dass Du Dein Leben ändern kannst, indem Du Deine Geisteshaltung änderst.“ (Albert Schweitzer) Roswitha Barfoot Sprecherin AG Ehrenamt im Seniorennetzwerk E-Mail r.barfoot@t-online.de
Entscheidungen und das Glück im Leben PLUS-PRAXISTIPP Eine Gesprächsanregung für Kleingruppen und Einzelgespräche In der wärmeren Jahreszeit sind Treffen im Freien unter Hygienebedingungen möglich. Hier eine Gesprächs- anregung, die Sie in einer kleinen Gruppe oder im Einzelgespräch nutzen können. Einführung: Manchmal kommt es … Manchmal kommt es im Leben anders, als zu erwarten ist. Manchmal ist es unmöglich, alle Konsequen- zen einer Entscheidung oder eines Ereignissens zu erkennen. Die alte chinesische Parabel vom Glück im Unglück kann helfen, versöhnlicher mit eigenen Fehlentschei- dungen umzugehen und lehrt für die Zukunft, nicht alles gleich zu bewerten. Ein rechtschaffener Mann lebte nahe der Grenze. Ohne Grund entlief ihm eines Tages sein Pferd auf das Gebiet des verfeindeten Nachbarlandes. Alle Leute bedauerten ihn. Sein Vater aber sprach zu ihm: „Wer weiß, ob das nicht Glück bringt?“ Mehrere Monate später kam sein Pferd zurück mit einer Gruppe guter, edler Wildpferde. Alle Leute beglückwünschten ihn und der Mann entschied die Pferde zu behalten. Sein Vater aber sprach zu ihm: „Wer weiß, ob das nicht Unglück bringt?“ Der Sohn liebte das Reiten und zähmte die Pferde. Dabei fiel er, brach sich ein Bein und konnte fortan nicht mehr richtig laufen. Alle Leu- te bedauerten ihn. Sein Vater aber sprach: „Wer weiß, ob das nicht Glück bringt?“ Ein Jahr später fielen die Barbaren über die Grenze ein. Die erwachsenen Männer zogen in den Krieg. Neun von zehn Grenzbe- wohnern wurden dabei getötet, mit Ausnahme des Sohnes, der wegen seiner Behinderung nicht in den Kampf musste. Vater und Sohn überlebten beide. (Quelle unbekannt) Lesen Sie die Geschichte vor oder erzählen Sie sie frei. Laden Sie zum Gespräch ein. Betrachten Sie dabei lieber ein Ereignis genauer als dass Sie viele aufzählen. Fragen • Haben Sie erleben müssen, dass etwas ganz anders kam, als Sie es erwartet hatten? PLUS-Praxistipp 4 | Entscheidungen und das Glück im Leben • Können Sie sich erinnern, einmal großes Glück gehabt zu haben? • Was war Ihre beste Entscheidung? • Was war Ihr größtes Pech/Ihre größte Enttäuschung? • Welcher Gedanke hat Ihnen damals geholfen, die Enttäuschung zu überwinden? Hinweise für das Gespräch • Ein Rückblick auf die im Leben getroffenen Entscheidungen lohnt sich. • Für Gelungenes wird Freude und Dankbarkeit spürbar, nicht erfüllte Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte, dürfen benannt werden, Ungerechtigkeiten ausgesprochen. • Und was erfüllt einen Menschen mehr als die Zufriedenheit: Es kam zwar nicht, wie ich erwartet hatte, aber ich habe das Beste daraus gemacht. Hannelore Dauzenroth Gemeindereferentin, Klinikseelsorgerin am Herz-Jesu-Krankenhaus Fulda, Telefon 0661-159704 · E-Mail hannelore.dauzenroth@bistum-fulda.de
Interview Ohne rückhaltlose Gleichberechtigung verspielt die Kirche ihre Zukunft PLUS-Interview mit ZdK-Vizepräsidentin Dr. Claudia Lücking-Michel, die gemeinsam mit dem Essener Bischof Dr. Franz-Josef Overbeck das Synodalforum I „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche“ leitet PLUS: „Du hast die Wahl“, ist das Leit- Zur Person thema dieser PLUS-Ausgabe: Als Frau in Dr. Claudia Lücking-Michel - dieser Art von katholischer Kirche – kann geboren 1962, verheiratet das überhaupt noch eine Wahl sein? mit Prof. Dr. Andreas Michel, DR. CLAUDIA LÜCKING-MICHEL: Wer als drei Kinder - hat in Münster, halbwegs emanzipierte Frau des 21. Jahr- Jerusalem und Tübingen hunderts in der römisch-katholischen Kir- Theologie und Geschichte che bleibt, sich zu ihr bekennt und sich studiert (Diplom und Lehr- hier engagiert, muss hart im Nehmen oder amt). Von 1997 bis 2004 war bescheuert sein. Keine Ahnung, was bei sie Abteilungsleiterin beim mir überwiegt. Dass ich dabeibleibe, liegt Dr. Claudia Lücking-Michel. Foto: AGIAMONDO e.V. kirchlichen Hilfswerk MISE- aber vor allem an meiner starken Verbun- REOR, dann Generalsekretärin im Cusanuswerk. Von denheit. Lange Zeit habe ich jedenfalls ab- 2013 bis 2017 war sie CDU-Abgeordnete im Bundes- gestritten, dass ich persönlich überhaupt tag. Seit drei Jahren ist die gebürtige Sauerländerin eine Wahl hätte. Ich habe dann argumen- Geschäftsführerin von AGIAMONDO, einem Verein tiert mit dem Verweis auf meine eigene für Personalvermittlung und -beratung in der Ent- Familie, die ich mir auch nicht auswählen wicklungszusammenarbeit. Ehrenamtlich engagiert kann, oder dem Bild meiner Heimat, die sich die promovierte Theologin als Vizepräsidentin ich nicht „einfach verlasse“. Ja das stimmt, des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) meine Kirche lasse ich nicht so einfach los. und als Stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Ich gehöre hier hin, ich verdanke ihr viel Kommission Justitia et Pax. Zusammen mit Bischof und was mir nicht passt, das möchte ich Dr. Franz-Josef Overbeck, Essen, leitet sie das Forum „von Innen“ mitgestalten und verändern. „Macht- und Gewaltenteilung – Gemeinsame Teil- nahme und Teilhabe am Sendungsauftrag“ beim PLUS: Das sagen viele, die die Kirche – Synodalen Weg. zum Teil schon seit Jahrzehnten – von in- nen verändern wollen. Ist das nicht naiv? DR. CLAUDIA LÜCKING-MICHEL: Wie naiv? Mein Idealismus ist mittlerweile dieses römisch-katholische System trage schwer erschüttert und ich denke ganz ich nicht mehr mit? Ich hoffe weiterhin, neu und viel kritischer über mein Verhält- dass es nicht so weit kommt, ich hoffe nis zur Kirche nach. Ich bin getauft und geradezu verzweifelt. In dem Moment, in bleibe „katholisch“, aber wann kommt der dem ich erkennen müsste, es ändert sich Punkt, wo ich sagen muss: Ohne mich, nichts, müsste ich gehen. PLUS 11/2021 | 19
Interview PLUS: Was hat Sie motiviert, beim Sy- Köln und das Segnungsverbot aus Rom nodalen Weg den Vorsitz eines Forums bestimmt ist? zu übernehmen, der ein kirchlich derart LÜCKING-MICHEL: Ich erlebe die ge- heikles Thema wie „Macht und Gewalten- nannten Vorgänge wie „den Film zum teilung“ verhandelt? Buch.“ Während wir uns beim Syno- LÜCKING-MICHEL: Das Thema ist si- dalen Weg noch immer an theoretisch- cher heikel, aber es ist auch zentral und theologischen Grundsatzfragen (z.B. Was sehr relevant. Anlass und Grund für das ist die Kirche? Welche Rolle spielt das ganze Projekt Synodaler Weg waren ja Weihe-Amt in ihr?) die Zähne ausbeißen, tausendfache Fälle von perfidem Macht- geht das Kirchenleben wie gehabt weiter. missbrauch durch Kleriker an Minderjäh- Macht wird an vielen Stellen willkürlich rigen. Dabei ist Machtmissbrauch durch ausgeübt; Entscheidungsträger – an der Ausübung von sexueller Gewalt ja nur Stelle kann man die weibliche Form ge- eine, wenn auch sicherlich eine besonders trost weglassen – müssen keine Rechen- verabscheuungswürdige Form. Was lag schaft ablegen: weder für ihre Taten noch also näher, als die Frage nach Macht in für ihre moralische Haltung. Wir erleben, der Kirche in den Fokus der Überlegungen wie Macht missbraucht wird durch Ein- zu stellen. Wer hat Zugang zur Macht? schränkungen in der Rede-, Denk- und Wie wird sie organisiert? Warum wird sie Pressefreiheit. so wenig kontrolliert und warum gibt es keine formalisierte und kaum faktische PLUS: Ist dafür das Segnungsverbot aus Rechenschaftspflicht? Rom für homosexuelle Partnerschaften ein Beispiel unter vielen? PLUS: Wen wundert’s bei dieser zentra LÜCKING-MICHEL: Mit dem „Segnungs- listischen Machtausübung? verbot aus Rom“ werden eher die Gren- LÜCKING-MICHEL: Kirche ist sicher kei- zen einseitiger Machtvorgaben deutlich. ne Demokratie, aber warum sollte sie eine Ich würde sagen, der Schuss ging für die zentralistische Autokratie bleiben? Durch „Römer“ deutlich nach hinten los. Ein- die Jahrhunderte haben Gesellschaften oft schärfen wollte man allen Gläubigen die bitter Lehrgeld bezahlen müssen, weil sie offizielle römische Position zu gleichge- Macht nicht gut geteilt und kontrolliert schlechtlichen Liebesbeziehungen. Die haben. Von diesen Lehren und Erfahrun- mitgelieferten Argumente konnten nicht gen kann die Kirche profitieren. Kirche nur nicht überzeugen, sondern führten sollte alles prüfen und das Gute umsetzen, bei vielen, die sich bis dahin in der Frage zum Beispiel unabhängige Verwaltungs- noch nicht innerlich positioniert hatten, gerichtsbarkeit, Gleichberechtigung, Men- zu einer Klärung. Eine tausendfache Re- schenrechte, Gewaltenteilung. aktion schallt durch das Land: „So nicht! Das lasse ich nicht unwidersprochen ste- PLUS: Wie erleben Sie die aktuelle Situ- hen. Ich distanziere mich von der römi- ation in der Katholischen Kirche, die vor schen Lehrmeinung.“ allem durch das Missbrauchsgutachten in 20 | PLUS 11/2021
Machtfrage Dr. Claudia Lücking-Michel auf der Ersten Synodalversammlung 2020 in Frankfurt am Main (Beratungen am 31.01.2020). Foto: Synodaler Weg/Malzkorn PLUS: In einem der ersten Texte Ihres Sy- nodalforums heißt es: "Vom Synodalfo- rum wird erwartet, dass für die Synodal- versammlung konkrete Beschlussvorlagen vorbereitet werden, die auf einer gesicher- ten theologischen Basis stehen und mutig Reformen angehen." Halten Sie das (im- mer noch) für möglich? LÜCKING-MICHEL: Also, wenn ich nicht die Hoffnung hätte, dass solche Beschlüs- se und zwar auch solche mit mutigen re- formerischen Inhalten beim Synodalen PLUS: Wirklich neu ist das aber nicht. Weg möglich wären, würde ich meine Zeit LÜCKING-MICHEL: Das stimmt! Neu ist und Energie nicht darein investieren. „Der es nicht, aber immer wieder – auch jetzt Weg entsteht beim Gehen“ – selten galt aktuell – sehr nötig. Ich hoffe auf eine eine Lebensweisheit so sehr, wie hier beim Kirche, die zuerst fragt „Was tut Not?“, Synodalen Weg. Wer weiß, was uns da al- „Was braucht Ihr?“, „Wie können wir hel- les noch auf der Strecke erwartet. Aber fen und wie Euch mit der Botschaft vom „der Weg ist nicht das Ziel“. Ich setze auf Reich Gottes Mut machen?“ Stattdessen überzeugende Beschlüsse einer überzeug- dieses ganze Aufspielen als „Herren der ten Synodenversammlung. In unserem Gnade“, die zuteilen, abmessen und Zu- Forum haben wir bisher jedenfalls sehr gangskriterien definieren. Wer darf ge- gründlich an der theologischen Basis un- segnet werden? Wer darf zur Kommunion serer ekklesiologischen Vorstellungen und gehen? Wer ist richtig katholisch? Damit Forderungen gearbeitet, die ersten kon- kann man niemanden mehr beeindrucken kreten Beschlussvorlagen liegen vor. und verfehlt seinen Auftrag. Was wäre das stattdessen für ein starkes Zeichen für alle PLUS: Was müsste aus Ihrer Sicht pas- unterdrückten Frauen dieser Welt, wenn sieren, dass die Kirche aus dieser Krise unsere Kirche zeigen würde: Wir sind bei gestärkt hervorgeht und sie wieder von Euch, wir meinen es ernst. Eine Kirche mehr Menschen als religiöse Heimat ge- aber, die für sich selbst nicht zu einer Po- wählt wird? sition rückhaltloser Gleichberechtigung LÜCKING-MICHEL: Ein „Aggiornamen- und Gleichbehandlung von Frauen, ja al- to“ müsste passieren: Den Begriff kennen ler Getauften und Gefirmten kommt, wird wir ja für das II. Vaticanum. Man wollte kaum Chancen haben, erstgenommen zu der etwas in der Zeit stehen gebliebenen werden, und wird ihre Zukunft verspielen. Kirche wieder ins „Heute“ verhelfen. Aber das Heute bleibt ja nicht in den 1960er PLUS: Wir danken Ihnen sehr für das In- Jahren stehen. 2021 ist die Aufgabe die terview und wünschen allen Beteiligten gleiche: Die Kirche an die Seite der Men- ein nachhaltiges Vorankommen auf dem schen von heute katapultieren. Synodalen Weg. PLUS 11/2021 | 21
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