RECHT & TARIF Noch lange nicht barrierefrei - GLOSSE - GEW Berlin
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September / Oktober 2022 k r a t i e De m o l e h s c h u d H o c un SCHULE RECHT & TARIF GLOSSE Mangelverwaltung Noch lange Tablet, Stift und zum Schulstart nicht barrierefrei Haushaltssperre
I C A R T O O N D E S M O N AT S I KO L U M N E Zwischen Bühne und Klassenzimmer shows. In dieser Zeit kommt eine alte Idee ein Musikvideo, Auftritte, der Ausbau des von Johannes Wehrle wieder hoch: Ein Quereinstieg in das Ber Tonstudios. liner Schulwesen; durch mein Musikdiplom Plötzlich bin ich mittendrin und entschei als Jazzpianist steht mir diese Tür offen. de mich, zum Halbjahr in den »QuerBer« I m April 2020 bin ich gerade auf Stadi ontournee mit einem der größten Musik acts Deutschlands. Ausverkaufte Shows, Als ein Freund anruft und mir von einer Schule mit musikalischem Profil erzählt, denke ich nicht lange nach, rufe den Schul einzusteigen, so der Spitzname des Pro gramms für Berliner Quereinsteigende. Ab jetzt also duales Mathestudium, eine volle kurze Nächte in Nightlinern. Der Termin leiter an, und nach einem kurzen Bewer Stelle und Verpflichtungen als Klassenlei kalender ist voll bis zum Jahresende. bungsgespräch steht fest: Ich werde im tung. Ich empfinde es als Gewinn, den Be Plötzlich machen Gerüchte über eine neu neuen Schuljahr vor der Klasse stehen! Die ruf von innen heraus zu lernen, während artige Krankheit die Runde, und kurze Zeit Coronazeit stellt auch die erfahrenen Kol die Ausbildung langsam dazukommt. später muss die Tour abgebrochen wer leg*innen vor große Fragezeichen: Wie ZEICHNUNG: HARM BENGEN den. Als der Lockdown kommt, lösche ich kann Unterricht aus der Ferne funktionie alle Termine und mache mir Gedanken ren? Einige Schüler*innen lerne ich zu Johannes Wehrle hat Jazzpiano studiert und über die unklare Zukunft. nächst nur in stockenden Videokonferen ist mit international erfolgreichen Künstler Ich bekomme zum ersten und einzigen Mal zen kennen. Doch als der Präsenzunter *innen durch Europa und die Welt getourt. eine Überbrückungshilfe vom Staat: Begrü richt wieder startet, entstehen die wirklich Seit dem Quereinstieg arbeitet er als Musik ßungsgeld in einer neuen Welt ohne Live spannenden Projekte: eine Songwriting AG, lehrer an der Bettina von Arnim-Schule. 2 CARTOON DES MONATS I KOLUMNE bbz | SEPTEMBER/OKTOBER 2022
I S TA N D P U N K T Strukturelle Problem- verschiebung Pädagogische Unterrichtshilfen sollen die Lücken des Personalmangels füllen – und werden dabei unterbezahlt und allein gelassen aber auszubauen, wurden sie kürzlich von der Senats- Anne Albers, Leiterin des Vorstandsbereichs Beamten-, bildungsverwaltung um die Hälfte zusammenge- Angestellten- und Tarifpolitik strichen. Nur auf Druck der GEW mit politischer Unterstützung aus einigen Fraktionen konnte eine Rücknahme der Kürzungen erwirkt werden. Hat es eine*r Bewerber*in dann endlich auf eine K napp 1.000 Lehrkräftestellen waren zu Schuljah- resbeginn unbesetzt. Der Lehrkräftemangel soll nun kurzfristig durch einen Kunstgriff ausgebügelt Stelle als PU geschafft, hält der Blick auf die Lohnab- rechnung eine Überraschung bereit: Bis zu 1.400 Euro brutto weniger monatlich, zusätzlich Abstriche bei werden – Stellenumwandlungen. Im Sinne der Beschäf- der Jahressonderzahlung! Warum? Weil die Arbeits- tigten und der Schüler*innen ist das wohl kaum. erfahrung als Erzieher*in unberücksichtigt bleibt. Strukturelle Umwandlung heißt das neue Zauber- Mit dem Wechsel in die Tätigkeit der PU gelten sie wort im Schulbetrieb. Anstatt der fehlenden Lehr- tarifrechtlich als Berufsanfänger*innen. Was also für kräfte werden unter anderem vermehrt Pädagogische Erzieher*innen zunächst wie die Möglichkeit der be- Unterrichtshilfen (PU) eingestellt, um Schüler*innen ruflichen und auch monetären Weiterentwicklung in Förderzentren und im gemeinsamen Unterricht zu wirkte, wird so zum Verlust. Aber das ist kein Natur- unterrichten. Konkret bedeutet das, dass sich zahl- gesetz. Die Pädagogischen Unterrichtshilfen in der reiche Erzieher*innen auf die Stellen als PU bewer- GEW BERLIN fordern seit Jahren lautstark in jeder ben, motiviert und voller Engagement, um die Chance Tarifrunde: Eingruppierung der PU in EG 10! zu bekommen, sich in einem neuen Arbeitsfeld be- ziehungsweise einer anderen Funktion weiterent- wickeln zu können. Die Kandidat*innen sind teilweise seit Jahren in der Praxis tätig, manche haben Leitungs- P U sind für die Umsetzung der Inklusion dringend benötigte Fachkräfte, die Wertschätzung und an- ständige Bezahlung verdienen. Stattdessen dienen erfahrung und ebenso Erfahrungen im Umgang mit PU dem Senat bisweilen als Lückenbüßer auf unbe- Kindern mit Förderbedarf. setzten, umgewandelten Lehrkräftestellen, vertreten Nun sollte logischerweise davon ausgegangen wer- Unterricht in ganzen Klassen, obwohl sie dies laut den, dass eine solch verantwortungsvolle Aufgabe, Arbeitsvertrag nicht müssten. Mit ihrer Eingruppie- nämlich das Unterrichten und die Förderung von rung in E9a oder E9b geschieht die Umsetzung der Schüler*innen mit Förderbedarfen im Bereich der Inklusion zum Dumpingtarif. Wir fordern: EG 10 für geistigen und körperlichen Entwicklung in der Hand Pädagogische Unterrichtshilfen! Weiterqualifizierung von gut qualifizierten Fachkräften liegen sollte – und ausbauen! Aufstiegsmöglichkeiten schaffen! Und end- dann selbstverständlich gut vergütet werden muss! lich eine Ausbildungsoffensive und einen Tarifver- Die Wartelisten für die Weiterbildung sind so lang, trag Gesundheitsschutz, der mit kleineren Klassen dass die gerade mal 50 Plätze für das kommende Jahr- die Arbeitsbelastung reduziert. Schluss mit dem zehnt bereits ausgebucht wären. Anstatt die Plätze Rotstift für den Bildungsbereich. FOTO: PRIVAT SEPTEMBER/OKTOBER 2022 | bbz STANDPUNKT 3
OBEN LINKS: IMAGO IMAGES/PHOTOTHEK; OBEN RECHTS: JOSHUA SCHULTHEIS, FABIAN BENNEWITZ; UNTEN LINKS: IMAGO IMAGES/PANTHERMEDIA; UNTEN RECHTS: PRIVAT 26 SCHULE Dass die Ausstattung der Schulen mit pädagogi schem Personal nicht zu 100 Prozent erfolgen wird, hatte die GEW BERLIN schon kommen sehen. Jetzt versucht die Bildungsverwaltung den Mangel von Lehrkräften auf anderes pädagogisches Personal umzudefinieren und dabei Förderstunden einzusparen. Klaudia Kachelrieß zur Kritik dar an und den Forderungen der Gewerkschaft. 31 TITELBILD: JOSHUA SCHULTHEIS, FABIAN BENNEWITZ RECHT & TARIF Die Schwerbehindertenvertre- tungen setzen sich für die Rechte Betroffener am Arbeitsplatz ein. 37 GLOSSE Ein Interview mit der Kollegin Eine Satire von Markus Banach Steffi Jaschinski, der Gesamtschwer über die wundervolle Welt behindertenvertreterin Kerstin Nowak der digitalen Möglichkeiten – und dem Schwerbehindertenver- wenn da die Bürokratie treter in Friedrichshain-Kreuzberg nicht wäre. Detlef Stürmer. 4 INHALT bbz | SEPTEMBER/OKTOBER 2022
I I N H A LT Kolumne | Standpunkt | kurz & bündig | Impressum | Leser*innenforum ________________________________________________________ 2-7 | 42 DEMOKRATIE UND HOCHSCHULE ______________________________________________________________ 8 Mehr Hochschuldemokratie wagen Jella Ohnesorge_______________________________________ 10 Studentisches Engagement unter Druck Fabian Bennewitz____________________________ 12 Ein Trojanisches Pferd im Hochschulwesen Christopher Bohlens_____________________ 14 Allein unter Akademiker*innen Julia Eichenberg / Martin Lutz____________________________ 16 Partizipation in der Krise Gabriel Tiedje___________________________________________________________ 18 Demokratie braucht gute Arbeitsbedingungen Laura Haßler_______________________ 20 KINDER-, JUGENDHILFE & SOZIALARBEIT Kita-Träger im Dilemma Dieter Dohmen___________________________________________________________ 23 Gruppen der GEW – Die Fachgruppe sozialpädagogische Fachkräfte an Schulen____________________ 25 8 TITEL Demokratie an Hoch SCHULE schulen ist ein Ideal, aber nur bedingt Schulstart mit heftigen Einbußen Klaudia Kachelrieß_______________________________________ 26 die Realität. Zwar gibt es hochschul interne Gremien, in denen aber die Interview mit Miriam Pech und Stefan Grzesikowski: Minderheit der Professor*innen in Ein Vorbild für Nachhaltigkeit und Digitalisierung Ralf Schiweck_______________ 28 der Regel das Sagen hat. Wir erörtern, Rahmenlehrplan: Neu, aber mutlos Jörg Eschner___________________________________________ 30 welche Faktoren gleichberechtigten und demokratischen Hochschulen ent RECHT & TARIF gegenstehen. Noch lange nicht barrierefrei am Arbeitsplatz Jaschinski / Stürmer / Nowak_____ 31 Zur Abwertung von Lehrkräften Ilse Schaad_________________________________________________ 34 Senat hüllt sich in Schweigen Tom Erdmann__________________________________________________ 35 Keine Anerkennung für internationale Lehrer*innen Janina Wrobel____________ 36 GLOSSE Tablet, Stift und Haushaltssperre Markus Banach__________________________________________ 37 GEWERKSCHAFT Rap-Premiere auf Preisverleihung Peter Baumann__________________________________________ 38 Fachtagsbericht: An den großen Schrauben drehen Tine Maier_________________ 40 Wahlausschreibung Junge GEW _____________________________________________________________________ 41 SERVICE Bücher | Materialien | Aktivitäten ______________________________________________________________ 44 SEPTEMBER/OKTOBER 2022 | bbz INHALT 5
I KURZ & BÜNDIG gegen Diskriminierung und für Chancen- gerechtigkeit im Schulalltag einsetzen. Aus rund 60 eingereichten Projekten hat der Kurzfilm »Wie ein Wald«, produziert von der Lehrerin Zara Demet Altan von der Kurt-Schumacher-Grundschule aus Berlin, den 1. Platz gewonnen. Er zeigt eindrücklich, wie Schüler*innen Rassis- mus erleben, ihre Ängste vor Lehrer*in- nen und ihre Ohnmachtsgefühle. Die Kurt-Schumacher-Grundschule erhielt für den ersten Platz ein Preisgeld in Höhe von 3.000 Euro. ■ Zum Schulstart fehlen tausende ausgebildete Lehrkräfte Der Mangel an ausgebildeten Lehrkräften in Berlin nimmt immer bedrohlichere Rund 2.500 Lehrkräfte, Sozialarbeiter*innen und Schulpsycholog*innen legten am 29. Juni Ausmaße an. Nur noch ein knappes Drit- ganztägig ihre Arbeit nieder und gingen für einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz auf die Straße. tel der neu eingestellten Lehrkräfte hat FOTO: CHRISTIAN VON POLENTZ/TRANSITFOTO.DE eine abgeschlossene Lehramtsausbil- dung. Von den knapp 4.000 Neueinstel- lungen sind lediglich 1.250 Personen voll ■ Benachteiligung von Schwangeren fahren, sprachliche und finanzielle Hür- ausgebildet; unter ihnen sind sogar noch nach Kritik zurückgenommen den und Diskriminierungserfahrungen. etwa 200 Lehrkräfte im Ruhestand. Etwa Vor Kurzem änderte die Senatsverwal- Mehr zum Thema auf S. 34. 600 Vollzeit-Stellen bleiben unbesetzt. tung für Finanzen ihre Arbeitsmaterialien Das Interesse von Hochschulabsolvent für die Personalsachbearbeiter*innen da- *innen am Quereinstieg lässt weiter nach. hingehend, dass Zeiten eines Beschäfti- ■ 13 Millionen Euro für Kita- Hinzu kommt: Mit nur 900 Lehramts gungsverbotes während einer Schwanger- Sprachförderung in Berlin gestrichen absolvent*innen wird das in den Hoch- schaft die Stufenlaufzeit anhalten. Da- Das Bundesfamilienministerium wird das schulverträgen vereinbarte Ziel von durch wäre die Einstufung in eine höhere Förderprogramm »Sprach-Kitas« zum 2.000 pro Jahr krachend verfehlt, obwohl Erfahrungsstufe verzögert worden, was Jahresende streichen, wodurch dem Land die Zahl der Studienplätze deutlich aus- sich finanziell negativ ausgewirkt hätte Berlin voraussichtlich 13,2 Millionen Euro gebaut wurde. Die Vorsitzende der GEW und nach Einschätzung der GEW BERLIN fehlen werden. Mit dem Programm, an BERLIN, Martina Regulin, erneuerte die diskriminierend gewesen wäre, wie die dem in Berlin über 300 Kitas teilnehmen, GEW-Forderung nach einer Ausbildungs- bbz 7-8/2022 berichtete. Der Finanzsena- sollen Kinder mit entsprechendem Bedarf offensive für die Lehrkräftebildung. tor reagierte auf diese Kritik, die Neuinter- und Kitas in benachteiligten Stadtteilen pretation wurde zurückgenommen sowie gefördert werden. Doreen Siebernik, GEW- die Arbeitsmaterialien wieder geändert. Vorstandsmitglied für Jugendhilfe und So- ■ Umfrage zur Verbeamtung: Gerecht, zialarbeit, warf der Bundesregierung den solidarisch und unkompliziert muss Bruch des Koalitionsvertrages vor, da von es ablaufen ■ Berlin Spitzenreiter bei der der Ampelkoalition die Verstetigung des Die GEW BERLIN wollte von ihren Mitglie- Integration ausländischer Lehrkräfte Programms und die Erhöhung von Bil- dern in einer Online-Umfrage wissen, was Eine Studie der GEW untersuchte die An- dungsausgaben versprochen wurde. »Tau- ihnen bei der Umsetzung der Verbeam- erkennungs- und Beschäftigungspraxis sende Fachkräfte werden im Ungewissen tung besonders wichtig ist. Über 920 Per- von migrierten Lehrkräften in den Bun- gelassen. Sie wissen nicht, wie es mit ih- sonen haben sich beteiligt. Mit Abstand desländern. Berlin war mit einem Anteil rer Anstellung weitergeht«, so Siebernik. am wichtigsten ist allen Befragten der von 5,4 Prozent an Lehrkräften mit aus- Nachteilsausgleich für diejenigen Kol- ländischer Staatsbürgerschaft im Schul- leg*innen, die nicht verbeamtet werden jahr 2019/20 Spitzenreiter unter den ■ Berliner Schule gewinnt im können oder wollen. Kolleg*innen haben Bundesländern. Ebenso war hier mit über Bundeswettbewerb gegen in den anonymen Kommentaren zur Um- 700 neuen Lehrkräften der absolute und Diskriminierung frage geschrieben, es dürfe keinesfalls prozentuale Zuwachs seit 2013/14 am Die Antidiskriminierungsstelle des Bun- eine »Zweiklassengesellschaft« im Leh- höchsten. Bundesweit wurden in der Stu- des und der Cornelsen Verlag haben am rer*innenzimmer manifestiert werden. die mehrere Problemfelder identifiziert, 15. Juni 2022 im Rahmen des Wettbe- Dazu müsse vermieden werden, dass die die verhindern, dass Migrant*innen als werbs »fair@school – Schulen gegen Dis- Einkommensbedingungen der Angestell- Lehrkräfte arbeiten können. Dazu gehö- kriminierung« zum sechsten Mal vorbild- ten weiter hinter denen der Beamt*innen ren etwa Probleme im Anerkennungsver- liche Projekte ausgezeichnet, die sich zurückbleiben. 6 KURZ & BÜNDIG bbz | SEPTEMBER/OKTOBER 2022
I ÜBRIGENS ■ Kürzungen und Projektstopps in der Wissenschaft Im Juli 2022 kündigte das Auswärtige Amt bessere Ausstattung des BAföG, für einen weiteren Weg zum Lehramt an Berufli- chen Schulen, für die gesetzliche Veran- G anz innovativ geht es dieser Tage zu in der Bildungsverwaltung – Leistungsprämien für die Beschäftigten Millionenkürzungen bei den Stipendien kerung der Schulsozialarbeit und für die in den Schulen! Der gefundene Topf: des DAAD an – für Forscher*innen ohne Weiterentwicklung vom Wissenschafts- Gelder, die aufgrund des Lehr- und institutionelle Anbindung oft die einzige zeitvertrags- zum Wissenschaftsentfris- Fachkräftemangels nicht ausgegeben Möglichkeit, Reisen zu finanzieren. We- tungsgesetz beschlossen. Alle Beschlüsse wurden. gen der Kürzungen wird der DAAD rund sind unter www.gew.de/gewtag22 zu fin- 6.000 Stipendien und Förderungen strei- chen. Gleichzeitig fror das Bundesbil- dungs- und Wissenschaftsministerium den. E in Schelm, der oder die Böses dabei denkt. Der Kreativität sind beim Einsatz der Gelder jedenfalls keine (BMBF) kurzfristig die Förderung ganzer ■ GEW-Schulleitungsvereinigung Grenzen gesetzt: den Tobsuchtsanfall Projekte ein. Betroffen sind Forschungen wählt neuen Vorstand eines Kindes besänftigen – 50 Euro; zu den gesellschaftlichen Folgen der Co- Die Vereinigung der Berliner Schulleitun- allein hundert Schüler*innen im Hort rona-Pandemie, zu Rechtsextremismus, gen in der GEW BERLIN hat am 15. Juni betreuen – 100 Euro; freiwillig einer zur DDR-Geschichte und zur Umweltzer- 2022 einen neuen Vorstand gewählt. Als langweiligen Sitzung beiwohnen – 150 störung. Wissenschaftler*innen standen Vorsitzende wurden Nuri Kiefer, Grund- Euro. Oder doch umgekehrt? im Juli kurz vor Antritt ihrer neuen Stelle stufenleiter der Paula-Fürst-Gemeinschafts- plötzlich vor dem Nichts. Das Vertrauen ist in der Forschungslandschaft erschüt- tert. Eine Strategie des diffus kommuni- schule, sowie Tina Kardam, Leiterin der Solling-Sekundarschule, gewählt. »Das Berufsfeld von Schulleiter*innen hat sich W irklich schlüssige Kriterien für die Vergabe lassen sich wohl kaum finden. Wir sind gespannt, wie zierenden Wissenschaftsministeriums in den letzten Jahren und Jahrzehnten es weitergeht… NW lässt sich bislang nicht erkennen, mittler- komplett gewandelt. Wir übernehmen ger- weile sollen einige Projekte doch die be- ne Verantwortung für unsere Schulen, reits zugesagte Förderung erhalten. auch wenn wir in erster Linie mit Verwal- VON MITGLIEDERN FÜR MITGLIEDER tungsaufgaben beschäftigt sind, statt mit Pädagogik. Als gewerkschaftliche Vereini- Die bbz veröffentlicht Beiträge ■ Wahlen der Senior*innen gung wollen wir die besonderen Belange zu vielfältigen Themen, von jedem GEW BERLIN und Bedürfnisse von Schulleitungen nach GEW-Mitglied. Schreibt an Am 8. Juni 2022 konnten die GEW-Senior innen und nach außen vertreten – mit ei- bbz@gew-berlin.de und bringt euch ein! *ìnnen – wie seit zwei Jahren geplant – ner starken Gewerkschaft im Hinter- REDAKTIONSSCHLUSS zusammenkommen, um ihr Leitungsteam grund,« sagten Kiefer und Kardam zu Januar/Februar 2023: neu zu wählen. Nach der Vorstellung des ihrem Amtsantritt. Als weitere Mitglieder Tätigkeitsberichts und Vorführung der im Vorstand wurden gewählt: Waltraud Ull, 21. November künstlerischen Aktivitäten der Senior*in- Joan-Miró-Grundschule; Stephan Wahner, Die Inhalte in der bbz geben die nen wurde das Leitungsteam vollständig Carl-Humann-Grundschule; Detlef Pawol- Meinungen der Autor*innen wieder, nicht wiedergewählt, ergänzt durch Christian lek, Röntgen-Schule; Ronald Rahmig, OSZ- die der Redaktion. Erst recht sind sie nicht Meyer, der schon lange sehr produktiv Kraftfahrzeugtechnik; Anne Priebsch, als verbandsoffizielle Mitteilungen der GEW BERLIN zu verstehen. Die bbz sieht es das Programm mitgestaltet. Die Kol- Anna-Freud-Schule, sowie als stellvertre- als ihre Aufgabe, nicht nur Verkündungs- leg*innen Liane Hansemann, Manfred tendes Mitglied Andrea Mahrholz, Grund- organ der offiziellen Beschlusslage zu sein, Triebe und Achim Elbe steuerten als schule am Barbarossaplatz. sondern darüber hinaus auch Raum für Wahlausschuss den satzungsgemäßen kontroverse Positionen zu geben, Diskus Ablauf. Das Leitungsteam besteht nun aus sionen zu ermöglichen und so zur Lore Albrecht, Eva Besler, Ilona Brandt, ■ Nachruf auf Jörn Jensen Meinungsbildung in der GEW beizutragen. Reinhard Brettel, Barbara Henke, Chris- Jörn Jensen, ab 1995 im damals noch ei- tian Meyer, Marianne Pousset und Rainer genständigen Bezirk Tiergarten erster Witzel. grüner Bezirksbürgermeister im Westteil der Stadt, ist im Alter von 78 Jahren ge- I IMPRESSUM storben. Der Grünen-Politiker und ehema- Die bbz ist die Mitgliederzeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Landesverband Berlin, Ahornstr. 5, 10787 Berlin ■ Gewerkschaftstag in Leipzig lige GEW-Aktivist und Lehrer war in den und erscheint zweimonatlich (6 Ausgaben). Für Mitglieder ist Vom 21. – 24. Juni 2022 tagte der außer- 1970er Jahren Vorsitzender der Fach- der Bezugspreis im Mitgliedsbeitrag enthalten. Für Nichtmitglieder beträgt der Bezugspreis jährlich 18 Euro (inkl. Versand). ordentliche Bundesgewerkschaftstag der gruppe Gesamtschulen in der GEW BER- Redaktion: Nadine Wintersieg (verantwortlich), Markus Hanisch (geschäftsführend), Janina Bähre, Josef Hofman, Antje Jessa, GEW in Leipzig. Die GEW BERLIN war als LIN. Als erster Bezirksbürgermeister in Caroline Muñoz del Rio, Jeannine Schätzle, Ralf Schiweck, Joshua drittgrößte Delegation mit dabei. Mit Berlin verzichtete er auf einen eigenen Schultheis, Bertolt Prächt (Fotos), Doreen Stabenau (Sekretariat). Redaktionsanschrift: Ahornstraße 5, 10787 Berlin, Tel. 21 99 93-46, über 430 Delegierten aus dem ganzen Dienstwagen. Jensen war es wichtig, den Fax -49, E-Mail bbz@gew-berlin.de Verlag: GEWIVA GmbH, erreichbar wie Redaktion. Bundesgebiet wurden unter dem Motto Demokratiegedanken zu stärken und Anzeigen: bleifrei Medien + Kommunikation, info@bleifrei-berlin.de, »Bildung. Weiter denken!« die Weichen für setzte sich etwa für eine Direktwahl der Tel. 030/613936-30. Es gilt die Preisliste Nr. 16 vom 1.10.2021 Satz, Layout und Konzept: bleifrei Texte + Grafik / Brauweiler, Miller die GEW-Arbeit der nächsten Jahre ge- Bürgermeister*innen ein. Gleichzeitig un- Druck: Bloch & Co, Grenzgrabenstr. 4, 13053 Berlin stellt. Unter anderem wurden Anträge für terstützte er die Erinnerungsarbeit an die Gedruckt auf 100 % Recyclingpapier mit dem Blauen Engel die Reduzierung der Arbeitszeit, für eine NS-Zeit und den Holocaust. ISSN 0944-3207 / 75. (90.) Jahrgang 9-10 / 2022: 29.700 SEPTEMBER/OKTOBER 2022 | bbz KURZ & BÜNDIG 7
D ie Hochschulen sind zentrale Orte unserer Gesellschaft. Hier werden Zukunftstechno- logien erforscht, kulturelle Güter bewahrt und »Partizipation in der Krise« (S. 18/19) von Gabriel Tiedje nachlesen. Neben den Hochschulgremien gibt es noch die zukünftigen Fach- und Wissensarbeiter*in- viele weitere Möglichkeiten, Einfluss auf Uni- nen ausgebildet. In einer Demokratie müsste es versitäten zu nehmen. Ein Einfallstor für Wirt- ALLE INSZENIERTE FOTOS DES TITELS: JOSHUA SCHULTHEIS, FABIAN BENNEWITZ; FOTO FIGUREN MIT WÜRFEL: ADOBE/RICHARD OECHSNER daher selbstverständlich sein, dass Institutio- schaftsinteressen sind dabei die sogenannten nen mit einer solchen Bedeutung auch demo- Stiftungsprofessuren, mit denen sich Christopher kratisch organisiert werden. Das ist in Deutsch- Bohlens in »Ein Trojanisches Pferd im Hoch- land jedoch nur bedingt der Fall. Zwar gibt es schulwesen« (S. 14/15) auseinandersetzt. Die hochschulinterne Gremien, an denen die Grup- Hürde, ihrer Perspektive an den Unis Gewicht pen der Studierenden und Mitarbeiter*innen zu verleihen, ist für Kinder aus Arbeiter*innen beteiligt sind, die Mehrheit haben dort in aller haushalten viel höher. Dabei wäre es für eine Regel aber die Professor*innen. Demokratie besonders wichtig, dass ihre höchs- Warum das nicht so bleiben sollte, erläutert ten Bildungseinrichtungen möglichst die ganze Jella Ohnesorge in ihrem Text »Mehr Hochschul- Gesellschaft abbilden, wie Julia Eichenberg und demokratie wagen!« (S. 10/11). Fabian Bennewitz Martin Lutz in »Allein unter Akademiker*innen« beschreibt in »Studentisches Engagement unter (S. 16/17) argumentieren. Druck« (S. 12/13), wieso sich Studierende immer Abschließend gibt Laura Haßler in »Demokra- weniger an den Hochschulen engagieren und tie braucht gute Arbeitsbedingungen« (S. 20/21) warum es dennoch wichtig bleibt, sich einzu- einen Überblick, welche Freiräume das neue bringen. Wie sich die Beteiligung der Berliner Berliner Hochschulgesetz für mehr Partizipati- Studierenden am Krisenmanagement während on an den Unis schafft – und welche es wieder der Coronapandemie gestaltete, lässt sich in verschlossen hat. Viel Spaß beim Lesen! SEPTEMBER/OKTOBER 2022 | bbz DEMOKRATIE UND HOCHSCHULE TITEL 9
Mehr HochschulDemokratie wagen Die Universitäten gestehen ihren Studierenden kaum Mitspracherecht zu. Wovor haben sie Angst? von Jella Ohnesorge N eun Uhr morgens in Dahlem, Ihnestraße 21, Hörsaal B. Der Institutsrat des Otto-Suhr-Insti- tuts für Politikwissenschaft (OSI) streitet sich zum Obendrein führen sie oft einen Kampf als David gegen Goliath, denn während an der Freien Univer- sität zurzeit 30.000 Menschen studieren, sind nur wiederholten Male um Teilnahmebeschränkungen in um die 400 Hochschullehrer*innen angestellt. Der Seminaren – am OSI der Dauerbrenner hochschulpo- Akademische Senat zum Beispiel, das zentrale Gre- litischer Auseinandersetzung schlechthin. mium der universitären Selbstverwaltung, setzt sich In der Hochschulpolitik geht es oftmals darum, dennoch aus vier Wissenschaftlichen Mitarbeiter*in- mit Ausdauer selbst um kleinste Verbesserungen zu nen (WiMis), vier Sonstigen Mitarbeiter*innen (SoMis), ringen und gleichzeitig aufzupassen, dass einem vier Studierenden und 13 Professor*innen zusam- diese nicht bei nächster Gelegenheit gleich wieder men. Letztere haben also immer eine Stimme mehr abgeknöpft werden. So auch bei Teilnahmebeschrän- als alle anderen Statusgruppen zusammen. Dieser kungen. Es ist Teil der Institutskultur, dass Studie- Proporz ist in allen Gremien mit Entscheidungskom- rende zu Beginn eines neuen Semesters nach ihrem petenz der gleiche. Das war nicht immer so. Interesse in verschiedene Lehrveranstaltungen rein- Während der sogenannten Gruppenuniversität ab schnuppern können. Durch die Online-Lehre war das 1969 in Westberlin konnten durch die Drittelparität erstmal nicht mehr möglich. Nun wird erneut darü- (Professor*innen, Assistent*innen, Studierende) die ber diskutiert, ob man eine Obergrenze der Teilneh- Professor*innen von den anderen Statusgruppen mendenanzahl festlegen soll. Immer wieder können überstimmt werden. Mit dem Hochschul-Urteil von solche Themen neu aufgerollt werden. Die Studie- 1973 wurde dem ein jähes Ende gesetzt. Daher ist renden, welche die Zugeständnisse einst erstritten eine zentrale Forderung der meisten Studierenden- haben, sind dann – im Gegensatz zu den unbefriste- vertreter*innen seit Jahrzenten die sogenannte Vier- ten Hochschullehrenden – oft längst weitergezogen. telparität (Sonstige Mitarbeiter*innen wurden in die Forderung aufgenommen), also eine Aufteilung der Sitze in den Gremien, in der alle Statusgruppen Engagement ist oft frustrierend gleich viele Mandate haben. Im Zuge der Novelle des Berliner Hochschulgesetzes (BerlHG) wurde von Viele frustrierende und vor allem unbezahlte Stun- hauptsächlich studentischer Seite erneut ein Versuch den fließen in so ein Engagement in der Hochschul- angestrengt, die Viertelparität rechtlich zu imple- politik. Nicht jede*r kann sich das leisten. Während mentieren. Leider erfolglos. Professor*innen und anderes etatisiertes Personal einen gewissen Stundensatz an sogenannten Ge- meinschaftsaufgaben (zum Beispiel Gremienarbeit) Professor*innen sind überrepräsentiert als Teil ihrer vertraglich festgelegten Arbeitszeit übernehmen, tun Studierende das nebenher und (bis Jeglicher studentische Vorstoß in Richtung Demokra- auf ein mageres Sitzungsgeld) nicht entlohnt. tisierung (zum Beispiel im Sinne von der Besetzung entscheidungstragender Ämter durch andere als Pro- fessor*innen), wie kürzlich die Kandidatur Janik Be- sendorfs als erster studentischer Vizepräsident der »Die Studierenden führen FU, wird nicht mal vehement bekämpft, sondern le- diglich mit einem Schulterzucken zur Kenntnis ge- oft einen Kampf als nommen. David gegen Goliath.« Diejenigen, die sich für eine demokratische Hoch- schule einsetzen und hochschulpolitisch etwas ver- 10 TITEL DEMOKRATIE UND HOCHSCHULE bbz | SEPTEMBER/OKTOBER 2022
ändern möchten, werden immer weniger. Von der Rudi-Dutschke-Studierendenbewegung, an die man »Die Uni ist für viele mehr bei den Stichworten Hochschulpolitik und FU viel- Durchlaufstation als Ort der leicht denkt, ist nicht mehr viel übrig. Das Desinte- resse der Studierenden an der Hochschulpolitik er- Politisierung.« kennt man wahrscheinlich am deutlichsten an der chronisch niedrigen Wahlbeteiligung (diese lag für die Wahl der studentischen Vertretung im Akademi- schen Senat 2021 bei 1,22 Prozent), aber auch daran, dass fast alle studentischen Hochschulgruppen seit Jahren händeringend nach neuen Mitgliedern suchen. Die Uni ist für viele mehr Durchlaufstation als Ort der Politisierung, mehr zum Ort der Ausbildung als der Bildung geworden. Kein Wunder: Die massive Überrepräsentation der Professor*innen in den Gremien führt zur faktischen Handlungsunfähigkeit anderer Statusgruppen. Wo- vor hat die Uni solche Angst? Die Vorstellung, nur Professor*innen würden an der Uni forschen und lehren, ihre Hochschule formen und seien alleinig von Entscheidungen über ihre Gestaltung betroffen, ist längst nicht mehr zeitgemäß, sofern sie es je war. Eine sich selbst als progressiv und »frei« verstehen- de Universität sollte den Mut haben, alle ihre Mitglie- Jella Ohnesorge, der in wichtige Entscheidungen einzubeziehen, und Studentin der Politikwissenschaften darauf zu vertrauen, dass eine Einigung durch Ver- an der FU Berlin und Mitglied nunft gefunden werden kann. der Fachschaftsinitiative Deshalb: Mehr Hochschuldemokratie wagen! Otto-Suhr-Institut (FSI OSI) SEPTEMBER/OKTOBER 2022 | bbz DEMOKRATIE UND HOCHSCHULE TITEL 11
Studentisches Engagement unter Druck Studierende bringen sich an Hochschulen immer weniger ein. Was sind die Gründe dafür? Und warum ist es dennoch wichtig, die eigene Meinung zu vertreten? von Fabian Bennewitz F achbereichsrat, Kapazitätsverordnung, Hoch- schulgesetznovellierung und noch mit vielen wei- teren trockenen, nicht selbsterklärenden Begriffen tischen Geschehen mit 42 Prozent angegeben. Gleichzeitig geht das Interesse an der studentischen Selbstverwaltung und den politischen Gremien der ist man als Studierende*r konfrontiert, wenn man Hochschule kontinuierlich zurück und war 2017 auf heutzutage versucht, sich im Dschungel der Hoch- einem Tiefststand mit 32 Prozent beziehungsweise schulpolitik zurechtzufinden. Die Realität heutiger 22 Prozent. Das weist darauf hin, dass die soziale studentischer Hochschulpolitik besteht zu einem Identität als Studierende*r nicht mehr den Rahmen »Das politische wesentlichen Teil aus Gremienarbeit, sei es in denen für Engagement bildet, wie sie es etwa vor 30 Jahren Interesse von der studentischen oder der akademischen Selbstver- noch getan hat. Dies zeigt sich auch daran, dass waltung. Dies hat häufig wenig zu tun mit den rebel- man sich, wenn man politisch interessiert ist und Studierenden lisch anmutenden Aktionen vergangener Tage wie sich ehrenamtlich engagieren möchte, immer häufi- ist nicht per se Streiks, Institutsbesetzungen und Demonstrationen, ger in Vereinen, Initiativen und Gruppen außerhalb die immer weniger zu werden scheinen. Der trocke- der Hochschule engagiert ist, die dann keineswegs niedrig.« ne Alltag der Gremienarbeit mag auch ein Grund explizit studentisch geprägt sind. sein für das niedrige Interesse an Hochschulpolitik. Doch auch das, was Studierende an der Hochschu- Doch was sind strukturelle Gründe, die Studierende le machen, wenn sie sich politisch organisieren, ist davon abhalten, sich politisch im Raum Hochschule etwas komplexer als die reine Beteiligung in vorge- einzubringen? gebenen Strukturen wie den klassischen Gremien. Besonders interessant ist, dass das politische In- Studentische Politik ist einerseits Klientelpolitik für teresse von Studierenden nicht per se niedrig ist. So Studierende, in der klassisch für bessere Studienbe- wurde 2017 im Studierendensurvey des Bildungsmi- dingungen gestritten wird. Daneben stehen anderer- nisteriums für Bildung und Forschung das Interesse seits, leider meist ohne direkte Vermittlung zuein- von Universitätsstudierenden am allgemeinen poli- ander, allgemeinpolitische Aktionen und Veranstal- 12 TITEL DEMOKRATIE UND HOCHSCHULE bbz | SEPTEMBER/OKTOBER 2022
tungen ohne Hochschulbezug, wie etwa für eine »Man sollte daran festhalten, dass gerechtere Klimapolitik oder die Enteignung großer Wohnungskonzerne. Allgemeinpolitisches kann auch die Hochschulen Orte sind, an denen das seine Entsprechung in der Hochschulpolitik finden, Potenzial für kritische Reflexion und wenn man sich etwa für eine Klimaneutralität der eigenen Hochschule einsetzt. Trotzdem stecken bei- ein Erkämpfen von Freiräumen besteht.« de Formen der studentischen Politik in der Krise und die Zeiten, in den von Hochschulen und der Studie- rendenschaft politische Impulse ausgingen, schei- und die Quote an Abbrecher*innen dabei niedrig ist. nen schon länger vorbei zu sein. Anschaulich dafür Andererseits ist es für viele Berufe, die man nach einer steht die Fridays For Future (FFF)-Bewegung, die von Hochschulausbildung ausübt, wichtig, Flexibilität, Schüler*innen ausging und zum Großteil von ihnen Selbstständigkeit oder auch Kreativität mitzubrin- getragen wurde. Die an deutschen Hochschulen gen. Hierin zeigt sich die Widersprüchlichkeit, denn nachträglich gegründeten FFF-Gruppen konnten bei der Bildung von kreativen, selbst denkenden nicht ansatzweise so viele Menschen mobilisieren. Menschen – wenn auch nur im funktionalen Sinne – braucht es Allgemeinbildung und Grundlagenfor- schung. Kurzum, es braucht Freiräume im Studium, Die Hürden sind strukturell um die flexibilisierten Absolvent*innen zu bekommen, die gebraucht werden. Dies widerspricht den oben Ein wesentlicher Grund für den Rückgang im (hoch- beschriebenen Tendenzen zur Verdichtung, Verkür- schul-)politischen Engagement stellen die struktu- zung und Standardisierung des Studiums, die sich in rellen Bedingungen für das Studium dar. Die Situati- den letzten 20 Jahren herausgebildet haben. on von Studierenden im Bachelor-/Master-System ist Das Lehramtsstudium hat dabei eine eigene Stel- in der Regel von einer Verdichtung des Studiums, lung, gerade in Berlin, wo Lehrkräfte dringend ge- erhöhtem Leistungsdruck und verknappten zeitli- braucht werden. Auch hier gibt es den Widerspruch chen, inhaltlichen und physischen Freiräumen ge- zwischen dem Bedarf an möglichst vielen, schnell prägt. Dazu kommt eine im Vergleich zum Diplom- erworbenen Abschlüssen und einer guten pädagogi- studium eher kurzfristige Bleibeperspektive an der schen Ausbildung. Brauchen wir einfach nur viele Hochschule, die durch Auslandssemester, Hoch- Lehrkräfte, die ihre Fachgrundlagen beherrschen schulwechsel oder Abgang nach dem Bachelor zu- und den Lehrplan abarbeiten können, oder sollen da sätzlich unterbrochen und eingeschränkt wird. Zu- auch reflektierte Personen vor einer Klasse stehen, dem ist das Studium in der Regel von einem Über- die beispielsweise demokratische Mitbestimmung maß an Prüfungen strukturiert, die im Zusammen- nicht nur aus Textbüchern kennen? Zur Debatte um spiel mit teilweise sehr strikten Modulsystemen und die Lehrkräfteausbildung sei die vorherige Ausgabe Leistungspunktevergaben das Gegenteil von Muße der bbz mit dem Schwerpunkt »Mehr Lehrkräfte gut und Reflexion erzeugen. ausbilden« empfohlen. An der wichtigen Ressource Zeit mangelt es in der Gerade wegen der Widersprüchlichkeit des Studi- Folge nicht nur für das Studium, sondern auch für ums sollte man an der Überzeugung festhalten, dass ein über die Grenzen der Lehrpläne hinausgehendes die Hochschulen Orte sind, an denen zumindest das kritisches Hinterfragen der Verhältnisse, sowohl an Potenzial für kritische Reflexion und ein Erkämpfen der Uni als auch in der Gesellschaft. Auch mangelt es von Freiräumen besteht. Ein Weg, die schwierigen an Zeit, sich praktisch in der Hochschulpolitik zu en- strukturellen Bedingungen ernst zu nehmen, wäre gagieren – zum Beispiel auf Treffen zu gehen, sich in es, an langfristigen politischen Strukturen zu arbei- Themen einzuarbeiten, Veranstaltungen und Aktionen ten, auch abseits der vorgefertigten Strukturen von Juli/August-Ausgabe zu planen und umzusetzen. Die Hürde für (hoch- Studierendenparlament und Allgemeinen Studieren- der bbz mit dem Schwer schul-)politisches Engagement oder wenigstens eine denausschüssen. So könnte eine Wissensweitergabe punkt »Mehr Lehrkräfte gut ausbilden«: Beteiligung an laufenden Debatten ist dadurch noch und Kontinuität über verschiedene Studierendenge- ein Stückchen höher gerückt, als sie ohnehin schon nerationen ermöglicht werden und Initiativen und ist. Zeitgleich steigen die Wohn- und Lebenshal- Gruppen müssten nicht jedes Mal aufs Neue gegrün- tungskosten immer weiter, was Zeit und Kapazitäten det oder wiederbelebt werden. Den Raum Hochschule für politisches Engagement nicht gerade begünstigt. als politisches Feld aufzugeben, wäre fatal und würde ignorieren, dass viele der heute noch bestehenden FOTO: ADOBE STOCK/SUTEREN STUDIO Freiräume Ergebnisse vergangener Kämpfe sind. Widersprüche und Möglichkeiten Hochschulen sind trotz alldem oben Beschriebenen Fabian Bennewitz, Student der Sozial auch widersprüchliche Institutionen. Einerseits ist wissenschaften an der HU und studen es erklärtes Ziel, etwa auch von der geldgebenden tischer Mitarbeiter im Öffentlichkeits Seite der öffentlichen Hand, dass möglichst viele bereich der GEW BERLIN hochqualifizierte Arbeitskräfte produziert werden SEPTEMBER/OKTOBER 2022 | bbz DEMOKRATIE UND HOCHSCHULE TITEL 13
Ein Trojanisches Pferd im Hochschulwesen Stiftungsprofessuren haben in Deutschland eine lange Tradition und sollen eine Brücke zwischen Wirtschaft und Wissenschaft bauen. Die Praxis zeigt allerdings, dass sich dadurch vor allem wirtschaftliche und staatliche Akteur*innen Einfluss sichern von Christopher Bohlens D as Servicezentrum Stiftungsprofessuren, eine Initiative des Stifterverbandes (mit einem Ge- samtetat von 44 Millionen Euro) hat das erklärte Ziel, Stiftung (finanziert durch Lidl und Kaufland) geför- dert wurde. 20 Stiftungsprofessuren im Bereich der Wirtschaftswissenschaften wurden auf Lebenszeit eine Brücke zwischen Wissenschaft und Wirtschaft eingerichtet. Eine Investition mit einem dreistelligen zu bauen. Von den bundesweit rund 800 Stiftungs- Millionenbetrag. lehrstühlen wurden mehr als 500 durch den Stifter- Unternehmen finanzieren über Stiftungsprofessu- verband für insgesamt 11,6 Millionen Euro einge- ren Forschung in für sie relevanten Bereichen und richtet. In der Regel beträgt die Dauer der Förderung binden damit indirekt auch zukünftige spezialisier- fünf Jahre, aber auch bis zu zehn Jahre sind mög- te Arbeitnehmer*innen an sich. Stiftungsprofessuren lich, anschließend werden die Stiftungsprofessor*in- können das Image des Unternehmens erheblich ver- nen oftmals von den Universitäten übernommen. bessern. Durch die enge Bindung der Hochschule an Nach der Übernahme fällt oft die Kennzeichnung die jeweilige Stiftung – und damit die Wirtschaft – weg, so wird erschwert, ehemalige Stiftungsprofes- können vor allem aber auch Wechselverhältnisse suren auf einen Blick zu erkennen. und Interessenkonflikte entstehen, die im Sinne von Stiftungsprofessor*innen kamen erstmals in den Freiheit und Unabhängigkeit der Wissenschaft kri- 1980er Jahren auf. Zwei Grundsätze kennzeichnen tisch gesehen werden müssen. diese Professuren: Zum einen verständigen sich Hochschule und Fördernde gemeinsam auf ein For- Chinas Geld an deutschen Unis »Unabhängige Selbst schungsfeld, allerdings nehmen die Fördernden In der Vergangenheit gab es immer wieder Fälle, in verwaltung, Forschung und keinen Einfluss auf die denen die Geldgeber*innen aus der Wirtschaft sich Lehre sind ein essenzielles Forschung, Lehre und Ver- auf diesem Weg weitreichenden Einfluss auf die Ver- demokratisches Grundrecht.« öffentlichung der Ergeb- waltung der Universitäten sicherten. So hatte die nisse. Zum anderen haben Boehringer Ingelheim Stiftung unter anderem um- die Stiftungsprofessor*in- fangreiche Mitspracherechte bei der Berufung von nen die gleichen Rechte Professor*innen an der Universität Mainz. An der und Pflichten wie jede Humboldt-Universität und an der TU Berlin wurden Professur. Die Ausschrei- 2006 zwei Professuren durch die Deutsche Bank ge- bung und Berufung er- stiftet. Dabei kam fünf Jahre später heraus, dass der folgt nach demselben Ver- Deutschen Bank Mitspracherecht gegeben worden fahren. Sie wirken an der war – bei Lehre, Forschung und auch bei Personalan- akademischen Selbstver- gelegenheiten. An der Universität Erlangen-Nürnberg waltung mit und sind Mit- bekam der Audi AG Personalvorstand nach Ausschei- glieder in entscheidenden den aus dem Unternehmen eine Stiftungsprofessur. Hochschulgremien. Später übernahm ihn die Universität. Diese Beispiele verdeutlichen, dass mit den Stif- tungsprofessuren Trojanische Pferde in die Hoch- Wirtschaft hebelt Hochschuldemokratie aus schulen gelangen. Ein anderes Beispiel dafür ist der Einfluss durch staatliche Akteur*innen. Ein Beispiel für eine solche Zusammenarbeit zwi- 2019 warnte die FDP-Fraktion im Bundestag, dass schen Hochschulen und Wirtschaft ist die German der chinesische Staat mit Kulturinstituten Einfluss Graduate School of Management and Law in Heil- auf deutsche Hochschulen ausübe. 19 dieser soge- bronn, die als staatlich anerkannte private Fachhoch- nannten Konfuzius-Institute existieren mittlerweile. schule von 2006 bis 2011 von der Dieter-Schwarz- Sie werden durch das Erziehungsministerium in China 14 TITEL DEMOKRATIE UND HOCHSCHULE bbz | SEPTEMBER/OKTOBER 2022
Unter transparenzranking.de ist ein Vergleich der Informationsfreiheits- und Transparenzgesetze in Bund und Ländern zu finden. betreut, welches mit der Propaganda-Abteilung der Kommunistischen Partei Chinas in Verbindung steht. Zeitraum der Kooperationen die Öffentlichkeit über Ziele, der Zu- »Stiftungsprofessuren Unabhängige Selbstverwaltung, Forschung und sammenarbeit, die Organisation können das Image des Lehre sind ein essenzielles demokratisches Grund- der Partnerschaft und über ge- Unternehmens erheblich recht. Durch Zuwendungen aus China wird dieses meinsame große Vorhaben, wie gefährdet – da diese Finanzspritzen teils zu Zensur, die Einrichtung von Studiengän- verbessern.« Selbstzensur oder ethisch fragwürdigen Kooperati- gen oder Stiftungsprofessuren, onen führen. berichten. Im Ergebnis lässt sich Später kam durch Recherchen des Tagesspiegels allerdings festhalten, dass diese selbstauferlegten heraus, dass die FU Berlin sich das Gehalt (500.000 Transparenzpflichten nicht immer funktionieren. Euro) einer Professorin aus China bezahlen lässt. An Wegen der möglichen Einflussnahme durch die der Universität Göttingen sogar zwei Professor*in- Mitfinanzierung der Wirtschaft fordert Transparency nen. Die FU Berlin musste sich dafür chinesischem International Deutschland von allen öffentlichen Recht unterwerfen, weil in dem Vertrag ein Rück- Hochschulen, die Veröffentlichung der Förderverträ- trittsrecht ohne Frist von China vereinbart wurde. ge mit Unternehmen, Nennung der Sponsor*innen Der Vertrag wurde später nachverhandelt, nachdem oder Spender*innen mit der Höhe ihrer Zuwendun- es zur öffentlichen Diskussion gekommen war. Viele gen und Offenlegung aller Stiftungsprofessor*innen Hochschulen überprüften ihre Kooperation und Ver- oder Beteiligungen von Stiftungen. Ebenso sollten bindungen mit den Konfuzius-Instituten und stellten alle wissenschaftlichen Ergebnisse unabhängig von teilweise die Zusammenarbeit ein. der Interessenlage der Förder*innen öffentlich zu- gänglich gemacht werden. An die Politik wird appelliert, die Hochschulfinan- Mehr Transparenz notwendig zierung so weit zu stärken, dass die Hochschulen nicht in ihrer qualifizierten Arbeit von externen Die Recherche von David Missal zum Der Student und Journalist David Missal startete zu Geldgeber*innen mit Wirtschaftsinteressen abhängig Einfluss Chinas an dem Thema eine Initiative, um der Frage nachzuge- werden. Sonst wird die Unabhängigkeit und Trans- deutschen Universitäten: hen, ob es an anderen Hochschulen ähnlich fragwür- parenz der Forschung zum Nachteil eines neutralen unis.davidmissal.de dige Konstellationen gibt. Unter Zuhilfenahme des wissenschaftlichen Fortschritts immer weiter gefähr- Informationsfreiheitsgesetzes (kurz: IFG) fragte er det. Darunter würde auch die internationale Reputa- die Kooperationen der Hochschulen an. Problema- tion der deutschen Wissenschaft leiden, die bisher tisch zeigte sich in der Recherche, dass die Hoch- als stark unabhängig verstanden wird. FOTO: ADOBE STOCK/SEVENTYFOUR schulen teilweise aus den Informationsfreiheitsge- setzen der Länder ausgenommen sind. Aus diesem Grund sind nur wenige Projekte öffentlich bekannt. Empfehlungen des Stifterverbandes zur Transpa- Christopher Bohlens renz bei strategischen Partnerschaften und Stif- leitet die Arbeitsgruppe Wissenschaft tungsprofessuren gibt es, auch wenn in einigen bei Transparency International Punkten eine Definition fehlt. Dazu sollen die Hoch- Deutschland e.V. schulen und die Unternehmen über den gesamten SEPTEMBER/OKTOBER 2022 | bbz DEMOKRATIE UND HOCHSCHULE TITEL 15
Allein unter Akademiker*innen Dass an deutschen Unis immer noch sehr wenige Menschen aus Nichtakademiker*innen familien studieren, ist ein Problem für unsere Demokratie. An der Humboldt Universität setzt sich das Netzwerk »Seid Ihr die Ersten?« für mehr Unterstützung ein von Julia Eichenberg und Martin Lutz W as bedeutet es für eine Demokratie, wenn Kin- der aus Nichtakademiker*innenfamilien an Universitäten so deutlich unterrepräsentiert sind Erschwerend kommt hinzu, dass an deutschen Universitäten und Hochschulen viel zu wenig Unter- stützungsangebote für diese »Ersten« zur Verfügung wie in Deutschland? Dies ist kein Versuch einer wis- stehen, sodass sich der unselige Zusammenhang senschaftlichen Antwort, sondern ein Bericht über zwischen sozialer Herkunft und Bildungsmisserfolg Probleme im universitären Alltag der Geschichtswis- auch nach Aufnahme eines Studiums fortsetzt. senschaften. Der letzte Bildungsbericht des Centrums für Hoch- schulentwicklung von 2022 zeichnet ein düsteres Die Elite unter sich Bild der Gesamtsituation. Jugendliche, deren Eltern keinen Hochschulabschluss erworben haben, ent- In Deutschland reproduzieren sich die Eliten also in scheiden sich auch mit eigener Hochschulreife weit- hohem Maße selbst, und verhindern – ob absichtlich aus seltener für ein Studium als Kinder aus Akade- oder unbewusst – sozialen Aufstieg durch Bildung, miker*innenfamilien. was wiederum zentral für politische Teilhabe ist. Das zeigt sich allein daran, dass die überwältigende Mehrheit der Bundestagsmitglieder über einen Hoch- schulabschluss verfügt. In den Bundesländern, in »Die überwältigende Mehrheit der der Ministerialbürokratie, in Verbänden und bei po- Bundestagsmitglieder verfügt über litischen Parteien dürfte es ähnlich aussehen. Die Idee der Demokratie, ihre Definition und Um- einen Hochschulabschluss.« setzung werden in der Geschichtswissenschaft dis- kutiert, durchaus auch kontrovers. Doch wie geht die 16 TITEL DEMOKRATIE UND HOCHSCHULE bbz | SEPTEMBER/OKTOBER 2022
Geschichtswissenschaft jenseits eines Forschungsin- gemacht. Seit über 15 Jahren existiert zum Beispiel teresses mit der Demokratie um? Wie demokratisch das Netzwerk arbeiterkind.de und versucht, Kindern ist das Geschichtsstudium in Deutschland? aus Nichtakademiker*innenfamilien vor und wäh- In der Theorie ist der Zugang zum Studium der rend des Studiums dringende Unterstützungsange- Geschichtswissenschaften völlig demokratisch ge- bote anzubieten. regelt. Das Studium steht allen Interessierten offen Aus diesem Kontext heraus wurde im Jahr 2013 und ist sogar nur an wenigen Hochschulen zulas- unter anderem von Lehrenden und Studierenden am sungsbeschränkt. Im Alltag zeigt sich jedoch, dass Institut für Geschichtswissenschaften der HU Berlin eine Selektion unmittelbar wahrzunehmen ist. eine Art Ableger gegründet: die Initiative »Seid Ihr Auffällig wenige Studierende mit nichtdeutschem die Ersten?«. Ziel war es, ein Unterstützungsformat Hintergrund wählen das Studienfach, selbst in Städ- zu entwickeln, welches geisteswissenschaftliche Ar- ten wie Berlin. Das Studium beruht weitestgehend beitsmethoden in den Mittelpunkt stellt und Sicht- auf Arbeitstechniken, die eine hohe Selbständigkeit barkeit vor Ort schafft. und Disziplin verlangen. Zugleich werden viele An- Die Mitglieder geben ihre Erfahrungen weiter, bie- forderungen nicht explizit definiert, da sie scheinbar ten Unterstützung an und vermitteln Hilfsangebote. selbstverständliche Fähigkeiten sind. Zum Beispiel Ein sehr erfolgreiches Format ist der Hausarbei- wissenschaftliches Lesen, Schreiben und Sprechen. ten-Workshop und ein regelmäßig stattfindendes So etwas kann man halt, und wem es nicht leichtfällt, Seminar zu wissenschaftlichem Schreiben. der*die sei zum Studium vielleicht einfach nicht ge- Zentral ist auch die Aufklärungsarbeit. Vielleicht eignet, so lautet oft die unterschwellige Botschaft. noch stärker als in anderen Fächer ist die Geschichts- Jedoch sind diese Fähigkeiten mitnichten selbst- wissenschaft eine Bastion bil- verständlich oder gar eine Begabung, sondern er- dungsbürgerlicher Exklusivi- lernbare Arbeitstechniken: zeiteffizientes Lesen und tät. Es gilt hier auch Überzeu- »Wir brauchen dringend das Exzerpieren der relevanten Informationen aus gungsarbeit nach innen zu dichten wissenschaftlichen Texten, das Formulieren leisten, dass auch in diesem mehr Studierende aus Nicht von Thesen, Meinungen und Argumentationen als exklusiven Fach soziale Diver- akademiker*innenfamilien.« Text oder als mündlicher Vortrag. sität dringend nötig ist. Diese Techniken sind Studierenden aus Akademi- ker*innenhaushalten oft so geläufig wie ihren Dozie- renden, sodass es keiner großen Erklärung bedarf. Geschichte braucht soziale Diversität Gegebenenfalls lässt sich eine Frage an die Eltern stellen, die im Idealfall sogar im Fach sattelfest sind Unsere heutigen Studierenden sind die Forscher*in- oder zumindest Erfahrung mit wissenschaftlichem nen von morgen, die dringend zu neuen Themen wie Arbeiten haben. Migration, Ungleichheit und sozioökonomische Teil- Fehlt diese Rückendeckung zu Hause, kann schnell habe arbeiten müssen. Auch bilden sie die Ge- der Eindruck entstehen, es handele sich um fehlen- schichtslehrer*innen von morgen aus, die in einer des Talent, ohne welches das Studium zum Scheitern mittlerweile stark migrantisch geprägten Gesell- verurteilt sei. Die strukturellen Probleme im deut- schaft vor der Herausforderung stehen, deutsche schen Hochschulwesen (große Personalfluktuation Geschichte im Kontext anderer Erfahrungshorizonte und überfüllte Seminare) führen dazu, dass insbe- zu vermitteln. sondere Studierende mit nichtakademischem Hinter- Kulturelle und soziale Sensibilität sind hierfür ei- grund die notwendige Betreuung bei der Erstellung ne zentrale Voraussetzung. Eine Studierendenschaft, von wissenschaftlichen Arbeiten und oder Referaten die diverse soziale, ethnische oder andere Her- nicht erhalten. Das führt dann zu Verzweiflung und kunftskontexte abbildet, ist daher unbedingt nötig unter Umständen zum Abbruch des Studiums. für die Integration aller gesellschaftlichen Gruppen Auslandsaufenthalte und die Studiendauer sind in das politische Gemeinwesen und leistet einen Bei- unter diesen Umständen nicht von persönlichen Ent- trag für die Sicherung der Demokratie. Wir brauchen scheidungen abhängig, sondern von den Möglichkei- dringend mehr Studierende aus Nichtakademiker*in- ten, diese zu finanzieren. Das kratzt am Selbstbe- nenfamilien. Die Universitäten müssen die nötigen wusstsein und führt in der weiteren wissenschaftli- Ressourcen bereitstellen, um diesen Studierenden chen Karriere zu weiterer sozialer Unsicherheit, auch den Studienabschluss zu ermöglichen. weniger nützlichen Kontakten oder der voreiligen Aufgabe von Drittmittelanträgen. Julia Eichenberg, Forschungsprojektleiterin an der Universität Bayreuth, zuvor an der HU und dort Arbeiter*innenkinder organisieren sich Mitglied der Initiative »Seid Ihr die Ersten?«; Martin Lutz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am An den Universitäten wurde dieses Problem lange Institut für Geschichtswissenschaften der Zeit nicht als solches wahrgenommen. Erst durch HU Berlin und Gründungsmitglied der Initiative engagierte Betroffene wurde das Thema öffentlich »Seid Ihr die Ersten?« SEPTEMBER/OKTOBER 2022 | bbz DEMOKRATIE UND HOCHSCHULE TITEL 17
Partizipation in der Krise In Berlin wurden Studierende zwar in die Bewältigung der Coronapandemie mit einbezogen. Echte Hochschuldemokratie muss dennoch anders aussehen von Gabriel Tiedje D ie Coronapandemie hat für den Alltag an den Hochschulen bedeutende Einschnitte mit sich gebracht. Präsenzlehre wurde lange ausgesetzt und verlängert. Forderungen, die von einer professoralen Mehrheit in vielen Universitäten erst mal abge- schmettert wurden. unvorbereitete Onlinelehre hielt stattdessen Einzug. Die Studierenden wurden in dieser Zeit nur minimal entlastet und diejenigen Entscheidungen, die für sie Demokratie fängt unten an tatsächlich eine Entlastung waren, wurden nicht an der Uni, sondern an anderen Stellen getroffen. Man könnte jetzt sagen: Die Demokratie hat funkti- Die Coronapandemie hat für die Hochschulen da- oniert. Die Studierenden wurden sowohl auf Landes- her auch eine demokratische Krise bedeutet. Die ebene als auch auf Hochschulebene eingebunden. universitären Entscheidungsstrukturen waren durch Sie konnten ihre Forderungen für den Umgang mit die Notwendigkeit, schnell drastische Maßnahmen der Krise gut platzieren und am Ende konnten diese zur Eindämmung der Pandemie zu ergreifen, stark sich sogar auf der landespolitischen Ebene mit ih- herausgefordert. Am Beispiel von Berlin soll in diesem rem Argument durchsetzen. Aber ganz so einfach ist Text gezeigt werden, wie gut dabei die Studierenden es nicht, wenn man sich fragt, wie es um die Demo- in die Bewältigung der Krise einbezogen wurden, wie kratie bestellt ist. Demokratie fängt nämlich nicht demokratisch dies ablief und was wir daraus für erst im Abgeordnetenhaus oder auf Senatsebene an, künftige Krisen lernen können. sondern in der Hochschule. Wir als Studierendenvertretungen in Berlin konn- Leider muss man zu dem Ergebnis kommen, dass ten in der Zeit der Pandemie gut beobachten, wie es trotz dieser Einbindung auf der Krisenstabsebene das Krisenmanagement funktioniert und unseren um die Demokratie in der Krise ziemlich mau aus- Einfluss bei der Bewältigung der Krise geltend ma- sieht. Die Krisenstäbe hatten eher den Charakter chen. An der Technischen Universität Berlin und an eines Briefings. Die Verwaltung saß mit am Tisch, an der Hochschu- manchen Hochschulen die Dekanate. Personalräte le für Technik und Studierendenvertretungen (welche ja auch nur und Wirtschaft an zwei Hochschulen wirklich mit einbezogen wur- »Die Corona-Krisenstäbe waren wir ein- den) saßen nur am Tisch, um die Legitimität zu stär- hatten eher den Charakter gebunden in ken und um potenziellen Ärger durch ihre Einbin- den Krisenstab dung zu verhindern. Vorschläge wurden zwar disku- eines Briefings.« der Hochschu- tiert, aber häufig unter Vorbehalte gestellt. Ein be- len – nachdem liebter Einwand war das fehlende Einverständnis wir als Studie- durch das Land Berlin – andere Forderungen wurden rendenvertretungen darauf insistieren mussten. An von den Hochschulleitungen erst gar nicht an das anderen Hochschulen gab es zwischen Studieren- Land Berlin herangetragen. denvertretungen und Hochschulleitungen nur ein Häufig hat man darauf gewartet, dass die Landes- Jour Fixe. Auch auf Landesebene haben wir Studie- politik einem sagt, was man jetzt tun soll. Aber auch rendenvertretungen gefordert, in die Gespräche zu die Landesebene wartete darauf, was der Bund sagte. Corona einbezogen zu werden. So wurde aus einem Verantwortung wurde so immer wieder hin- und her- jährlichen Treffen mit dem Staatssekretär für Wis- geschoben und die meisten Maßnahmen, die getrof- senschaft Steffen Krach eine wöchentliche Telefon- fen wurden, waren von oben durchgereichte Maß- konferenz. In diesem Rahmen konnten viele studen- nahmen. An diesen wurde hier und da noch etwas tische Forderungen für den Umgang durchgesetzt geschraubt, aber auch auf Landesebene gab es eine werden – auch wenn es auf der Ebene der Universi- gewisse Hilfslosigkeit. tät, im Unterschied zum Bundesland, keine Mehrheit Diese hat sich in einer Anhörung im Abgeordne- dafür gab. tenhaus gezeigt, in welcher ich von den Problemen, So konnte durch unsere politische Arbeit auf Lan- die Studierende haben, berichten durfte. Nachdem desebene durchgesetzt werden, dass alle Prüfungen ich mit der Auflistung der Probleme fertig war, frag- Freiversuche waren. Eine enorme Entlastung für vie- te eine Abgeordnete sichtlich hilflos angesichts der le Studierende. Auch Fristen für Abgaben wurden Probleme: »Was können wir denn tun?« Mein Vor- 18 TITEL DEMOKRATIE UND HOCHSCHULE bbz | SEPTEMBER/OKTOBER 2022
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