Rock-Lexikon 2 Siegfried Schmidt-Joos, Wolf Kampmann - Leseprobe aus: Rowohlt
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Leseprobe aus: Siegfried Schmidt-Joos, Wolf Kampmann Rock-Lexikon 2 Copyright © 2008 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
M Mabry, Betty → Davis, Miles um in Madness, nach einem Song des Ska-Stars Prince Buster, dem sie ihre erste Single auf dem (The) Madness gaben sich im Gruppennamen, 2-Tone-Label der Specials widmeten. Mit Chas in Outfits und Make-up wie eine New Wave- Smash (voc), bürgerlich: Cathal, später Carl Band und inszenierten ihre Songs mit Sponti- Smyth, geb. am 14. Januar 1959 in London, der Attitüde. Dabei reicherten sie ihre Sound-Mix- sich bei einem Konzert als flotter Sprücheklop- turen aus Ska, instinktsicher nachgeahmtem fer einfach zu ihnen gesellt hatte, brachten sie altertümlichem Pop, Rhythm & Blues und for- bis 1986 bei Stiff Records 21 Top Twenty-Hits, schen Sozialsatiren ohne politischen Tiefgang darunter My Girl, Baggy Trousers, Grey Day, mit Klamauk aus der reichen britischen Music It Must Be Love, House Of Fun, Our House, Hall-Tradition an. Dieser «nutty sound» stellte heraus, die «dazu beitrugen, Pop als Kunstform «die Exzentrizität, den Pomp und die Schat- wiederzubeleben, und sie auf ihrem Sektor als tenseiten der englischen Mentalität» (‹New Giganten etablierten» (‹NME›). Madness-Mu- Musical Express›) bloß, schlug aber stets ver- sik war eine «elektrisierende Verbindung von söhnliche Töne an: «Sie betrachteten die Ab- Sinn und Unsinn, Nichtsnutzigkeit und Nach- surditäten des Lebens mit einem Lächeln in den denklichkeit, Puls und Impuls. Musik für Hirn, Mundwinkeln und nicht mit einem rasiermes- Hände und Füße. Und fürs Herz» (‹Melody serscharfen Sezierblick» (‹Melody Maker›). Maker›). Die «Rock & Roll-Commedia dell’ Oder, mit den Worten von Arne Willander im arte» (‹Rolling Stone›) verlor jedoch zuneh- deutschen ‹Rolling Stone›: «Madness sangen mend ihren pubertären Übermut. Seit dem von Beutelhosen und Unfug auf dem Schulklo, Album 7 (1981) beklagten sie mit eher me- von Mädchen und Sportkameradschaft, vom lancholischem Humor «den gesunkenen Geist Saufen und Auf-die-Glocke-Hauen. Insofern der Britannica» (‹The Face›), wandten sich in waren sie universal.» Chris Foreman (g), gebo- Stücken wie Blue Skinned Beast gegen den ren am 8. August 1958, Mike Barson (kb), geb. Hurrapatriotismus nach dem Falklandkrieg am 21. Mai 1958, und Lee Thompson (sax), geb. und stimmten auf Alben wie The Rise And Fall am 5. Oktober 1957, alle in London, spielten einen «Trauergesang» an «auf das England, seit 1976 in der Band Morris & The Minors, das Thatchers Tories ausnutzen und ausbeu- taten sich 1978 mit Graham «Suggs» McPher- ten» (‹NME›). Songs wie Grey Day und Our son (voc), geb. am 13. Januar 1961 in Hastings, House zeichneten aber auch ein Bild des briti- Sussex, Mark Bedford (bg), geb. am 24. August schen Kleinbürgerlebens, wie es seit den Kinks 1961 in London, Dan Woodgate (dr), geb. am kaum eine Rockgruppe vermocht hatte. Die 19. Oktober 1960 in London, zu The Invaders einst als vermeintliche Lieblingstruppe rechts- zusammen und tauften sich 1979 schließlich radikaler Jugendlicher gescholtenen Cockney-
1036 (THE) MADNESS Musiker wurden Ende 1983 hart getroffen, das mit sechs anderen Bands zum vierten Mal als Gründungsmitglied Barson genug von der stattfand. Diesmal beschloss das in Original- Madness hatte und mit seiner holländischen besetzung wiedervereinigte Madness-Sextett Frau nach Amsterdam zog. Die Single Ghost nicht nur einen weiteren Oldies-Sampler, The Train markierte mit dem Fortgang Bedfords Heavy Heavy Hits (1998), sondern auch eine und Woodgates das vorläufige Aus für die in neuerliche USA-Tournee mit CD-Mitschnitt die Jahre gekommenen Spaßvögel. Mark Bed- in Kalifornien: Universal Madness: Live In ford und Daniel Woodgate wurden zunächst Los Angeles (1998). Des großen Erfolgs wegen von Strawberry Switchblade eingefangen und wurde beides, US-Tournee und CD-Produk- schlüpften dann bei der Band Voice of the Bee- tion, 1999 wiederholt. Nach der Madness-Party hive unter. 1988 versuchten McPherson, Smyth, im New Yorker Irving Plaza im Mai titelte Foreman, Thompson als Quartett The Madness Jon Pareles in der ‹New York Times›: «The einen neuen Anfang und boten ein Album, das Songs Are Sad but the Beat Is Glad». Es war schwermütig von zerbrochenen Beziehungen, die alte 2-Tone-Mischung aus Scherz, Ironie Trennungsschmerz, privater Frustration und und tieferer Bedeutung, die dann auch in den vergeudetem Leben handelte. ‹City Limits› neuen Liedern des vom eingeführten Produ- hielt den Comeback-Versuch für pure Mad- zententeam Clive Langer/Alan Winstanley be- ness: «Indem sie ihren alten Namen wiederauf- treuten Albums Wonderful (1999) überzeugte: leben ließen, haben sie sich an eine Geschich- «Bei Madness passiert immer alles auf einmal te gekettet, die eigentlich ein abgeschlossenes – Streicher, Klavier, Bläser und tausend kleine Kapitel hätte bleiben müssen. Ghost Train wäre Sound-Effekte, die vor dem geistigen Auge ei- das ideale letzte Wort gewesen, ein Nachruf nen Zirkus auffahren. Glamouröses Kopfkino auf die Kunst, Singles zu machen, und auf den voller Stars und Attraktionen, immer an der Vaudeville-Pop.» Die für Madness-Verhältnis- Grenze zum Kitsch und zur Selbstparodie, das se ungewohnte Erfolglosigkeit der Platte führ- vor keiner Groteske zurückschreckt, weder te zum baldigen Bruch der reformierten Band. Bombast noch Hörspieleinlagen scheut und Die Musiker blieben der Popwelt erhalten: ganz einfach riesigen Spaß macht» (Marcel An- Suggs im Umkreis von The Farm und Morris- ders im ‹Musikexpress›). Ihre alten Songs wa- sey; Woodgate arbeitete weiter mit der Mäd- ren inzwischen zu Klassikern geworden: 1993 chengruppe Voice of the Beehive zusammen, hatte in London das von Alan Gilbey verfasste Thompson und Foreman gründeten The Nutty Musical ‹One Step Beyond› Premiere – um 15 Boys. 1992 kamen Madness für zwei Open Air- Madness-Melodien herumgebaut. Das ähnlich Konzerte wieder zusammen. Der Mitschnitt geartete Musical Our House, 2002 am West dieser Auftritte, Madstock, animierte die Band End uraufgeführt, erhielt 2003 als beste Musik- aufgrund des unerwarteten Erfolges in den fol- komödie der Saison einen Olivier Award. Arne genden Jahren zu weiteren Konzerten im Lon- Willander 2003: «Madness sind nach dem Tod doner Finsbury Park. Der Film ‹Madstock: The von Ian Dury die letzte Music Hall des Lan- Movie› wurde am 1. Januar 1993 im englischen des.» Anfang 2005 verließ Chris Foreman das TV-Kanal C4 uraufgeführt. Suggs, der 1995 ei- Etablissement «wegen der kleinen, zeitrauben- nen Vertrag als Solokünstler mit Best West ab- den Querelen, die in der Band vor sich gehen». schloss, kam mit den Singles I’m Only Sleeping, Diese war bereits 2004 gelegentlich – mit und Camden Town und Cecilia (von Paul Simon) ohne Foreman – unter dem Pseudonym The aus seinem Album The Lone Ranger (1995) Dangermen aufgetreten und brachte nun The unter die britischen Top 20. Zwei weitere Sin- Dangermen Sessions, Volume 1 auf den Markt. gles, No More Alcohol und der Fußball-Song «Und so sehen wir mit Schauder, aber auch Blue Day, stoppten 1996 auf den UK-Positio- peinlicher Rührung, wie sich die fabulösen nen 24 und 22. 1998 war aus dem nun bereits Sieben zu Clowns machen», so Arne Willander traditionellen Madness-Konzert im Finsbury 2005, «bald fünfzigjährige Männer, die zu ihren Park ein kleines Madstock-Festival geworden, ohnehin albernen Spitznamen nun Pseudony-
MADONNA 1037 me wie ‹Robert Chaos›, ‹Jimmy Dooh›, ‹The Wunsch, Tänzerin zu werden. Ein einschlägiges Professor› oder ‹Daniel Descartes› erfinden, Studium an der University of Michigan brach als wäre das Leben ein Klassentreffen und un- sie jedoch ab, zog im New Yorker Stadtteil sere Freunde ewige Lausbuben. Seit The Rise Queens in eine Wohngemeinschaft in einer um- And Fall war Spätwerk in der Welt von Mad- gebauten Synagoge und lernte von ihrem zeit- ness. The Madness, Madstock, sogar ihre letzte weiligen Liebhaber Dan Gilroy Schlagzeug Platte waren nur Wurmfortsätze ihrer frühe- und Gitarre. Ihre Mutter, die wie sie auf den ren Glorie. Wenig haben wir so geliebt, wie wir Vornamen Madonna hörte, war am 1. Dezem- Madness geliebt haben.» ber 1963 mit dreißig Jahren an Brustkrebs ge- storben, als die Tochter fünf war. Nach ihrem LPs: One Step Beyond (1979); Absolutely (1980); 7 Wunsch sollte diese als Novizin in einen Orden (1981); (Madness Present) The Rise And Fall (1982); eintreten. Stattdessen brachte die «blasierte Keep Moving (1984); Mad Not Mad (1985); The Peel Frühreife» (Madonna über Madonna) die Be- Sessions (1986); The Madness (1988); Madstock (1992); Universal Madness: Live In Los Angeles (1998); Won- gleitrituale ihrer streng katholischen Erzie- derful (1999); The Dangermen Sessions, Volume One hung auf die Showbühne und stilisierte sich (2005) 1983 zur Promotion ihrer ersten LP mit Dut- Zusammenstellungen (Auswahl): Complete Madness zenden von Kruzifixen, Rosenkränzen, fluo- (1982); Utter Madness (1986); It’s … Madness (1990); reszierenden Gummiarmbändern, schwarzen Divine Madness (1992); The Business – The Defini- Strümpfen und Strapsen über Männer-Bo- tive Singles Collection (1993); The Heavy Heavy Hits (1998) xershorts zur Klosterfrau Lolita. Das Tragen der Glaubenssymbole bereitete der singenden Nymphe sinnliches Vergnügen: «Ich mag Kru- Madonna (voc, g, kb, dr), bürgerlich: Madonna zifixe, weil sie sexy sind; schließlich ist ja ein Louise Veronica Ciccone, als drittes von sechs nackter Mann drauf.» In ihren mit dünner Kindern eines Automechanikers am 16. August Stimme vorgetragenen Hit-Songs begab sich 1958 in Bay City, Michigan, geboren, galt der Madonna kokett in die Rolle des Sexobjektes, deutschen Presse in der Mitte des ersten Jahr- spielte die «Klischeesituation einer willigen zehnts, 2005/2006, als Pop-Ikone ohnegleichen. Frau zum Aufreißen» (‹Tip›) voll aus – und be- Das Magazin ‹Focus› erhob sie zur «Galionsfi- hielt am Ende doch alle Fäden in der Hand. gur der Postmoderne, die sich mit ihren fliegen- Eine «prinzipielle Dusseligkeit» registrierte den Rollenwechseln über jeden gradlinigen Mick Jagger in den zumeist selbstverfassten, Lebenslauf mokiert». Das «Gespür der profes- oberflächlichen Konsumsongs der «Minnie sionellsten Frau im Showgeschäft für den Zeit- Mouse auf Helium», die nach den Disco- geist», urteilte ‹Der Spiegel›, sei «untrüglich». Bedürfnissen der vorwiegend minderjährigen – ‹Prinz›: «Madonna ist nicht am Puls der Zeit, Fans arrangiert waren. Als «Mischung aus sie bestimmt ihn.» – ‹Die Zeit›: «Madonna ver- Heidi auf der Alm, Margaret Thatcher und stehen ist ein Intellektuellensport, Madonna Mae West» (‹Time›) verstellte sie sich «wie sehen ein Volksvergnügen.» Die ‹Frankfurter eine Jungfrau» (LP-Titel) und tat den Verlust Allgemeine Zeitung› zoomte noch näher her- ihrer Unschuld kess als «Karriereschritt» ab. an: «Manchmal wankt sie, manchmal zittert sie. Der Karriere zuliebe ging sie als Fotomodell Aber das Hochseil ist eine schwingende Saite. und Background-Sängerin in New York und Madonna kommt zurecht damit. Sie wohnt da Paris ständig Zweckfreundschaften mit Tän- oben.» An der Rochester Adams High School zern, Musikern, Discjockeys und Designern im Oakland County nahe Detroit, wo sie Kla- ein, die aber selbst ihre rüde abgelegten Lieb- vier- und Tanzunterricht nahm und sich an haber nicht als «Ausbeutung von Vertrauen» Theateraufführungen beteiligte, gehörte sie tadeln mochten: «Madonna schreitet voran, bei einem Intelligenztest mit einem IQ von 141 und die anderen bleiben stehen. Da kennt sie zu den oberen zwei Prozent. Ihr Ballettlehrer keine falsche Höflichkeit.» – «Ich bin ein mate- Christopher Flynn unterstützte sie in dem rialistisches Girl und lebe in der materialisti-
1038 MADONNA schen Welt», sang die Aufstiegsbesessene 1985 Filmkarriere im Stil Marilyn Monroes zu kom- nicht ohne Selbstironie und posierte im dazuge- men, hatten sich als illusorisch erwiesen. Ihre hörigen Video als Monroe-Typ à la ‹Blondinen «Blonde Ambition»-Tour durch die USA und bevorzugt›. Anders als Marilyn, aber ähnlich Europa geriet zum zwiespältigen Ereignis: In wie Barbra Streisand schien Madonna ent- den USA waren viele der in riesigen Arenen schlossen, ihre hemmungslose Selbstvermark- veranstalteten Shows ausverkauft. In Europa tung und die ständigen Image-Variationen voll dagegen schäumte der katholische Klerus und unter Kontrolle zu halten. Ihre unterhaltsamen versuchte in Italien Auftritte der Symbolver- Platten und brillant choreographierten Live- letzerin zu verhindern. Im Vertrauen auf die Auftritte waren perfekte Inszenierungen eines immerwährende Wirkung sexueller Provoka- Massenidols. Änderungen in Kleidung und tionen hatte sie bereits in dem Video zu Like Haartracht nahmen geschickt den Wechsel des A Prayer Katholizismus mit Erotik vermengt. Zeitgeschmacks vorweg. So konnte die Illusion 1991 veröffentlichte Madonna, «die wahre von Persönlichkeit hinter der Videoclip-Fas- Feministin» (Camille Paglia), den Videofilm sade entstehen. Die Kinokameras jedoch ent- ‹Truth or Dare: On the Band Behind the larvten das begrenzte Talent der Poseurin. Scenes, and in Bed with Madonna›, an dem vor Während sie in der Verwechslungskomödie allem der Titel provokativ war. Grobkörnige ‹Susan – verzweifelt gesucht› (1985) noch als Schwarzweißaufnahmen aus dem Tourneeall- glückliche Zufallsbesetzung amüsieren konnte, tag wurden mit inszenierten Dokumentar- ließ Madonna in den kalkulierten Star-Vehi- szenen und farbigen Ausschnitten aus der Büh- keln ‹Shanghai Surprise› (1986, mit Kurzzeit- nenshow unterschnitten, sodass der Eindruck Ehemann Sean Penn) und ‹Who’s That Girl› entstand, «als würden die Dramen aus Sex, (1987) allen Charme und jegliche Leinwand- Macht und Geld, die die Show des Superstars ausstrahlung vermissen. Ihr Terrain, erkannte bestimmen, hinter der Bühne, im Bus und im die ‹Village Voice›, sei eben doch eher die Hit- Hotelzimmer weitergespielt» (‹Der Spiegel›). parade: «Sie verkörpert die Popmusik mit all «Madonna reagiert», kommentierte das Nach- ihren Widersprüchen, Beschränkungen und richtenmagazin, «sobald die Kamera läuft. Beglückungen. Madonna hat die wissende Un- Erst das scheint ihrem Verhalten Gültigkeit schuld und den simplen Frohsinn des Pop voll zu geben. Dabei verkommt gelegentlich die drauf. Sie begreift den Reiz der schillernden Skandal- zur Betriebsnudel, und manchmal Oberflächlichkeit im Pop, hat aber auch das schrumpft sie zu der banalen Karikatur ihrer Lebensgefühl, die Energie und Emotion da- selbst: ein dummes Mädchen, das gern Sig- hinter kapiert.» Dabei gelangen ihr längst nicht mund Freud, Caligula und Marlene Dietrich in alle Projekte, die sie in Angriff nahm: Der mit einer Person wäre.» Hinter all dem Rummel Warren Beatty zu Songs des Broadway-Intel- um ihre Person, um eine Flut von Auszeich- lektuellen Stephen Sondheim gedrehte Film nungen, die sich stets um die Pole «beste …» ‹Dick Tracy›, in dem sie Breathless Mahoney oder «schlechteste …» bewegten, um mehr spielte, war ebenso ein höchst mäßiger Erfolg oder weniger pornographische Fotos und Fil- wie die dazugehörige LP I’m Breathless (1990). me, um unberechenbare Talkshow-Auftritte, Die Big Band-Standards passten nicht zu ihren um kühle, klug von ihr dominierte Interviews, begrenzten vokalen Möglichkeiten und stießen verbarg sich jedoch eine fast in neurotischer trotz eines Oscars für den Soundtrack-Song Weise sich selbst disziplinierende Frau, die ihre Sooner Or Later (I Always Get My Man) bei Karriere fest in der Hand hatte. Madonnas ihrem angestammten Publikum auf Unver- Produktionsgesellschaft Maverick, über das ständnis. Der Flop ließ die Sängerin in Hektik Label Sire mit Warner fest liiert, war die Pfeife, verfallen: Da sie sich selbst als Kunstfigur er- nach der die Sängerin den mächtigen Medien- schaffen hatte, konnte nur ständige Medien- konzern tanzen lassen konnte. Was immer präsenz sie am Leben erhalten. Die ehrgeizi- Maverick produzierte – Warner hatte es zu gen Pläne, über eine Popkarriere zu einer vermarkten. Der daraus resultierende Erfolgs-
MADONNA 1039 druck zwang sie aber auch immer wieder ins liche Songs haben Klasse», urteilte der deut- Studio. Erotica (1992), ihr «unbestritten bestes sche ‹Rolling Stone›, «am besten sind die las- Album» (‹Spin›), schloss sich bruchlos an Like ziv-langsamen Songs: Forbidden Love, Inside A Virgin und Like A Prayer an, laut ‹New York Of Me, Secret.» ‹Q› mäkelte: «Es scheint, als Times› auf eine noch explizitere Art: «Erotica wäre der Stimme der Körper weggefiltert wor- zoomt in eine bestimmte kulturelle Stimmung den und nur noch die Umrisse blieben zurück.» und unterwirft diese – in einem erstaunlichen Eine Umfrage des Magazins ‹Entertainment Willensakt – gänzlich ihren politischen Absich- Weekly› ergab, nur noch 46 Prozent der ameri- ten. In ihren provokativsten Songs bietet sie kanischen Männer würden die Straßenseite ein kleinformatiges TV-Bild von Sex und Star- wechseln, um einen Blick auf Madonna werfen tum durch ihre persönliche Feminismusdefini- zu können. Ihr Kommentar: «Ich wünschte, es tion: Liebt euren Körper.» Madonna im ‹Stern›: wären noch weniger, dann könnte ich wieder «Ich glaube, jeder Mensch ist ein Masochist ungestört ins Kino gehen.» Die 1995 veröffent- und ein Sadist. Menschen missbrauchen sich lichte Balladen-LP Something To Remember gegenseitig und lassen sich missbrauchen. Arm stand bereits im Schatten des ‹Evita›-Films derjenige, der sich sein Vergnügen von anderen nach dem Musical von Andrew Lloyd Webber. erlauben lassen muss.» Songtext: «Ich glaube Um dessen Anforderungen gerecht zu werden, nicht, dass du weißt, was Schmerz ist. Ich schen- nahm Madonna Gesangsunterricht: «Dabei ke dir so viel Lust. Ich weiß, du willst mich.» fand ich meine Stimme und entdeckte Mög- Diese eher triviale Botschaft und ihre eroti- lichkeiten in ihr, die ich vorher nicht kannte.» schen Träume ließ sie (auch) zur Promotion Als der Soundtrack erschien, staunte der ‹Mu- der Erotica-LP vom Fotografen Steven Meisel sikexpress›: «Madonnas Stimme ist glocken- für den 50 Dollar teuren Fotoband ‹Sex› insze- hell, und man hätte nicht gedacht, dass sie die nieren, der nach Verlagsangaben in der ersten zum Teil verflucht hohen Töne in dieser Klar- Woche eine halbe Million Mal verkauft wurde: heit und Präzision trifft.» Es gebe hundert Madonna beim Liebesspiel mit Frauen, als Gründe, das Lichtspiel des ehemaligen Wer- Sklavin eines Mannes und nackt über einem befilmers Alan Parker mit dem ehemaligen Hund kniend. «Szenen vom Raffinement ei- Nacktmodell Louise Ciccone (mit Jonathan ner Reeperbahninszenierung», spottete ‹Der Pryce als Juan Perón und Antonio Banderas Spiegel›. «Die schönste Sauerei des Jahres», als Che Guevara) gut zu finden, schrieb Cordt schwärmte ‹Bild›. Die Postille ‹Prinz› brachte Schnibben im ‹Spiegel›: dass der Film seine es auf den Nenner «Pornodonna». Sie selbst Story in Bildern erzähle und nicht in Dialogen, sah mit gemischten Gefühlen, «dass Erotica dass er detailgenau sei wie ein Champagner- wegen der ‹Sex›-Buch-Geschichte übersehen Spot, dass Madonnas Stimme so schön sei wie wurde. Es ist eine Schande.» Im Frühjahr 1994, nie zuvor. «Das Wichtigste aber ist: Der Film als sie New Yorks TV-Talkstar David Letter- strotzt vor Kraft. All die Walzer und Tangos, all man in seiner ‹Late Show› mit den Worten an- die Streicher und Chöre, all die Singerei, mit sagte: «Hier kommt Madonna, die mit vielen der in ‹Evita› von der Politik eines totalitären Größen der Unterhaltungsindustrie geschlafen Pärchens erzählt wird, verkleistern seltsamer- hat», drückte sie ihm kurzerhand ihren Slip in weise nicht die Wirklichkeit, sondern enthüllen die Hand. Madonna später: «Das Ganze war das Wesen aller Inszenierung von Herrschaft.» keine Talkshow, sondern ein Boxkampf. Ich Zehn Regisseure hatten zuvor versucht, die musste den Mann aus der Balance bringen und abenteuerliche und umstrittene Karriere der ihn möglichst schnell entwaffnen, selbst auf die mit 33 Jahren an Krebs gestorbenen Eva Perón Gefahr hin, dass ich mit zu Boden gehe.» Die aus der Pampa zur Gattin des faschistischen Nation schäumte – oder schmunzelte. Ende des Diktators General Juan Perón und zur argenti- Jahres veröffentlichte die zwischenzeitlich wie- nischen Nationalheiligen zu verfilmen, darun- der erblondete Sängerin mit Bedtime Stories ter Francis Ford Coppola und Oliver Stone. ein stilistisches Gemisch aktueller Sounds. «Et- Stars wie Barbra Streisand, Bette Midler, Liza
1040 MADONNA Minnelli, Meryl Streep und Michelle Pfeiffer William Orbit hatte sie sich aktuelle Sounds hatten um die Hauptrolle in der Lloyd Webber- zunutze gemacht und in typische Madonna- Version gekämpft. Madonna sah in Evita die Songs umgemünzt, wie sie es immer verstand, Seelenschwester, bündelte all ihre Energie und die Kreativität anderer für sich zu nutzen. Der gewann die Rolle. Sie recherchierte besessen, Klangschmied zeigte sich erstaunt über die Ar- las Bücher, sah Dokumentarfilme, sprach mit beitsweise und -wut der Sängerin: «Wenn ich Diplomaten, Obristen und Oligarchen, kroch völlig fertig war und erschöpft nach Hause ge- in die Rolle und siegte auch als Schauspielerin. hen wollte, sagte sie nur, ich könne ja schlafen, Noch vor der Filmpremiere verriet sie im April wenn ich tot wäre. Man sieht in ihr nur die En- 1996 der Klatsch-Kolumnistin Liz Smith, sie sei tertainerin, die Pop-Ikone, und nimmt kaum von ihrem acht Jahre jüngeren Fitnesstrainer wahr, dass sie auch eine großartige Produzen- Carlos Leon schwanger, den sie achtzehn Mo- tin ist.» Auf die Häme der Medien über ihr nate vorher im New Yorker Central Park ken- «neues Image – Mütterlichkeit» (‹Die Zeit›), nengelernt hatte. Sie inszenierte die Geburt die «Rückkehr der öffentlichsten Frau der ihrer Tochter Ende Oktober wie eine Show. Welt als romantische Märchentante» (‹Stern›) Für die erste TV-Präsentation des 2,95 Kilo reagierte die «Postmadonna» (‹Der Spiegel›) schweren Babys zahlte ABC dem Vernehmen wie gehabt: «Die Medien haben mich schon so nach 1,5 Millionen Dollar. Das Gesellschafts- oft für tot erklärt – na und? Hier bin ich, mache magazin ‹Vanity Fair› bezahlte eine sechsstelli- meine Arbeit und lasse mir von niemandem ge Summe für Madonnas Tagebuch von der den Mund verbieten.» Von den sechs Grammy- «Schwangerschaft des Jahrhunderts». Zu Weih- Nominierungen für Ray Of Light gewann sie nachten 1996 erschien der Fotoband über alle vier, von ihren neun MTV Award-Nominierun- Phasen der Schwangerschaft: ‹Life›. Als An- gen kassierte sie sechs. Die Leser des amerika- fang 1998 die Veröffentlichung der LP Ray Of nischen ‹Rolling Stone› wählten sie im Januar Light anstand und das nach dem französischen 1999 zur besten Popkünstlerin und zur besten Marien-Wallfahrtsort benannte Töchterchen Interpretin in der Kategorie Dance/Electroni- Lourdes Maria das fotogene Alter von 14 Mo- ca. Und obgleich sie beim Ice Ball im New Yor- naten erreicht hatte, präsentierte sie sich, den ker Roxy im Januar 1998 zum ersten Mal seit fröhlichen Nachwuchs auf dem Schoß, als jun- zehn Jahren wieder live in einem Club aufge- ge Mutter, gestresst, aber glücklich, wieder in treten war, wurde sie im Dezember in Las Ve- ‹Vanity Fair›. Das offizielle Foto der Madonna gas als Dance Club-Play Artist of the Year und mit Kind erbrachte im Februar 1998 weltweit für die Dance Club-Play Single (Ray Of Light) eine satte Dollar-Million. Vertraut mit der mit Billboard Music Awards gekrönt. Als im Medienklaviatur, lobte sie die Mutterschaft: September 2000 ihr Album Music erschien, «Wenn man Kinder hat, muss man einen Schritt schrieb Ethan Brown unter dem Titel ‹Dance aus sich herausgehen. Man kann nicht herum- Fevered› im Stadtmagazin ‹New York›, Ma- sitzen und im Selbstmitleid versinken oder sich donnas Originalität liege darin, auf dem Dance- als Opfer von irgendwas oder irgendwem füh- floor interessante neue Sounds zu finden und len. Man sieht das Leben von einer ganz ande- dazu Producer, die sie für sie umsetzten. Nur ren Warte» (so in ‹Q›). Auf der CD sang sie: «I noch fünf der elf Tracks, darunter Runaway traded fame for love.» Ray Of Light zeigte aber Lover und das hymnische Amazing, waren von auch, dass sie nicht nur Windeln gewechselt ihrem Ray Of Light-Partner William Orbit pro- hatte. Songs wie Substitute For Love oder Swim duziert worden, dessen Kühle nun schon wie- bescheinigte Hagen Liebing in ‹Tip›, sie ge- der fast altmodisch erschien. Ihr neuer Mann wönnen «durch bewusste Auslassung im Klang- am Mischpult hieß Mirwais Ahmadzaï, war ita- teppich enorm an Leichtigkeit und Transpa- lienisch-afghanischer Herkunft und lebte seit renz», die Sängerin klinge «manches Mal sogar seiner Kindheit in Paris, wo er als Teenager die wie eine erfrischende Newcomerin». Zusam- Elektropopband Taxi Girl betrieb. Durch die men mit dem Ambient Dance-Spezialisten kreative Elektronik seines Albums Production
MADONNA 1041 hatte er Madonna derart überzeugt, dass sie Giganten Microsoft im Internet für angeblich seinen Song Paradise (Not For Me) inklusive neun Millionen Computernutzer übertragen. des französischen Sprechgesangs gleich für Auf der Rückseite ihres schwarzen T-Shirts zur sich übernahm. Mit dem New Wave-Flavour schwarzen Hose mit Silbergürtel stand «Lola», von Borderline, dem Retro-Discostück Deeper Spitzname ihrer Tochter, auf der Vorderseite And Deeper und dem wiederholten Einsatz des «Rocco», der Name ihres knapp vier Monate Vocoders, der in den Seventies-Aufnahmen zuvor geborenen Sohnes. Und der Guy, für den von Kraftwerk der menschlichen Stimme Ro- sie die Eigenkomposition I Deserve It intonier- botercharakter gegeben hatte und gerade eben te («This guy was dreamt for me / And I was in Chers Believe wieder populär geworden war, dreamt for him»), war im Zweifelsfall ihr neuer führte er die Sängerin in Madonnas eigene An- Lebensgefährte und Roccos Vater, der eng- fänge um 1980 in den New Yorker Discos Pa- lische Filmregisseur Guy Ritchie. Von Lolas radise Garage und Danceteria zurück. Die Vater Carlos Leon hatte sie sich unverheiratet Textzeile «Hey, Mr. D. J., put a record on» im 18 Monate nach Lolas Geburt getrennt. Nach Opening Track von Music erinnerte direkt an einer kurzen Affäre mit einem britischen Indeeps Last Night A D. J. Saved My Life oder Drehbuchautor lernte sie den nach seinem Zhanes Hey Mr. D. J. aus jener Zeit. Und die Lichtspiel ‹Lock Stocks› als hot geltenden Fil- war im Zyklus der Popmoden 2000 gerade wie- memacher Ritchie auf einer Party in New York der angesagt. Mit ihrem Video American Pie kennen. Der Sohn eines überaus erfolgreichen nach dem Don McLean-Hit von 1972, den sie Werbeunternehmers, wegen Unbotmäßigkeit im Film ‹The Next Best Thing› (mit Rupert von zehn staatlichen und privaten Schulen ge- Everett, 2000) gesungen hatte und in die CD flogen, hatte Drogenerfahrungen und verstand Music übernahm, gab sie sich imagegerecht als zeitweiliger Angestellter von Island Re- kontrovers. Unter der Regie von Philipp Stölzl, cords etwas von Popmusik. Außerdem galt er Sohn des Berliner Kultursenators Christoph in seinem Job als ebensolcher Workaholic und Stölzl, traten fast nur Lesben und Schwule auf. als Senkrechtstarter wie sie. Sein Drogen- Im Clip Music äffte sie die protzigen Posen po- thriller ‹Lock Stocks› hatte bei einer Million pulärer Rapper nach. Das Video What It Feels Pfund Produktionskosten elf Millionen briti- Like For A Girl zeigte den Amoklauf eines «ni- sche Pfund erlöst. Um ihm nahe zu sein, kaufte hilistic pissed-off chick» (Madonna), das zuerst sie für 13 Millionen Dollar eine Villa im Lon- ein paar Männer mit dem Elektroschocker er- doner Nobelviertel Chelsea und verkaufte sie ledigt und dann mit ihrem Boliden gegen einen wieder, weil sie ihren Sicherheitsvorstellungen Mast crasht. Ansonsten entsprach ihre Kar- nicht genügte. Danach erwarb sie ein Schlös- rierewindung wieder genau dem Zeitgeist: schen in Kensington – für 13,5 Millionen nostalgisch, multikulturell, patriotisch, persön- Dollar. Die Hochzeit mit Ritchie und Roccos lich. So trat sie am 28. November 2000 in Cow- Taufe wurden zu Weihnachten 2000 unter boystiefeln und Westernhut, die auch ihr Cover Beteiligung des internationalen Rock-Hoch- zierten, unter dem Sternenbanner auf die Büh- adels streng abgeschirmt auf Schloss Skibo im ne der Londoner Brixton Arena, welche das Flecken Dornoch in den britischen Highlands italienische Designer-Paar Domenico Dolce vollzogen – Presse ausgeschlossen. «Madonna und Stefano Gabbana mit einem Western-Am- glaubt wohl, sie sei etwas Besseres als die biente aus Glitzerkakteen, Strohballen und Royals», nörgelte der ‹Star›. – «Madonna – die Plastikattrappen skelettierter Rinderschädel geheime Braut» titelte die ‹Daily Mail›. Der ausgestattet hatte. 3500 Besucher, darunter ‹Independent› spottete: «Die Ritchies laden Popprominenz aus ganz Europa, zahlten für Sie herzlich ein … auf Distanz zu bleiben.» Das die exklusivste Privatparty des Jahres auf dem Boulevardblatt ‹The Sun› drechselte sich man- Schwarzmarkt bis zu – umgerechnet – 3000 gels Details die Hochzeitsstory selbst. Die an- Euro Eintritt, dafür wurde Madonnas 30-Mi- gereisten Promi-Freunde des Paares «hielten nuten-Auftritt von 21 Kameras vom Software- die Tränen zurück, als Madonna endlich ihren
1042 MADONNA Guy bekam», so das Blatt. Doch im Vereinig- chen übersetzt und in 110 Ländern gedruckt ten Königreich hatte die vulgär-selbstbewusste wurden. Aber auch ihre Welt war nach dem 11. Pop-Ikone aus dem amerikanischen Mittelwes- September 2001 nicht mehr dieselbe. Der Song, ten noch nie eine besonders gute Presse. Zu den sie zusammen mit Mirwais Ahmadzaï mit ihrem ersten Auftritt in Großbritannien seit Riesenerfolg auf einer Single zum aktuellen acht Jahren, Ende November 2000, bemühte James Bond-Streifen beitrug, hieß wie der Film sogar die ehrwürdige ‹Times› ihren Opernkri- Die Another Day (Stirb an einem anderen Tag). tiker Rodney Milnes in einer zweiseitigen Ti- Das mochte noch Zufall sein, aber ihr Album telstory («Virgin Territory») für den Nachweis, American Life (2003), wieder mit Ahmadzai sie könne eigentlich gar nicht singen: «Die als Producer, war explizit persönlich und poli- Qualität ihrer Songs wird von ihrer geringen tisch. Zwar zog sie ein kriegskritisches Video Stimmbreite – nicht viel mehr als eine Oktave zum Titelsong sogleich wieder zurück, weil es – eingeschnürt, das heißt, die Stücke kommen «als unpatriotisch missverstanden werden» nie richtig zum Fliegen. Sie haben einfach nicht könne, doch die ganze CD verriet ihre Verunsi- genug Töne dafür. Damit und mit ihrem stamp- cherung. «Es gibt einen Song, der Hollywood fenden Rhythmus plus ihrem minimalen Reiz als Ersatzreligion des Westens geißelt», analy- klingen sie beinahe alle gleich.» Ähnliches hat- sierte Thomas Groß in der ‹Zeit›: «Es gibt ei- ten Kritiker der E-Musik früher allerdings nen Song, der die Einsamkeit der Stars betrau- auch schon Elvis Presley und den Beatles nach- ert. Gleich zwei Titel sind Selbstanklagen, so gesagt. Mit dem Titelstück der CD Music er- lange einer Welt der Oberfläche und der Gier reichte Madonna im September 2000 zum angehört zu haben. Es gibt stolpernde Rhyth- zwölften Mal Platz eins in den US-‹Billboard›- men, fordernde Gitarren und Gospelchöre. Charts und lag damit – nach Elvis (36) und den Was es nicht gibt, sind Slogans. ‹There are too Beatles (34) – in der amerikanischen Hitstatis- many questions, there is not one solution›: In tik auf Platz drei. Als die Diva im Juni 2001 in einer heillos verzwickten Welt beharrt die Barcelona zu ihrer Welttournee ‹The Drowned Künstlerin darauf, auch kein Rezept zu ken- World› aufbrach, schrieb Thomas Hüetlin im nen.» Den Rockdeutern der Fachmagazine wi- Vorspann seiner ‹Spiegel›-Story «John Wayne derstand die Musik: «Fingergepickte Akustik- auf Stilettos»: «Die unumstrittene Herrscherin gitarre, Break, mehr oder weniger fieser der Popwelt muss nichts mehr beweisen – und Elektronikeffekt, Break usw. usf. Und dann die tritt doch zu einem Kreuzzug an: gegen das Al- Reime: guy – shy – fly – sky, kind – mind – find, ter und die eigenen Ängste.» Die Tour endete Bi-Ba-Butzemann» (Albert Koch im ‹ME›). am 14. September 2001 in Los Angeles. Drei «Der französische Freund hat sich Mühe ge- Tage zuvor hatten islamistische Terroristen macht beim Aufnehmen der vielen Gitarren, US-Flugzeuge als Waffen für mörderische An- die schrammeln, schnarzen und sogar twängen, schläge auf das New Yorker World Trade Cen- hält den Gesamtklang aber digital und kran- ter und auf das Pentagon in Washington, D. C., kenhausweiß» (Joachim Hentschel im deut- benutzt. Madonna bat ihr Publikum zum Ge- schen ‹Rolling Stone›). 4,5 Millionen Exem- bet. Im Stück «Up For Grabs» des australi- plare wurden davon verkauft, für Madonnas schen Autors David Williamson spielte sie un- Verhältnisse enttäuschend. Und da auch der ter der Regie von Laurence Boswell zwei Film ‹Swept Away› (2003) ihres Mannes, in Monate lang am Londoner West End Theater dem sie ihm zuliebe die Hauptrolle gespielt und erhielt sogar den Publikumspreis Theatre- hatte, bei Presse und Publikum durchfiel, ging goers’ Choice Theatre Award. Sie publizierte sie zum Geldverdienen 2004 wieder auf Tour- im New Yorker Verlag Barnes & Noble das nee. Die von ihr selbst liebevoll produzierte, im Kinderbuch ‹The English Roses› derart erfolg- Juli 2006 veröffentlichte DVD ‹I’m Going To reich, dass der Verlag vier weitere, von ver- Tell You A Secret› zeigte die 46-Jährige nicht schiedenen englischen Künstlern illustrierte nur als hochenergetische Tänzerin zwischen Madonna-Bücher folgen ließ, die in 37 Spra- Aerobic und Techno, sondern vermittelte in
MADONNA 1043 sensiblen Einstellungen auch Backstage-Im- dern auf Platz eins und wurde bis April 2006 pressionen und Familienszenen aus dem Hotel. 6,5 Millionen Mal verkauft. Im Mai eröffnete Schlagzeilen machte die von jeglicher Glau- sie in Los Angeles ihre ‹Confessions›-Tournee. bensroutine abgefallene Ex-Katholikin, die Madonna: «Wir fangen da an, wo die CD endet sich die längste Zeit ihres Lebens als Buddhis- – mit dem Song Like It Or Not: This is who I tin verstanden hatte, indem sie sich Esther am / You like it or not / Love me or leave me / nannte und als Anhängerin der 1969 unter dem I’m not gonna stop!» Sie hatte sie wieder alle: Schlagwort «Jewish Revival» von Phillip Berg die Fans, die Kritiker, die Intellektuellen. ‹Die gegründete Kaballah-Sekte outete, die das Zeit› hatte eine Literaturprofessorin für die Alte Testament mit Reinkarnationsvorstellun- Erkenntnis aufgeboten, seit Walter Benjamin gen und fernöstlichen Frömmigkeitspraktiken und Siegfried Kracauer vor bald hundert Jah- verband. Ein Zehntel ihrer Einnahmen, hieß ren gehöre es zur Funktion des Intellektuellen, es, spende sie dem Londoner Zentrum der Sek- durch die Aufwertung der Subkultur demokra- te, der auch Elizabeth Taylor, Barbra Streisand, tische Gleichheit auch im Bereich der Kultur Elton John, Mick Jagger und Britney Spears herzustellen: «Die emphatische Rede über angehören sollten. An ihrem 47. Geburtstag, Madonna ist ein Bekenntnis zur Aufhebung am 16. August 2005, stürzte Madonna auf ih- kultureller Standesunterschiede» (Hannelore rem Anwesen Ashcomb House in Wiltshire, Schlaffer), ihre Tournee sei «eine akustische 160 Kilometer südwestlich von London, derart Höllenfahrt in die Abgründe der Politik». – unglücklich vom Pferd, dass sie sich die Hand, «Madonna stürzt in Käfige, um deren Insassen das Schlüsselbein und mehrere Rippen brach. von Burkas zu befreien», beobachtete Michael Kaum genesen, nahm sie in einem leeren Bal- Pilz für ‹Die Welt›: «Und dann flimmern alle lettsaal mit Gegenschnitten auf tanzende Schurken dieser Welt, die Diktatoren, Terroris- Street Kids das Video zur Single Hung Up auf. ten oder kriegerischen Präsidenten durch die Es war ihr gelungen, dafür das Sample des Arena. Das ist selbstverständlich kritisch. Aber Abba-Hits Gimme Gimme Gimme (A Man Af- es handelt sich um großartigen, hinreißenden, ter Midnight) zu erwerben, das Ralph Geisen- kurz: madonnenhaften Kitsch.» – «Am Schluss hanslüke in der ‹Zeit› als das «Leitmotiv, den trägt Madonna einen Gymnastikanzug mit Schlüssel für das ganze Album» Confessions Highheels und tanzt wie eine Dorfschlampe», On A Dance Floor (2005) interpretierte: «die so Oliver Fuchs in der ‹FAZ›: «Der Anzug ist Sehnsucht nach Popmusik, die ihre Unschuld im Gesäßbereich großzügig dekolletiert, weite noch nicht verloren hat». – «So und nicht an- Teile ihres Pos liegen frei. Absolut geschmack- ders muss die wahre Madonna sein», sekun- los. Total genial.» So hatten das die Kulturphi- dierte Tobias Kniebe in der ‹Süddeutschen losophen Walter Benjamin und Siegfried Kra- Zeitung›: «Over The Top, Out Of Control. Ihre cauer sicher nicht gemeint. Im Frühjahr 2008 Meisterschaft liegt in einer Sphäre, die mit gu- gelangte Madonna in die Rock and Roll Hall tem Geschmack gerade nicht zu begreifen ist, of Fame. in der unstillbaren Sehnsucht der Vorstadt- disco, im großen, hormonüberladenen, berau- LPs: Madonna (1983); Like A Virgin (1985); True Blue schenden Jenseits der Peinlichkeit. Dort tobt (1986); Who’s That Girl (1987; Soundtrack); You Can Dance (1987); Like A Prayer (1989); I’m Breathless sie jetzt wieder herum, als sei sie niemals weg (1990); Erotica (1992); Bedtime Stories (1994); Evita gewesen.» Produziert von Stuart Price (Zoot (1995; Soundtrack); Erotica Remixes (1997); Ray Of Woman, Les Rhythmes Digitales), dem musi- Light (1998); Music (2000); American Life (2003); kalischen Direktor ihrer letzten Tournee, be- Remixed & Revisited (2003); Confessions On A Dance legte Hung Up den Charts-Spitzenplatz in 41 Floor (2005); I’m Going To Tell You A Secret (2006); Ländern. In den USA zog Madonna mit Elvis The Confessions Tour (2007); Hard Candy (2008) Presley gleich: Beide platzierten sich mit 36 Zusammenstellungen (Auswahl): The Immaculate Col- lection (1990); Something To Remember (1995); GHV2 Singles unter ‹Billboards› Top Ten. Das Album (2001) Confessions On A Dance Floor kam in 40 Län-
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