Rock-Lexikon 2 Siegfried Schmidt-Joos, Wolf Kampmann - Leseprobe aus: Rowohlt

Die Seite wird erstellt Hortensia-Angelika Urban
 
WEITER LESEN
Leseprobe aus:

Siegfried Schmidt-Joos, Wolf Kampmann

          Rock-Lexikon 2

       Copyright © 2008 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek


                                                                                    M
 Mabry, Betty → Davis, Miles                       um in Madness, nach einem Song des Ska-Stars
                                                   Prince Buster, dem sie ihre erste Single auf dem
 (The) Madness gaben sich im Gruppennamen,         2-Tone-Label der Specials widmeten. Mit Chas
 in Outfits und Make-up wie eine New Wave-         Smash (voc), bürgerlich: Cathal, später Carl
 Band und inszenierten ihre Songs mit Sponti-      Smyth, geb. am 14. Januar 1959 in London, der
 Attitüde. Dabei reicherten sie ihre Sound-Mix-    sich bei einem Konzert als flotter Sprücheklop-
 turen aus Ska, instinktsicher nachgeahmtem        fer einfach zu ihnen gesellt hatte, brachten sie
 altertümlichem Pop, Rhythm & Blues und for-       bis 1986 bei Stiff Records 21 Top Twenty-Hits,
 schen Sozialsatiren ohne politischen Tiefgang     darunter My Girl, Baggy Trousers, Grey Day,
 mit Klamauk aus der reichen britischen Music      It Must Be Love, House Of Fun, Our House,
 Hall-Tradition an. Dieser «nutty sound» stellte   heraus, die «dazu beitrugen, Pop als Kunstform
 «die Exzentrizität, den Pomp und die Schat-       wiederzubeleben, und sie auf ihrem Sektor als
 tenseiten der englischen Mentalität» (‹New        Giganten etablierten» (‹NME›). Madness-Mu-
 Musical Express›) bloß, schlug aber stets ver-    sik war eine «elektrisierende Verbindung von
 söhnliche Töne an: «Sie betrachteten die Ab-      Sinn und Unsinn, Nichtsnutzigkeit und Nach-
 surditäten des Lebens mit einem Lächeln in den    denklichkeit, Puls und Impuls. Musik für Hirn,
 Mundwinkeln und nicht mit einem rasiermes-        Hände und Füße. Und fürs Herz» (‹Melody
 serscharfen Sezierblick» (‹Melody Maker›).        Maker›). Die «Rock & Roll-Commedia dell’
 Oder, mit den Worten von Arne Willander im        arte» (‹Rolling Stone›) verlor jedoch zuneh-
 deutschen ‹Rolling Stone›: «Madness sangen        mend ihren pubertären Übermut. Seit dem
 von Beutelhosen und Unfug auf dem Schulklo,       Album 7 (1981) beklagten sie mit eher me-
 von Mädchen und Sportkameradschaft, vom           lancholischem Humor «den gesunkenen Geist
 Saufen und Auf-die-Glocke-Hauen. Insofern         der Britannica» (‹The Face›), wandten sich in
 waren sie universal.» Chris Foreman (g), gebo-    Stücken wie Blue Skinned Beast gegen den
 ren am 8. August 1958, Mike Barson (kb), geb.     Hurrapatriotismus nach dem Falklandkrieg
 am 21. Mai 1958, und Lee Thompson (sax), geb.     und stimmten auf Alben wie The Rise And Fall
 am 5. Oktober 1957, alle in London, spielten      einen «Trauergesang» an «auf das England,
 seit 1976 in der Band Morris & The Minors,        das Thatchers Tories ausnutzen und ausbeu-
 taten sich 1978 mit Graham «Suggs» McPher-        ten» (‹NME›). Songs wie Grey Day und Our
 son (voc), geb. am 13. Januar 1961 in Hastings,   House zeichneten aber auch ein Bild des briti-
 Sussex, Mark Bedford (bg), geb. am 24. August     schen Kleinbürgerlebens, wie es seit den Kinks
 1961 in London, Dan Woodgate (dr), geb. am        kaum eine Rockgruppe vermocht hatte. Die
 19. Oktober 1960 in London, zu The Invaders       einst als vermeintliche Lieblingstruppe rechts-
 zusammen und tauften sich 1979 schließlich        radikaler Jugendlicher gescholtenen Cockney-
1036       (THE) MADNESS
Musiker wurden Ende 1983 hart getroffen,          das mit sechs anderen Bands zum vierten Mal
als Gründungsmitglied Barson genug von der        stattfand. Diesmal beschloss das in Original-
Madness hatte und mit seiner holländischen        besetzung wiedervereinigte Madness-Sextett
Frau nach Amsterdam zog. Die Single Ghost         nicht nur einen weiteren Oldies-Sampler, The
Train markierte mit dem Fortgang Bedfords         Heavy Heavy Hits (1998), sondern auch eine
und Woodgates das vorläufige Aus für die in       neuerliche USA-Tournee mit CD-Mitschnitt
die Jahre gekommenen Spaßvögel. Mark Bed-         in Kalifornien: Universal Madness: Live In
ford und Daniel Woodgate wurden zunächst          Los Angeles (1998). Des großen Erfolgs wegen
von Strawberry Switchblade eingefangen und        wurde beides, US-Tournee und CD-Produk-
schlüpften dann bei der Band Voice of the Bee-    tion, 1999 wiederholt. Nach der Madness-Party
hive unter. 1988 versuchten McPherson, Smyth,     im New Yorker Irving Plaza im Mai titelte
Foreman, Thompson als Quartett The Madness        Jon Pareles in der ‹New York Times›: «The
einen neuen Anfang und boten ein Album, das       Songs Are Sad but the Beat Is Glad». Es war
schwermütig von zerbrochenen Beziehungen,         die alte 2-Tone-Mischung aus Scherz, Ironie
Trennungsschmerz, privater Frustration und        und tieferer Bedeutung, die dann auch in den
vergeudetem Leben handelte. ‹City Limits›         neuen Liedern des vom eingeführten Produ-
hielt den Comeback-Versuch für pure Mad-          zententeam Clive Langer/Alan Winstanley be-
ness: «Indem sie ihren alten Namen wiederauf-     treuten Albums Wonderful (1999) überzeugte:
leben ließen, haben sie sich an eine Geschich-    «Bei Madness passiert immer alles auf einmal
te gekettet, die eigentlich ein abgeschlossenes   – Streicher, Klavier, Bläser und tausend kleine
Kapitel hätte bleiben müssen. Ghost Train wäre    Sound-Effekte, die vor dem geistigen Auge ei-
das ideale letzte Wort gewesen, ein Nachruf       nen Zirkus auffahren. Glamouröses Kopfkino
auf die Kunst, Singles zu machen, und auf den     voller Stars und Attraktionen, immer an der
Vaudeville-Pop.» Die für Madness-Verhältnis-      Grenze zum Kitsch und zur Selbstparodie, das
se ungewohnte Erfolglosigkeit der Platte führ-    vor keiner Groteske zurückschreckt, weder
te zum baldigen Bruch der reformierten Band.      Bombast noch Hörspieleinlagen scheut und
Die Musiker blieben der Popwelt erhalten:         ganz einfach riesigen Spaß macht» (Marcel An-
Suggs im Umkreis von The Farm und Morris-         ders im ‹Musikexpress›). Ihre alten Songs wa-
sey; Woodgate arbeitete weiter mit der Mäd-       ren inzwischen zu Klassikern geworden: 1993
chengruppe Voice of the Beehive zusammen,         hatte in London das von Alan Gilbey verfasste
Thompson und Foreman gründeten The Nutty          Musical ‹One Step Beyond› Premiere – um 15
Boys. 1992 kamen Madness für zwei Open Air-       Madness-Melodien herumgebaut. Das ähnlich
Konzerte wieder zusammen. Der Mitschnitt          geartete Musical Our House, 2002 am West
dieser Auftritte, Madstock, animierte die Band    End uraufgeführt, erhielt 2003 als beste Musik-
aufgrund des unerwarteten Erfolges in den fol-    komödie der Saison einen Olivier Award. Arne
genden Jahren zu weiteren Konzerten im Lon-       Willander 2003: «Madness sind nach dem Tod
doner Finsbury Park. Der Film ‹Madstock: The      von Ian Dury die letzte Music Hall des Lan-
Movie› wurde am 1. Januar 1993 im englischen      des.» Anfang 2005 verließ Chris Foreman das
TV-Kanal C4 uraufgeführt. Suggs, der 1995 ei-     Etablissement «wegen der kleinen, zeitrauben-
nen Vertrag als Solokünstler mit Best West ab-    den Querelen, die in der Band vor sich gehen».
schloss, kam mit den Singles I’m Only Sleeping,   Diese war bereits 2004 gelegentlich – mit und
Camden Town und Cecilia (von Paul Simon)          ohne Foreman – unter dem Pseudonym The
aus seinem Album The Lone Ranger (1995)           Dangermen aufgetreten und brachte nun The
unter die britischen Top 20. Zwei weitere Sin-    Dangermen Sessions, Volume 1 auf den Markt.
gles, No More Alcohol und der Fußball-Song        «Und so sehen wir mit Schauder, aber auch
Blue Day, stoppten 1996 auf den UK-Positio-       peinlicher Rührung, wie sich die fabulösen
nen 24 und 22. 1998 war aus dem nun bereits       Sieben zu Clowns machen», so Arne Willander
traditionellen Madness-Konzert im Finsbury        2005, «bald fünfzigjährige Männer, die zu ihren
Park ein kleines Madstock-Festival geworden,      ohnehin albernen Spitznamen nun Pseudony-
MADONNA          1037
me wie ‹Robert Chaos›, ‹Jimmy Dooh›, ‹The               Wunsch, Tänzerin zu werden. Ein einschlägiges
Professor› oder ‹Daniel Descartes› erfinden,            Studium an der University of Michigan brach
als wäre das Leben ein Klassentreffen und un-           sie jedoch ab, zog im New Yorker Stadtteil
sere Freunde ewige Lausbuben. Seit The Rise             Queens in eine Wohngemeinschaft in einer um-
And Fall war Spätwerk in der Welt von Mad-              gebauten Synagoge und lernte von ihrem zeit-
ness. The Madness, Madstock, sogar ihre letzte          weiligen Liebhaber Dan Gilroy Schlagzeug
Platte waren nur Wurmfortsätze ihrer frühe-             und Gitarre. Ihre Mutter, die wie sie auf den
ren Glorie. Wenig haben wir so geliebt, wie wir         Vornamen Madonna hörte, war am 1. Dezem-
Madness geliebt haben.»                                 ber 1963 mit dreißig Jahren an Brustkrebs ge-
                                                        storben, als die Tochter fünf war. Nach ihrem
LPs: One Step Beyond (1979); Absolutely (1980); 7       Wunsch sollte diese als Novizin in einen Orden
(1981); (Madness Present) The Rise And Fall (1982);     eintreten. Stattdessen brachte die «blasierte
Keep Moving (1984); Mad Not Mad (1985); The Peel
                                                        Frühreife» (Madonna über Madonna) die Be-
Sessions (1986); The Madness (1988); Madstock (1992);
Universal Madness: Live In Los Angeles (1998); Won-     gleitrituale ihrer streng katholischen Erzie-
derful (1999); The Dangermen Sessions, Volume One       hung auf die Showbühne und stilisierte sich
(2005)                                                  1983 zur Promotion ihrer ersten LP mit Dut-
Zusammenstellungen (Auswahl): Complete Madness          zenden von Kruzifixen, Rosenkränzen, fluo-
(1982); Utter Madness (1986); It’s … Madness (1990);    reszierenden Gummiarmbändern, schwarzen
Divine Madness (1992); The Business – The Defini-       Strümpfen und Strapsen über Männer-Bo-
tive Singles Collection (1993); The Heavy Heavy Hits
(1998)
                                                        xershorts zur Klosterfrau Lolita. Das Tragen
                                                        der Glaubenssymbole bereitete der singenden
                                                        Nymphe sinnliches Vergnügen: «Ich mag Kru-
Madonna (voc, g, kb, dr), bürgerlich: Madonna           zifixe, weil sie sexy sind; schließlich ist ja ein
Louise Veronica Ciccone, als drittes von sechs          nackter Mann drauf.» In ihren mit dünner
Kindern eines Automechanikers am 16. August             Stimme vorgetragenen Hit-Songs begab sich
1958 in Bay City, Michigan, geboren, galt der           Madonna kokett in die Rolle des Sexobjektes,
deutschen Presse in der Mitte des ersten Jahr-          spielte die «Klischeesituation einer willigen
zehnts, 2005/2006, als Pop-Ikone ohnegleichen.          Frau zum Aufreißen» (‹Tip›) voll aus – und be-
Das Magazin ‹Focus› erhob sie zur «Galionsfi-           hielt am Ende doch alle Fäden in der Hand.
gur der Postmoderne, die sich mit ihren fliegen-        Eine «prinzipielle Dusseligkeit» registrierte
den Rollenwechseln über jeden gradlinigen               Mick Jagger in den zumeist selbstverfassten,
Lebenslauf mokiert». Das «Gespür der profes-            oberflächlichen Konsumsongs der «Minnie
sionellsten Frau im Showgeschäft für den Zeit-          Mouse auf Helium», die nach den Disco-
geist», urteilte ‹Der Spiegel›, sei «untrüglich».       Bedürfnissen der vorwiegend minderjährigen
– ‹Prinz›: «Madonna ist nicht am Puls der Zeit,         Fans arrangiert waren. Als «Mischung aus
sie bestimmt ihn.» – ‹Die Zeit›: «Madonna ver-          Heidi auf der Alm, Margaret Thatcher und
stehen ist ein Intellektuellensport, Madonna            Mae West» (‹Time›) verstellte sie sich «wie
sehen ein Volksvergnügen.» Die ‹Frankfurter             eine Jungfrau» (LP-Titel) und tat den Verlust
Allgemeine Zeitung› zoomte noch näher her-              ihrer Unschuld kess als «Karriereschritt» ab.
an: «Manchmal wankt sie, manchmal zittert sie.          Der Karriere zuliebe ging sie als Fotomodell
Aber das Hochseil ist eine schwingende Saite.           und Background-Sängerin in New York und
Madonna kommt zurecht damit. Sie wohnt da               Paris ständig Zweckfreundschaften mit Tän-
oben.» An der Rochester Adams High School               zern, Musikern, Discjockeys und Designern
im Oakland County nahe Detroit, wo sie Kla-             ein, die aber selbst ihre rüde abgelegten Lieb-
vier- und Tanzunterricht nahm und sich an               haber nicht als «Ausbeutung von Vertrauen»
Theateraufführungen beteiligte, gehörte sie             tadeln mochten: «Madonna schreitet voran,
bei einem Intelligenztest mit einem IQ von 141          und die anderen bleiben stehen. Da kennt sie
zu den oberen zwei Prozent. Ihr Ballettlehrer           keine falsche Höflichkeit.» – «Ich bin ein mate-
Christopher Flynn unterstützte sie in dem               rialistisches Girl und lebe in der materialisti-
1038       MADONNA
schen Welt», sang die Aufstiegsbesessene 1985      Filmkarriere im Stil Marilyn Monroes zu kom-
nicht ohne Selbstironie und posierte im dazuge-    men, hatten sich als illusorisch erwiesen. Ihre
hörigen Video als Monroe-Typ à la ‹Blondinen       «Blonde Ambition»-Tour durch die USA und
bevorzugt›. Anders als Marilyn, aber ähnlich       Europa geriet zum zwiespältigen Ereignis: In
wie Barbra Streisand schien Madonna ent-           den USA waren viele der in riesigen Arenen
schlossen, ihre hemmungslose Selbstvermark-        veranstalteten Shows ausverkauft. In Europa
tung und die ständigen Image-Variationen voll      dagegen schäumte der katholische Klerus und
unter Kontrolle zu halten. Ihre unterhaltsamen     versuchte in Italien Auftritte der Symbolver-
Platten und brillant choreographierten Live-       letzerin zu verhindern. Im Vertrauen auf die
Auftritte waren perfekte Inszenierungen eines      immerwährende Wirkung sexueller Provoka-
Massenidols. Änderungen in Kleidung und            tionen hatte sie bereits in dem Video zu Like
Haartracht nahmen geschickt den Wechsel des        A Prayer Katholizismus mit Erotik vermengt.
Zeitgeschmacks vorweg. So konnte die Illusion      1991 veröffentlichte Madonna, «die wahre
von Persönlichkeit hinter der Videoclip-Fas-       Feministin» (Camille Paglia), den Videofilm
sade entstehen. Die Kinokameras jedoch ent-        ‹Truth or Dare: On the Band Behind the
larvten das begrenzte Talent der Poseurin.         Scenes, and in Bed with Madonna›, an dem vor
Während sie in der Verwechslungskomödie            allem der Titel provokativ war. Grobkörnige
‹Susan – verzweifelt gesucht› (1985) noch als      Schwarzweißaufnahmen aus dem Tourneeall-
glückliche Zufallsbesetzung amüsieren konnte,      tag wurden mit inszenierten Dokumentar-
ließ Madonna in den kalkulierten Star-Vehi-        szenen und farbigen Ausschnitten aus der Büh-
keln ‹Shanghai Surprise› (1986, mit Kurzzeit-      nenshow unterschnitten, sodass der Eindruck
Ehemann Sean Penn) und ‹Who’s That Girl›           entstand, «als würden die Dramen aus Sex,
(1987) allen Charme und jegliche Leinwand-         Macht und Geld, die die Show des Superstars
ausstrahlung vermissen. Ihr Terrain, erkannte      bestimmen, hinter der Bühne, im Bus und im
die ‹Village Voice›, sei eben doch eher die Hit-   Hotelzimmer weitergespielt» (‹Der Spiegel›).
parade: «Sie verkörpert die Popmusik mit all       «Madonna reagiert», kommentierte das Nach-
ihren Widersprüchen, Beschränkungen und            richtenmagazin, «sobald die Kamera läuft.
Beglückungen. Madonna hat die wissende Un-         Erst das scheint ihrem Verhalten Gültigkeit
schuld und den simplen Frohsinn des Pop voll       zu geben. Dabei verkommt gelegentlich die
drauf. Sie begreift den Reiz der schillernden      Skandal- zur Betriebsnudel, und manchmal
Oberflächlichkeit im Pop, hat aber auch das        schrumpft sie zu der banalen Karikatur ihrer
Lebensgefühl, die Energie und Emotion da-          selbst: ein dummes Mädchen, das gern Sig-
hinter kapiert.» Dabei gelangen ihr längst nicht   mund Freud, Caligula und Marlene Dietrich in
alle Projekte, die sie in Angriff nahm: Der mit    einer Person wäre.» Hinter all dem Rummel
Warren Beatty zu Songs des Broadway-Intel-         um ihre Person, um eine Flut von Auszeich-
lektuellen Stephen Sondheim gedrehte Film          nungen, die sich stets um die Pole «beste …»
‹Dick Tracy›, in dem sie Breathless Mahoney        oder «schlechteste …» bewegten, um mehr
spielte, war ebenso ein höchst mäßiger Erfolg      oder weniger pornographische Fotos und Fil-
wie die dazugehörige LP I’m Breathless (1990).     me, um unberechenbare Talkshow-Auftritte,
Die Big Band-Standards passten nicht zu ihren      um kühle, klug von ihr dominierte Interviews,
begrenzten vokalen Möglichkeiten und stießen       verbarg sich jedoch eine fast in neurotischer
trotz eines Oscars für den Soundtrack-Song         Weise sich selbst disziplinierende Frau, die ihre
Sooner Or Later (I Always Get My Man) bei          Karriere fest in der Hand hatte. Madonnas
ihrem angestammten Publikum auf Unver-             Produktionsgesellschaft Maverick, über das
ständnis. Der Flop ließ die Sängerin in Hektik     Label Sire mit Warner fest liiert, war die Pfeife,
verfallen: Da sie sich selbst als Kunstfigur er-   nach der die Sängerin den mächtigen Medien-
schaffen hatte, konnte nur ständige Medien-        konzern tanzen lassen konnte. Was immer
präsenz sie am Leben erhalten. Die ehrgeizi-       Maverick produzierte – Warner hatte es zu
gen Pläne, über eine Popkarriere zu einer          vermarkten. Der daraus resultierende Erfolgs-
MADONNA          1039
druck zwang sie aber auch immer wieder ins          liche Songs haben Klasse», urteilte der deut-
Studio. Erotica (1992), ihr «unbestritten bestes    sche ‹Rolling Stone›, «am besten sind die las-
Album» (‹Spin›), schloss sich bruchlos an Like      ziv-langsamen Songs: Forbidden Love, Inside
A Virgin und Like A Prayer an, laut ‹New York       Of Me, Secret.» ‹Q› mäkelte: «Es scheint, als
Times› auf eine noch explizitere Art: «Erotica      wäre der Stimme der Körper weggefiltert wor-
zoomt in eine bestimmte kulturelle Stimmung         den und nur noch die Umrisse blieben zurück.»
und unterwirft diese – in einem erstaunlichen       Eine Umfrage des Magazins ‹Entertainment
Willensakt – gänzlich ihren politischen Absich-     Weekly› ergab, nur noch 46 Prozent der ameri-
ten. In ihren provokativsten Songs bietet sie       kanischen Männer würden die Straßenseite
ein kleinformatiges TV-Bild von Sex und Star-       wechseln, um einen Blick auf Madonna werfen
tum durch ihre persönliche Feminismusdefini-        zu können. Ihr Kommentar: «Ich wünschte, es
tion: Liebt euren Körper.» Madonna im ‹Stern›:      wären noch weniger, dann könnte ich wieder
«Ich glaube, jeder Mensch ist ein Masochist         ungestört ins Kino gehen.» Die 1995 veröffent-
und ein Sadist. Menschen missbrauchen sich          lichte Balladen-LP Something To Remember
gegenseitig und lassen sich missbrauchen. Arm       stand bereits im Schatten des ‹Evita›-Films
derjenige, der sich sein Vergnügen von anderen      nach dem Musical von Andrew Lloyd Webber.
erlauben lassen muss.» Songtext: «Ich glaube        Um dessen Anforderungen gerecht zu werden,
nicht, dass du weißt, was Schmerz ist. Ich schen-   nahm Madonna Gesangsunterricht: «Dabei
ke dir so viel Lust. Ich weiß, du willst mich.»     fand ich meine Stimme und entdeckte Mög-
Diese eher triviale Botschaft und ihre eroti-       lichkeiten in ihr, die ich vorher nicht kannte.»
schen Träume ließ sie (auch) zur Promotion          Als der Soundtrack erschien, staunte der ‹Mu-
der Erotica-LP vom Fotografen Steven Meisel         sikexpress›: «Madonnas Stimme ist glocken-
für den 50 Dollar teuren Fotoband ‹Sex› insze-      hell, und man hätte nicht gedacht, dass sie die
nieren, der nach Verlagsangaben in der ersten       zum Teil verflucht hohen Töne in dieser Klar-
Woche eine halbe Million Mal verkauft wurde:        heit und Präzision trifft.» Es gebe hundert
Madonna beim Liebesspiel mit Frauen, als            Gründe, das Lichtspiel des ehemaligen Wer-
Sklavin eines Mannes und nackt über einem           befilmers Alan Parker mit dem ehemaligen
Hund kniend. «Szenen vom Raffinement ei-            Nacktmodell Louise Ciccone (mit Jonathan
ner Reeperbahninszenierung», spottete ‹Der          Pryce als Juan Perón und Antonio Banderas
Spiegel›. «Die schönste Sauerei des Jahres»,        als Che Guevara) gut zu finden, schrieb Cordt
schwärmte ‹Bild›. Die Postille ‹Prinz› brachte      Schnibben im ‹Spiegel›: dass der Film seine
es auf den Nenner «Pornodonna». Sie selbst          Story in Bildern erzähle und nicht in Dialogen,
sah mit gemischten Gefühlen, «dass Erotica          dass er detailgenau sei wie ein Champagner-
wegen der ‹Sex›-Buch-Geschichte übersehen           Spot, dass Madonnas Stimme so schön sei wie
wurde. Es ist eine Schande.» Im Frühjahr 1994,      nie zuvor. «Das Wichtigste aber ist: Der Film
als sie New Yorks TV-Talkstar David Letter-         strotzt vor Kraft. All die Walzer und Tangos, all
man in seiner ‹Late Show› mit den Worten an-        die Streicher und Chöre, all die Singerei, mit
sagte: «Hier kommt Madonna, die mit vielen          der in ‹Evita› von der Politik eines totalitären
Größen der Unterhaltungsindustrie geschlafen        Pärchens erzählt wird, verkleistern seltsamer-
hat», drückte sie ihm kurzerhand ihren Slip in      weise nicht die Wirklichkeit, sondern enthüllen
die Hand. Madonna später: «Das Ganze war            das Wesen aller Inszenierung von Herrschaft.»
keine Talkshow, sondern ein Boxkampf. Ich           Zehn Regisseure hatten zuvor versucht, die
musste den Mann aus der Balance bringen und         abenteuerliche und umstrittene Karriere der
ihn möglichst schnell entwaffnen, selbst auf die    mit 33 Jahren an Krebs gestorbenen Eva Perón
Gefahr hin, dass ich mit zu Boden gehe.» Die        aus der Pampa zur Gattin des faschistischen
Nation schäumte – oder schmunzelte. Ende des        Diktators General Juan Perón und zur argenti-
Jahres veröffentlichte die zwischenzeitlich wie-    nischen Nationalheiligen zu verfilmen, darun-
der erblondete Sängerin mit Bedtime Stories         ter Francis Ford Coppola und Oliver Stone.
ein stilistisches Gemisch aktueller Sounds. «Et-    Stars wie Barbra Streisand, Bette Midler, Liza
1040       MADONNA
Minnelli, Meryl Streep und Michelle Pfeiffer       William Orbit hatte sie sich aktuelle Sounds
hatten um die Hauptrolle in der Lloyd Webber-      zunutze gemacht und in typische Madonna-
Version gekämpft. Madonna sah in Evita die         Songs umgemünzt, wie sie es immer verstand,
Seelenschwester, bündelte all ihre Energie und     die Kreativität anderer für sich zu nutzen. Der
gewann die Rolle. Sie recherchierte besessen,      Klangschmied zeigte sich erstaunt über die Ar-
las Bücher, sah Dokumentarfilme, sprach mit        beitsweise und -wut der Sängerin: «Wenn ich
Diplomaten, Obristen und Oligarchen, kroch         völlig fertig war und erschöpft nach Hause ge-
in die Rolle und siegte auch als Schauspielerin.   hen wollte, sagte sie nur, ich könne ja schlafen,
Noch vor der Filmpremiere verriet sie im April     wenn ich tot wäre. Man sieht in ihr nur die En-
1996 der Klatsch-Kolumnistin Liz Smith, sie sei    tertainerin, die Pop-Ikone, und nimmt kaum
von ihrem acht Jahre jüngeren Fitnesstrainer       wahr, dass sie auch eine großartige Produzen-
Carlos Leon schwanger, den sie achtzehn Mo-        tin ist.» Auf die Häme der Medien über ihr
nate vorher im New Yorker Central Park ken-        «neues Image – Mütterlichkeit» (‹Die Zeit›),
nengelernt hatte. Sie inszenierte die Geburt       die «Rückkehr der öffentlichsten Frau der
ihrer Tochter Ende Oktober wie eine Show.          Welt als romantische Märchentante» (‹Stern›)
Für die erste TV-Präsentation des 2,95 Kilo        reagierte die «Postmadonna» (‹Der Spiegel›)
schweren Babys zahlte ABC dem Vernehmen            wie gehabt: «Die Medien haben mich schon so
nach 1,5 Millionen Dollar. Das Gesellschafts-      oft für tot erklärt – na und? Hier bin ich, mache
magazin ‹Vanity Fair› bezahlte eine sechsstelli-   meine Arbeit und lasse mir von niemandem
ge Summe für Madonnas Tagebuch von der             den Mund verbieten.» Von den sechs Grammy-
«Schwangerschaft des Jahrhunderts». Zu Weih-       Nominierungen für Ray Of Light gewann sie
nachten 1996 erschien der Fotoband über alle       vier, von ihren neun MTV Award-Nominierun-
Phasen der Schwangerschaft: ‹Life›. Als An-        gen kassierte sie sechs. Die Leser des amerika-
fang 1998 die Veröffentlichung der LP Ray Of       nischen ‹Rolling Stone› wählten sie im Januar
Light anstand und das nach dem französischen       1999 zur besten Popkünstlerin und zur besten
Marien-Wallfahrtsort benannte Töchterchen          Interpretin in der Kategorie Dance/Electroni-
Lourdes Maria das fotogene Alter von 14 Mo-        ca. Und obgleich sie beim Ice Ball im New Yor-
naten erreicht hatte, präsentierte sie sich, den   ker Roxy im Januar 1998 zum ersten Mal seit
fröhlichen Nachwuchs auf dem Schoß, als jun-       zehn Jahren wieder live in einem Club aufge-
ge Mutter, gestresst, aber glücklich, wieder in    treten war, wurde sie im Dezember in Las Ve-
‹Vanity Fair›. Das offizielle Foto der Madonna     gas als Dance Club-Play Artist of the Year und
mit Kind erbrachte im Februar 1998 weltweit        für die Dance Club-Play Single (Ray Of Light)
eine satte Dollar-Million. Vertraut mit der        mit Billboard Music Awards gekrönt. Als im
Medienklaviatur, lobte sie die Mutterschaft:       September 2000 ihr Album Music erschien,
«Wenn man Kinder hat, muss man einen Schritt       schrieb Ethan Brown unter dem Titel ‹Dance
aus sich herausgehen. Man kann nicht herum-        Fevered› im Stadtmagazin ‹New York›, Ma-
sitzen und im Selbstmitleid versinken oder sich    donnas Originalität liege darin, auf dem Dance-
als Opfer von irgendwas oder irgendwem füh-        floor interessante neue Sounds zu finden und
len. Man sieht das Leben von einer ganz ande-      dazu Producer, die sie für sie umsetzten. Nur
ren Warte» (so in ‹Q›). Auf der CD sang sie: «I    noch fünf der elf Tracks, darunter Runaway
traded fame for love.» Ray Of Light zeigte aber    Lover und das hymnische Amazing, waren von
auch, dass sie nicht nur Windeln gewechselt        ihrem Ray Of Light-Partner William Orbit pro-
hatte. Songs wie Substitute For Love oder Swim     duziert worden, dessen Kühle nun schon wie-
bescheinigte Hagen Liebing in ‹Tip›, sie ge-       der fast altmodisch erschien. Ihr neuer Mann
wönnen «durch bewusste Auslassung im Klang-        am Mischpult hieß Mirwais Ahmadzaï, war ita-
teppich enorm an Leichtigkeit und Transpa-         lienisch-afghanischer Herkunft und lebte seit
renz», die Sängerin klinge «manches Mal sogar      seiner Kindheit in Paris, wo er als Teenager die
wie eine erfrischende Newcomerin». Zusam-          Elektropopband Taxi Girl betrieb. Durch die
men mit dem Ambient Dance-Spezialisten             kreative Elektronik seines Albums Production
MADONNA         1041
hatte er Madonna derart überzeugt, dass sie         Giganten Microsoft im Internet für angeblich
seinen Song Paradise (Not For Me) inklusive         neun Millionen Computernutzer übertragen.
des französischen Sprechgesangs gleich für          Auf der Rückseite ihres schwarzen T-Shirts zur
sich übernahm. Mit dem New Wave-Flavour             schwarzen Hose mit Silbergürtel stand «Lola»,
von Borderline, dem Retro-Discostück Deeper         Spitzname ihrer Tochter, auf der Vorderseite
And Deeper und dem wiederholten Einsatz des         «Rocco», der Name ihres knapp vier Monate
Vocoders, der in den Seventies-Aufnahmen            zuvor geborenen Sohnes. Und der Guy, für den
von Kraftwerk der menschlichen Stimme Ro-           sie die Eigenkomposition I Deserve It intonier-
botercharakter gegeben hatte und gerade eben        te («This guy was dreamt for me / And I was
in Chers Believe wieder populär geworden war,       dreamt for him»), war im Zweifelsfall ihr neuer
führte er die Sängerin in Madonnas eigene An-       Lebensgefährte und Roccos Vater, der eng-
fänge um 1980 in den New Yorker Discos Pa-          lische Filmregisseur Guy Ritchie. Von Lolas
radise Garage und Danceteria zurück. Die            Vater Carlos Leon hatte sie sich unverheiratet
Textzeile «Hey, Mr. D. J., put a record on» im      18 Monate nach Lolas Geburt getrennt. Nach
Opening Track von Music erinnerte direkt an         einer kurzen Affäre mit einem britischen
Indeeps Last Night A D. J. Saved My Life oder       Drehbuchautor lernte sie den nach seinem
Zhanes Hey Mr. D. J. aus jener Zeit. Und die        Lichtspiel ‹Lock Stocks› als hot geltenden Fil-
war im Zyklus der Popmoden 2000 gerade wie-         memacher Ritchie auf einer Party in New York
der angesagt. Mit ihrem Video American Pie          kennen. Der Sohn eines überaus erfolgreichen
nach dem Don McLean-Hit von 1972, den sie           Werbeunternehmers, wegen Unbotmäßigkeit
im Film ‹The Next Best Thing› (mit Rupert           von zehn staatlichen und privaten Schulen ge-
Everett, 2000) gesungen hatte und in die CD         flogen, hatte Drogenerfahrungen und verstand
Music übernahm, gab sie sich imagegerecht           als zeitweiliger Angestellter von Island Re-
kontrovers. Unter der Regie von Philipp Stölzl,     cords etwas von Popmusik. Außerdem galt er
Sohn des Berliner Kultursenators Christoph          in seinem Job als ebensolcher Workaholic und
Stölzl, traten fast nur Lesben und Schwule auf.     als Senkrechtstarter wie sie. Sein Drogen-
Im Clip Music äffte sie die protzigen Posen po-     thriller ‹Lock Stocks› hatte bei einer Million
pulärer Rapper nach. Das Video What It Feels        Pfund Produktionskosten elf Millionen briti-
Like For A Girl zeigte den Amoklauf eines «ni-      sche Pfund erlöst. Um ihm nahe zu sein, kaufte
hilistic pissed-off chick» (Madonna), das zuerst    sie für 13 Millionen Dollar eine Villa im Lon-
ein paar Männer mit dem Elektroschocker er-         doner Nobelviertel Chelsea und verkaufte sie
ledigt und dann mit ihrem Boliden gegen einen       wieder, weil sie ihren Sicherheitsvorstellungen
Mast crasht. Ansonsten entsprach ihre Kar-          nicht genügte. Danach erwarb sie ein Schlös-
rierewindung wieder genau dem Zeitgeist:            schen in Kensington – für 13,5 Millionen
nostalgisch, multikulturell, patriotisch, persön-   Dollar. Die Hochzeit mit Ritchie und Roccos
lich. So trat sie am 28. November 2000 in Cow-      Taufe wurden zu Weihnachten 2000 unter
boystiefeln und Westernhut, die auch ihr Cover      Beteiligung des internationalen Rock-Hoch-
zierten, unter dem Sternenbanner auf die Büh-       adels streng abgeschirmt auf Schloss Skibo im
ne der Londoner Brixton Arena, welche das           Flecken Dornoch in den britischen Highlands
italienische Designer-Paar Domenico Dolce           vollzogen – Presse ausgeschlossen. «Madonna
und Stefano Gabbana mit einem Western-Am-           glaubt wohl, sie sei etwas Besseres als die
biente aus Glitzerkakteen, Strohballen und          Royals», nörgelte der ‹Star›. – «Madonna – die
Plastikattrappen skelettierter Rinderschädel        geheime Braut» titelte die ‹Daily Mail›. Der
ausgestattet hatte. 3500 Besucher, darunter         ‹Independent› spottete: «Die Ritchies laden
Popprominenz aus ganz Europa, zahlten für           Sie herzlich ein … auf Distanz zu bleiben.» Das
die exklusivste Privatparty des Jahres auf dem      Boulevardblatt ‹The Sun› drechselte sich man-
Schwarzmarkt bis zu – umgerechnet – 3000            gels Details die Hochzeitsstory selbst. Die an-
Euro Eintritt, dafür wurde Madonnas 30-Mi-          gereisten Promi-Freunde des Paares «hielten
nuten-Auftritt von 21 Kameras vom Software-         die Tränen zurück, als Madonna endlich ihren
1042       MADONNA
Guy bekam», so das Blatt. Doch im Vereinig-        chen übersetzt und in 110 Ländern gedruckt
ten Königreich hatte die vulgär-selbstbewusste     wurden. Aber auch ihre Welt war nach dem 11.
Pop-Ikone aus dem amerikanischen Mittelwes-        September 2001 nicht mehr dieselbe. Der Song,
ten noch nie eine besonders gute Presse. Zu        den sie zusammen mit Mirwais Ahmadzaï mit
ihrem ersten Auftritt in Großbritannien seit       Riesenerfolg auf einer Single zum aktuellen
acht Jahren, Ende November 2000, bemühte           James Bond-Streifen beitrug, hieß wie der Film
sogar die ehrwürdige ‹Times› ihren Opernkri-       Die Another Day (Stirb an einem anderen Tag).
tiker Rodney Milnes in einer zweiseitigen Ti-      Das mochte noch Zufall sein, aber ihr Album
telstory («Virgin Territory») für den Nachweis,    American Life (2003), wieder mit Ahmadzai
sie könne eigentlich gar nicht singen: «Die        als Producer, war explizit persönlich und poli-
Qualität ihrer Songs wird von ihrer geringen       tisch. Zwar zog sie ein kriegskritisches Video
Stimmbreite – nicht viel mehr als eine Oktave      zum Titelsong sogleich wieder zurück, weil es
– eingeschnürt, das heißt, die Stücke kommen       «als unpatriotisch missverstanden werden»
nie richtig zum Fliegen. Sie haben einfach nicht   könne, doch die ganze CD verriet ihre Verunsi-
genug Töne dafür. Damit und mit ihrem stamp-       cherung. «Es gibt einen Song, der Hollywood
fenden Rhythmus plus ihrem minimalen Reiz          als Ersatzreligion des Westens geißelt», analy-
klingen sie beinahe alle gleich.» Ähnliches hat-   sierte Thomas Groß in der ‹Zeit›: «Es gibt ei-
ten Kritiker der E-Musik früher allerdings         nen Song, der die Einsamkeit der Stars betrau-
auch schon Elvis Presley und den Beatles nach-     ert. Gleich zwei Titel sind Selbstanklagen, so
gesagt. Mit dem Titelstück der CD Music er-        lange einer Welt der Oberfläche und der Gier
reichte Madonna im September 2000 zum              angehört zu haben. Es gibt stolpernde Rhyth-
zwölften Mal Platz eins in den US-‹Billboard›-     men, fordernde Gitarren und Gospelchöre.
Charts und lag damit – nach Elvis (36) und den     Was es nicht gibt, sind Slogans. ‹There are too
Beatles (34) – in der amerikanischen Hitstatis-    many questions, there is not one solution›: In
tik auf Platz drei. Als die Diva im Juni 2001 in   einer heillos verzwickten Welt beharrt die
Barcelona zu ihrer Welttournee ‹The Drowned        Künstlerin darauf, auch kein Rezept zu ken-
World› aufbrach, schrieb Thomas Hüetlin im         nen.» Den Rockdeutern der Fachmagazine wi-
Vorspann seiner ‹Spiegel›-Story «John Wayne        derstand die Musik: «Fingergepickte Akustik-
auf Stilettos»: «Die unumstrittene Herrscherin     gitarre, Break, mehr oder weniger fieser
der Popwelt muss nichts mehr beweisen – und        Elektronikeffekt, Break usw. usf. Und dann die
tritt doch zu einem Kreuzzug an: gegen das Al-     Reime: guy – shy – fly – sky, kind – mind – find,
ter und die eigenen Ängste.» Die Tour endete       Bi-Ba-Butzemann» (Albert Koch im ‹ME›).
am 14. September 2001 in Los Angeles. Drei         «Der französische Freund hat sich Mühe ge-
Tage zuvor hatten islamistische Terroristen        macht beim Aufnehmen der vielen Gitarren,
US-Flugzeuge als Waffen für mörderische An-        die schrammeln, schnarzen und sogar twängen,
schläge auf das New Yorker World Trade Cen-        hält den Gesamtklang aber digital und kran-
ter und auf das Pentagon in Washington, D. C.,     kenhausweiß» (Joachim Hentschel im deut-
benutzt. Madonna bat ihr Publikum zum Ge-          schen ‹Rolling Stone›). 4,5 Millionen Exem-
bet. Im Stück «Up For Grabs» des australi-         plare wurden davon verkauft, für Madonnas
schen Autors David Williamson spielte sie un-      Verhältnisse enttäuschend. Und da auch der
ter der Regie von Laurence Boswell zwei            Film ‹Swept Away› (2003) ihres Mannes, in
Monate lang am Londoner West End Theater           dem sie ihm zuliebe die Hauptrolle gespielt
und erhielt sogar den Publikumspreis Theatre-      hatte, bei Presse und Publikum durchfiel, ging
goers’ Choice Theatre Award. Sie publizierte       sie zum Geldverdienen 2004 wieder auf Tour-
im New Yorker Verlag Barnes & Noble das            nee. Die von ihr selbst liebevoll produzierte, im
Kinderbuch ‹The English Roses› derart erfolg-      Juli 2006 veröffentlichte DVD ‹I’m Going To
reich, dass der Verlag vier weitere, von ver-      Tell You A Secret› zeigte die 46-Jährige nicht
schiedenen englischen Künstlern illustrierte       nur als hochenergetische Tänzerin zwischen
Madonna-Bücher folgen ließ, die in 37 Spra-        Aerobic und Techno, sondern vermittelte in
MADONNA           1043
sensiblen Einstellungen auch Backstage-Im-         dern auf Platz eins und wurde bis April 2006
pressionen und Familienszenen aus dem Hotel.       6,5 Millionen Mal verkauft. Im Mai eröffnete
Schlagzeilen machte die von jeglicher Glau-        sie in Los Angeles ihre ‹Confessions›-Tournee.
bensroutine abgefallene Ex-Katholikin, die         Madonna: «Wir fangen da an, wo die CD endet
sich die längste Zeit ihres Lebens als Buddhis-    – mit dem Song Like It Or Not: This is who I
tin verstanden hatte, indem sie sich Esther        am / You like it or not / Love me or leave me /
nannte und als Anhängerin der 1969 unter dem       I’m not gonna stop!» Sie hatte sie wieder alle:
Schlagwort «Jewish Revival» von Phillip Berg       die Fans, die Kritiker, die Intellektuellen. ‹Die
gegründete Kaballah-Sekte outete, die das          Zeit› hatte eine Literaturprofessorin für die
Alte Testament mit Reinkarnationsvorstellun-       Erkenntnis aufgeboten, seit Walter Benjamin
gen und fernöstlichen Frömmigkeitspraktiken        und Siegfried Kracauer vor bald hundert Jah-
verband. Ein Zehntel ihrer Einnahmen, hieß         ren gehöre es zur Funktion des Intellektuellen,
es, spende sie dem Londoner Zentrum der Sek-       durch die Aufwertung der Subkultur demokra-
te, der auch Elizabeth Taylor, Barbra Streisand,   tische Gleichheit auch im Bereich der Kultur
Elton John, Mick Jagger und Britney Spears         herzustellen: «Die emphatische Rede über
angehören sollten. An ihrem 47. Geburtstag,        Madonna ist ein Bekenntnis zur Aufhebung
am 16. August 2005, stürzte Madonna auf ih-        kultureller Standesunterschiede» (Hannelore
rem Anwesen Ashcomb House in Wiltshire,            Schlaffer), ihre Tournee sei «eine akustische
160 Kilometer südwestlich von London, derart       Höllenfahrt in die Abgründe der Politik». –
unglücklich vom Pferd, dass sie sich die Hand,     «Madonna stürzt in Käfige, um deren Insassen
das Schlüsselbein und mehrere Rippen brach.        von Burkas zu befreien», beobachtete Michael
Kaum genesen, nahm sie in einem leeren Bal-        Pilz für ‹Die Welt›: «Und dann flimmern alle
lettsaal mit Gegenschnitten auf tanzende           Schurken dieser Welt, die Diktatoren, Terroris-
Street Kids das Video zur Single Hung Up auf.      ten oder kriegerischen Präsidenten durch die
Es war ihr gelungen, dafür das Sample des          Arena. Das ist selbstverständlich kritisch. Aber
Abba-Hits Gimme Gimme Gimme (A Man Af-             es handelt sich um großartigen, hinreißenden,
ter Midnight) zu erwerben, das Ralph Geisen-       kurz: madonnenhaften Kitsch.» – «Am Schluss
hanslüke in der ‹Zeit› als das «Leitmotiv, den     trägt Madonna einen Gymnastikanzug mit
Schlüssel für das ganze Album» Confessions         Highheels und tanzt wie eine Dorfschlampe»,
On A Dance Floor (2005) interpretierte: «die       so Oliver Fuchs in der ‹FAZ›: «Der Anzug ist
Sehnsucht nach Popmusik, die ihre Unschuld         im Gesäßbereich großzügig dekolletiert, weite
noch nicht verloren hat». – «So und nicht an-      Teile ihres Pos liegen frei. Absolut geschmack-
ders muss die wahre Madonna sein», sekun-          los. Total genial.» So hatten das die Kulturphi-
dierte Tobias Kniebe in der ‹Süddeutschen          losophen Walter Benjamin und Siegfried Kra-
Zeitung›: «Over The Top, Out Of Control. Ihre      cauer sicher nicht gemeint. Im Frühjahr 2008
Meisterschaft liegt in einer Sphäre, die mit gu-   gelangte Madonna in die Rock and Roll Hall
tem Geschmack gerade nicht zu begreifen ist,       of Fame.
in der unstillbaren Sehnsucht der Vorstadt-
disco, im großen, hormonüberladenen, berau-        LPs: Madonna (1983); Like A Virgin (1985); True Blue
schenden Jenseits der Peinlichkeit. Dort tobt      (1986); Who’s That Girl (1987; Soundtrack); You Can
                                                   Dance (1987); Like A Prayer (1989); I’m Breathless
sie jetzt wieder herum, als sei sie niemals weg
                                                   (1990); Erotica (1992); Bedtime Stories (1994); Evita
gewesen.» Produziert von Stuart Price (Zoot        (1995; Soundtrack); Erotica Remixes (1997); Ray Of
Woman, Les Rhythmes Digitales), dem musi-          Light (1998); Music (2000); American Life (2003);
kalischen Direktor ihrer letzten Tournee, be-      Remixed & Revisited (2003); Confessions On A Dance
legte Hung Up den Charts-Spitzenplatz in 41        Floor (2005); I’m Going To Tell You A Secret (2006);
Ländern. In den USA zog Madonna mit Elvis          The Confessions Tour (2007); Hard Candy (2008)
Presley gleich: Beide platzierten sich mit 36      Zusammenstellungen (Auswahl): The Immaculate Col-
                                                   lection (1990); Something To Remember (1995); GHV2
Singles unter ‹Billboards› Top Ten. Das Album      (2001)
Confessions On A Dance Floor kam in 40 Län-
Sie können auch lesen