Rückenschmerzen und Psychologie - Pfingsten M www.kup.at/ - Krause und Pachernegg
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie www.kup.at/ JNeurolNeurochirPsychiatr Zeitschrift für Erkrankungen des Nervensystems Rückenschmerzen und Psychologie Homepage: Pfingsten M www.kup.at/ Journal für Neurologie JNeurolNeurochirPsychiatr Neurochirurgie und Psychiatrie Online-Datenbank mit Autoren- 2011; 12 (1), 44-49 und Stichwortsuche Indexed in EMBASE/Excerpta Medica/BIOBASE/SCOPUS Krause & Pachernegg GmbH • Verlag für Medizin und Wirtschaft • A-3003 Gablitz P.b.b. 02Z031117M, Verlagsor t : 3003 Gablitz, Linzerstraße 177A /21 Preis : EUR 10,–
e-Abo kostenlos Datenschutz: Ihre Daten unterliegen dem Datenschutzgesetz und Das e-Journal Journal für Neurologie, werden nicht an Dritte weitergegeben. Die Daten Neurochirurgie und Psychiatrie werden vom Verlag ausschließlich für den Versand der PDF-Files des Journals für Neurologie, Neuro ✔ steht als PDF-Datei (ca. 5–10 MB) chirurgie und Psychiatrie und e ventueller weiterer stets internetunabhängig zur Verfügung Informationen das Journal betreffend genutzt. ✔ kann bei geringem Platzaufwand Lieferung: gespeichert werden Die Lieferung umfasst die jeweils aktuelle Ausgabe ✔ ist jederzeit abrufbar des Journals für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie. Sie werden per E-Mail informiert, durch ✔ bietet einen direkten, ortsunabhängigen Klick auf den gesendeten Link erhalten Sie die Zugriff komplette Ausgabe als PDF (Umfang ca. 5–10 MB). Außerhalb dieses Angebots ist keine Lieferung ✔ ist funktionsfähig auf Tablets, iPads möglich. und den meisten marktüblichen e-Book- Readern Abbestellen: ✔ ist leicht im Volltext durchsuchbar Das Gratis-Online-Abonnement kann jederzeit per Mausklick wieder abbestellt werden. In jeder Benach- ✔ umfasst neben Texten und Bildern richtigung finden Sie die Information, wie das Abo ggf. auch eingebettete Videosequenzen. abbestellt werden kann. www.kup.at/JNeurolNeurochirPsychiatr
Rückenschmerzen und Psychologie Rückenschmerzen und Psychologie M. Pfingsten Kurzfassung: Rückenschmerzen sind einerseits dern. Bei chronischen Schmerzen nehmen psy- For chronic back pain, the concept of fear avoid- banal und selbstlimitierend, andererseits ein chologische Faktoren eine besondere Bedeutung ance may serve as a good model to understand komplexes Phänomen, in das auch psychologi- ein; die monomodale Behandlung ohne Berück- the psychological aspects of the chronification sche Faktoren eingebettet sind. Insbesondere sichtigung des psychosozialen Umfelds kann bei process. Several consequences derived from chronische Schmerzen sind durch kognitive Ein- diesen Patienten nicht erfolgreich sein. this model may be used to improve therapeutic flüsse, die emotionale Situation, das Verhalten strategies. To prevent back pain from becoming der Betroffenen wie auch durch psychischen Schlüsselwörter: Rückenschmerz, Chronifizie- chronic it is useful to identify psychological risk Distress im weitesten Sinn unter Umständen rung, psychologische Faktoren, multimodale Be- factors as soon as possible and to offer psycho- stark beeinflusst. Beim (chronischen) Rücken- handlung logical counseling as an additive part of usual schmerz bietet das Angst-/Vermeidungskonzept treatment. In chronic pain, psychological factors gute Ansätze, die sowohl zum Verständnis der Abstract: What is the Psychological Con- and the whole psychosocial circumstances have Chronifizierung als auch für therapeutische Prin- text in Low Back Pain? Back pain is a com- particular prominence. In such patients, a thera- zipien genutzt werden können. Um chronische mon and self-limiting phenomenon. On the other peutic regimen without recognition of these fac- Verläufe zu vermeiden, ist es sinnvoll, potenziel- side, back pain may become a complicated and tors cannot be effective. J Neurol Neurochir le Risikofaktoren aus dem psychosozialen Be- complex disease with significant psychological Psychiatr 2011; 12 (1): 44–9. reich möglichst frühzeitig zu identifizieren. Eine problems. It has been proven that especially darauf abgestimmte Behandlung, die zusätzlich chronic pain can be influenced by cognitive proc- Key words: back pain, process of chronifica- zur normalen Versorgung angeboten wird, kann esses, emotional disturbance, the patient’s own tion, psychological aspects, multimodal treat- chronische Verläufe vermutlich deutlich vermin- behavior, and psychological distress in general. ment Epidemiologie von Rückenschmerzen gelangen, dass Rückenschmerzen immer häufiger auftreten und dadurch immer höhere Kosten entstehen. Im Gegensatz Rückenschmerzen weisen in Bezug auf Prävalenz- und Inzi- zu diesem offensichtlichen Trend wird vom schottischen Or- denzraten sowie in Bezug auf die entstehenden Kosten eine seit thopäden und international renommierten Rückenschmerz- Jahren steigende Tendenz auf [1]. In einer 2007 publizierten experten Gordon Waddell aber bezweifelt, dass es in den Studie konnte eine Arbeitsgruppe aus Greifswald in einer gro- vergangenen Jahrzehnten eine Veränderung im Vorkommen ßen bevölkerungsbezogenen Studie mit Befragung von von Rückenschmerzen gegeben hat [3]. Waddell stellt die ca. 10.000 zufällig ausgewählten Bürgern zeigen, dass die Hypothese auf, dass man trennen muss zwischen einer (nicht Punktprävalenz von Rückenschmerzen in Deutschland ca. vorhandenen) „Epidemie von Rückenschmerzen“ und einer 35 % beträgt [2]. 84 % der Betroffenen hatten eher leichte bis (zunehmenden) „Epidemie von subjektivem Beeinträchti- mittlere Schmerzen, während 16 % unter stark beeinträchtigen- gungserleben durch Rückenschmerzen“; letztere manifestiert den Beschwerden litten. Es wurde des Weiteren festgestellt, sich insbesondere in einer Zunahme rückenschmerzbedingter dass die extrapolierten Gesamtkosten für Rückenschmerzen in Krankheitstage. Das Erleben von Beeinträchtigung wird stark Deutschland fast 50 Mrd. Euro pro Jahr betragen, was 2,2 % durch psychologische Faktoren beeinflusst (s. u.). des Bruttoinlandprodukts ausmacht. Durch die chronischen Pa- tienten mit langer Krankheitsdauer, die in der Regel neben star- Pathomechanismen ken körperlichen auch erhebliche psychosoziale Beeinträchti- gungen aufweisen, entstehen die höchsten Kosten: Die Das Problem wird dadurch erheblich erschwert, dass es sich Patientengruppe mit leichten und mittelstarken Schmerzen bei Rückenschmerzen nicht um eine abgrenzbare Krankheits- (84 % aller Betroffenen) verursacht 35 % der Gesamtkosten, entität handelt, sondern um eine Ansammlung von Sympto- während die kleine Gruppe mit starken Schmerzen bzw. hoher men, die durch unterschiedliche Mechanismen hervorgerufen Beeinträchtigung (16 % der Betroffenen) für 62 % der Gesamt- werden können. Der zugrundeliegende Pathomechanismus kosten verantwortlich ist. Interessant war das zusätzliche Er- reicht von (seltenen) spezifischen Ursachen mit erheblichen gebnis, dass insbesondere Männer mit einem geringen Aus- Beschwerden bis zu (unbedenklichen) Belastungsschmerzen bildungslevel die höchsten Kosten ausmachen, sodass eine kla- als Zeichen körperlicher Beanspruchung, z. B. bei mangeln- re Abhängigkeit vom Bildungsniveau nachzuweisen war [2]. der Fitness. In den meisten Fällen (> 80 %) handelt es sich um rezidivierende Schmerzzustände, die sich nicht auf einen spe- Wenn man die epidemiologischen Ergebnisse über die Jahre zifischen Krankheitsprozess zurückführen lassen (so genann- miteinander vergleicht, könnte man zu der Schlussfolgerung te nicht-spezifische Rückenschmerzen). Um diesen Begriff hat es in den vergangenen Jahren in Deutschland eine inten- Eingelangt am 16. August 2010; angenommen am 30. August 2010; Pre-Publishing sive fachliche Auseinandersetzung gegeben. Nicht-spezifi- Online am 2. November 2010 sche Rückenschmerzen bedeuten nicht, dass es sich – mangels Aus dem Zentrum Anaesthesiologie, Rettungs- und Intensivmedizin, Universitäts- ausreichendem Nachweis einer körperlichen Pathologie – um medizin Göttingen, Deutschland Schmerzen psychosomatischen Ursprungs handelt. Der Be- Korrespondenzadresse: Prof. Dr. rer. biol. hum. Dipl.-Psych. Michael Pfingsten, Schmerztagesklinik und -ambulanz, Zentrum Anaesthesiologie, Rettungs- und Inten- griff bedeutet lediglich, dass ernsthafte körperliche Erkran- sivmedizin, Universitätsmedizin Göttingen, D-37075 Göttingen, Robert-Koch-Straße kungen als Ursache ausgeschlossen sind. Dennoch gibt es so- 40; E-Mail: michael.pfingsten@med.uni-goettingen.de matische Zusammenhänge: Diese betreffen in der Regel gut- 44 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (1) For personal use only. Not to be reproduced without permission of Krause & Pachernegg GmbH.
Rückenschmerzen und Psychologie artige, aber mitunter sehr schmerzhafte und bewegungsein- tion einerseits und somatischer Anlass andererseits sind nicht schränkende Funktionsstörungen, die nachhaltig unter den identisch und können auch zeitlich auseinander liegen. Der Einfluss psychosozialer Faktoren gelangen können. Die Be- betroffene Patient selbst sieht meist nur den Zusammenhang zeichnung „nicht-spezifischer Schmerz“ hat den entscheiden- zum somatischen Anlass („Seit der Operation gehen die den Vorteil, dass sie die Aufmerksamkeit von der ausschließ- Schmerzen nicht mehr weg“), was das Identifizieren der psy- lichen Betrachtung struktureller bzw. funktioneller Verände- chologisch bedingten Auslösesituation erschwert. rungen zu einem Verständnis einer multifaktoriellen Genese von Rückenschmerzen lenkt [4]. Obwohl in epidemiologischen Studien für Merkmale kör- perlichen und/oder sexuellen Missbrauchs wie auch für Per- Schmerz und Psychologie sönlichkeitsmerkmale meist keine ausreichende Evidenz für einen Zusammenhang mit dem Auftreten von Rückenschmer- Da Schmerz eine subjektive Erfahrung und ein Erlebens- zen gefunden wurde, ist deren Bedeutung, die sie z. B. als phänomen ist, wird er durch psychologische Faktoren beein- übermäßige Stresserfahrung auf die Schmerzverarbeitung ha- flusst. Diese sind an der Auslösung beteiligt, bestimmen den ben, auf keinen Fall zu vernachlässigen. Krankheitsverlauf und beeinflussen die Art und Weise, wie Patienten auf jede Form operativer, konservativer, psycho- Verhaltenstherapeutischer Ansatz somatischer und multimodaler Behandlung reagieren. Dies ist Bei den Erklärungen zum Zusammenhang zwischen psycho- bereits bei akuten Schmerzen der Fall, wobei die Rahmen- logischen Faktoren und Schmerzerkrankungen dominieren bedingungen, in denen Schmerz erlebt wird, entscheidend auf verhaltenstherapeutische Ansätze [8]. Der Begriff der Verhal- die Stärke und Dauer der Schmerzen Einfluss nehmen kön- tenstherapie ist eng gebunden an die Verhaltenstheorie als nen. Konsequenzen ergeben sich hieraus z. B. auch für die psychologische Wissenschaft, die historisch mit den experi- postoperative Schmerztherapie und die Versorgung schwerer mentellen Arbeiten zur klassischen Konditionierung, dem akuter Schmerzen, in die Maßnahmen aus dem psychologi- Behaviorismus und dem operanten Lernen verbunden ist. schen Spektrum – wie z. B. eine am emotionalen Zustand des Später standen vor allem Kognitionen (Gedanken, Selbst- Patienten orientierte Wissensvermittlung oder die Vermitt- verbalisationen, Einstellungen etc.) als verhaltens- und er- lung von Entspannungs- und Schmerzbewältigungstechniken lebensbestimmende Faktoren im Mittelpunkt des Forschungs- – eingebettet sein sollten [5]. interesses. Ausgehend von den Arbeiten der Gruppe um Dennis Turk in Philadelphia wurden die Erkenntnisse zur Im psychologischen/psychosomatischen Bereich lassen sich Wirksamkeit kognitiver Strategien bei Laborschmerz auf die verschiedene Therapierichtungen unterscheiden, denen je- Situation des chronischen Schmerzpatienten übertragen [9]. weils unterschiedliche Störungsmodelle von (psychischen Obwohl sich die meisten Ergebnisse auf experimentell indu- und psychosomatischen) Erkrankungen zugrunde liegen. Die- zierte Schmerzen bezogen, wurde daraus eine Vielzahl von se Ansätze schließen einander nicht aus, in vielen (schmerz-) Techniken abgeleitet, welche die kognitive Kontrolle über therapeutischen Einrichtungen ist die Vorgehensweise viel- Schmerzreize beinhalten und die sich als therapeutisch sehr mehr durch eine praktikable Mischung der Ansätze gekenn- wirksam erwiesen haben. zeichnet. Verhaltenstherapeutische Modelle eignen sich gut für eine Psychoanalytischer Ansatz strukturelle Einteilung der Einflussfaktoren: Sie betonen die Nach psychoanalytischem Ansatz können Schmerzen Aus- Beeinflussung von Emotionen, Kognitionen und Verhalten druck einer inneren unbewussten Konfliktsituation sein, wo- auf die physiologische Ebene (Körperreaktionen). Struktu- bei das Körpersymptom (hier: Schmerz) einen (suboptimalen) relle Klarheit und Einfachheit des Modells erleichtern die Lösungsversuch darstellt, durch den die intrapsychische Span- Darstellung, bilden die komplexen Zusammenhänge dann nung reduziert und der Konflikt „gelöst“ wird (Zusammenfas- aber gelegentlich nur unzureichend ab. Eine adäquate Inter- sung in [6]). Nach psychoanalytischem Verständnis können pretation ist nur im Zusammenhang mit dem individuellen unerträgliche Affekte wie Aggression, Ärger, Hass usw. auch lebensgeschichtlichen Hintergrund möglich. in den eigenen Körper projiziert werden und machen sich dort als Körpersymptom bemerkbar. Dazu passt die Beobachtung, Kognitionen dass insbesondere Schmerzpatienten oftmals wenig Gefühl Im engeren Sinne sind Kognitionen gedankliche Prozesse als für ihren eigenen Körper haben und ihn oftmals als nicht zu Kondensat früherer Lernerfahrungen. Ihnen wird steuernde sich gehörig erleben. Der Körper wird gleichsam abgespalten Funktion bei der Wahrnehmung, der Erinnerung, den Emotio- und in ihn werden negative Selbstanteile projiziert, sodass das nen und der Handlungsregulation zugesprochen; ihre Bedeu- wahrgenommene Selbst weiterhin als „makellos“ erscheinen tung gewinnen sie insbesondere dadurch, dass sie verhaltens- kann. Schmerzen können somit als vegetatives Korrelat bzw. wirksam werden. Insofern lassen sich kognitive Elemente Äquivalente von Affekten angesehen werden, für die dem Pa- theoretisch und praktisch kaum von den Handlungsstrategien tienten keine andere Ausdrucksmöglichkeit zur Verfügung trennen. steht. Das Symptom Schmerz hat in diesem Zusammenhang Ausdruckscharakter und eine kommunikative Funktion. Kognitionen im Einfluss auf das Schmerzerleben sind vorran- gig im Zusammenhang mit der Bewältigung von Schmerzen Egle nennt den Schmerz auch eine „Prothese des Selbst“, um untersucht worden (Zusammenfassung in [10]). Diese Kogni- die herum eine Neuorganisation stattfindet und so ein Zusam- tionen können ein Muster aus Wahrnehmungen, Hinwendun- menbruch des Selbst vermieden wird [7]. Auslösende Situa- gen und Erwartungen produzieren, das die interne Realität J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (1) 45
Rückenschmerzen und Psychologie und die Verhaltensweisen in Bezug auf Schmerz in bestimm- schleichend, sodass der Betroffene (oder das direkte soziale ter Weise konfigurieren. Wenn z. B. der Schmerz nicht nur als Umfeld) die (mittlerweile) drastische Veränderung der eine schicksalhafte Lebenserscheinung angesehen wird und Lebensgewohnheiten nicht einmal bemerkt. Dieser Prozess insbesondere dann, wenn jemand anderes für diesen Zustand kann schließlich in einen vollständigen Verlust angenehmer verantwortlich gemacht werden kann, dann ist das Leiden der Gefühlslagen und in einen andauernden Zustand von Betroffenen offensichtlich erhöht. Die damit verbundenen Schmerz, Angst und Depression münden. Eintretende Arbeits- Gefühle von Ärger reduzieren die Motivation für eigene An- unfähigkeit beschleunigt den Effekt, indem sie den Bruch in strengungen und schwächen das therapeutische Bündnis (Bei- den Lebensgewohnheiten verstärkt und den Zugang zu wich- spiel für die negative Wirksamkeit einer externalen Kausal- tigen alternativen Verstärkerquellen verhindert. Die verrin- attribution). gerte körperliche und soziale Aktivität führt wiederum zu Konsequenzen im emotionalen und kognitiven Bereich, in- Die Überzeugung, Schmerzen selbst beeinflussen zu können, dem sie quasi zwangsläufig zu depressiver Verstimmung und und die Entwicklung der Bereitschaft, zumindest partiell Ver- katastrophisierenden Gedanken führt. antwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen, wird allgemein als eine Grundlage für verhaltensmedizinische In- Psychologische Faktoren beim chronischen terventionen angesehen. Das Erleben von Kompetenz und Kontrolle wirkt positiv auf das Schmerzerleben zurück. Schmerz Besonders bedeutsam werden psychologische Phänomene Große Bedeutung hat auch die Antizipation. Antizipatorische beim chronischen Schmerz. Chronischer Schmerz ist nicht Kognitionen beschreiben die Erwartung eines Individuums in nur in deutlicher Weise durch psychologische Faktoren beein- Bezug auf das erwartete Eintreten bestimmter Ereignisse. In flusst, sondern psychologische Prozesse sind auch entschei- funktionellen bildgebenden Verfahren konnte z. B. gezeigt dend am Übergang vom akuten zum chronischen Schmerz werden, dass allein die Ankündigung eines schmerzhaften beteiligt. Mit fortschreitender Chronifizierung nimmt die Be- Reizes (ohne dass er dann tatsachlich stattfand) zu nahezu deutung psychologischer Mechanismen für die Aufrechter- vollkommen gleichen hirnelektrischen Aktivierungsmustern haltung der Schmerzen zu. Somatische Faktoren stehen in den führte wie bei der tatsächlichen Applikation des Schmerz- meisten Fällen nur am Anfang der Kausalkette und verlieren reizes. aufgrund multipler Beeinflussung durch psychosoziale Fakto- ren zunehmend an Bedeutung. Beim ersten Auftreten wirken Der negative Einfluss katastrophisierender Gedanken auf den in den meisten Fällen eher exogene Faktoren auslösend (z. B. Verlauf von Schmerzerkrankungen wurde vielfach nachge- die körperliche Belastung am Arbeitsplatz), während psycho- wiesen: „Katastrophisierer“ sind aufmerksamer gegenüber soziale Variablen (im engeren Sinne die Krankheitsverarbei- somatisch bedrohlicher Information und neigen zur Über- tung) bei Rezidiven und der Chronifizierung in den Vorder- bzw. Missinterpretation normaler körperlicher Empfindun- grund treten. Insbesondere der individuelle Umgang mit den gen. Diese Patienten neigen dazu, ihre Aufmerksamkeit mehr Schmerzen (so genannte „Krankheitsbewältigung“) bestimmt auf die negativen Aspekte der Situation zu lenken und nehmen dann den weiteren Verlauf. Die aus dem Symptom „Schmerz“ allgemeines physiologisches „arousal“ (Grad der Aktivierung resultierenden Konsequenzen sind für die Aufrechterhaltung des zentralen Nervensystems) eher als Schmerz wahr. Durch der chronischen Symptomatik – im Sinne eines Circulus diese Aufmerksamkeitslenkung werden interozeptive Infor- vitiosus – schließlich mehr verantwortlich als die ursprüng- mationen eher bemerkt, leichter als bedrohlich interpretiert lich auslösende Situation. Letztendlich entsteht ein eigenstän- oder als Signal für eine erneute Verletzung bewertet. diges Krankheitsbild, das geprägt ist durch Auswirkungen auf der körperlichen Ebene (z. B. körperliche Dekonditionie- Schmerzverhalten rung), psychische Beeinträchtigungen (Angst, Depressivität), Schmerzverhalten ist ein sehr umfassender Begriff, der ver- Veränderungen im Verhalten (Schon- und Vermeidungs- schiedene Reaktionen auf das Ereignis Schmerz beinhaltet: verhalten, „Schmerzmanagement“-Aktivitäten), inadäquate die verbale und non-verbale Mitteilung der Schmerzen, die Krankheitsbewältigung sowie soziale Auswirkungen (Arbeits- Reduzierung körperlicher Aktivität, die Verringerung der Be- platzverlust, soziale Isolation) [11]. reitschaft, in Haushalt und Beruf Verantwortung zu überneh- men, sowie das Medikamentenverhalten und andere Formen Ein wichtiger Begriff ist in diesem Zusammenhang jener der der Inanspruchnahme des medizinischen Systems. Wie jede subjektiv erlebten Beeinträchtigung. Es ist eine allgemeine Form des Verhaltens ist auch Schmerzverhalten durch Lern- klinische Erfahrung, dass Patienten mit offensichtlich glei- prozesse beeinflussbar. Ein Patient kann z. B. die Erfahrung chem oder ähnlichem körperlichen Befund (z. B. nach ver- machen, dass Schmerzäußerungen mit positiven Folgen ver- gleichbaren Operationen) in unterschiedlicher Weise über bunden sind, wie erhöhter Aufmerksamkeit durch einen be- postoperative Schmerzen berichten und sich im Analgetika- sorgten Partner, verbesserter Stimmung durch Medikamente verbrauch (als einem möglichen Indikator der Schmerzinten- oder Vermeidung unangenehmer familiärer oder beruflicher sität) und im Schmerzverhalten drastisch unterscheiden kön- Aufgaben. Diese positiven Konsequenzen führen zu einer nen. Es geht um die Diskrepanz zwischen Befund einerseits höheren Wahrscheinlichkeit des weiteren Auftretens des und Befinden andererseits. Das Ausmaß der erlebten Beein- Krankheitsverhaltens (so genanntes operantes Lernen). Auf trächtigung (als Befinden) ist dabei offensichtlich mehr von diese Weise nimmt das Krankheitsverhalten immer größeren psychischen als von körperlichen Faktoren beeinflusst. Wie Raum ein und unterdrückt schließlich alle positiven aktiven sehr sich jemand beeinträchtigt fühlt – und sich entsprechend Bewältigungsanstrengungen. Dieser Prozess verläuft meist verhält –, hängt nicht allein von der objektiven Schwere der 46 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (1)
Rückenschmerzen und Psychologie Erkrankung ab, sondern zusätzlich vom Grad der erlebten Daraus entwickelt sich eine kognitiv vermittelte (gelernte) Kompensationsmöglichkeiten, von der subjektiven Verfüg- Assoziation zwischen Schmerz einerseits und körperlicher barkeit von Hilfsmitteln und dem Umfang, in dem ein Patient Aktivität andererseits (ein so genannter „respondenter“ Lern- gelernt hat, Einschränkungen der Beweglichkeit durch verän- vorgang im Sinne des klassischen Konditionierens). Als Kon- derte Bewegungsabläufe auszugleichen. Der weitere Krank- sequenz auf diese Schmerzüberzeugung reagieren die Patien- heitsverlauf scheint in entscheidender Weise davon abhängig ten typischerweise mit einer (angstmotivierten) Vermeidung zu sein, was ein Betroffener über z. B. die Ursache seiner Be- von Bewegung und Belastung (im lernpsychologischen Sinn schwerden denkt, wie sie beeinflusst werden können oder eine „operante“ Verstärkung). Angst vor Schmerz lässt eine welches Verhalten ihn/sie vor weiterer Schädigung bewahrt hohe Motivation zur generellen Vermeidung potenziell [10]. schmerzhafter Aktivitäten entstehen und führt schließlich zu einer ausgeprägten Immobilisierung. Die Befürchtung/Vor- Beim Prozess der Schmerz-Chronifizierung sind vielfältige stellung eines sich (möglicherweise) verstärkenden Schmer- Verursachungs- und Aufrechterhaltungsbedingungen (indivi- zes behindert die Ausübung von körperlicher Aktivität duell komplex) miteinander konfundiert. Neben vorrangig schließlich mehr als die körperlichen Beeinträchtigungen somatischen Mechanismen (z. B. „neurogene Plastizität“) selbst. Dieses (Vermeidungs-) Verhalten ist ausgesprochen wirken in diesen Vorgang auch Prozesse der Wahrnehmung löschungsresistent, da die betreffende Person aufgrund der und Aufmerksamkeit, der kognitiven Bewertung und der Vermeidung nicht mehr die Erfahrung machen kann, dass emotionalen Befindlichkeit verhaltenssteuernd ein. Persön- zwischen Reiz (Bewegung) und Schmerz keine notwendige lichkeitsdispositionen und Lernerfahrungen können dabei so- Verbindung besteht. Vermeidung von Bewegung (das wohl Wahrnehmungsorientierungen und Bewertungen beein- „Nichts-mehr-tun-Können“) führt langfristig zu einer fort- flussen als auch bestimmte Verhaltenspräferenzen nach sich schreitenden Deaktivierung mit körperlicher Dekonditionie- ziehen [12]. Die meisten Ergebnisse zum Verständnis der rung, Fehlhaltung, Koordinationsstörungen sowie erhebli- Schmerz-Chronifizierung liegen für den muskuloskelettalen chen Schwächen wichtiger Muskelgruppen im Bereich des Schmerz vor. In prospektiven Studien zeigt sich nahezu kon- Rumpfes. Abgesehen von den Auswirkungen auf der körper- sistent, dass lichen Ebene kommt es auch zu psychosozialen Konsequen- 1. psychische Belastung im weitesten Sinne; auch Depressi- zen (sozialer Rückzug, zunehmende Angst, depressive Symp- vität, tome), und damit im Sinne eines Circulus vitiosus zu einer 2. schmerzbezogene Angst, und Verfestigung der Krankenrolle und des Beeinträchtigungser- 3. die Vermeidung normaler (körperlicher) Aktivitäten lebens. wesentliche Voraussetzungen für die Chronifizierung darstel- len [13]. Während Punkt 1 („psychischer Distress“) eine sehr In mehreren empirischen Studien wurde inzwischen nachge- große Bandbreite individueller Konstellationen abdeckt (psy- wiesen, dass sich das Vermeidungsverhalten besonders bei chosomatische Kausalität im engeren Sinn, auch Traumatisie- den Patienten ausbildet, bei denen kognitive Überzeugungen rungen, psychische Komorbidität oder anhaltende Stress- zum Zusammenhang zwischen Rückenschmerzen einerseits erfahrungen), lassen sich die Punkte 2 und 3 weitgehend und Bewegung/Belastung andererseits stark ausgeprägt sind. einem übergeordneten Mechanismus zuordnen, der in dem Derartige Überzeugungen werden als „Angst-/Vermeidungs- zurzeit elaboriertesten Modell der Entwicklung chronischer Überzeugungen“ bezeichnet [15]. Diese sind offensichtlich muskuloskelettaler Schmerzen zusammengefasst ist: dem nicht allein ein Merkmal des fortgeschrittenen Chronifizie- Angst-Vermeidungs-Modell [4, 14]. rungsprozesses, sondern werden bereits bei akutem Rücken- schmerz verhaltensrelevant und bestimmen in der Folge den Angst-Vermeidungs-Modell weiteren Krankheitsverlauf [16]. Besonderen Einfluss auf das Verständnis der Chronifizierung Iatrogene Faktoren des bewegungsbezogenen Schmerzes hat das so genannte Angst-Vermeidungs-Modell. Darin werden Kognitionen und Die Gründe für einen chronischen Verlauf liegen jedoch nicht das daraus resultierende Verhalten als entscheidend dafür an- nur auf Seiten des Patienten. Auch das medizinische System gesehen, ob sich aus einem einfachen Schmerzgeschehen ein selbst nimmt im Sinne eines iatrogenen Faktors Einfluss, in- komplizierter chronischer Verlauf entwickeln kann. dem betroffene Patienten z. B. durch unnötige diagnostische und therapeutische Maßnahmen (Bildgebung, Blockade- Kognitive Überzeugungen (s. o.) sind für die Prognose der serien) in ihrer somatischen Fixierung bestärkt werden und Krankheitsentwicklung bei bewegungsbezogenen Schmerzen damit ein adäquater interdisziplinärer Ansatz verhindert wird von großer Bedeutung. Diese Einschätzungen sind im We- [17]. Das medizinische Versorgungssystem unterstützt oft- sentlichen nicht von der körperlichen Pathologie abhängig, mals die Laientheorie der Patienten, dass Heilung nahezu aus- sondern eher durch Vorstellungen und Glauben der Patienten schließlich durch passive Maßnahmen, „Spritzen“ und Krank- über die Art der Erkrankung, ihre potenziellen Auswirkungen schreibung erreichbar sei. Oftmals wird in der Diagnostik und ihre Behandelbarkeit sowie die psychische Beeinträchti- nicht-spezifischen strukturellen Veränderungen in bildgeben- gung und das Krankheitsverhalten beeinflusst. den Verfahren zu große Bedeutung zugemessen und dies den Patienten vermittelt (die das üblicherweise als Bedrohung Viele Patienten mit Rückenschmerzen sind davon überzeugt, auffassen). Frühes und wiederholtes Röntgen, häufige Injek- dass Aktivität, Belastung und Bewegung dem Rücken scha- tionen und wiederholte Chirotherapie, Verordnung passiver den und dadurch Schmerz verursacht oder verstärkt wird. physikalischer Maßnahmen, Anweisungen zur Schonung und J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (1) 47
Rückenschmerzen und Psychologie Belastungsvermeidung sowie lang anhaltende medikamentö- wird mit Stand September 2010 überarbeitet, die Vorversion se Behandlung verstärken das Krankheitsgefühl und fördern ist im Internet einsehbar): die Aktivitätsintoleranz. Gleiches gilt für eine Krank- http://www.versorgungsleitlinien.de/methodik/ schreibung über einen längeren Zeitraum. nvl-archiv/vorversionen-kreuzschmerz/ Weitere Hindernisse auf dem Weg zur Gesundung sind durch nvl-kreuzschmerz-konsultation1.0.pdf Mängel in der Versorgung bedingt: Neben der zu späten Über- weisungspraxis niedergelassener Ärzte ist hier insbesondere Akute Rückenschmerzen die Abgrenzung und Verantwortlichkeitsdiffusion der ver- Bei akuten Rückenschmerzen sind folgende Ziele zu nennen: schiedenen Leistungsträger (Krankenkassen, Rentenversiche- – Obwohl es sich in den meisten Fällen um nicht-spezifische rungsträger, Berufsgenossenschaften) zu bemängeln, die dazu Erkrankungen handelt (s. o.), muss in jedem Fall eine führt, dass wertvolle (Behandlungs-) Zeit durch die Klärung frühe Diagnostik für abwendbar gefährliche Verläufe der Zuständigkeit (z. B. Kostenübernahme der Behandlung) (Identifikation so genannter „red flags“) durchgeführt verloren geht. werden. Rückenschmerzen aufgrund spezifischer Ursa- chen (z. B. Infektion, Tumor, Osteoporose, Fraktur, Band- Therapeutische Implikationen scheibenvorfall) lassen sich (meist allein aufgrund einer ausführlichen körperlichen Untersuchung) in der Regel Unter Berücksichtigung des Angst-Vermeidungs-Modells leicht identifizieren und einer entsprechenden Behandlung sollten therapeutische Maßnahmen daraufhin geprüft werden, zuführen. Finden sich durch Anamnese und klinische Un- ob sie möglicherweise problematische Angst-Vermeidungs- tersuchung keine Hinweise für gefährliche Verläufe und Einstellungen sogar hervorrufen oder festigen. Diesbezüglich andere ernstzunehmende Pathologien (wie es in der gro- ist insbesondere die undifferenzierte Anwendung von ßen Mehrzahl der Betroffenen der Fall sein dürfte), sollen Rückenschulen problematisch anzusehen – insbesondere zunächst keine weiteren diagnostischen Maßnahmen dann, wenn sie nach einem pauschalisierten Vermeidungs- durchgeführt werden. dogma angewendet werden [18]. – Durch Medikamente eine adäquate Kontrolle der Sympto- me erreichen, d. h. Linderung der Schmerzen, sodass die Bei starken Angst-/Vermeidungskognitionen und einem aus- Betroffenen ihren täglichen Aktivitäten schnellstmöglich geprägten Schon- und Vermeidungsverhalten ist es sinnvoll, nachgehen können. Elemente der Angstbehandlung in die Behandlung von Pati- – Vermeidung von unnötigen diagnostischen Maßnahmen enten mit chronischen Rückenschmerzen einzuschließen. ohne Konsequenzen, die letztlich die Gefahr einer somati- Wiederholte Exposition, d. h. Konfrontation mit dem angst- schen Fixierung beinhalten. auslösenden Stimulus (spezifische Bewegungen und Belas- – Prävention einer Chronifizierung, indem auf Risikohin- tungen) sowie die Verhinderung des Vermeidungsverhaltens weise für chronische Verläufe (so genannte „yellow sind dabei die effektivsten Therapiemethoden. In einem inten- flags“) geprüft wird. Sollten derartige Faktoren identifi- siven körperlichen Training muss eine Löschung des kondi- zierbar sein (z. B. depressive Symptome, Probleme am tionierten Zusammenhangs zwischen Angst und Bewegung Arbeitsplatz, psychovegetative Reaktionen, ausgeprägte und dem resultierenden Vermeidungsverhalten erreicht wer- Angst-/Vermeidungseinstellungen), sollte frühzeitig eine den. Dabei steht die Löschung der phobischen Reiz-Reak- risikobasierte Intervention unter Hinzuziehung einer tions-Verbindung sowie aufrechterhaltender Kognitionen im schmerzpsychologischen Expertise erfolgen [21]. Mittelpunkt, während Kraft-, Beweglichkeits- und Ausdauer- steigerungen in den Hintergrund treten. Die Patienten sollen Eine ausführliche Beratung (über den normalerweise benig- unter kontrollierten Bedingungen am eigenen Verhalten erle- nen Charakter von Rückenschmerzen, die Motivierung zur ben, dass sie sich ohne Schmerzverstärkung bewegen können. Beibehaltung bzw. Intensivierung der körperlichen Aktivität Grundlage einer derartigen Vorgehensweise sind u. a. die und die möglichst schnelle Rückkehr in die Normalität) ist das Durchführung von Bewegungsübungen nach Quotenplänen wichtigste Behandlungsprinzip beim akuten nicht-spezifi- sowie weitere verhaltenstherapeutische Prinzipien, wie sie schen Rückenschmerz. Eine anschauliche Aufklärung über ausführlich bei Hildebrandt et al. beschrieben sind [19]. die Erkrankung, die gute Prognose und die Behandlungs- möglichkeiten soll dazu führen, dass die Betroffenen mög- Management des Rückenschmerzes lichst aktiv bleiben. Schwerpunkt der ärztlichen Aufklärung sollte sein, dass körperliche Bewegung keine Schäden verur- In der täglichen Praxis hat sich im Umgang mit Rücken- sacht, sondern eine Linderung der Beschwerden fördert. schmerzen in den vergangenen Jahren nur sehr wenig geän- dert, obwohl in den Medien umfangreich über ein aktiveres Chronische Rückenschmerzen Umgehen mit den Beschwerden berichtet wurde. Bei den ver- Bei chronischen Rückenschmerzen reichen die oben beschrie- schriebenen und angewandten Maßnahmen dominieren benen Strategien nicht mehr aus, in der Regel haben sich er- immer noch passive Therapien, obwohl diese Therapieformen hebliche Veränderungen auch im psychosozialen Bereich er- nachgewiesenermaßen wenig effektiv sind [20]. geben, die eine Gesundung nachhaltig verhindern. Folgende Strategien sollten eingesetzt werden: In der nationalen Versorgungs-Leitlinie Kreuzschmerz – Förderung eines adäquaten (bio-psycho-sozialen) Krank- (Initiative der Bundesärztekammer) sind die evidenzbasierten heitsverständnisses Empfehlungen für die Behandlung von Patienten mit Rücken- – Verständigung auf ein gemeinsames Krankheitsmodell schmerzen jüngst zusammengefasst worden (die Leitlinie und Förderung der aktiven Mitarbeit der Patienten 48 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (1)
Rückenschmerzen und Psychologie – Verhinderung von schädigendem Krankheitsverhalten Interessenkonflikt – Einleitung einer zeitnahen effizienten Therapiestrategie und umfassende Aufklärung durch die behandelnden Ärz- Der Autor verneint einen Interessenkonflikt. te, sofern notwendig auch Einsatz psychotherapeutischer Intervention – Ziel ist möglichst eine Durchbrechung des Chronifizie- Literatur: (Hrsg). Psychologische Schmerztherapie. 6. Aufl. Springer, Heidelberg, 2007; 103–22. rungskreislaufs, der Erhalt bzw. die Wiederherstellung der 1. Kohlmann T, Schmidt CO. Epidemiologie des Rückenschmerzes. In: Hildebrandt J, Müller 13. Boersma K, Linton S. Psychological pro- Arbeits- und Erwerbsfähigkeit sowie die Vermeidung G, Pfingsten M (Hrsg). Die Lendenwirbelsäu- cesses underlying the development of a bzw. Verminderung von Behinderung oder Pflegebedürf- le. Urban & Fischer, München, 2004; 3–13. chronic pain problem. Clin J Pain 2006; 22: 160–6. tigkeit 2. Schmidt CO, Raspe H, Pfingsten M, et al. Back pain in the German adult population. 14. Vlaeyen JW, Kole-Snijders AM, Boeren Spine 2007; 32: 2005–11. RG, et al. Fear of movement/(re)injury in chronic low back pain. Pain 1995; 62: 363– Am ehesten sind die o. g. Ziele erreichbar in so genannten 3. Waddell G. The back pain revolution. 72. Churchill Livingstone, Edinburgh, 1998. multimodalen Behandlungsprogrammen. 15. Waddell G, Newton M, Henderson I, et 4. Pfingsten M, Hildebrandt J. Rückenschmer- al. A fear-avoidance beliefs questionnaire zen. In: Kröner-Herwig B, Frettlöh J, Klinger (FABQ) in chronic low-back pain and disabil- Multimodale Therapie chronifizierter Rückenschmerzen R, et al. (Hrsg). Psychologische Schmerz- ity. Pain 1993; 52: 157–68. therapie. 6. Aufl. Springer, Heidelberg, 2007; Die multimodale Behandlung hat das Vorgehen bei der Ver- 405–25. 16. Leeuw M, Goossens M, Linton S, et al. The Fear-Avoidance-Model of musculoskel- sorgung von Rückenschmerzen in den vergangenen Jahren 5. Schön J, Gerlach K, Hüppe M. Influence of etal pain: Current state of evidence. J Behav auf internationaler Ebene dominiert. Eine der wesentlichen negative coping style on post-operative pain Med 2007; 30: 77–94. reporting and pain-related behaviour. Schmerz Prämissen des dabei zugrunde liegenden Konzepts ist die Ver- 17. Pfingsten M, Schöps P. Vom Symptom zur 2007; 21: 146–53. Krankheit. Z Orthop 2004; 142: 146–52. lagerung des Behandlungsschwerpunkts von der symptomati- 6. Blumenstiel K, Ofer J, Eich W. Psychoso- 18. Lühmann D, Kohlmann T, Raspe H. Die schen Schmerzbehandlung hin zur Behandlung gestörter kör- matik. In: Hildebrandt J, Müller G, Pfingsten Wirksamkeit von Rückenschulprogrammen in M (Hrsg). Die Lendenwirbelsäule. Urban & Fi- kontrollierten Studien. Zeitschrift Ärztliche perlicher, psychischer und sozialer Funktion (daher die Be- scher (Elsevier), München, 2004; 318–27. Fortbildung Qualitätssicherung 1999; 93: zeichnung „functional restoration“). Der „Functional-resto- 7. Egle UT. Diagnose, Differentialdiagnose und 341–8. Psychodynamik der somatoformen Schmerz- ration“-Ansatz zeichnet sich durch eine klare aktivitäts- störung. In: Rudolf G, Henningsen P (Hrsg). 19. Hildebrandt J, Pfingsten M. Vom GRIP zur multimodalen Schmerztherapie. Orthopäde fördernde Orientierung unter kognitiv-verhaltensthera- Somatoforme Störungen. Schattauer, 2009; 38: 885–95. Stuttgart, 1998; 89–102. peutischen Prinzipien aus. Das Vorgehen ist konzentriert auf 20. Chenot JF, Kochen MM, Schmidt CO. Das 8. Kröner-Herwig B. Schmerz – Eine Gegen- Einhalten von Leitlinien und die Qualität der die Verringerung der (subjektiv erlebten) Behinderung mit- standsbestimmung. In: Kröner-Herwig B, ambulanten Versorgung von Rückenschmer- tels einer Veränderung situativer Rahmenbedingungen und Frettlöh J, Klinger R, et al. (Hrsg). Psychologi- zen. In: Böcken J, Braun B, Landmann J (Hrsg). sche Schmerztherapie. 6. Aufl. Springer, Gesundheitsmonitor 2009; 135–5. kognitiver Prozesse. In die Behandlung sind sport-, ergo-, Heidelberg, 2007; 7–20. 21. Schmidt CO, Chenot JF, Pfingsten M, et physio- und psychotherapeutische Interventionen in einem 9. Turk DC, Rudy TE. Assessment of cognitive al. Assessing a risk tailored intervention to standardisierten Gesamtkonzept integriert [22]. factors in chronic pain. J Consult Clin Psychol prevent disabling low back pain – protocol of 1986; 54: 760–8. a cluster randomized controlled trial. BMC 10. Pfingsten M, Nilges P. Psychologische Musculoskeletal Disorders 2010; 11: 1–7. Diese Programme erwiesen sich im nationalen wie im interna- Evaluation. In: Hildebrandt J, Müller G, 22. Hildebrandt J, Pfingsten M, Lüder S, et al. Pfingsten M (Hrsg). Die Lendenwirbelsäule. GRIP – Das Manual. Congress-Compact- tionalen Schrifttum hinsichtlich Schmerzintensität, Behinde- Urban & Fischer (Elsevier), München, 2004; Verlag, Berlin, 2003. rung, Depressivität, Lebensqualität und auch hinsichtlich 299–317. 23. Chou R, Huffman LH. Nonpharmacologic sozialökonomischer Faktoren (z. B. Rückkehrrate in den Er- 11. Pfingsten M. Chronischer Rückenschmerz therapies for acute and chronic low back pain: – Interdisziplinäre Diagnostik und Therapie. a review of the evidence. Ann Intern Med werbsprozess) gegenüber herkömmlichen Therapien, Warte- AINS 2009; 1: 40–5. 2007; 147: 492–504. gruppen oder weniger intensiven Behandlungsformen als 12. Hasenbring M, Pfingsten M. Psychologi- 24. Arnold B, Brinkschmidt T, Casser H, et al. überlegen [23]. sche Mechanismen der Chronifizierung. In: Multimodale Schmerztherapie – Konzepte Kröner-Herwig B, Frettlöh J, Klinger R, et al. und Indikation. Schmerz 2009; 23: 112–20. Leider fehlen für diese modernen Behandlungskonzepte in Deutschland derzeit immer noch die entsprechenden beruf- politischen und gesetzgeberischen Voraussetzungen. Die Durchführung dieser Programme ist an hohe Anforderungen Prof. Dr. rer. biol. hum. Dipl.-Psych. bzw. struktur- und prozessqualitative Voraussetzungen ge- Michael Pfingsten bunden [24]. Seit 2003 leitender Psychologe, seit 2009 kommissarischer Leiter der Schmerztages- Relevanz für die Praxis klinik und -ambulanz, Universitätsmedizin Göttingen. 2005 Habilitation im Fach Medi- Bei Rückenschmerzen sind somatische wie psychologi- zinische Psychologie, außerplanmäßige sche Faktoren gleichermaßen zu berücksichtigen, beide Professur an der Georg-August-Universität Göttingen. Seit 2007 Mitglied der Exper- Aspekte können gleichermaßen im Vordergrund stehen, tengruppe „Nationale Versorgungsleitlinie sodass sie möglichst frühzeitig in der Diagnostik zu be- Kreuzschmerz“ (Ärztliche Zentralstelle für rücksichtigen sind. Bei erkennbaren Hinweisen auf die po- Qualitätssicherung und Bundesärztekam- tenzielle Wirksamkeit psychologischer Faktoren sollten mer, Berlin). Seit 2009 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psycho- invasive somatische Verfahren nur mit großer Zurückhal- logische Schmerztherapie und -forschung (DGPSF), ab 2011 Vize-Präsi- dent der Dt. Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS). tung in Erwägung gezogen werden. Leider fehlen immer Wissenschaftlicher Schwerpunkt: Konzeption und Überprüfung multi- noch ausreichend ausgebildete psychologische Schmerz- modaler Behandlungsprogramme für Patienten mit chronischen therapeuten, um eine suffiziente frühzeitige Diagnostik Rückenschmerzen, Identifikation von Chronifizierungsfaktoren bei sicherstellen zu können. Schmerzerkrankungen. J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (1) 49
Mitteilungen aus der Redaktion Besuchen Sie unsere zeitschriftenübergreifende Datenbank Bilddatenbank Artikeldatenbank Fallberichte e-Journal-Abo Beziehen Sie die elektronischen Ausgaben dieser Zeitschrift hier. Die Lieferung umfasst 4–5 Ausgaben pro Jahr zzgl. allfälliger Sonderhefte. Unsere e-Journale stehen als PDF-Datei zur Verfügung und sind auf den meisten der markt üblichen e-Book-Readern, Tablets sowie auf iPad funktionsfähig. Bestellung e-Journal-Abo Haftungsausschluss Die in unseren Webseiten publizierten Informationen richten sich ausschließlich an geprüfte und autorisierte medizinische Berufsgruppen und entbinden nicht von der ärztlichen Sorg- faltspflicht sowie von einer ausführlichen Patientenaufklärung über therapeutische Optionen und deren Wirkungen bzw. Nebenwirkungen. Die entsprechenden Angaben werden von den Autoren mit der größten Sorgfalt recherchiert und zusammengestellt. Die angegebenen Do- sierungen sind im Einzelfall anhand der Fachinformationen zu überprüfen. Weder die Autoren, noch die tragenden Gesellschaften noch der Verlag übernehmen irgendwelche Haftungsan- sprüche. Bitte beachten Sie auch diese Seiten: Impressum Disclaimers & Copyright Datenschutzerklärung
Sie können auch lesen