Schulblatt2/2022 Philosophie - Über die grossen Fragen des Lebens sprechen - Kanton Zürich
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Kanton Zürich Schulblatt Bildungsdirektion 2/2022 Philosophie Über die grossen Fragen des Lebens sprechen Bewährt Der Lehrplan 21 ist im Unterricht angekommen Online gestellt Nachlese zur HSGYM- Herbsttagung Vernetzt Die ePulte der Mechatronik Schule Winterthur
16 20 Magazin Fokus: Volksschule Philosophie 4 20 Kommentar 12 Lehrplan 21 Bildungsdirektorin Silvia Volksschule So wirkt sich die Steiner über Geflüchtete Im Lernclub über die Fragen Kompetenzorientierung aus der Ukraine des Lebens philosophieren auf den Unterricht aus 5 14 22 Im Lehrerzimmer Ergänzungsfach Stafette Primarschule Allmend, Philosophie In der Schule Flaachtal Horgen Textstudium und Debattier- kunst an der Kantonsschule 25 6 Im Lee In Kürze Persönlich Reto Wyss hat die Stiftung 16 Swiss Skills reorganisiert Im Gespräch Philosophieren ist Übungs 9 sache, sagt Philosoph Meine Schulzeit Yves Bossart Martina Clavadetscher, Autorin Schulblatt Kanton Zürich 2/2022 Inhalt Wichtige Adressen Impressum Nr. 2/2022, 6.5.2022 Bildungsdirektion: www.zh.ch/bi Generalsekretariat: 043 259 23 09 Herausgeberin: Bildungsdirektion Kanton Zürich, Walcheplatz 2, 8090 Zürich Erscheinungs Bildungsplanung: 043 259 53 50 Volksschulamt: 043 259 22 51 weise: fünfmal jährlich, 137. Jahrgang, Auflage: 19 000 Ex. Redaktion: jacqueline.olivier@ M erufsbildungsamt: 043 259 78 51 Amt für Ju ittelschul- und B bi.zh.ch, 043 259 23 07; pascal.turin@bi.zh.ch, 043 259 23 94; Sekretariat schulblatt@ gend und Berufsberatung: 043 259 96 01 Lehrmittelverlag Zürich: bi.zh.ch, 043 259 23 09 Abonnement: Lehrpersonen einer öffentlichen Schule im Kanton 044 465 85 85 Fachstelle für Schulbeurteilung: 043 259 79 00 Bil Zürich können das « Schulblatt» in ihrem Schulhaus g ratis beziehen (Bestellwunsch an die dungsratsbeschlüsse: www.zh.ch/bi > Bildungsrat Regierungsrats Schulleitung). Bestellung des «Schulblatts» an Privatadresse s owie Abonnemente für wei beschlüsse: www.zh.ch > Organisation > Regierungsrat > Aufgaben tere Interessierte: a bonnemente@staempfli.com, 031 300 62 52 (Fr. 40.– pro Jahr) O nline: und Beschlüsse www.zh.ch/schulblatt G estaltung: www.bueroz.ch Druck: www.staempfli.com Inserate: mediavermarktung@staempfli.com, 031 300 63 87 Re daktions- und Inserateschluss Titelbild: Ruedi Widmer nächste Ausgabe: 1.6.2022 Das nächste «Schulblatt» erscheint am: 1.7.2022 Weiterbildungsangebote Unter den nachfolgenden Links finden Sie zahlreiche Schulungs- und Weiterbildungsangebote für Lehrpersonen, Fachlehrpersonen, Schulbehörden und Schul leitende: Volksschulamt: www.zh.ch/bi > Volksschulamt > Aus- und Weiterbildungen Pädagogische Hochschule Zürich: www.phzh.ch > Weiterbildung Unter strass.edu: www.unterstrass.edu UZH/ETH Zürich: www.webpalette.ch > Sekundarstufe II > Gymnasium > UZH und ETH Zürich, Maturitätsschulen HfH – Inter kantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich: www.hfh.ch > Weiterbildung ZAL – Zürcher Arbeitsgemeinschaft für Weiterbildung der Lehrpersonen des Kantons Zürich: www.zal.ch > Kurse EB Zürich, Kantonale Berufsschule für W eiterbildung: www.eb-zuerich.ch ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Soziale Arbeit: www.zhaw.ch/sozialearbeit > Weiterbildung > Weiterbildung nach Thema > Kindheit, Jugend und Familie 2
28 34 Mittelschule Berufsbildung 39 Amtliches 26 32 HSGYM-Herbsttagung Digitalisierung 48 Ein Online-Rückblick Vernetztes Schulzimmer Schule+Kultur auf die Barcamps dank selbst gebauter ePulte 50 28 34 Agenda Digitale Berufslehre heute Unterrichtsprojekte Medizinprodukte Postkolonialer Ansatz technologin EFZ im Geschichtsunterricht 37 31 In Kürze In Kürze Editorial «Wenn ein Philosoph einem antwortet, versteht man überhaupt nicht mehr, Schulblatt Kanton Zürich 2/2022 Inhalt was man ihn gefragt hat.» Dieser Satz des französischen Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers André Gide scheint mir mit einem Augenzwinkern Jacqueline Olivier auf den Punkt zu bringen, wie Philosophie in der Gesellschaft lange Zeit wahr- genommen wurde: als vergeistigter Disput einiger weniger kluger Köpfe. Dabei sagte schon der römische Politiker und Philosoph Marcus Tullius Cicero: «Die Philosophie ist die Lehrmeisterin des Lebens.» Wo wäre sie also besser auf gehoben als in der Schule? Denn: «Nicht Philosophen stellen die radikalsten Fragen, sondern Kinder», wie der deutsche Schriftsteller Hellmut Walters festhielt. Mit den Kindern zu philosophieren, wird heute vom Lehrplan 21 vorgegeben. Wie das geht, was es bringt und warum es wichtig ist – diesen Fragen gehen wir in dieser Ausgabe des «Schulblatts» nach. Für das Augen- zwinkern dabei sorgen die Illustrationen von Ruedi Widmer, der Zitate grosser Denker ganz neu interpretiert. 3 Die Redaktion freut sich über Reaktionen auf das «Schulblatt»: jacqueline.olivier@bi.zh.ch, pascal.turin@bi.zh.ch
Kommentar wir uns aber nichts vormachen: Die ak Über Krieg tuelle Situation fordert die Schulen enorm heraus und zehrt weiter an bereits stra pazierten Kräften. sprechen Manche unter Ihnen werden sich fra gen, was wir in Anbetracht dieses schreck lichen Kriegs mit unseren Anstrengungen überhaupt bewirken können. Die Schul von Silvia Steiner, Bildungsdirektorin struktur mit ihrem getakteten Ablauf gibt den Familien mit ihren Kindern nach traumatischen Erfahrungen durch Flucht und Krieg ein Stück Normalität zurück. Und die Schule bietet den Kindern und Immer wieder habe ich in den letzten bei Jugendlichen eine Perspektive, die sie sich den Pandemiejahren das Credo wieder wieder neu aufbauen müssen. holt: Unsere Schulen müssen offen blei Mich hat in letzter Zeit eine Frage ben. Denn alle Kinder und Jugendlichen immer wieder beschäftigt: Ist es gerecht, sollen eine gerechte Chance auf Bildung dass wir hier unser sicheres Leben ge haben. Mit dem Krieg in der Ukraine hat niessen, während in der Nähe ein Krieg das Recht auf Bildung zusätzliche Aktua wütet? Ich bin sicher, dass sich viele lität gewonnen. Es steht ausser Frage, dass Schülerinnen und Schüler momentan die Geflüchtete schnell und unbürokratisch selbe Frage stellen. Das aktuelle Gesche Zugang zu humanitärer Hilfe, aber auch hen kann als Rahmen dienen, um in den zu Bildung erhalten sollen. Im Kanton Zürich haben wir bereits «Die Schule bietet Schulen gemeinsam über Krieg, Flucht und Frieden nachzudenken. Es kann den viel Erfahrung darin, geflüchtete Kinder und Jugendliche aufzunehmen und sie Geflüchteten Anstoss geben, im Unterricht ganz be wusst über Sinn-Fragen des Lebens zu in unsere Schulen zu integrieren. Diese eine Perspektive.» sprechen. Mit der Einführung des Lehr Erfahrung kommt uns in der aktuellen plans 21 wurde Philosophie ein fester Situa tion zugute. Innert kürzester Zeit Bestandteil des Unterrichts und wird be haben wir Informationen in mehreren als Klassenassistenzen oder als «Senio reits in vielen Klassenzimmern erfolgreich Sprachen online für alle zugänglich ma rinnen und Senioren im Klassenzimmer» praktiziert. chen können – von der Info zum Schutz engagieren. Gleichzeitig unterstützen wir All diese Fragen regen zum Nach status bis zur Hilfe bei der Einschulung. die Schulen darin, schnell geeignetes denken an. Mich hat jüngst ein Zitat der Dies bietet geflüchteten Familien eine Personal für Aufnahmeklassen zu rekru ersten Friedensnobelpreisträgerin, Bertha wichtige Orientierung in dieser Phase der tieren. Wir können niederschwellig provi von Suttner, zum Sinnieren gebracht. Sie Ungewissheit. sorische Anstellungen bewilligen für Inte soll gesagt haben: «Nach ‹lieben› ist Es freut mich zu sehen, wie viele Men ressierte, die nicht über passende Diplome ‹helfen› das schönste Zeitwort der Welt.» schen angesichts der Not helfen wollen. verfügen, aber bereits pädagogische Vor Welch Glück, dass beide Ressourcen end Dieses Engagement ist auch in den Schu bildung mitbringen. Bei aller Flexibilität, los verfügbar sind und dabei Grosses be len willkommen. Freiwillige können sich Hilfsbereitschaft und Solidarität dürfen wirken können. Schulblatt Kanton Zürich 2/2022 Magazin Mein Traumschulhaus Alea (11), 4. Klasse, Schule Rafz 4
Im Lehrerzimmer Primarschule Allmend, Horgen Alles frisch und neu Fotos: Marion Nitsch Schulblatt Kanton Zürich 2/2022 Magazin In Rekordzeit wurde die Primarschule Allmend erstellt, um dringend benötigten Schulraum zu schaffen. Die Eröffnung fand im August 2021 mit acht Klassen statt, eine neunte kommt im Schuljahr 2023/24 dazu. Die Möblierung des ebenerdigen Lehrer- zimmers ist noch in Gang, die Schrankwand wurde erst vor ein paar Wochen eingebaut. Brandneu ist der von einer Lehrerin selbst gemachte Geburtstagskalender neben der Tür. Von Licht geflutet wird der Raum durch die beiden Fensterfronten. Für einen Farbtupfer sorgen die grünen und blauen Stühle. Zwei «Backfeen» aus dem 25-köpfigen Team verwöhnen dieses regelmässig mit süssen Köstlichkeiten. Zu Gast ist heute ein Sekundarschüler, der als Lehrer schnuppert. Gute nachbarschaftliche Beziehungen pflegt man mit dem FC Horgen, dessen Areal sich gleich nebenan befindet. Für den Mittagstisch steht der Schule zum Beispiel die Cafeteria im Clublokal zur Verfügung. In einem alten Bauwagen auf dem Vorplatz sind allerlei Sportutensilien versorgt, denn die Schule hat keine eigene Turnhalle. Über den grossen Aussenbereich, auf dem sich ein Spielplatz mit diversen Spielgeräten befindet, freut sich Schulleiter Michel Amrein ganz besonders. Ein Schulgarten soll demnächst angelegt werden. [jo] 5
Persönlich sen Workshops und Trainings umfassend Überzeugt vom auf ihren gros sen Auftritt vorbereitet. Viele sagten, sie hätten in der Vorberei tung noch einmal so viel gelernt wie in der Schweizer Modell Lehre, erzählt der Stiftungspräsident. Natürlich ist Reto Wyss an den Wett kämpfen wenn immer möglich vor Ort, auch an den Euro und den World Skills. Sieben Jahre präsidierte Reto Wyss die Und nun gerät er so richtig ins Schwär men: «Die Leistungen und die Emotionen Stiftung Swiss Skills und hat in dieser Zeit zu erleben, ist enorm beeindruckend. Für mich ist dies der schönste Lohn für mein wichtige Reorganisationen angestossen. Engagement.» Das Schweizer Team habe Nun tritt er zurück. an den Weltmeisterschaften der vergan genen Jahre stets unter den besten drei Nationen rangiert, erklärt er und betont: Text: Jacqueline Olivier Foto: Stephan Rappo «Das ist auch unser Ziel. Wenn man den Wert der Schweizer Berufsbildung aufzei gen will, darf man sich nicht mit Rang 19 oder 20 zufriedengeben. Wir wollen auch Reto Wyss, gross und schlank, kommt der an einem mehrtägigen Grossanlass in das Image der Schweizer Wirtschaft pfle Besucherin beschwingten Schritts entge Bern statt. 2018 wurde der Event wieder gen.» Highlights sind für ihn jedoch ge gen und bittet sie in sein Büro. Es befindet holt, und dieses Jahr im September steht nauso die Schweizer Meisterschaften, die sich in einem altehrwürdigen Gebäude in die dritte Durchführung an. Mit der Prä von zahlreichen Schulen der Sekundar der Luzerner Innenstadt. Hier ist das kan sentation von 150 Berufen werden diese stufe I besucht werden, aber längst nicht tonale Finanzdepartement untergebracht, Swiss Skills noch grösser sein als die bei nur von diesen. «An den zentralen Swiss dem Reto Wyss seit 2019 vorsteht. Zuvor den bisherigen. Reto Wyss freuts: «Dank Skills 2018 wurden wir regelrecht über war er acht Jahre als Bildungs- und Kul der zentralen Meisterschaften ist es ge rannt, und das Schweizer Fernsehen hat turdirektor tätig. In jener Funktion über lungen, die Berufswelt in die öffentliche 24 Stunden live berichtet.» In diesen Wor nahm er 2015 das Amt, um das sich das Wahrnehmung zu rücken», sagt er. Und ten des Präsidenten schwingt durchaus heutige Gespräch drehen soll: das Präsi das sei gut so, denn: «In der Schweiz leben etwas Stolz mit. dium der Stiftung Swiss Skills. heute auch viele Menschen, die ihre Aus «Die Stiftung hat jemanden gesucht, bildung nicht hier gemacht haben. Ihnen Gefragte Fachleute der selbst eine Berufslehre gemacht hat», ist oft nicht bewusst, wie vielfältig und In den Erzählungen des «Mitte»-Politikers erzählt Reto Wyss, «unter den Bildungs wertvoll die Schweizer Berufsbildung ist.» ist die Begeisterung für die Welt der be direktorinnen und -direktoren trifft dies ruflichen Spitzenleistungen fast mit Hän nur auf wenige zu. Und mich hat diese Mitfiebern an Wettkämpfen den greifbar. «Es zieht einem schon den Aufgabe fasziniert.» Der Regierungsrat Zu einem höheren Bekanntheitsgrad bei Ärmel rein», sagt er. Und er sei einfach durchlief ursprünglich eine Ausbildung getragen haben nicht nur die zentralen überzeugt vom Schweizer Modell, von als Bauzeichner, besuchte parallel dazu Veranstaltungen, an denen sich auch Be diesem Weg, der beliebig kompatibel sei. die Berufsmittelschule und absolvierte rufe vorstellen können, die nicht an den «Bei uns kann jemand mit einer Berufs danach ein Studium zum Bauingenieur Wettkämpfen teilnehmen, sondern eben lehre anfangen und als Dr. phil. abschlies HTL am damaligen Technikum Horw, das so die immer professionelleren Struktu sen. Das ist einmalig.» Aber natürlich heute als Abteilung Technik und Archi ren. «In den vergangenen Jahren haben müsse nicht jede und jeder studieren. Wer tektur zur Hochschule Luzern gehört. wir Swiss Skills in diversen Belangen re etwa in der Baubranche oder im Bereich Dass die Stiftung, die von Bund, Kan organisiert», erklärt Reto Wyss, «so haben der Metallverarbeitung eine Aus bildung tonen und Berufsverbänden getragen wir beispielsweise den Verein Swiss Skills absolviere, dem stünden alle Türen offen, wird, von einem Vorsteher einer Bildungs Marketing und Event gegründet, der di denn versierte Fachleute seien gefragt direktion präsidiert werde, sei nicht zwin verse Kom munikations- und Marketing und würden auch in Zukunft gefragt sein. gend, aber sinnvoll, meint der 57-Jährige, aufgaben über nimmt.» Daneben gibt es Als Finanzdirektor war er in den letz denn: «Unsere Hauptaufgabe besteht da den un abhängigen Verein Swiss Skills ten drei Jahren allerdings nicht mehr so rin, die Berufsbildung bekannt zu machen Bern, der von der Stiftung die Rechte für nah dran am Thema Bildung. Die Reorga und junge Talente zu fördern.» Dazu ge die Durchführung der zentralen Meister nisation von Swiss Skills wollte er noch Schulblatt Kanton Zürich 2/2022 Magazin höre das Erlebnis der Berufsmeisterschaf schaften erhalten hat. abschliessen, doch nun wird er sein Amt ten ebenso wie die Vorzeigerolle, welche Reto Wyss war als Bauingenieur (Mit-) als Stiftungsratspräsident Ende April an die jungen Berufs-Cham pions einnäh Inhaber einer eigenen Firma, in der stets den Obwaldner Bildungsdirektor Chris men. «Sie werden zu Botschafterinnen mehrere Lernende beschäftigt wurden. tian Schäli abgeben. Den Kontakt zur Stif und Botschaftern, indem sie von ihrer ei Es sei ihm persönlich immer ein Anliegen tung will er aber aufrechterhalten, und genen Ausbildung und dem Weg, den sie gewesen, dass diese Jugendlichen sorg natürlich wird er auch weiterhin die ver gegangen sind, erzählen.» Zum Beispiel in fältig ausgebildet würden. «Weil ich die schiedenen Meisterschaften verfolgen Schulen im Rahmen des Berufswahlun gute Ausbildung, die ich selbst genossen und mit den jungen Berufsleuten, ihren terrichts. Das sei sehr wertvoll, weil die hatte, immer zu schätzen wusste.» Für die Ausbildnern und Angehörigen mitfiebern. jungen B erufsleute nur wenig älter seien Teilnahme an einer Berufsmeisterschaft Gleichzeitig wird ihm wieder etwas mehr als die Jugendlichen. brauche es jedoch mehr als eine gute Zeit bleiben für Familie und sportliche Was das Erlebnis betrifft, so wurde Ausbildung. «Wer sich an einem solchen Aktivitäten: Ski- und Hochgebirgstouren, dieses mit der Einführung der zentralen Wettbewerb beteiligt, nimmt einiges auf Joggen, Biken, Pferdesport. «Ich bin sehr Schweizer Berufsmeisterschaften erheb sich, muss fachlich sehr gut wie auch gern in der Natur unterwegs, und der lich gestärkt. 2014 fanden zum ersten Mal hochmotiviert und belastbar sein.» Die Sport ist für mich ein guter Ausgleich zu die Wettkämpfe aller beteiligten Berufe jungen Talente werden deshalb in diver meinen politischen Aufgaben.» 6
Schulblatt Kanton Zürich 2/2022 Magazin Als Präsident der Stiftung Swiss Skills ist es Reto Wyss, der einst selbst eine Berufslehre absolviert hat, wichtig, das Image der Schweizer Berufsbildung zu pflegen. 7
IS ÖP FELS AF T GRAT E S CH U EL RE IS UF D N UNTER JETZT ANMELDE /SCHULEN SWISSFRUIT.CH S’Beschte für dini Energie.
Welche Schulreise ist Ihnen speziell Meine Schulzeit «Ich mochte in Erinnerung und warum? Ich erinnere mich sogar an meine erste Schulreise im Kindergarten, besonders an Deutsch und die Tatsache, dass ich vor Aufregung als erste und viel zu früh bei Frau Bergamin im Kindergarten war, wo mir eine Sonnen Zeichnen» blume aus Papier angeheftet wurde. Welche Lehrperson werden Sie nie vergessen? Ich werde viele nie vergessen, da ich of fenbar Glück hatte mit meinen Lehrerin Fünf Fragen an Martina Clavadetscher, nen und Lehrern: Mit Frau Märchy hab ich auf Blaupausen mein erstes Büchlein Trägerin Schweizer Buchpreis gedruckt, bei Herrn Betschart lernte ich spielerisch diszipliniertes Arbeiten – und Herr Lengen war der prägendste für mich. Er war total anders, er dachte ausserhalb Selbsterkenntnis: Was ist diese Welt? Was der Strukturen, versuchte neue Lernme tun und taten die Menschen? Was für ein thoden, förderte Kreativität und Anders Mensch bin ich? Was kann ich, was will artigkeit und gab keine Hausaufgaben. ich und vor allem: Wie komme ich dahin? Für all diese Dinge bin ich ihm bis heute Wissen ist Werkzeug. Die Schule schenkt sehr dankbar. Und ich weiss, dass ich da einem dieses Werkzeug. Sie sollte vermehrt mit nicht alleine bin. Ich glaube, er hat zeigen, wie und wofür man es einsetzt. mir am meisten Mut mitgegeben, den Mut, Was hat Ihnen in der Schule das zu machen, was ich wirklich will. gar nicht gefallen? Welches war Ihr liebstes Fach Dass es zu oft eine Unterscheidung in und weshalb? «richtig» und «falsch» gab und noch im Deutsch und Zeichnen waren meine mer gibt. Dieser Bewertungswahn. Dass liebsten Fächer, Literatur und Kunst. Ich gewisse Dinge auf nur eine Weise gemacht mochte es, Sprache als Werkzeug und Sys und gelernt werden, was die Schülerinnen tem zu erlernen, um etwas Neues erschaf und Schüler zu konformen, konservativen fen und Geschichten erzählen zu können. Menschen formt, die an die derzeitigen Foto: Janine Schranz Was haben Sie in der Schule Werte und Strukturen angepasst sind. Um fürs Leben gelernt? die Gesellschaft zu verbessern, braucht es Natürlich die Grundlagen: Sprachbeherr neue Denkweisen und Mut. Nur visionäre Martina Clavadetscher (42) studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie. schung, logisches, mathematisches Den Menschen können eine neue Gesellschaft Seit 2009 arbeitet sie als Autorin und ken. Aber wenn ich darüber nachdenke, schaffen. Wenn wir die Menschen der Zu Dramatikerin. Im Februar 2021 erschien ihr Roman «Die Erfindung des Ungehorsams», glaube ich, dass der wahre Kern woanders kunft auf alte Strukturen vorbereiten, für den sie mit dem Schweizer Buchpreis liegt – im Erkennen der Welt und in drehen wir uns im Kreis. 2021 ausgezeichnet wurde. Bildungs-Slang Ruedi Widmer, Cartoonist, interpretiert Begriffe aus Bildung und Schule – diesmal: Sprachlerneignung Schulblatt Kanton Zürich 2/2022 Magazin 9
Fokus Philosophie Illustrationen: Ruedi Widmer Schulblatt Kanton Zürich 2/2022 Fokus 11
Volksschule die Stunde – obwohl sie ausserhalb der Selber denken regulären Schulzeit stattfindet. «Nehmt euch Hocker und bildet einen Kreis», sagt Barbara Fauster. Sie ist Fachlehrperson macht glücklich Integrierte Begabungs- und Begabten förderung – kurz IBBF – an der Schule Triemli in der Stadt Zürich. Auf dem Boden im Kreis liegt ein Pa- Im Lernclub Philosophieren an pier, auf dem «Be Happy» steht. Diesen Spruch hat die Lehrerin im Supermarkt der S chule Triemli in Zürich denken als Aufdruck auf Servietten entdeckt. Nun die Schülerinnen und Schüler über möchte sie von den Kindern wissen, was die Aussage bei ihnen auslöst. «Solche die wichtigen Fragen des Lebens nach. Sätze machen mich ein wenig glückli- cher», sagt eine Schülerin. «Es ist ein Sie lernen dabei, zu argumentieren schöner Spruch», bestätigt ein Schüler. und zuzuhören. Aktuell steht das Eine andere Schülerin widerspricht vehe- ment: «Der Spruch wirkt wie ein Befehl Thema Glück auf dem Programm. auf mich.» – «Funktioniert der Befehl?», fragt die Lehrerin. «Nein!», erschallt es Wie eine solche Stunde abläuft und unisono. Die Hand heben muss niemand, was für die Kinder Glück ist, zeigt es soll eine freie Diskussion entstehen. Das klappt auch ganz gut, Barbara Fauster ein Besuch vor Ort. muss nur selten eingreifen und für Ruhe sorgen. Der Konsens nach einer kurzen Text: Pascal Turin Diskussion ist, dass «Be Happy» zwar positiv wahrgenommen wird, aber der Spruch allein nicht glücklich macht. Viele Anmeldungen Der Lernclub Philosophie wird alters- durchmischt geführt. Jeweils von Ferien zu Ferien kommen einmal in der Woche abwechslungsweise Unterstufe oder Mit- telstufe zum Zug. Beim Besuch des «Schul blatts» sind es elf Schülerinnen und Schü- ler der 4. bis 6. Klasse, die über das Thema Glück philosophieren. Diskutiert werden Dienstagmittag im zweiten Stock des Pa- im Hort geholt und ins Klassenzimmer unter anderem folgende Fragen: Wo bist villons 1: Die Schülerinnen und Schüler mitgenommen. Die letzten Lunchboxen du glücklich? Was bedeutet Glück? Ist ein sind gerade mit dem Mittagessen fertig verschwinden im Schulthek. Die Stim- reicher Mensch glücklicher als ein armer? geworden. Einige haben etwas von zu mung ist locker, es wird viel gelacht, die Die Kinder sollen ihre Gefühle ergründen Hause mitgebracht, andere haben Essen altersdurchmischte Gruppe freut sich auf und sie benennen. «Ich fühle mich immer richtig glücklich, wenn ich in der Badi vom Zehn-Meter-Turm gesprungen bin», Philosophieren ist Teil des Lehrplans sagt ein Sechstklässler. «Weshalb fühlst Seit der Einführung des Lehrplans 21 gehört das Philosophieren im Kanton du dich danach glücklich?», fragt Fauster Zürich im Rahmen des Fachs «Religionen, Kulturen, Ethik» – kurz RKE – auf nach. «Wegen des Adrenalins», antwortet allen Stufen zum Unterricht. RKE verfolgt das Anliegen, dass sich die Kinder der Schüler. «Wenn man angespannt ist, und Jugendlichen mit religiösen und kulturellen Traditionen auseinandersetzen werden Hormone ausgeschüttet. Zum Bei- und ethische Herausforderungen wahrnehmen. Im Fachbereich Ethik sollen spiel das Stresshormon Adrenalin oder die Schülerinnen und Schüler über menschliche Grunderfahrungen wie Glück, auch Glückshormone wie Dopamin», er- Angst, Erwachsenwerden, Beziehungen und Tod nachdenken. Ebenso können gänzt die Lehrerin. sie auf ethische Fragen und Normen aufmerksam gemacht werden. Wichtig ist, Grundsätzlich dürfen sich alle für den Schulblatt Kanton Zürich 2/2022 Fokus dass die Kinder und Jugendlichen dabei von der Lehrperson begleitet werden. Lernclub anmelden. Das Angebot gehört Besonders bei existenziellen Fragen ist Sensibilität gefordert. zwar zum Bereich Begabungs- und Be- Als Faustregel geht das Volksschulamt (VSA) von einem Anteil von bis zu gabtenförderung der Schule, allerdings zwölf Lektionen Ethik in RKE pro Schuljahr aus. Gleichzeitig soll das Thema soll der Zugang so niederschwellig wie auch in anderen Fachbereichen behandelt werden, wie es beispielsweise in der möglich sein – nach dem Motto «Fördern Broschüre «Ethik in der Volksschule» des VSA empfohlen wird. Das vom Lehr- auf Verdacht». Voraussetzung ist aller- mittelverlag Zürich entwickelte und obligatorische Lehrmittel «Schauplatz dings, dass die Schülerinnen und Schüler Ethik» mit Teilen für Kindergarten bis Sekundarschule fördert philosophisches die Fähigkeit mitbringen, gut zuhören und Nachdenken und ethische Urteilsfähigkeit. In den gedruckten «Schauplatz»- eigene Argumente formulieren zu kön- Büchern wird mit Illustrationen gearbeitet, die als Einstieg für die Diskussion nen. Zudem ist die Zahl der Plätze be- über mögliche philosophische Fragen und ethische Herausforderungen genutzt schränkt. «Die ideale Gruppengrösse werden können. Das Lehrmittel ermöglicht Bezüge zu anderen Fachbereichen. wäre acht Kinder», stellt Fauster fest. Da Der digitale Kommentar dient als Anleitung für die Unterrichtsplanung und aber wegen der Pandemie länger kein stellt Fachwissen zur Verfügung. Zudem enthält er Arbeitsmaterialien. [pat] Lernclub stattfand, gab es einen leichten 12 Anmeldestau. Eine Fünftklässlerin ist
schon zum zweiten Mal dabei: «In der klässlern müsse man noch mehr anleiten verteilt Arbeitsblätter. In einer Sprossen- 2. Klasse war ich auch schon da, aber da- und Gedanken zusammenfassen, Dritt- wand oder Leiter mit leeren Feldern sol- mals konnte ich noch nicht so gut mit klässler könnten schon sehr selbstständig len die Kinder notieren, was Glück für sie diskutieren.» diskutieren und würden aufeinander Be- selbst, für andere Menschen und für alle zug nehmen. Menschen ist. «Es gibt nichts, was alle Meinungen bilden Den Philosophie-Lernclub in dieser Menschen gleich glücklich macht», findet Wie in Kindergarten, Primarschule und Form im «Triemli» hat Barbara Fauster jemand. Einige schneiden die Sprossen- Sekundarschule philosophiert wird, un- vor fünf Jahren ins Leben gerufen. Doch wand aus und kleben sie in ihr Heft, an terscheidet sich von Schule zu Schule und schon vor 20 Jahren, also bevor der Lehr- dere zeichnen eine eigene. Ein Schüler von Klasse zu Klasse. Philosophieren ge- plan 21 das Thema auf allen Stufen vor- blickt auf das noch leere Blatt und mur- hört seit der Einführung des Fachbereichs schrieb, philosophierte sie mit ihren eige- melt: «Manchmal fällt einem etwas ein, «Religionen, Kulturen, Ethik (RKE)» im nen Klassen. «Ich finde es wichtig, dass manchmal nicht.» Er versucht einen Blick Lehrplan 21 auf allen Stufen der Volks- die Kinder lernen, selbst nachzudenken, auf das Heft seiner Sitznachbarin zu er schule zum Unterricht (siehe Kasten). Die sich eigene Meinungen zu bilden und sich haschen. «Wenn ich lese, fühle ich mich Idee ist, dass die Kinder und Jugendlichen zu positionieren.» Für sie ist klar, dass re- schwerelos und dann bin ich glücklich», sich mit ihren eigenen Haltungen sowie gulär im Unterricht philosophiert werden sagt eine Sechstklässlerin. Schulblatt Kanton Zürich 2/2022 Fokus Überzeugungen auseinandersetzen und soll, nicht nur in RKE, sondern auch in diese argumentativ zu begründen lernen. Deutsch oder Mathematik. Immer wieder Keine Heftkontrolle In der Unterstufenklasse von Lehrerin werde sie von Klassenlehrpersonen für Es gibt kein Richtig oder Falsch, doch die Kamla Zogg an der Schule Im Widmer in einzelne Lektionen angefragt. Ihren Lern- eigenen Gedanken aufs Papier zu bringen, Langnau am Albis ist das Philosophieren club sieht sie als Ergänzung. «Wenn die ist eine Herausforderung. Barbara Fauster bereits etabliert. Vergangenen Herbst Kinder freiwillig über Mittag kommen, versucht, möglichst wenig Einfluss zu wurde sogar im Radio SRF über ihren Un- haben sie eher die Musse, sich mit einem nehmen. «Ich schaue den Schü lerinnen terricht berichtet. «Beim Philosophieren Thema zu beschäftigen», ist die Fachlehr- und Schülern zwar über die Schulter, aber üben die Kinder das wissenschaftliche person überzeugt. ich kontrolliere ihre Hefte nicht.» Und Denken», sagt Kamla Zogg. Dass einzelne Nach der gemeinsamen Einführung ehe man sichs versieht, ist die Stunde be- Schülerinnen und Schüler damit über sowie einer spannenden Diskussionsrunde reits um. Für die eigentlich geplante fordert sind, glaubt Zogg nicht. «Ich lege steht selbstständiges Arbeiten auf dem Schlussrunde reicht am Ende die Zeit jeweils ein Augenmerk auf ruhigere Kin- Programm. Jetzt ist nochmals Konzentra- nicht. Doch das ist kein Problem. Barbara der und sorge dafür, dass auch sie in die tion gefragt, und das fällt nicht allen leicht. Fauster wird den Faden in der nächsten 13 Gespräche eingebunden sind.» Bei Erst- Barbara Fauster nimmt es mit Humor und Stunde wieder aufnehmen.
Ergänzungsfach Philosophie untersucht sinngemäss, welcher Vorteil es Lernen, dem Mann erlaubt habe, seinen Willen über die Frauen durchzusetzen. Und wa rum die Frauen dies akzeptiert hätten. Unsicherheiten Im Selbststudium lesen die Schülerinnen und Schüler, wie sich die Autorin an Rous- seau oder Hegel anlehnt, um ihre Thesen auszuhalten herzuleiten. Es ist mäuschenstill im Raum, die Klasse liest derart konzentriert. Genaues Studium von Texten Wer philosophische Texte liest, stösst Wer die Motivation dieser Klasse und den Lehrer in seinem Engagement erlebt, in schwierige und abstrakte Themen kann fast nicht glauben, dass Philosophie bereiche vor. Das geht auch der Klasse so, am Gymnasium kein Grundlagenfach ist, «nicht im Hauptkanon der Fächer etab- die Philosophie als Ergänzungsfach liert», wie Hofer sagt. «Philosophie beruht fast gänzlich auf Freiwilligkeit.» Philo belegt und sich in einen Text von Simone sophie kann als Ergänzungs-, Frei- oder de B eauvoir vertieft. Ein Besuch an der Wahlfach, bei dem eine «Vertiefungsidee» dahinterstehe, belegt werden. Entspre- Kantonsschule Im Lee in Winterthur. chend unterscheide sich die Klassen grösse von Jahr zu Jahr. Wie gross die Text: Walter Aeschimann Klassen seien, hänge oft davon ab, «ob andere Lehrpersonen in ihren Lektionen auch philosophische Gedanken integrie- ren und die Schülerinnen und Schüler so für das Fach begeistern». Snjezana Cvijetic wurde von ihrem Bruder animiert, der das Fach auch schon belegte. Nun findet sie es «megaspan- nend, sorgfältig mit Texten umzugehen und über den Alltag zu reflektieren». Das genaue Studium von Texten erwähnen Die erste Stunde ist vorbei, und sie dis tenz?» Die Antworten sind: Existenz sei auch die anderen als Gewinn. Denn die- kutieren auch in der Pause weiter. Ob ständiges Hinterfragen, ein Vorwärtsge- ses komme in den übrigen Fächern oft zu das Universum räumlich und «dinghaft» hen, auch ein Überschreiten von Grenzen. kurz. Klevis Nrecaj benennt Philosophie sei und wenn ja, welche Eigenschaften es Der Mensch sei ein existierendes Wesen, gar als «Königdisziplin des Denkens» und besitze. Die Schülerinnen und Schüler das sich ständig neu entwerfe. Danach als grundlegend, um «Argumentations- sind kaum zu bremsen. Als der Lehrer die liest Roger Hofer einen Abschnitt vor. In techniken» zu erlernen. Saviano Hauser zweite Lektion beginnen will, stellt einer der ersten Zeile steht: «Die Welt hat im- will als Naturwissenschaftler noch «etwas zuerst die Frage: «Sind wir freier in der mer den Männern gehört: (…).» Beauvoir tiefer gehen» als in seinem Schwerpunkt Entscheidung, wenn wir weniger wis- sen?» Roger Hofer muss die Frage vorerst «umlenken», weil deren sorgfältige Be- antwortung zu weit führen würde. Der Philosophielehrer schreibt sie auf und verspricht, in späteren Lektionen da- rauf einzugehen. Denn heute lautet das Thema «Gender». Es wird anhand der Textlektüre «Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau» untersucht. Der Text ist 1949 von Simone de Beauvoir geschrie- ben worden. Schulblatt Kanton Zürich 2/2022 Fokus Wir befinden uns an der Kantons- schule Im Lee in Winterthur. Die Klasse zählt 14 Gymnasiastinnen und Gymna siasten, die Philosophie in ihrem letzten Schuljahr als Ergänzungsfach belegen. Der Unterrichtsblock umfasst jeden Don- nerstagmorgen drei Lektionen. Im Ergän- zungsfach, das nicht Teil des gewählten Profils ist, können die Jugendlichen einen weiteren Akzent in ihrer Ausbildung set- zen. Im Gegensatz zu einem Freifach zählt das Ergänzungsfach für das Maturitäts- zeugnis. Bevor sich die Klasse in den Text ver- 14 tieft, lautet die erste Frage: «Was ist Exis-
und «Gedanken denken, die man gar nicht denkt». Joshua Waters schätzt die «Vibes», die gute Stimmung in der Klasse. Giulia Waser hat Philosophie schon als Freifach belegt und findet es einen «guten Aus- gleich zum Schulalltag». Den Ausgleich zu den Naturwissenschaften schätzt auch Stephanie Paterson. Sie will zudem ler- nen, wie man Begriffe auseinandernimmt, Argumentationen aufbaut und kritisch denkt. Wissen muss begründet sein Kritisch Denken findet auch Roger Hofer wichtig. Aber das sei ein Anspruch, den alle Fächer verfolgen sollten. Wichtiger scheint ihm, dass Schülerinnen und Schü- ler in der Philosophie lernen, «Unsicher- heiten auszuhalten». Denn in der Philoso- phie werde es schnell abstrakt und auch komplex. Wie gehen die Jugendlichen damit um? Wie begründen sie eine Äus serung? «Sie sollen Fragen stellen, aber nicht auf eine bestimmte Antwort fixiert sein. Sie sollen verstehen, dass es nicht sofort eine Lösung gibt, wohl aber Strate- gien für Lösungen.» Ausserdem sei ihm wichtig, zu vermitteln, dass Wissen nicht sicher sei. Wissen müsse gut begründet werden. Deshalb schien ihm die Frage eines Schülers in der zweiten Lektion be- sonders interessant. Diesen beschäftigte eine Äusserung von Beauvoir und er frag- te: «Ist das tatsächlich so oder behauptet sie das, ohne es zu begründen?» Menschen entwickeln könnten, wie sie es «Im Musterlehrplan für das PPP-Profil Diese Klasse, sagt Roger Hofer, könne möchten. Das sei nur über gegenseitige werden Inhalte nach Themenfeldern und er fordern, ohne sie zu frustrieren. Das sei Anerkennung möglich, findet einer. Ver- nicht nach Disziplinen geordnet», sagt Jahr für Jahr unterschiedlich. Zu Beginn zicht und Hingabe sei eine romantische Hofer. «Der Fächerverbund ist zentral. eines Jahrgangs fragt er jeweils die Klasse, Vorstellung, entgegnet jemand anders und Das heisst, alle drei Teilfächer befinden welche Themen sie verfolgen wolle. Gen- findet gar «kommunistisches Gedanken- sich unter einem Themendach. Wir möch- der und Religionskritik wurden dieses gut» darin. Klevis Nrecaj und Joshua ten ein Hauptthema von drei verschiede- Mal gewünscht. Bewährt hätten sich auch Waters verstricken sich darüber in eine nen Seiten angehen, Querverbindungen Willensfreiheit oder aktuelle Problemati- zähe Diskussion, die Roger Hofer schliess- herstellen und Raum für Verknüpfungen ken wie Zukunfts- oder Klimaethik. Letzt- lich unterbricht. Wenn jeder nur seine der Fächer öffnen.» Das Thema Autorität hin hätten sie den Gegenstand «Lügen» subjektive Sicht einbringe, könne eine etwa könne pädagogisch, psychologisch untersucht. «Ich stelle auch immer ge- Diskussion auch scheitern, sagt er. «Wie und philosophisch untersucht werden. schichtliche Bezüge her. Das Thema Lügen wäre die ideale Anerkennung des ande- Das bedeute eine gewisse thematische beginnt mit Augustin in der Spät antike ren, ohne dass man seine eigene Existenz Eingrenzung, die im Ergänzungsfach so und endet mit aktuellen Debatten um aufgibt?», fragt er in die Klasse. nicht gegeben sei. Hofer, der auch Fach Fake News.» Grundsätzlich sei im Lehr- didaktik Philosophie am Institut für Er- plan aber weder ein fixer Aufbau noch ein Neues Profil in Vorbereitung ziehungswissenschaften der Uni Zürich chronologisches Vorgehen von Sokrates Philosophie gibt es in Kombination mit lehrt, geht davon aus, dass das PPP-Profil über Hegel bis hin zu Marx vorgeschrie- Pädagogik und Psychologie (PPP) auch bei den Lernenden auf Anklang stossen ben. Trotzdem sollte die thematische Breite als gymnasiales Profil. In etlichen Kanto- wird. Auch deshalb, weil das Ergän Schulblatt Kanton Zürich 2/2022 Fokus ausgewogen sein. Der Lehrplan orientiere nen ist es seit 20 Jahren etabliert. Der zungsfach Psychologie/Pädagogik derzeit sich voraban den Kompetenzen, beispiels- Kanton Zürich wird es ab dem Schuljahr boome. weise an der Textarbeit oder an der Fer- 2024/25 einführen. Roger Hofer arbeitete Die dritte Lektion ist zu Ende. Die vie- tigkeit, zu diskutieren. in der Fachgruppe mit, die im Auftrag len Fragen, die Simone de Beauvoir pro- Die Klasse ist im Textstudium nun so des Mittelschul- und Berufsbildungsamts vozierte, wurden nicht gelöst, nicht end- weit, dass sie die Frage der «Existenz» auf (MBA) einen PPP-Musterlehrplan ent- gültig auf den Wahrheitsgehalt geprüft, den Text von Beauvoir beziehen kann und worfen hat. Der Lehrplan soll Orientie- aber intensiv erörtert. So musste unbeant- Vorschläge zusammenträgt: Die Frau sei rung für jene Schulen geben, die das PPP- wortet bleiben, wie ideale Anerkennung gezwungen, die Wiederholung des Lebens Profil anbieten werden. Welche Schulen wäre, warum, gemäss Beauvoir, der Mann zu garantieren. Der Mann hingegen sei das sein sollen, wird die Schulleiterkonfe- die Frau in Abhängigkeit be halten hat nicht so sehr gebunden. Deshalb seien renz der Zürcher Mittelschulen koordi- oder warum sich der Mann der Natur ge- Mann und Frau in ihrer Existenz, im Stre- nieren, bevor sie ihren Vorschlag dem Bil- genüber genauso ambivalent verhält wie ben nach Veränderung, unterschiedlich dungsrat zum Beschluss vorlegt. Geplant der Frau gegenüber. Joshua Waters und ausgerichtet. Es entsteht eine Diskussion, ist, dass alle Regionen ausgewogen be- Klevis Nrecaj diskutieren auch am Ende 15 unter welchen Bedingungen sich alle rücksichtigt werden sollen. der dritten Lektion weiter.
Im Gespräch Unsere heutige Gesellschaft ist «Philosophie stark wissenschaftlich ausgerichtet, können wir überhaupt noch staunen? Ich denke schon. Einstein hat einen wun- ist ein endloses derbaren Satz formuliert: «Es gibt zwei Arten, sein Leben zu leben: entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als Gespräch» wäre alles ein Wunder.» Die zweite Hal- tung scheint mir sehr erstrebenswert zu sein. Und ich glaube auch, dass wir das schaffen, indem wir immer wieder versu- Philosophie ist Teil unseres Alltags, sagt chen, andere Perspektiven einzunehmen und auf Distanz zu gehen zu unserer eige- der Philosoph Yves Bossart und erklärt, nen. Auf Distanz zu gehen, ist eine sehr warum schon Kinder philosophische philosophische Bewegung. Das erleben wir beispielsweise, wenn wir nach einer Momente haben, wie man mit ihnen langen Reise nach Hause zurückkehren und plötzlich Dinge wahrnehmen, die wir philosophieren kann und warum man zuvor nicht wahrgenommen haben, weil dies auch tun sollte. Und was Philosophie sie uns so selbstverständlich erschienen. Ist Philosophie also eine überhaupt ausmacht. Ergänzung zu den sogenannten exakten Wissenschaften? Interview: Jacqueline Olivier Foto: Stephan Rappo Ja, sie ist eine Ergänzung, aber nicht, was die Klarheit betrifft. Philosophie hat ebenfalls den Anspruch, sehr klar zu sein. Auch Rationalität ist ein Anspruch der Philosophie, im Gegensatz zur Religion, die auf gewissen Glaubenssätzen beruht. In der Philosophie darf man alles hinter- fragen, muss aber auch alles begründen. Sie ist jedoch keine empirische Wissen- Hat mit Ihnen als Kind jemand gemerkt, dass man dort immer mit Mo schaft in dem Sinn, dass sich empirisch philosophiert? dellen arbeitet, und habe begonnen, die nachprüfen liesse, ob der Mensch frei ist Diese Frage habe ich mir noch nie ge- Grundlagen der einzelnen Wissenschaf- oder nicht. Die meisten Fragen der Philo- stellt – wahrscheinlich schon. Mein Vater ten infrage zu stellen: Was ist Materie, was sophie drehen sich um Grundbegriffe, hat eine philosophische Ader und mir wohl ist Zeit, was ist Raum? Wenn man sich sol- die man erst einmal klären muss. Gleich- das philosophische Denken ein Stück weit che Fragen stellt, ist man bereits mitten in zeitig versucht die Philosophie nicht nur, mit auf den Weg gegeben. Als Kind ist man der Philosophie. die Welt zu beschreiben, sondern sich ja ohnehin sehr philosophisch unterwegs, Man kann also auch für sich auch zu überlegen, wie sie sein sollte: Was indem man staunt, und das Staunen ist selbst philosophieren? ist das Gute, was ist Gerechtigkeit, was ist der Anfang der Philosophie. Genauso wie das Hinterfragen respektive der Zweifel. Ich habe zwei kleine Töchter im Alter von drei und sechs Jahren. Und zumindest die Grössere hat auch schon philosophische «Wenn es um Werte geht, dann kommt Momente, in denen sie Fragen stellt wie etwa jene, was nach dem Tod kommt. die Philosophie ins Spiel.» Was bedeutet eigentlich «philosophieren»? Philosophieren bedeutet einerseits, wieder das Staunen zu lernen – also wieder zum Absolut. Wenn man es aber in der Schule Fairness? Wenn es um Werte geht, dann Kind zu werden –, andererseits aber auch, lernt oder Philosophie studiert, wird man kommt die Philosophie ins Spiel. erwachsen zu werden, das heisst, eigen- darin einfach besser. Man wird präziser, Kann man Begriffe wie Freiheit Schulblatt Kanton Zürich 2/2022 Fokus ständig, selbstständig, kritisch zu denken. kann genauer zuhören, besser argumen- oder Gerechtigkeit klar definieren? Etwas technischer kann man es auch so tieren, man weiss, was ein gutes Argument Natürlich gibt es keine absolute Wahrheit, formulieren: Philosophie versucht, die von einem schlechten unterscheidet. Das die man dank der Philosophie entdecken Grundbegriffe des Lebens und des Den- heisst, man kann Argumente einordnen. könnte – wobei die Frage, ob es eine sol- kens zu klären – Begriffe wie Gerechtig- Letztlich sind wir alle Menschen und ha- che Wahrheit überhaupt gibt, auch wieder keit, Wahrheit, Schönheit und so weiter. ben alle die grossen Fragen in uns, kom- eine philosophische ist. Zweifel und Unsi- Und sie versucht, unsere Regeln und Nor- men an unsere Grenzen, weil wir mit Tod, cherheit sind aber genauso Bestandteil men, nach denen wir uns ausrichten, zu Krieg, Krankheiten konfrontiert sind. Der der Wissenschaften. In der Physik bei- hinterfragen und zu begründen. deutsche Philosoph Karl Jaspers nannte spielsweise gibt es, gerade was die Grund- Warum haben Sie sich für die dies philosophische Grenzerfahrungen. lagen angeht, ganz unterschiedliche The- Philosophie entschieden? Die Philosophie versucht, solche Grenzer- orien. Ich finde deshalb das Bild falsch, Ursprünglich wollte ich einen naturwis- fahrungen im Denken vorwegzunehmen, dass die Wissenschaft die harten Fakten senschaftlichen Weg einschlagen, im Gymi indem wir uns fragen, was es eigentlich erarbeitet und in der Philosophie einfach hatte ich Biologie und Chemie als Schwer- heisst, Mensch zu sein, auf dieser Erde zu ein wenig miteinander geredet wird. Bei- 16 punktfach gewählt. Mit der Zeit habe ich leben. des stimmt nicht.
Was muss man lernen, um philo sophieren zu können? Wichtig ist sicher, dass man früh lernt, zu- zuhören, zu argumentieren und mit Spra- che genau umzugehen, weil dies zu einer Form der Klarheit führt. Viele Menschen leben im Hinblick auf die grossen Fragen des Lebens in einem diffusen Nebel. Die Philosophie schafft es, in diesem Nebel etwas aufzuräumen und verschiedene Lö- sungsoptionen mit ihren Vor- und Nach- teilen aufzuzeigen. Auf dieser Basis kann man je nach Haltung eine Gewichtung vornehmen. Philosophie hilft, kritisch zu bleiben und falschen Propheten und Dog- matikern nicht auf den Leim zu gehen, sondern gegen sie zu argumentieren. Hat Philosophie demnach auch mit Logik zu tun? Auf jeden Fall. Im Studium ist Logik Teil des Grundkurses. Auch im Philosophie- unterricht am Gymnasium ist Logik ein Thema: Was ist ein gutes Argument, was ist ein guter, was ein falscher Schluss, welche Fehlschlüsse kommen häufig vor? Muss man sich auch gewisse Theorien aneignen? Nicht aneignen, aber sich damit auseinan- dersetzen. Im Westen haben wir einen Schatz von rund 2000 Jahren, den uns die grossen Philosophen von Platon über Kant bis zu den Denkern des 20. Jahrhun- derts hinterlassen haben. Von diesen kön- nen wir lernen, was Weltbilder sind, wie man sie begründen, aber auch kritisieren kann. Der österreichische Philosoph Karl Popper beispielsweise hat das Prinzip der Yves Bossart (38) ist in Luzern aufgewachsen und studierte Falsifizierbarkeit eingeführt, das besagt, Philosophie, Musikwissenschaften und Geschichte an dass man jede Theorie daraufhin prüfen den Universitäten Luzern, Zürich und Heidelberg. 2012 promovierte er in Philosophie an der Humboldt- können muss, ob sie falsch ist, um auch Universität zu Berlin. Er arbeitete als Gymnasiallehrer die Schwächen einer Theorie erkennen zu im Kanton Luzern, seit 2013 ist er Redaktor und Produzent, seit 2017 auch Moderator der Sendung «Sternstunde können. In der Ethik wiederum gibt es Philosophie» von SRF. 2014 erschien sein Einführungs- zwei Haupttheorien. Die eine lautet, man buch in die Philosophie «Ohne Heute gäbe es morgen kein Gestern». Yves Bossart ist verheiratet und lebt mit muss so handeln, dass der grösstmögliche seiner Frau und seinen zwei Töchtern in Zürich. Nutzen daraus resultiert – quasi «der Zweck heiligt alle Mittel». Die andere be- streitet dies und sagt, es gibt kategorische Verbote, Dinge, die man nie tun darf, egal, wie gross der Nutzen ist – töten, stehlen, lügen und so weiter. Gewisse Theorien zu kennen, führt also zu einer Selbstermäch- tigung im Denken und im Umgang mit und Zweifel ins Spiel bringt: Vielleicht ist gibt, die man nachschlagen kann. Und sie Meinungen. es gar nicht so, was spricht denn dafür müssen lernen, dass es sich trotzdem Philosophieren soll man gemäss und könnte es nicht auch anders sein, lohnt, über solche Fragen nachzudenken Schulblatt Kanton Zürich 2/2022 Fokus Lehrplan 21 bereits mit Kindern – wie woher weisst du das? So merken die Kin- und eine Haltung zu ihnen zu finden, weil macht man das? der, dass Zweifel nichts Schlimmes ist, uns diese Fragen beschäftigen. Kant hat Das kommt stark darauf an, wie alt die und freunden sich mit ihm an. Das ist aus gesagt, die Vernunft belästige uns mit Fra- Kinder sind. Je nach Alter kann man sie meiner Sicht etwas ganz Grundlegendes. gen, die wir nicht beantworten könnten, mit gewissen Dingen konfrontieren, mit Ist das für Kinder nicht enorm weil sie das Vermögen der menschlichen anderen nicht. Das Wichtigste ist aber das schwierig? Sie erwarten von den Vernunft übersteige. In dieser Situation Vorleben einer Diskussionskultur: zuhö- Erwachsenen Antworten. befinden wir uns und müssen selbst zu ei- ren, nachfragen, unterscheiden, genau Natürlich, Kinder wachsen in einer Welt ner rationalen, für uns stimmigen Lösung sein, nach Gründen fragen. Man stösst auf, in der sie zunächst glauben, die Er- finden. Dafür braucht es die – im weites- beispielsweise eine Diskussion an und wachsenen wüssten alles. Darum müssen ten Sinne – philosophische Kompetenz. schaut mal, was die Kinder dazu sagen. sie erst einmal lernen, dass es Dinge gibt, Denn eine grundlegende Unsicherheit Kinder haben meistens eine Intuition, die die die Lehrperson nicht nur nicht weiss, und diverse Meinungsverschiedenheiten sie äussern. Dann geht es darum, die Mei- weil sie das noch nicht gegoogelt oder in ziehen sich durch alles hindurch, was eine nungen infrage zu stellen und Unsicher- einem Buch nachgeschlagen hat, sondern Gesellschaft ausmacht. Gerade auch in 17 heit hervorzurufen, indem man Skepsis weil es dafür gar keine eindeutige Lösung der Politik geht es sehr oft um moralische
oder ethische Probleme, über die man so herrscht Krieg in der Ukraine. Solche muss man sich deshalb sehr genau über- oder so denken kann. Themen beschäftigen auch Kinder. legen. Grundsätzlich haben Kinder jedoch Kinder müssen also lernen, mit Kann und soll man sie über die Philo schon sehr früh das Potenzial und die Unsicherheit klarzukommen? sophie aufgreifen? Neugier für philosophische Fragen. Die Ja, sie müssen eine Art von Toleranz, von Unbedingt. Die Pandemie, der Krieg sowie Frage nach Gerechtigkeit klingt vielleicht Weitsicht entwickeln, um sich überhaupt Krisen generell werfen genau die Fragen abstrakt, aber das fängt schon bei den aus unterschiedlichen Perspektiven mit auf, mit denen sich die Philosophie ausei- Kleinsten an: Man backt einen Kuchen einer Sache auseinandersetzen zu kön- nandersetzt. Darum lohnt es sich, solche mit drei Kindern, eines hilft fleissig mit, nen. Wenn sie zu dieser grundphilosophi- Themen aufzugreifen – natürlich entspre- das zweite ist etwas faul und macht nicht schen Einsicht gelangen, ist das schon chend vorsichtig. Wir müssen sehen: Es ist viel, das dritte ist noch zu klein, um wirk- einmal positiv. Weil man nur so offen an noch nicht sehr lange her, dass die Religi- lich helfen zu können. Wie verteilen wir eine Diskussion herangeht und mit ande- on einen grossen Stellenwert hatte, wenn nun diesen Kuchen? Welche Prinzipien ren redet im Bewusstsein, dass man selbst es um solche Fragen ging. Indem sie an gelten: Leistungsgerechtigkeit – wer am falsch liegen und die andere Person recht Bedeutung eingebüsst hat, hat sie ein meisten geholfen hat, bekommt auch am haben könnte. Das ist die Grundlage jeder Vakuum hinterlassen, was Orientierung meisten –, Gleichheit – alle bekommen ge- echten Diskussion, alles andere ist nur ein und die grossen Lebensfragen betrifft. nau gleich viel –, Bedarfsgerechtigkeit – Austausch von Standpunkten. Zudem geniessen wir heute einen Frei- wer den grössten Hunger hat, bekommt Philosophie muss man demnach heitsspielraum, wie wir ihn in der Welt das grösste Stück. Schon sind wir in der mehr üben als lernen? geschichte wohl noch nie hatten. Beides Philosophie. Die Kunst besteht darin, die Ganz genau. Es ist ein Learning by Doing; kann uns überfordern. Philosophie ist die Kinder dort abzuholen, wo sie sind, und es geht um eine Fähigkeit, nicht um Wis- Kunst, uns einen Halt zu geben, ohne uns sie dann heranzuführen an die unter- sen. Wenn man das also in der Schule för- eine vorgefertigte Lösung zu präsentie- schiedlichen Lösungsansätze, an die Ar- dern will, geht dies nicht mit ein paar Lek- ren. Wir lernen, mit Unsicherheiten um- gumente und die Begründungen. tionen, man muss langfristig dranbleiben. zugehen und einen eigenen, begründeten In der Schule geht es immer auch um Bewertung und Benotung. Wie kann man philosophisches Denken und Argumentieren benoten? Das geht, das habe ich auch gemacht, als «Grundsätzlich haben Kinder schon ich am Gymnasium in Willisau unterrich- sehr früh das Potenzial und die tet habe. Man kann zum Beispiel argu- mentative oder begriffliche Klarheit be- Neugier für philosophische Fragen.» werten, dafür existieren formale Kriterien. Man kann fragen: «Wie könnte man eine Position begründen, die besagt, der Mensch hat keinen freien Willen?» Die Schülerinnen und Schüler sollen dies Und man kann unterschiedliche Zugänge Standpunkt zu finden. Das war auch die dann begründen, egal, wie sie selbst darü- wählen. Man kann zum Beispiel mit den Idee von Immanuel Kant: «Habe Mut, ber denken. Man kann auch einen Essay Schülerinnen und Schülern einen Text le- dich deines eigenen Verstandes zu be schreiben lassen: «Ist der Mensch gut sen, eine offene Diskussion führen oder dienen!» – «Sapere aude!» als Leitspruch oder böse?» So kann man sehen, wie Diskussionen zu zweit oder in kleinen der Aufklärung. jemand ausgehend von dieser abstrakten Gruppen anregen. Oder man kann ein Philosophie in der Schule ist also Frage einen Text schreiben, einen Reflexi- Spiel inszenieren, indem man die Klasse wesentlich mehr als ein «Nice to have»? onsprozess in Gang setzen, einen Satz an in zwei Gruppen teilt, von denen die eine Ich finde schon, dass man die Veranla- den anderen reihen, einen stringenten, dafür argumentiert, dass es einen Gott gung zur Philosophie, die wir alle haben, logischen Gedankengang konstruieren gibt, die andere dagegen. Wichtig ist ein- bewusst kultivieren und stärker ausbilden und unterschiedliche Perspektiven ein- fach, dass die Kinder selbst aktiv werden, sollte. Einfach deshalb, weil wir in einer bauen kann. Sämtliche Kompetenzen, die selbst debattieren und nach Argumenten Welt leben, in der sich diese Fragen stel- man im Unterricht zu vermitteln versucht suchen. Und auch, sie zu ermutigen, selbst- len, und weil wir hier in einer Demokratie hat, lassen sich so abfragen. ständig und kritisch zu denken. leben, in der wir Bürgerinnen und Bürger Ist Philosophie ein immer Geht es beim Philosophieren mitbestimmen können und sollen. Und währender Prozess? im Grunde um überfachliche Kompe viele der Fragen, über die wir abstimmen, Philosophie ist ein endloses Gespräch. Es tenzen? haben eine philosophische Dimension gibt zwar Haltepunkte, es gibt etwas wie Am Anfang auf jeden Fall. Je reifer die und gründen letztlich auf gewissen Erkenntnis, wie Fortschritt, aber abschlies Schulblatt Kanton Zürich 2/2022 Fokus Schülerinnen und Schüler aber werden, Grundwerten. Insofern ist es in meinen sende Antworten auf die grossen Fragen desto mehr kann man auch mit Theorien Augen eine Bürgerpflicht, philosophisch des Lebens haben wir bis jetzt nicht ge- arbeiten, eine Weltsicht oder eine Mei- denken zu lernen. Wenn man das früh funden. Dies führt dazu, dass man zu Be- nung etwas ausführlicher schildern und schult, kann man eigentlich nur gewin- ginn wie in einen Abgrund fällt; man ver- untersuchen, was sie impliziert, wann und nen. Ich bin klar der Meinung, dass Philo- liert den Boden unter den Füssen, wenn wo sie erstmals aufgetaucht ist, wie man sophie eine Schlüsselkompetenz ist und alles in der Schwebe ist. Aber so ist das dafür oder dagegen argumentieren könn- deshalb mehr Raum verdient – in der Leben, und irgendwann kann man anfan- te. Für die älteren Schülerinnen und Erziehung und in der Schule. gen, dieses Gefühl, diese Unsicherheit zu Schüler wird die Philosophiegeschichte Sollte man schon auf Volksschul mögen. Und die Unsicherheit auszuhalten schon wichtig, damit sie verstehen, woher stufe ein eigenes Fach Philosophie und damit umgehen zu können, ist sehr unser Denken, unsere Weltbilder, unsere einführen oder lieber Philosophie wichtig. Denn gerade unsere Zeit, die so Werte kommen, die in der Regel alle philo vermehrt im Alltag einbauen? dynamisch ist, wirft immer wieder neue sophische Wurzeln haben. Beides, und beides zu seiner Zeit. Kinder ethische Fragen auf. Und dadurch öffnet Wir leben seit zwei Jahren mit machen enorme Sprünge. Welche Fragen sich auch das Feld der Philosophie immer 18 einer Pandemie, seit einigen Wochen man wann und wie diskutieren kann, weiter.
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