SCHUTZKONZEPT - Stand: Mai 2020 - Margaretenhort

Die Seite wird erstellt Lenny-Stefan Dittrich
 
WEITER LESEN
SCHUTZKONZEPT - Stand: Mai 2020 - Margaretenhort
SCHUTZKONZEPT

Stand: Mai 2020
SCHUTZKONZEPT - Stand: Mai 2020 - Margaretenhort
SCHUTZKONZEPT - Stand: Mai 2020 - Margaretenhort
SCHUTZKONZEPT

IMPRESSUM
Herausgegeben von:
Margaretenhort
Hölertwiete 5 │ 21073 Hamburg

So erreichen Sie uns:
Tel.: 040-790 189-0 │ Fax: -99
E-Mail: info@margaretenhort.de
Web: www.margaretenhort.de

Margaretenhort Kinder- und Jugendhilfe gGmbH
Sitz der Gesellschaft/Gerichtsstand: Hamburg, Handelsregister-Nr. HRB 95198
Margaretenhort Stationäre Hilfen zur Erziehung gGmbH
Sitz der Gesellschaft/Gerichtsstand: Hamburg, Handelsregister-Nr. HRB 95199
Adresse: Hölertwiete 5, 21073 Hamburg
Geschäftsführer: Rainer Rißmann

Redaktion und Grafik:
Antonia Dargel, Anke Pieper, Domenika Kusch, Agata Pilot und Svenja Bitzer

Erweiterte Redaktionsgruppe:
Martin Barth, Ingrid Dobbeck, Ricarda Engelke, Ann-Kathrin Kaiser, Gia-Vinh Le, Maren Mountafi, Rainer Rißmann,
Saskia Straehler-Pohl, Sebastian Wehrs, Annett Ullrich und Isabelle Wetzel

Stand:
Mai 2020
SCHUTZKONZEPT - Stand: Mai 2020 - Margaretenhort
INHALTSVERZEICHNIS
Präambel ............................................................................................................................................................ 1
1. Einleitung........................................................................................................................................................ 2
2. Schutzauftrag ................................................................................................................................................. 6
   2.1 Grenzverletzungen ................................................................................................................................... 7
   2.2 Gewalttätige Übergriffe ........................................................................................................................... 8
3. Strategien von Täter*innen ............................................................................................................................ 9
   3.1 Ausgeprägte Hierarchien und unstrukturierte Organisationen................................................................ 9
   3.2 Tabus und Sorgen um den Ruf ............................................................................................................... 10
   3.3 Emotionale Bedürftigkeit ....................................................................................................................... 10
4. Allgemeine Risikoanalyse ...............................................................................................................................11
   4.1 Gewalt unter Nutzer*innen ................................................................................................................... 11
   4.2 Wenn Fachwissen fehlt .......................................................................................................................... 12
   4.3 Wenn Fachkräfte fehlen......................................................................................................................... 14
   4.4 Personalschlüssel und Rahmenbedingungen ......................................................................................... 15
5. Arbeitsfeldspezifische Risiken ........................................................................................................................16
   5.1 Schulkooperation ................................................................................................................................... 16
   5.2 Sozialraumangebote .............................................................................................................................. 18
   5.3 Ambulante Hilfen ................................................................................................................................... 19
   5.4 Eingliederungshilfe/Ambulante Sozialpsychiatrie .................................................................................. 20
   5.5 Teilstationärer und stationärer Leistungsbereich in der Jugendhilfe ..................................................... 21
   5.6 Eltern-Kind-Wohnformen ...................................................................................................................... 24
   5.7 Familienanaloge Wohngemeinschaften................................................................................................. 25
   5.8 Verwaltung............................................................................................................................................. 26
   5.9 Hauswirtschaft ....................................................................................................................................... 26
6. Prävention .....................................................................................................................................................28
   6.1 Haltung................................................................................................................................................... 28
   6.2 Einstellung und Begleitung von Mitarbeiter*innen und Praktikant*innen ............................................ 29
   6.3 Partizipation und Transparenz ............................................................................................................... 31
   6.4 Beschwerden als Chancen nutzen ......................................................................................................... 34
   6.5 Unsicherheiten im Team klären ............................................................................................................. 36
   6.6 So helfen Dienstbesprechungen ............................................................................................................ 37
   6.7 Achtsamer Umgang mit Fehlern ............................................................................................................ 38
   6.8 Medienkompetenz und Medienpädagogik als Teil des Schutzauftrages ............................................... 39
SCHUTZKONZEPT - Stand: Mai 2020 - Margaretenhort
7. Intervention...................................................................................................................................................41
   7.1 Schutz des Opfers .................................................................................................................................. 43
   7.2 Massnahmen des Trägers ...................................................................................................................... 43
8. Verdacht auf Kindeswohlgefährdung .............................................................................................................45
   8.1 Interne Koordinierungsstelle für Kinderschutz ...................................................................................... 46
   8.2 Standardisierter Ablauf bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung ......................................................... 46
   8.3 Standardisierte Risikoeinschätzung........................................................................................................ 48
9. Nachwort der Redaktion ................................................................................................................................49
10. Anhang ........................................................................................................................................................50
   10.1 Unsere Handlungsgrundsätze .............................................................................................................. 50
   10.2 Lektüretipps ......................................................................................................................................... 51
   10.3 Safety-Postkarten................................................................................................................................. 53

GUT ZU WISSEN
SCHUTZKONZEPT - Stand: Mai 2020 - Margaretenhort
SCHUTZKONZEPT - Stand: Mai 2020 - Margaretenhort
SCHUTZKONZEPT

                    PRÄAMBEL

                1
SCHUTZKONZEPT - Stand: Mai 2020 - Margaretenhort
SCHUTZKONZEPT

 1. EINLEITUNG

                                                                                                    Bedürfnisse der Nut-
                   „Mir ist es wichtig, dass sich aus dem statischen Begriff                        zer*innen einzugehen. In
                         ‚Schutzkonzept‘ Schutzprozesse entwickeln.“                                der      Margaretenhort
                               Rainer Rißmann (Geschäftsführung)                                    gGmbH sind rund 230
                                                                                                    Mitarbeiter*innen und
Die Margaretenhort gGmbH ist ein freier Träger                         viele Ehrenamtliche tätig. Dazu gehören Sozialpä-
der Kinder- und Jugendhilfe und sozialpsychiatri-                      dagog*innen und andere studierte Pädagog*in-
schen Betreuung in Hamburg. Sie bietet im Rah-                         nen unterschiedlicher Fachrichtungen, staatlich
men der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) und der                     anerkannte Erzieher*innen und sozialpädagogi-
Eingliederungshilfe (inzwischen SGB IX) stationäre,                    sche Assistent*innen, Soziolog*innen, Sozial-
teilstationäre sowie ambulante Unterstützungs-                         wirt*innen, Sozialökonom*innen, Psycholog*in-
leistungen und sozialräumliche Angebote an und                         nen, Lehrer*innen, Heilerzieher*innen, Kinder-
entwickelt sie bedarfsorientiert weiter. Das Spekt-                    krankenpfleger*innen, Hebammen, Betriebs-
rum der Hilfen zur Erziehung (Jugendhilfe) reicht                      wirt*innen, Kaufleute für Büromanagement,
von der Betreuung in größeren und kleineren                            Buchhalter*innen, Hausmeister*innen, Köch*in-
Wohngemeinschaften, familienanalogen Wohn-                             nen, Hauswirtschafter*innen, Diätassistent*in-
gemeinschaften und Jugendwohnungen über in-                            nen, Studierende und Praktikant*innen.
tensive Einzelbetreuungen von Jugendlichen und                         Für die Sicherung und Entwicklung von fachlichen
Jungerwachsenen bis hin zur ambulanten Unter-                          Standards und einer fachlich-achtsamen Haltung
stützung von Familien sowie ambulanten Hilfen                          werden regelmäßig interne und externe Fort- und
für Kinder und deren Fa-
milien. Zudem setzt die                              „Die Komplexität des Schutzkonzeptes verdeutlicht,
Margaretenhort gGmbH                            vor welchen Herausforderungen die Kolleg*innen täglich stehen.“
Kooperationen an der                                      Sebastian Wehrs (Prozess- und Bereichsleitung)
Schnittstelle von Jugend-
hilfe und Schule um.                                                   Weiterbildungen zu den Themen Traumapädago-
Fachliche Schwerpunkte im Margaretenhort sind                          gik, Kinderschutz, sozialpädagogisches Fallverste-
die Unterstützungsangebote für Kinder, Jugendli-                       hen, systemische Grundlagen, Kommunikation,
che und Erwachsene mit psychischen Problemen                           Umgang mit psychisch Erkrankten, Arbeitsmigra-
und Psychiatrieerfahrung sowie die ambulante                           tion, Konfliktmanagement, Marte Meo (videoba-
Betreuung psychisch kranker Eltern und ihrer Kin-                      sierte Methode zur Erziehungsberatung), Frühe
der. Aufgrund der Angebotsvielfalt ist es den Mit-                     Hilfen und Inklusion in der Kinder- und Jugend-
arbeiter*innen im Margaretenhort möglich, un-                          hilfe besucht.
terschiedliche Hilfeformen aus „einer Hand“ zu be-
dienen und so fachgerecht auf die individuellen

                                                             2
SCHUTZKONZEPT - Stand: Mai 2020 - Margaretenhort
SCHUTZKONZEPT

                                                                              1. EINLEITUNG

DAS VERSTEHEN WIR UNTER DEM                              Zu den Nutzer*innen zählen Menschen mit und
SYSTEMISCHEN ANSATZ UND                                  ohne psychische Belastungen aller Altersgruppen.
TRAUMAPÄDAGOGIK                                          Viele kommen aus dem Sozialraum, einige aus
Der systemische Ansatz umfasst für uns die Grund-        Hamburg und manche aus anderen Teilen
haltung, dass wir den Menschen als Teil eines Sys-       Deutschlands und der Welt.
tems mit einer gemeinsamen, sich gegenseitig be-         Es ist uns Mitarbeiter*innen wichtig, in unseren
dingenden biographischen Entwicklung betrach-            jeweiligen Leistungsbereichen Grenzverletzun-
ten (z.B. Familiensystem). Die sich daraus ablei-        gen, Übergriffe und sexualisierte Gewalt zu ver-
tenden, vielfältigen und auf Verstehen ausgeleg-         hindern. Deshalb ist Prävention für uns ein zentra-
ten Methoden sind ressourcenorientiert, sehen            les Thema, mit dem wir uns in Fortbildungen und
den Menschen als Expert*in seiner*ihrer eigenen          auch im Alltag intensiv beschäftigen.
Lebenswelt an und helfen ihm*ihr dabei, eigene           Das hat sich in den letzten Jahren deutlich ver-
Lösungen zu entwickeln. Die Methoden unter-              stärkt. Das 2014 geschriebene Schutzkonzept
stützen dabei, Muster zu durchbrechen und alter-         empfanden wir Mitarbeiter*innen als nicht mehr
native Perspektiven aufzuzeigen. Alle Nutzer*in-         zeitgemäß. Die Leitungsstruktur und die Teams
nen, insbesondere diejenigen mit traumatischen           haben sich seitdem sehr verändert und wir
Erfahrungen, benötigen einen sensiblen und acht-         wünschten eine Überarbeitung. Neuen Mitarbei-
samen Umgang in der pädagogischen Arbeit. Eine           ter*innen und anderen Interessierten möchten
grundlegende Haltung der Traumapädagogik ist             wir kompakt darstellen, wie wir im Margareten-
die Annahme des guten Grundes: Jedes Verhalten           hort die Nutzer*innen vor Gewalt und Missbrauch
ist eine Überlebensstrategie und hat einen Grund         schützen.
(auch, wenn wir diesen ihn auf den ersten Blick          Die Arbeit am neuen Schutzkonzept begann mit
nicht erkennen). Daraus ergeben sich für uns di-         einer Betriebsversammlung im Herbst 2017 und
verse Methoden, die für Nutzer*innen einen si-           ist Teil einer umfassenden Neuausrichtung des Un-
cheren Ort mit verlässlichen Beziehungen schaf-          ternehmens. Nach einjähriger Interimszeit hatte
fen können.                                              die Margaretenhort gGmbH zuvor im Sommer
                                                         2016 eine neue Geschäftsführung erhalten. Zu-
Da nicht nur unser Handeln unsere Sprache beein-         sätzlich begann 2016 die intensive Aufarbeitung
flusst, sondern Sprache ebenso Handeln und Hal-          der in den 1980er Jahren vorgefallenen sexuellen
tung prägt, haben wir uns im Margaretenhort ent-         Übergriffe durch Nutzer*innen an jüngeren Nut-
schieden, die Zielgruppe unserer Angebote be-            zer*innen in der Margaretenhort gGmbH. Darauf-
reichsübergreifend als Nutzer*innen zu bezeich-          hin wurde seit 2018 eine neue Leitungsstruktur
nen. Dies spiegelt unsere tägliche Arbeit auf Au-        organisatorisch festgeschrieben. Der Gesamtlei-
genhöhe sowie die aktive Selbstbestimmung der            tungskreis, bestehend aus der Geschäfts-
Menschen wieder.

                                                     3
SCHUTZKONZEPT - Stand: Mai 2020 - Margaretenhort
SCHUTZKONZEPT

 1. EINLEITUNG

leitung und den Bereichsleitungen, ist das Lei-            Wie arbeiten wir in den Teams gemeinsam Unsi-
tungsgremium, in dem Entscheidungen gemein-                cherheiten oder auch Fehler auf?“
sam beraten und entsprechend der neuen Sat-                Nach diesen Workshops gingen alle Leistungsbe-
zung verabschiedet werden. Das fachliche Wissen            reiche in die Risikoanalyse. Die zusammengetra-
ist im Gesamtleitungskreis über einzelne Verant-           genen spezifischen Risiken aus den Leistungsbe-
wortlichkeiten nach Themen organisiert. Der Wis-           reichen sowie die Ergebnisse aus den Workshops
senstransfer in die Leistungsbereiche wird über            flossen in das vorliegende Konzept ein. Es wurde
die Anfang 2019 eingeführte Teamleitungsstruk-             von einer elfköpfigen erweiterten Redaktions-
tur sichergestellt. Dies beinhaltet neben einer ver-       gruppe, bestehend aus Mitarbeiter*innen aller
besserten Kommunikation und einer Kontrolle vor            Leistungsbereiche und Hierarchieebenen, gegen-
Ort, auch, dass Menschen in den jeweiligen Orga-           gelesen und in einem weiteren Workshop bear-
nisationseinheiten die Verantwortung für die fort-         beitet. Natürlich hätten wir das Schutzkonzept auf
führende Bearbeitung von Themen mittragen                  anderem Weg schneller fertigstellen können.
können.                                                    Aber es wäre dadurch nicht so sehr „unser“ ge-
Ein weiterer wesentlicher Bestandteil der Neu-             meinsames Konzept geworden. Das Schutzkon-
ausrichtung ist die Modernisierung der Marke               zept gibt, zusammen mit bereits erarbeiteten und
„Margaretenhort“. Ein neues Logo als Teil der Cor-         noch folgenden Konzepten, Orientierung darüber,
porate Identity (Unternehmensidentität) soll die           mit welcher Haltung, mit welchen Werten und
gemeinsam erreichte Haltung im Margaretenhort              welchen pädagogischen Grundgedanken wir im
erlebbar machen. Das 2019 mit allen Teams abge-            Margaretenhort handeln.
stimmte Motto „alle.gleich.anders.“ ermöglicht
eine Identifikation im institutionellen Miteinan-
der.

Ein neues Schutzkonzept sehen wir als Schlüssel-
text an.
„Es geht um Grundsätzliches, ohne das Prävention
einfach nicht funktioniert“, beobachtete ein Kol-
lege in einem der zwei Workshop, zusammenge-
setzt aus Mitarbeiter*innen unterschiedlicher
Leistungsbereiche. „Es geht um Fragen, die wir
uns immer wieder stellen müssen: Mit welcher
Haltung arbeite ich? Wo verlaufen die Grenzen
zwischen meiner Arbeit und meinem Privatleben?

                                                       4
SCHUTZKONZEPT

                                                                               1. EINLEITUNG

SCHUTZAUFTRAG ALS TEIL DER                                Wir erhalten Gelegenheit, unsere
ORGANISATIONSSTRUKTUR                                     Arbeitsbeziehungen und die eigene
Dieses Dokument gilt als Grundlagentext verbind-          Rolle auch im Hinblick auf Macht, Ohn-
lich für alle Haupt- und Ehrenamtlichen, die in der       macht, Machtgefälle in kollegialer Beratung,
Margaretenhort gGmbH mitarbeiten. Ergänzt                 Dienstbesprechungen, Einzelberatungen und Su-
wird es durch ein Partizipationskonzept, ein Kon-         pervisionen zu hinterfragen.
zept für Beschwerdeverfahren, die Handlungs-              Gemeinsam wollen wir außerdem alle Nutzer*in-
grundsätze und eine Interventionskette. Zukünftig         nen über ihre Rechte und unseren Schutzauftrag
kommt ein sexualpädagogisches Konzept dazu.               aufklären und sie in die Implementierung des
„Habe ich da richtig gehandelt oder war das über-         neuen Schutzkonzeptes einbeziehen. Wir erklä-
griffig?“: Das Schutzkonzept nimmt auch kleinere          ren ihnen, wo wir Grenzen ziehen und wie wir auf
Vorfälle und Grenzverletzungen in den Blick. Es ist       die Wahrung dieser Grenzen achten.
Teil einer Organisationskultur, in der Unsicherhei-       Das aktuelle Schutzkonzept versteht sich als Leit-
ten in einer Alltagssituation im Team gemeinsam           faden für alle Mitarbeiter*innen der Margareten-
reflektiert und alternative Handlungsansätze er-          hort gGmbH und will den Dialog über Prävention
arbeitet werden, so dass Situationen z. B. nicht          in allen Leistungsbereichen verstetigen.
dramatisiert oder bagatellisiert werden.

                                                      5
SCHUTZKONZEPT

 2. SCHUTZAUFTRAG

                                                                                                    möglicherweise unbeab-
                                                                                                    sichtigten Grenzverletzun-
             „Eine Haltung kann sich nur etablieren, wenn alle sie leben!“                          gen hin zu Übergriffen, die
      Svenja Bitzer (Öffentlichkeitsarbeit, Fundraising, Geschäftsführungsassistenz)
                                                                                                    auch aus mangelnder
                                                                                                    fachlicher Vorbereitung
Wer Menschen Schutz gewährt, übernimmt Ver-                                 geschehen, bis zu geplantem Machtmissbrauch.
antwortung. Diese Verantwortung liegt bei der                               Es ist eine mehrdimensionale Aufgabe: Wie schüt-
Margaretenhort gGmbH als Ganzem, aber auch                                  zen wir Nutzer*innen vor Übergriffen durch Mit-
bei jedem*r von uns Mitarbeiter*innen. Zur indi-                            arbeiter*innen? Wie beugen wir Gewalt von Kin-
viduellen Verantwortung gehört, die eigene Rolle                            dern, Jugendlichen und Erwachsenen untereinan-
zu reflektieren, sie professionell auszufüllen und                          der vor? Wie schützen wir sie vor Gewalt in ihren
Grenzen nicht zu überschreiten. Die in der eige-                            Familien? Und was können wir präventiv gegen
nen Arbeit liegenden spezifischen Risiken für ei-                           mögliche Übergriffe durch Nutzer*innen auf un-
gene Grenzüberschreitungen lassen sich am bes-                              sere Mitarbeiter*innen tun?
ten vermeiden, wenn wir
sie kennen und als Team                     „Es braucht dieses fachliche Fundament, das alle Mitarbeiter*innen
in den Blick nehmen.                    für sich entwickeln müssen, um Verantwortung übernehmen zu können!“
Wie gehen wir selbst und                                      Rainer Rißmann (Geschäftsführung)
wie gehen Kolleg*innen
mit dem zur Arbeit gehörenden Machtgefälle um?
Auch wenn sich jede*r Einzelne bemüht, auf Au-
genhöhe mit den Nutzer*innen zu sprechen und
zu handeln, bleiben die Handlungsoptionen in ei-
nem bestehenden Machtgefälle ungleich verteilt.
Dies kann zu Fehlhandlungen führen und miss-
braucht werden. Im schlimmsten Fall geschieht
dies vorsätzlich.
Ziel des Schutzkonzeptes ist es, jede Form von
Machtmissbrauch und physischer, psychischer
und sexueller Gewalt innerhalb unseres Margare-
tenhorts zu vermeiden, etwaige Vorfälle aufzuklä-
ren und gegebenenfalls arbeitsrechtliche Konse-
quenzen zu ziehen sowie strafrechtliche Maßnah-
men einzuleiten. Die Art der Vorfälle, denen das
Konzept vorbeugen will, reicht von kleineren,

                                                              6
SCHUTZKONZEPT

                                                                               2. SCHUTZAUFTRAG

                                                                  2.1 GRENZVERLETZUNGEN
KATEGORIEN VON ÜBERGRIFFEN
Ein gewalttätiger Übergriff erfordert an-                           „Manchmal ist es in der Arbeit
dere Konsequenzen als eine unabsichtli-                             selbstverständlich, dass wir mal eben
che Grenzverletzung. An dieser Stelle soll aber zu-                 vergessen, die eigenen Handlungen zu reflektieren.“
nächst die Bandbreite der Vorfälle dargestellt                      Saskia Straehler-Pohl (pädagogische Mitarbeiterin,
werden, auf die das Schutzkonzept eingeht.                          Mitarbeiter*innenvertretung)

Zartbitter e. V. hat dazu eine Einteilung entwi-
ckelt. Die 1987 gegründete Kontakt- und Informa-                  Es kann die Hand auf der Schulter, die spontane
tionsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Kin-                    Umarmung oder die unabsichtliche Berührung
dern empfiehlt zur präventiven fachlichen Arbeit                  sein, die als bedrohlich empfunden wird. Ignorie-
die Differenzierung in drei Kategorien:                           ren die Teamkolleg*innen unbeabsichtigte Grenz-
 „Grenzverletzungen, die unabsichtlich verübt                    verletzungen, entsteht schnell eine Atmosphäre,
   werden und/oder aus fachlichen bzw. persön-                    in der auch beabsichtigte oder billigend in Kauf
   lichen Unzulänglichkeiten oder einer ‚Kultur                   genommene Grenzverletzungen nicht mehr
   der Grenzverletzungen‘ resultieren,                            wahrgenommen werden. Potenzielle Täter*innen
 Übergriffe, die Ausdruck eines unzureichenden                   nutzen dies gezielt.
   Respekts gegenüber Mädchen und Jungen1                         Abwertende und sexualisierte Schimpfworte so-
   grundlegender fachlicher Mängel und/oder ei-                   wie Beleidigungen unter Kindern, Jugendlichen
   ner gezielten Desensibilisierung im Rahmen                     und Jungerwachsenen sind erste Anzeichen von
   der Vorbereitung eines sexuellen Miss-                         Grenzverletzungen. Hier gilt es, klar und konse-
   brauchs/eines Machtmissbrauchs sind,                           quent pädagogisch einzugreifen, um zu verdeutli-
 Strafrechtlich relevante Formen der Gewalt                      chen, dass derartige Grenzverletzungen in unse-
   (wie zum Beispiel körperliche Gewalt, sexuel-                  rem Margaretenhort nicht toleriert werden.
   ler Missbrauch, Erpressung/(sexuelle) Nöti-                    Wenn Mitarbeiter*innen Nutzer*innen demüti-
   gung).“2                                                       gen, beschimpfen oder bloßstellen, verletzt dies
                                                                  Grenzen.

1 Anmerkung der Redaktion: Wir im Margaretenhort bezie-           fen und strafrechtlich relevanten Formen der Gewalt im pä-
hen in unsere Betrachtung Menschen aller Geschlechter mit         dagogischen Alltag, https://www.zartbitter.de/gegen_sexu-
ein, nicht nur Mädchen und Jungen.                                ellen_missbrauch/Fachinformationen/6005_miss-
2 Zur Differenzierung zwischen Grenzverletzungen, Übergrif-       brauch_in_der_schule.php (abgerufen am 22.08.2019).

                                                              7
SCHUTZKONZEPT

    2. SCHUTZAUFTRAG

2.2 GEWALTTÄTIGE ÜBERGRIFFE
                                                              SO SETZTEN WIR DEN SCHUTZ-
                                                              AUFTRAG UM
    „Wir müssen den feinen Unterschied
                                                              Wir Mitarbeiter*innen im Margareten-
     zwischen Grenzverletzung und über-
                                                              hort wirken aktiv an der Prävention von Macht-
     griffigem Verhalten kennen.“
                                                              missbrauch, Grenzverletzungen und gewalttäti-
    Agata Pilot (Teamleitung)
                                                              gen Übergriffen mit. Auch kleinere Fehlhandlun-
                                                              gen thematisieren wir und arbeiten sie in ange-
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert
                                                              messener Weise auf. Verdachtsmomenten und
Gewalt so: „Der absichtliche Gebrauch von ange-
                                                              unerklärlichem Verhalten wird nachgegangen.
drohtem oder tatsächlichem körperlichen Zwang
                                                              Wir machen uns das Anliegen des Schutzkonzep-
oder physischer Macht gegen die eigene oder an-
                                                              tes zu eigen und unterstützen dessen Umsetzung
dere Person, gegen eine Gruppe oder Gemein-
                                                              in unseren jeweiligen Leistungsbereichen. Zum
schaft, der entweder konkret oder mit hoher
                                                              Vorgehen bei vermuteten relevanten Vorfällen
Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychi-
                                                              nutzen wir die Interventionskette (s. Kap. Inter-
schen Schäden, Fehlentwicklung und Deprivation
                                                              vention, S. 42)
führt.“3 Deprivation meint hier das Erleiden eines
Verlusts oder eines Mangels. Auch die Ausübung
von psychischer Gewalt in Form von Manipula-
tion, Mobbing, Ausgrenzung,
Nichtbeachtung oder ständi-
ger verbaler Beschimpfungen
und Entwertungen sowie jeg-
liche Formen von Diskriminie-
rung, Sexismus, Homophobie,
Transphobie und Rassismus
bewerten wir im Margareten-
hort als Gewalt.

3WHO, Weltbericht Gewalt und Gesundheit, Zusammenfas-         tion/violence/world_report/en/summary_ge.pdf, S. 5 (abge-
sung, 2003, https://www.who.int/violence_injury_preven-       rufen am 22.08.2019).

                                                          8
SCHUTZKONZEPT

                                                3. STRATEGIEN VON TÄTER*INNEN

Es ist wichtig, typische Strategien von Täter*innen       3.1 AUSGEPRÄGTE HIERARCHIEN UND UN-
zu kennen. Wie kommt es zu Übergriffen inner-             STRUKTURIERTE ORGANISATIONEN
halb einer pädagogischen Institution? Gibt es be-
                                                          Allein die strukturelle Überlegenheit Erwachsener
sonders risikoreiche Situationen? Wie kommt es
                                                          gegenüber Kindern sorgt schon dafür, dass Strate-
schließlich dazu, dass Täter*innen die Kolleg*in-
                                                          gien angewendet werden können, die die Nut-
nen und die Leitung austricksen, die strukturellen
                                                          zer*innen entweder nicht erkennen bzw. gegen
Gegebenheiten ausnutzen und so Situationen
                                                          die sie sich nicht zur Wehr zu setzen wissen. Wo
entstehen, in denen Nutzer*innen missbraucht
                                                          Erwachsene und Kinder aufeinandertreffen, ist
werden können?
                                                          diese strukturelle Überlegenheit immer vorhan-
Wenn kleine Grenzüberschreitungen von Mitar-
                                                          den. Es entsteht eine sensible Erwachsenen-Kind-
beiter*innen unkommentiert bleiben, ist es für
                                                          Beziehung, die strukturell ungleich ist. Diese
Täter*innen leicht, die Grenzen zu verschieben
                                                          Machtstruktur ist ein Risikofaktor für Machtmiss-
und Anknüpfungspunkte für Missbrauch zu schaf-
                                                          brauch aller Art. Darauf müssen wir in der präven-
fen.
                                                          tiven Arbeit eingehen.
Die wenigsten Täter*innen sind pädosexuell. Die
                                                          Unterschieden werden kann zwischen den struk-
meisten kommen aus dem sozialen Umfeld des
                                                          turellen Anknüpfungspunkten für Täter*innen
Opfers. Strategien in den pädagogischen Instituti-
                                                          und den individuellen Voraussetzungen, die
onen sind es, mit denen wir uns hier beschäftigen
                                                          der*die Nutzer*in mitbringt.
müssen. Nur so können wir dafür sorgen, dass es
                                                          Sowohl stark autoritär strukturierte als auch un-
keine Anknüpfungspunkte vor Ort gibt.
                                                          strukturierte Organisationen sind besonders ge-
                                                          fährdet. Im ersten Fall stellen die besonders aus-
                                                          geprägten Machtverhältnisse, die sich auch in der
                                                          Erwachsenen-Kind-Beziehung widerspiegeln, eine
                                                          Gefahr dar. Im zweiten Fall sind es die undeutli-
                                                          chen, schwer erkennbaren Hierarchien, die sich
                                                          dementsprechend schwer infrage stellen lassen
                                                          und die Bildung von verdeckten Macht- und Ab-
                                                          hängigkeitsverhältnissen begünstigen. Es gehört
                                                          also zu unserer Präventionsarbeit, unsere Struktu-
                                                          ren kritisch zu reflektieren. Sie sollten so beschaf-
                                                          fen sein, dass möglichst keine missbräuchlichen
                                                          Machtstrukturen entstehen können.

                                                      9
SCHUTZKONZEPT

 3. STRATEGIEN VON TÄTER*INNEN

3.2 TABUS UND SORGEN UM DEN RUF                              Macht und Überlegenheit der Täter*innen ver-
Ein anderer Anknüpfungspunkt für die Täter*in-               stärkt die Angst der Menschen und veranlasst
nen ist der meist gegebene Zusammenhalt inner-               diese zum Schweigen.
halb der Institution. Vor allem bei Angriffen von
außen gibt es geradezu einen Reflex, ohne weite-               „Das Schutzkonzept macht mir
res Nachdenken erst einmal die Reihen zu schlie-               deutlich, welche Grenzverletzungen
ßen gegenüber einer Außenwelt, die in dem Mo-                  ich als Schülerin vor rund 45 Jahren
ment als „feindlich“ empfunden wird. Es gibt in                erfahren musste, die zudem keine relevanten
vielen Organisationen Tabus, über die nicht ge-
                                                               Konsequenzen für die Pädagog*innen nach sich
sprochen wird – schon aus Sorge um den guten
                                                               zogen. Das beschäftigt mich heute noch immer!“
                                                               Anonym
Ruf. Die Angst vor einer Gefährdung des guten Ru-
fes bietet gleichzeitig die Möglichkeit für Täter*in-
nen, dass ihr Handeln nicht thematisiert wird, da-
mit der Rahmen nicht zerbricht.

3.3 EMOTIONALE BEDÜRFTIGKEIT
Die emotionale Bedürftigkeit der Menschen ist es,
die Täter*innen in pädagogischen Institutionen
am häufigsten ausnutzen. Täter*innen bedienen
das Bedürfnis der potenziellen Opfer nach Auf-
merksamkeit, Zuwendung und Zärtlichkeit und
lassen in entsprechenden Situationen sexuelle
Handlungen einfließen. Menschen, deren emotio-
nale und körperliche Grenzen noch nicht klar de-
finiert, noch gar nicht entwickelt oder schon wie-
der zerstört sind, gehören zu den bevorzugten
Opfern. Diese Menschen finden sich oft in päda-
gogischen Organisationseinheiten der Jugend- o-
der Eingliederungshilfe wieder. Auch durch Dro-
hungen oder Erpressung bzw. durch das Anbieten
materieller Vorteile wie z. B. Alkohol werden Nut-
zer*innen zu sexuellen Handlungen gebracht. Die

                                                        10
SCHUTZKONZEPT

                                                     4. ALLGEMEINE RISIKOANALYSE

Ganz unterschiedliche Faktoren und Gegebenhei-            Die allgemeinen und besonderen Risiken berück-
ten können Grenzverletzungen begünstigen. Ei-             sichtigen wir bei allen weiteren Analysen und Prä-
nige liegen auf der Hand, andere sind eher subtil.        ventionsmaßnahmen.
Wir haben für das neue Schutzkonzept die allge-
meinen Risiken analysiert und in den Strategien
                                                          4.1 GEWALT UNTER NUTZER*INNEN
zur Vorbeugung berücksichtigt (s. Kap. Prä-
                                                          Gewalt kann von Mitarbeiter*innen ausgehen,
vention, S. 28 ff.).
                                                          aber auch von Nutzer*innen. Es kann zu Gewalt
                                                          unter Nutzer*innen und gegenüber Mitarbei-
                                                          ter*innen kommen.

                                                          BEISPIEL 1:
                                                          Ich verzichte auf verbales und non-
                                                          verbales abwertendes Verhalten und be-
                                                          ziehe aktiv Stellung gegen gewalttätige, diskrimi-
                                                          nierende, rassistische, sexistische, homo- und
                                                          transphobe Handlungen. (Handlungsgrundsatz 6)
                                                          Ein Jugendlicher aus dem Schulkooperationspro-
                                                          jekt verhielt sich vermehrt provokant seinem
                                                          schwarzen Mitschüler gegenüber. Er äußerte
                                                          Sätze wie „Heute wieder schwarzgefahren?“ oder
Viele Nutzer*innen von Angeboten der Margare-             „Hey, hast du mal einen Negerkuss für mich?“ Die
tenhort gGmbH sind nicht in der Lage, Grenzver-           Mitarbeiter*innen sprachen mehrmals mit dem
letzungen zu erkennen und zu verbalisieren und            Jugendlichen und erklärten, was grenzverletzend
sind damit potenziell gefährdet.                          an den Äußerungen ist. Sie versuchten, in einem
Ein Teil der Nutzer*innen hat in der eigenen Fami-        Perspektivwechsel aufzuzeigen, wie sich andere
lie Grenzverletzungen oder Gewalt erlebt oder             Menschen fühlen, die verletzt werden.
durchleidet dies gerade, kann es aber möglicher-
weise nicht kommunizieren. Anderen ist es auf-
                                                          Im (gewaltvollen) Verhalten der Nutzer*innen zei-
grund einer psychischen Erkrankung oder einer
                                                          gen sich die seelischen Belastungen aus der Ver-
Behinderung nicht möglich, über erlittene Über-
                                                          gangenheit, die aktuellen Belastungen aus Fami-
griffe zu sprechen. Diese Gruppen tragen ein noch
                                                          lie, Peer-Group („peer“ = Gleichgestellte*r),
deutlich höheres Risiko, Grenzverletzungen und
                                                          Schule oder die Wünsche an die pädagogische Be-
Übergriffe zu erleiden.
                                                          ziehung. Ziel der pädagogischen Arbeit ist es, das

                                                     11
SCHUTZKONZEPT

 4. ALLGEMEINE RISIKOANALYSE

Verhalten auf der Subjektebene zu betrachten –            4.2 WENN FACHWISSEN FEHLT
die Nutzer*innen sind nicht unnormal, sondern
reagieren normal auf belastende Entwicklungsbe-              „Es wäre gut, wenn wir Verwal-
dingungen.                                                   tungskräfte auch Fortbildungen für
Für die pädagogische Arbeit bedeutet das: Wir                pädagogische Handlungsalternativen
sind aufmerksam dafür, wie die uns anvertrauten              bekommen würden.“
Menschen auch untereinander agieren, wie sie                 Ingrid Dobbeck (Buchhaltung)
miteinander sprechen und umgehen. Wir fördern
die Entwicklung von Sensibilität für eigene und           Idealerweise kennen alle Mitarbeiter*innen der
auch fremde Grenzüberschreitungen und greifen             Margaretenhort gGmbH mehrere pädagogische
ein, wenn es zum Schutz der Nutzer*innen not-             Handlungsstrategien, auf die sie zurückgreifen
wendig ist. Wir bauen pädagogische Beziehungen            können, wenn es schwierig wird (z. B., wenn sie in
auf, die Sicherheit bieten sollen.                        einer Gruppe von Heranwachsenden auf heraus-
                                                          forderndes Verhalten treffen). Auch von den Nut-
                                                          zer*innen durchlebte Krisen und psychisch belas-
                                                          tende Situationen müssen pädagogisch bewältigt
DIESE VIER FAKTOREN
                                                          werden. Dafür brauchen Mitarbeiter*innen fun-
LEITEN UNSER HANDELN
                                                          dierte Fachlichkeit. Wem Fachwissen fehlt,
 Objektive Informationen: Biografie, aktuelle Le-        der*die nutzt – schon aus Hilflosigkeit – mit eini-
  benssituation, beobachtbares Verhalten                  ger Wahrscheinlichkeit die eigene Machtposition
 Subjektive Informationen: Was könnte hinter             aus.
  dem Verhalten stehen (Perspektivwechsel)
 Szenische Informationen: Was macht das Ver-
  halten mit mir?
 Folgerung: Was braucht der*die Nutzer*in?

                                                     12
SCHUTZKONZEPT

                                                      4. ALLGEMEINE RISIKOANALYSE

BEISPIEL 2:                                                BEISPIEL 3:
Ich weiß um das Machtgefälle im pä-                        Ich weiß um das Machtgefälle im pä-
dagogischen Kontext und reflektiere mein Verhal-           dagogischen Kontext und reflektiere mein Verhal-
ten. (Handlungsgrundsatz 7)                                ten. (Handlungsgrundsatz 7)
Ein Mitarbeiter teilte in der Nachmittagsbetreu-           In einer Wohngemeinschaft für Kinder tobten die
ung seiner Gruppe mit, dass ein weiteres Kind in           Kinder in der Schulwoche am Abend draußen
die Gruppe aufgenommen werde. Die Kinder rea-              herum und wollten nicht in ihre Zimmer und
gierten unwillig, sie wollten den Jungen nicht in          schlafen. Sie waren laut, einige beleidigten die
der Gruppe, er rieche nicht gut. Der Mitarbeiter           Mitarbeiter*innen im Dienst. Die beiden Mitar-
fühlte sich an seine eigene Schulzeit erinnert, in         beiter*innen versuchten verschiedene Interven-
der er selbst Mobbing erlitten hatte. Er wollte das        tionen: die Kinder partizipativ an einer Lösung be-
noch nicht anwesende Kind schützen und ver-                teiligen, Konsequenzen benennen … Schließlich
langte von den Kindern, zur Bestrafung ihres ab-           beschlossen die Kinder, draußen unter dem be-
lehnenden Verhaltens übers Wochenende zwei                 leuchteten Vordach zu schlafen. Die eine Mitar-
Seiten zu diesem Thema zu schreiben. Darüber               beiterin reagierte aufgrund von Unsicherheit und
beschwerten sich Eltern. Im Gespräch erklärte der          Verzweiflung mit einer Drohung: „Dann stelle ich
Mitarbeiter, er habe durch die harte Strafe ab-            euch den Strom ab.“ Die Kinder reagierten ver-
schrecken wollen. Auf diese Weise habe er errei-           ängstigt und die zweite Mitarbeiterin nahm die
chen wollen, dass es niemand wagt, das neue Kind           Aussage der ersten zurück.
zu mobben. Im Gespräch wurde geklärt, wie die              Das Verhalten der Mitarbeiterin wurde in einem
Gruppenleitung in einem solchen Fall selbstreflek-         Gespräch reflektiert und Handlungsalternativen
tiert handeln und auch Beschwerden von Nut-                überlegt: Es ist gut, den eigenen Ärger zu benen-
zer*innen wahrnehmen und besprechen kann. Ei-              nen und auch zu sagen, dass das Verhalten der
gene Erlebnisse und Erfahrungen dürfen nicht               Kinder nicht in Ordnung ist. Das Verhalten der Kin-
dazu führen, die eigene zum Verlust der professi-          der hat nichts mit der Mitarbeiterin persönlich zu
onellen Haltung nicht wahrnehmen zu können.                tun. Handlungsunsicherheit darf nicht auslösen,
                                                           dass sie nicht mehr entsprechend ihrer professio-
                                                           nellen Haltung agieren kann.

                                                      13
SCHUTZKONZEPT

 4. ALLGEMEINE RISIKOANALYSE

4.3 WENN FACHKRÄFTE FEHLEN

    „Der Personalmangel hat nicht nur Auswirkungen auf die Belastung von
   Kolleg*innen, z. B. in Dienstplanbesetzungen, sondern insbesondere auch auf
                 die pädagogische Arbeit mit den Nutzer*innen!“
                              Gia-Vinh Le (Teamleitung)

Der Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit stellt
auch in unserem Margaretenhort einen Risikofak-
                                                                    BEISPIEL 4:
tor dar. Er erschwert die Ausführung in den Orga-
nisationseinheiten und Projekten vor Ort und                        Ich verstehe alle Verhaltensweisen
führt zu belastenden Arbeitssituationen für uns                     von Nutzer*innen als eine Überlebensstrategie.
Mitarbeiter*innen. So müssen in Phasen, in de-                      (Handlungsgrundsatz 4)
nen nicht alle Stellen besetzt sind, im stationären                 Eine Mitarbeiterin arbeitete in einer Wohnge-
Leistungsbereich mehr Dienste (z. B. Nachtbereit-                   meinschaft für Kinder, in der es aufgrund von
schaften) und im ambulanten und teilstationären                     Fachkräftemangel zu wenig Personal gab.
Leistungsbereich mehr Fälle übernommen wer-                         Eines der Kinder wurde wütend, schrie und knallte
den, sodass Mehrarbeitsstunden anfallen. Im                         mit der Flurtür. Die Mitarbeiterin versuchte, das
Schulkooperationsbereich muss eine Fachkraft                        Kind zu beruhigen, jedoch ohne Erfolg. Aufgrund
beim Ausfall von Kolleg*innen mehr Kinder zur                       der personellen Situation hatte sie im Vorfeld be-
gleichen Zeit betreuen, sodass der Betreuungs-                      reits einige Dienste abgeleistet und war müde und
schlüssel deutlich steigt. In allen Fällen führen                   genervt. Ihre Geduld hielt nicht lange und so
Engpässe in der Personalbesetzung zu einer                          wurde sie laut, packte das Kind und zog es von der
Mehrbelastung der Teams sowie von einzelnen                         Tür weg. Das Kind wurde noch wütender, be-
Mitarbeiter*innen.                                                  nannte, dass die Mitarbeiterin ihm wehgetan
                                                                    habe und es eskalierte weiter.
   „In Zeiten von Personalmangel,                                   In der Reflexion erkannte die Mitarbeiterin, dass
   z. B. aufgrund von Krankheitsaus-                                sie nicht auf Deeskalationsstrategien zurückge-
   fällen, in denen die gesunden Mitarbeiter*innen                  griffen hatte, sondern sich die Wut und Verzweif-
   viele Vertretungen übernehmen müssen, läuft                      lung des Kindes sogar noch auf sie übertragen hat-
   das gesamte Team auf ‚Standby-Modus‘.“                           ten. Wichtig für die gute Bearbeitung der Situa-
   Ann-Kathrin Kaiser (Teamleitung)                                 tion war die Reflexion, auch hinsichtlich künftiger
                                                                    Handlungsalternativen. Ebenso war ein Austausch
                                                                    mit Kolleg*innen in der Übergabe hilfreich.

                                                           14
SCHUTZKONZEPT

                                                     4. ALLGEMEINE RISIKOANALYSE

4.4 PERSONALSCHLÜSSEL UND RAHMENBE-
DINGUNGEN                                                 BEISPIEL 5:

In mehreren Leistungsbereichen arbeiten Kol-              Ich verpflichte mich, die Nutzer*in-
leg*innen regelmäßig allein mit den Nutzer*in-            nen vor körperlicher, seelischer und sexu-
nen. Sie können bei Schwierigkeiten keine*n Kol-          alisierter Gewalt zu schützen.
leg*in um Rat fragen. Sollte es tatsächlich zu            (Handlungsgrundsatz 1)
Grenzverletzungen kommen oder der Verdacht                An unseren GBS-Standorten gibt die Behörde ei-
geäußert werden, gibt es keine Kolleg*innen, die          nen Stellenschlüssel von 1 zu 17 vor. In der Vor-
das bezeugen. Das ist eine Herausforderung für            schulgruppe betreuen zwei pädagogische Fach-
das Schutzkonzept: Wie lässt sich die Prävention          kräfte 27 Kinder. An einem Tag, an dem alle Kin-
stärken, wenn Rahmenbedingungen und Setting               der vor Ort waren, war die Gruppe der Fünf- bis
kaum veränderbar sind? Wichtig ist hier die Ge-           Sechsjährigen sehr wuselig, der Geräuschpegel
staltung dieser besonderen Arbeitssituation:              sehr hoch und es kam zwischen einigen Kindern
durch ein Schutzkonzept, das in den Alltag einge-         zu körperlichen Auseinandersetzungen. Nach ei-
bunden ist; durch Austausch im Team über die              nem Streit lief ein Junge weg und kletterte im
Grundhaltung; durch Dienstbesprechungen, die              Treppenhaus über das Geländer. Die eine Mitar-
für Prävention genutzt werden; durch Supervi-             beiterin der Gruppe lief hinterher. Der Junge war
sion, Weiterbildung, Beschwerdewege und Feh-              kaum ansprechbar und drohte verbal sowie mit
lerkultur.                                                seiner Körperhaltung, dass er hinunterspringen
                                                          werde, da er nicht mehr leben wolle. Die Mitar-
                                                          beiterin hielt daraufhin durch das Geländer den
   „Der von der Behörde finanzierte
                                                          Jungen fest. Da kein*e Kolleg*in in der Nähe war,
   schlechte Betreuungsschlüssel kann
                                                          bat sie eine andere Kindsmutter, die die Situation
   zur Folge haben, dass die pädagogische
                                                          beobachtete, die Teamleitung zu holen. Gemein-
   Arbeit am Standort leidet! Die Belastung
                                                          sam mit der Teamleitung konnte die Mitarbeiterin
   steigt und kann eine Gleichgültigkeit zur Folge
                                                          nach 30 Minuten die Situation deeskalieren, der
   haben. Oft bremsen die Rahmenbedingungen die
                                                          Junge kletterte wieder zurück. Die Situation
   Idealvorstellungen aus.“
                                                          wurde im Anschluss mit dem Jungen besprochen,
  Ann-Kathrin Kaiser (Teamleitung)
                                                          der berichtete, dass er öfter das Gefühl habe,
                                                          nicht mehr leben zu wollen. In der Folge wurde
                                                          der Kindsvater angerufen und ein gemeinsames
   „Es ist ein Systemproblem:                             Gespräch geführt. In der Zwischenzeit war der an-
   zu große Gruppen führen zu                             dere Mitarbeiter der Gruppe allein mit 26 Kin-
   großer Belastung.“
                                                          dern.
  Martin Barth (pädagogischer Mitarbeiter)

                                                     15
SCHUTZKONZEPT

 5. ARBEITSFELDSPEZIFISCHE RISIKEN

In den Leistungsbereichen der Margaretenhort                       tiges, abwechslungsreiches und ressourcenorien-
gGmbH bestehen teilweise spezifische Risiken.                      tiertes Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungspro-
Diese betrachten wir an dieser Stelle genauer.                     gramm angeboten.
Durch die Auflistung wird deutlich, was unsere                     In den Räumen der Schulen ist es oft schon auf-
Präventionsarbeit leisten muss.                                    grund der großen Zahl von Kindern sehr laut. Es
                                                                                           entstehen schnell Grup-
                  „Das Schutzkonzept sensibilisiert auch die Verwaltung                    pendynamiken, auf die re-
                          für die pädagogische Arbeit vor Ort.“                            agiert werden muss.
                               Ingrid Dobbeck (Buchhaltung)                                Die Kooperation mit Schu-
                                                                                           len bringt eine besondere
5.1 SCHULKOOPERATION
                                                                   Arbeitssituation mit sich. Die Nachmittagsbetreu-
Im Leistungsbereich Schulkooperation sind wir als                  ung findet in den Räumlichkeiten der Schule statt.
Träger von zwei schulpflichtersetzenden Jugendhil-                 Viele Regeln und der Rahmen der Arbeit sind von
feprojekten, als Kooperationspartner im Rahmen                     der Schule oder von der Schulbehörde vorgege-
der ganztägigen Bildung und Betreuung (GBS) und                    ben. Es wird möglicherweise mit unterschiedlichen
als Dienstleistungspartner an Ganztagsschulen                      pädagogischen Haltungen gearbeitet, der Aus-
(GTS) aktiv. An den insgesamt vier Ganztagsschu-                   tausch und die Vernetzung zwischen den Kolle-
len wird schwerpunktmäßig am Nachmittag, aber                      gien und den Teams der Nachmittagsbetreuung
auch am Vormittag und in den Ferien ein reichhal-

                                                         16
SCHUTZKONZEPT

                                              5. ARBEITSFELDSPEZIFISCHE RISIKEN

ist schon aufgrund unterschiedlicher Arbeitszei-
ten erschwert.                                              BEISPIEL 6:
Manche Vorschulkinder benötigen direkte Unter-              Ich verstehe alle Verhaltensweisen
stützung und Pflege durch Mitarbeiter*innen, die            von Nutzer*innen als eine Überlebens-
gleichzeitig die Aufsicht über die Gruppe haben.            strategie. (Handlungsgrundsatz 4)
Es ist aber schwierig, unter diesen Umständen im-           Eine Kollegin am Schulkooperationsstandort
mer alle Kinder im Blick zu behalten. Hier stellen          wollte während ihres Dienstes kurz etwas in der
die Rahmenbedingungen ein Risiko dar. Hinzu                 Mensa klären. Da erfuhr sie von einem Kind, dass
kommt: Die Kinder können je nach Alter mögliche             ein Junge im Gruppenraum sehr wütend sei und
Übergriffe durch andere Kinder oder Grenzverlet-            herumschreie. Die Kollegin eilte zurück und fand
zungen und Machtmissbrauch noch nicht verbal,               den Jungen mit anderen Kindern in einem Streit.
sondern höchstens körperlich ausdrücken. Hier               Als die Mitarbeiterin schlichten wollte, rannte der
brauchen Mitarbeiter*innen Ideen und Hand-                  Junge in den Toilettenraum. Er trat um sich,
lungsstrategien, wie sie in der jeweiligen Situation        wurde immer wütender und begann, sich selbst
Zugang finden zu den betroffenen Nutzer*innen.              zu verletzen. Die Mitarbeiterin befürchtete eine
                                                            massive Fremd- und Selbstgefährdung. Sie hielt
                                                            den Jungen fest, während sie die Eltern und im
                                                            Anschluss den Rettungswagen für einen psychiat-
                                                            rischen Notfall anrief. Die Sanitäter*innen muss-
                                                            ten den Jungen vorübergehend fixieren. Am
                                                            nächsten Tag sprach die Mitarbeiterin mit ihm. Sie
                                                            fasste das Gespräch im Nachhinein so zusammen:
                                                            „Ich habe ihm erklärt, wie ich die Situation erlebt
                                                            habe und dass ich mir Sorgen gemacht habe. Da-
                                                            raufhin haben wir als gemeinsame Lösungsstrate-
                                                            gie Orte ausgesucht, zu denen er ‚weglaufen‘ darf.
                                                            Weiter hat er mir erklärt, was er nicht braucht,
                                                            wenn er wütend wird.“ Fazit: In grenzverletzen-
                                                            den Situationen ist es sehr wichtig, sich selbst ein-
                                                            schätzen zu können. Nur dann ist es möglich, Nut-
                                                            zer*innen effektiv vor sich selbst und anderen zu
                                                            schützen. Wichtig ist auch, dass wir jede Situation
                                                            gut reflektieren und nachbesprechen. Nur dann
                                                            können Mitarbeiter*innen und Nutzer*innen ge-
                                                            meinsam Lösungsstrategien finden.

                                                       17
SCHUTZKONZEPT

 5. ARBEITSFELDSPEZIFISCHE RISIKEN

5.2 SOZIALRAUMANGEBOTE                                       eventuellen Übergriffen gäbe es keine*n Kol-
Die Sozialraumangebote der Margaretenhort                    leg*in, der*die den Vorfall bezeugen kann. Da es
gGmbH finden teils in öffentlich zugänglichen                sich bei sozialräumlichen Angeboten nicht um Hil-
Räumen wie Stadtteiltreffs statt, teils auch als auf-        fen zur Erziehung (HzE) handelt, gibt es keine feste
suchende Arbeit in den Wohnungen der Nut-                    Fallzuständigkeit im ASD/beim Jugendamt. Der ex-
zer*innen. Auch in diesem Leistungsbereich ar-               terne Beschwerdeweg ist also in diesem Fall er-
beitet meist ein*e Kolleg*in allein. Dabei liegt es          schwert.
in der Natur der Tätigkeit, dass wir Mitarbeiter*in-
nen die Nutzer*innen unregelmäßig sehen.
Die Margaretenhort gGmbH bietet im Freizeitzen-              BEISPIEL 7:
trum (FZ) Sandbek Offene Kinder- und Jugendar-               Ich nehme jeden Menschen so an, wie
beit (OKJA) an. Wie bei anderen offenen Sozial-              er*sie ist. (Handlungsgrundsatz 2)
raumangeboten besteht das Risiko, dass Vorfälle              Eine Mutter besuchte zum erstem Mal mit ihrer
unerkannt bleiben: Wenn die Nutzer*innen etwas               vierjährigen Tochter ein offenes Elterncafé. Beide
stört oder verunsichert, kommen sie einfach nicht            erschienen durch ihre Kleidung und ihr Auftreten
wieder.                                                      vernachlässigt und unsicher. Die Mitarbeiter*in-
Die als Elternlots*innen tätigen ehrenamtlichen              nen versuchten den Erstkontakt positiv zu gestal-
Mitarbeiter*innen beraten, unterstützen und be-              ten, um Mutter und Tochter zu einem erneuten
gleiten Familien mit Migrationsbiografien. Politi-           Cafébesuch zu motivieren. Beide kamen eine Wo-
sche und religiöse Differenzen zwischen Mitarbei-            che später wieder. Allerdings wurden sie von den
ter*innen und Familien können zu Grenzverlet-                anderen Müttern und Kindern gemieden. Mutter
zungen führen. Im Rahmen ihrer ehrenamtlichen                und Tochter wirkten noch ungepflegter als die
Tätigkeit beteiligen sich Elternlots*innen am Fa-            Woche zuvor. Die Mitarbeiter*innen versuchten,
milienleben und nehmen am Alltag der Familien                die Mutter über einen intensiven Kontakt und ver-
teil. Das erschwert die professionelle Abgrenzung            schiedene Hilfsangebote (Kleiderkammer, Tafel,
und erhöht das Risiko von Übergriffen. Es entsteht           weiterführende Hilfen) zu unterstützen. Die Mut-
ein Gefühl der Verbundenheit zu den unterstütz-              ter zeigte sich betroffen, nickte alle Informationen
ten Familien. Übergriffe oder Grenzverletzungen              ab - und kam nie wieder.
als solche zu erkennen und zu melden erfordert
umso mehr Professionalität und Abgrenzungs-
kompetenz.                                                   Im Leistungsbereich der Frühen Hilfen tragen Mit-
Auch bei den individuellen sozialräumlichen Unter-           arbeiter*innen bei ihrer Tätigkeit in Familien mit
stützungen sind die Nutzer*innen allein mit Mitar-           Neugeborenen und Babys besondere Verantwor-
beiter*innen im eigenen häuslichen Umfeld. Bei               tung für eine professionelle, gut verständliche
                                                             und kompetente Beratung. So kann bereits eine

                                                        18
SCHUTZKONZEPT

                                             5. ARBEITSFELDSPEZIFISCHE RISIKEN

minimal falsche oder missverständliche Beratung
durch Mitarbeiter*innen,
beispielsweise zur Ernäh-        „Beim Lesen des Schutzkonzeptes habe ich intensiver über meine eigene
rung, fatale Auswirkungen               Rolle und das Machtverhältnis zwischen Nutzer*innen und
auf den Säugling haben.              Mitarbeiter*innen nachgedacht. Ich trage eine hohe Verantwortung.“
Ähnlich wie Mitarbei-                        Martin Barth (pädagogischer Mitarbeiter)
ter*innen in den Eltern-
Kind-Wohnformen, treffen Kolleg*innen auch bei
den Frühen Hilfen auf eine Vielfalt von kulturellen
Vorstellungen, sei es zu Ernährung, Bekleidung o-                 BEISPIEL 8:
der Erziehung. Was Mitarbeiter*innen sagen oder                   Ich achte die Intimsphäre, das Scham-
tun, kann tendenziell als übergriffig empfunden                   gefühl und die individuellen Grenzen
werden. Auch sie selbst erleben möglicherweise                    der Nutzer*innen, ohne diese zu bewerten. (Hand-
grenzverletzendes Verhalten.                                      lungsgrundsatz 5)
                                                               Eine Mitarbeiterin machte einen Hausbesuch in
5.3 AMBULANTE HILFEN                                           einer Familie. Der Vater hatte sie informiert, dass
Zu den Aufgaben des Ambulanten Leistungsberei-                 er um 16.30 Uhr zu Hause sein werde, um 18 Uhr
ches gehören Sozialpädagogische Familienhilfe                  war er noch nicht da. Die Kinder waren allein zu
(SPFH), Erziehungsbeistandschaft/Betreuungshel-                Hause, dies schien für sie nicht ungewöhnlich zu
fer*in und Erziehungsberatung. Die Mitarbei-                   sein. Die Wohnung war nicht gelüftet, der Müll
ter*innen sind in der Regel allein mit den Nut-                quoll über, die Wäsche war nicht gewaschen. Die
zer*innen, zum Teil in deren Wohnungen oder                    Mitarbeiterin half beim Saubermachen und ver-
dem häuslichen Umfeld und können die Fälle im                  einbarte weitere Aufgaben. Zum Schutz der Kin-
Team nur schwer reflektieren, weil nicht alle Kol-             der nahm sie sich vor, mit dem Vater über seine
leg*innen den*die Nutzer*in kennen. Für ihre                   Anwesenheit zu Hause zu sprechen.
Aufgabe benötigen sie weitreichende Einblicke in               Das Beispiel zeigt, wie viel Einblick Mitarbeiter*in-
die Privatsphäre, die Wohnung (z. B. Ordnung und               nen in das Leben und den Alltag der Nutzer*innen
Sauberkeit), die Finanzen etc. In diesem Setting               erhalten. Sie gehen in die Wohnung, beobachten
besteht die Gefahr einer unzureichenden oder                   und sprechen Gefährdungen an. Es ist eine Her-
unangemessenen Beratung. Gleichwohl kann                       ausforderung, klar zu benennen, was verändert
durch die professionelle Rolle von Mitarbeiter*in-             werden muss, dabei wertschätzend zu bleiben
nen ein Machtgefälle und eine Abhängigkeit der                 und den Nutzer*innen nicht das Gefühl zu geben,
Nutzer*innen entstehen.                                        sie zu bevormunden und zu beschämen.

                                                       19
SCHUTZKONZEPT

 5. ARBEITSFELDSPEZIFISCHE RISIKEN

5.4 EINGLIEDERUNGSHILFE/AMBULANTE SO-                       den persönlichen Lebensbereich der Nutzer*in-
ZIALPSYCHIATRIE                                             nen. Die Herausforderung für die Mitarbeiter*in-
                                                            nen ist, auf eine Weise zu handeln, die nicht
Mitarbeiter*innen im Leistungsbereich Ambu-
                                                            grenzüberschreitend und beziehungsgefährdend
lante Sozialpsychiatrie (ASP) sehen sich herausfor-
                                                            ist.
dernden Verhaltensweisen der Nutzer*innen ge-
genüber. Nutzer*innen kann es schwerfallen, zu
                                                            BEISPIEL 9:
akzeptieren, dass Mitarbeiter*innen nicht 24
Stunden am Tag für sie da sind. Sie begründen ihr           Ich verpflichte mich, die Nutzer*in-
Verhalten mit Sätzen wie: „Du warst ja nicht für            nen vor körperlicher, seelischer und se-
mich da.“ Mitarbeiter*innen können das Gefühl               xualisierter Gewalt und Machtmissbrauch zu
erhalten, nicht genug getan zu haben und geben              schützen. (Handlungsgrundsatz 1)
sich die Schuld für Krisen o. ä. Häufig erleben Mit-        Eine Nutzerin hatte regelmäßige Suizidgedanken
arbeiter*innen autoaggressives Verhalten wie                und sprach darüber mit ihrer zuständigen Mitar-
Selbstverletzungen und Suizidandrohungen. Dies              beiterin. Die folgenden Situationen sind zwei Bei-
ist eine emotionale Herausforderung und verlangt            spiele dafür, dass Mitarbeiter*innen die Grenzen
den Mitarbeiter*innen ab, ruhig und professionell           von Nutzer*innen auch bewusst überschreiten
zu bleiben. Darüber hinaus beobachten Mitarbei-             können, um sie vor sich selbst zu schützen. Es wird
ter*innen schwierige Interaktionen zwischen den             auch deutlich, dass Mitarbeiter*innen die Pflicht
Nutzer*innen und müssen deeskalieren, z. B. bei             haben, in bestimmten Situationen einzugreifen.
subtiler, unterschwelliger Gewalt wie Ausgren-              SITUATION 1: Die Nutzerin berichtete von einem
zung oder Lästern. Nutzer*innen zeigen auch                 Suizidversuch. Die Mitarbeiterin schätzte die Situ-
grenzverletzendes Verhalten gegenüber anderen               ation als gefährdend ein und bat die Nutzerin, mit
Menschen, wenn sie z. B. die eigenen Kinder an-             ihr in die Klinik zu fahren. Das wollte sie nicht. Aus
schreien. Mitarbeiter*innen müssen darauf rea-              diesem Grund vereinbarte die Mitarbeiterin mit
gieren. Weiterhin müssen sie die Nutzer*innen               der Nutzerin, dass diese sich in den nächsten Ta-
vor grenzüberschreitendem Verhalten und                     gen zu festen Zeiten melden sollte – sollte dies
Machtmissbrauch aus dem Umfeld schützen. Nut-               nicht geschehen, würde die Mitarbeiterin die Po-
zer*innen erfahren häusliche Gewalt durch Part-             lizei alarmieren.
ner*innen oder extremen Druck durch Eltern und              SITUATION 2: Die Nutzerin befand sich in der psy-
Freund*innen. Die Mitarbeiter*innen der Woh-                chiatrischen Klinik und berichtete von einem Sui-
nassistenzen unterstützen die Nutzer*innen da-              zidplan. Daraufhin sagte ihr die Mitarbeiterin,
bei, Selbstständigkeit in ihrem Alltag zu erreichen         dass sie sich mit diesen Gedanken an ihre Thera-
und begleiten sie u.a. bei den Themen Finanzen              peut*innen in der Klinik wenden solle. Weigere
und Hauswirtschaft. Dabei blicken sie intensiv in           sie sich, würde die Mitarbeiterin selbst die Thera-
                                                            peut*innen informieren.

                                                       20
Sie können auch lesen