SCHUTZKONZEPT - Stand: Mai 2020 - Margaretenhort
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
SCHUTZKONZEPT IMPRESSUM Herausgegeben von: Margaretenhort Hölertwiete 5 │ 21073 Hamburg So erreichen Sie uns: Tel.: 040-790 189-0 │ Fax: -99 E-Mail: info@margaretenhort.de Web: www.margaretenhort.de Margaretenhort Kinder- und Jugendhilfe gGmbH Sitz der Gesellschaft/Gerichtsstand: Hamburg, Handelsregister-Nr. HRB 95198 Margaretenhort Stationäre Hilfen zur Erziehung gGmbH Sitz der Gesellschaft/Gerichtsstand: Hamburg, Handelsregister-Nr. HRB 95199 Adresse: Hölertwiete 5, 21073 Hamburg Geschäftsführer: Rainer Rißmann Redaktion und Grafik: Antonia Dargel, Anke Pieper, Domenika Kusch, Agata Pilot und Svenja Bitzer Erweiterte Redaktionsgruppe: Martin Barth, Ingrid Dobbeck, Ricarda Engelke, Ann-Kathrin Kaiser, Gia-Vinh Le, Maren Mountafi, Rainer Rißmann, Saskia Straehler-Pohl, Sebastian Wehrs, Annett Ullrich und Isabelle Wetzel Stand: Mai 2020
INHALTSVERZEICHNIS Präambel ............................................................................................................................................................ 1 1. Einleitung........................................................................................................................................................ 2 2. Schutzauftrag ................................................................................................................................................. 6 2.1 Grenzverletzungen ................................................................................................................................... 7 2.2 Gewalttätige Übergriffe ........................................................................................................................... 8 3. Strategien von Täter*innen ............................................................................................................................ 9 3.1 Ausgeprägte Hierarchien und unstrukturierte Organisationen................................................................ 9 3.2 Tabus und Sorgen um den Ruf ............................................................................................................... 10 3.3 Emotionale Bedürftigkeit ....................................................................................................................... 10 4. Allgemeine Risikoanalyse ...............................................................................................................................11 4.1 Gewalt unter Nutzer*innen ................................................................................................................... 11 4.2 Wenn Fachwissen fehlt .......................................................................................................................... 12 4.3 Wenn Fachkräfte fehlen......................................................................................................................... 14 4.4 Personalschlüssel und Rahmenbedingungen ......................................................................................... 15 5. Arbeitsfeldspezifische Risiken ........................................................................................................................16 5.1 Schulkooperation ................................................................................................................................... 16 5.2 Sozialraumangebote .............................................................................................................................. 18 5.3 Ambulante Hilfen ................................................................................................................................... 19 5.4 Eingliederungshilfe/Ambulante Sozialpsychiatrie .................................................................................. 20 5.5 Teilstationärer und stationärer Leistungsbereich in der Jugendhilfe ..................................................... 21 5.6 Eltern-Kind-Wohnformen ...................................................................................................................... 24 5.7 Familienanaloge Wohngemeinschaften................................................................................................. 25 5.8 Verwaltung............................................................................................................................................. 26 5.9 Hauswirtschaft ....................................................................................................................................... 26 6. Prävention .....................................................................................................................................................28 6.1 Haltung................................................................................................................................................... 28 6.2 Einstellung und Begleitung von Mitarbeiter*innen und Praktikant*innen ............................................ 29 6.3 Partizipation und Transparenz ............................................................................................................... 31 6.4 Beschwerden als Chancen nutzen ......................................................................................................... 34 6.5 Unsicherheiten im Team klären ............................................................................................................. 36 6.6 So helfen Dienstbesprechungen ............................................................................................................ 37 6.7 Achtsamer Umgang mit Fehlern ............................................................................................................ 38 6.8 Medienkompetenz und Medienpädagogik als Teil des Schutzauftrages ............................................... 39
7. Intervention...................................................................................................................................................41 7.1 Schutz des Opfers .................................................................................................................................. 43 7.2 Massnahmen des Trägers ...................................................................................................................... 43 8. Verdacht auf Kindeswohlgefährdung .............................................................................................................45 8.1 Interne Koordinierungsstelle für Kinderschutz ...................................................................................... 46 8.2 Standardisierter Ablauf bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung ......................................................... 46 8.3 Standardisierte Risikoeinschätzung........................................................................................................ 48 9. Nachwort der Redaktion ................................................................................................................................49 10. Anhang ........................................................................................................................................................50 10.1 Unsere Handlungsgrundsätze .............................................................................................................. 50 10.2 Lektüretipps ......................................................................................................................................... 51 10.3 Safety-Postkarten................................................................................................................................. 53 GUT ZU WISSEN
SCHUTZKONZEPT 1. EINLEITUNG Bedürfnisse der Nut- „Mir ist es wichtig, dass sich aus dem statischen Begriff zer*innen einzugehen. In ‚Schutzkonzept‘ Schutzprozesse entwickeln.“ der Margaretenhort Rainer Rißmann (Geschäftsführung) gGmbH sind rund 230 Mitarbeiter*innen und Die Margaretenhort gGmbH ist ein freier Träger viele Ehrenamtliche tätig. Dazu gehören Sozialpä- der Kinder- und Jugendhilfe und sozialpsychiatri- dagog*innen und andere studierte Pädagog*in- schen Betreuung in Hamburg. Sie bietet im Rah- nen unterschiedlicher Fachrichtungen, staatlich men der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) und der anerkannte Erzieher*innen und sozialpädagogi- Eingliederungshilfe (inzwischen SGB IX) stationäre, sche Assistent*innen, Soziolog*innen, Sozial- teilstationäre sowie ambulante Unterstützungs- wirt*innen, Sozialökonom*innen, Psycholog*in- leistungen und sozialräumliche Angebote an und nen, Lehrer*innen, Heilerzieher*innen, Kinder- entwickelt sie bedarfsorientiert weiter. Das Spekt- krankenpfleger*innen, Hebammen, Betriebs- rum der Hilfen zur Erziehung (Jugendhilfe) reicht wirt*innen, Kaufleute für Büromanagement, von der Betreuung in größeren und kleineren Buchhalter*innen, Hausmeister*innen, Köch*in- Wohngemeinschaften, familienanalogen Wohn- nen, Hauswirtschafter*innen, Diätassistent*in- gemeinschaften und Jugendwohnungen über in- nen, Studierende und Praktikant*innen. tensive Einzelbetreuungen von Jugendlichen und Für die Sicherung und Entwicklung von fachlichen Jungerwachsenen bis hin zur ambulanten Unter- Standards und einer fachlich-achtsamen Haltung stützung von Familien sowie ambulanten Hilfen werden regelmäßig interne und externe Fort- und für Kinder und deren Fa- milien. Zudem setzt die „Die Komplexität des Schutzkonzeptes verdeutlicht, Margaretenhort gGmbH vor welchen Herausforderungen die Kolleg*innen täglich stehen.“ Kooperationen an der Sebastian Wehrs (Prozess- und Bereichsleitung) Schnittstelle von Jugend- hilfe und Schule um. Weiterbildungen zu den Themen Traumapädago- Fachliche Schwerpunkte im Margaretenhort sind gik, Kinderschutz, sozialpädagogisches Fallverste- die Unterstützungsangebote für Kinder, Jugendli- hen, systemische Grundlagen, Kommunikation, che und Erwachsene mit psychischen Problemen Umgang mit psychisch Erkrankten, Arbeitsmigra- und Psychiatrieerfahrung sowie die ambulante tion, Konfliktmanagement, Marte Meo (videoba- Betreuung psychisch kranker Eltern und ihrer Kin- sierte Methode zur Erziehungsberatung), Frühe der. Aufgrund der Angebotsvielfalt ist es den Mit- Hilfen und Inklusion in der Kinder- und Jugend- arbeiter*innen im Margaretenhort möglich, un- hilfe besucht. terschiedliche Hilfeformen aus „einer Hand“ zu be- dienen und so fachgerecht auf die individuellen 2
SCHUTZKONZEPT 1. EINLEITUNG DAS VERSTEHEN WIR UNTER DEM Zu den Nutzer*innen zählen Menschen mit und SYSTEMISCHEN ANSATZ UND ohne psychische Belastungen aller Altersgruppen. TRAUMAPÄDAGOGIK Viele kommen aus dem Sozialraum, einige aus Der systemische Ansatz umfasst für uns die Grund- Hamburg und manche aus anderen Teilen haltung, dass wir den Menschen als Teil eines Sys- Deutschlands und der Welt. tems mit einer gemeinsamen, sich gegenseitig be- Es ist uns Mitarbeiter*innen wichtig, in unseren dingenden biographischen Entwicklung betrach- jeweiligen Leistungsbereichen Grenzverletzun- ten (z.B. Familiensystem). Die sich daraus ablei- gen, Übergriffe und sexualisierte Gewalt zu ver- tenden, vielfältigen und auf Verstehen ausgeleg- hindern. Deshalb ist Prävention für uns ein zentra- ten Methoden sind ressourcenorientiert, sehen les Thema, mit dem wir uns in Fortbildungen und den Menschen als Expert*in seiner*ihrer eigenen auch im Alltag intensiv beschäftigen. Lebenswelt an und helfen ihm*ihr dabei, eigene Das hat sich in den letzten Jahren deutlich ver- Lösungen zu entwickeln. Die Methoden unter- stärkt. Das 2014 geschriebene Schutzkonzept stützen dabei, Muster zu durchbrechen und alter- empfanden wir Mitarbeiter*innen als nicht mehr native Perspektiven aufzuzeigen. Alle Nutzer*in- zeitgemäß. Die Leitungsstruktur und die Teams nen, insbesondere diejenigen mit traumatischen haben sich seitdem sehr verändert und wir Erfahrungen, benötigen einen sensiblen und acht- wünschten eine Überarbeitung. Neuen Mitarbei- samen Umgang in der pädagogischen Arbeit. Eine ter*innen und anderen Interessierten möchten grundlegende Haltung der Traumapädagogik ist wir kompakt darstellen, wie wir im Margareten- die Annahme des guten Grundes: Jedes Verhalten hort die Nutzer*innen vor Gewalt und Missbrauch ist eine Überlebensstrategie und hat einen Grund schützen. (auch, wenn wir diesen ihn auf den ersten Blick Die Arbeit am neuen Schutzkonzept begann mit nicht erkennen). Daraus ergeben sich für uns di- einer Betriebsversammlung im Herbst 2017 und verse Methoden, die für Nutzer*innen einen si- ist Teil einer umfassenden Neuausrichtung des Un- cheren Ort mit verlässlichen Beziehungen schaf- ternehmens. Nach einjähriger Interimszeit hatte fen können. die Margaretenhort gGmbH zuvor im Sommer 2016 eine neue Geschäftsführung erhalten. Zu- Da nicht nur unser Handeln unsere Sprache beein- sätzlich begann 2016 die intensive Aufarbeitung flusst, sondern Sprache ebenso Handeln und Hal- der in den 1980er Jahren vorgefallenen sexuellen tung prägt, haben wir uns im Margaretenhort ent- Übergriffe durch Nutzer*innen an jüngeren Nut- schieden, die Zielgruppe unserer Angebote be- zer*innen in der Margaretenhort gGmbH. Darauf- reichsübergreifend als Nutzer*innen zu bezeich- hin wurde seit 2018 eine neue Leitungsstruktur nen. Dies spiegelt unsere tägliche Arbeit auf Au- organisatorisch festgeschrieben. Der Gesamtlei- genhöhe sowie die aktive Selbstbestimmung der tungskreis, bestehend aus der Geschäfts- Menschen wieder. 3
SCHUTZKONZEPT 1. EINLEITUNG leitung und den Bereichsleitungen, ist das Lei- Wie arbeiten wir in den Teams gemeinsam Unsi- tungsgremium, in dem Entscheidungen gemein- cherheiten oder auch Fehler auf?“ sam beraten und entsprechend der neuen Sat- Nach diesen Workshops gingen alle Leistungsbe- zung verabschiedet werden. Das fachliche Wissen reiche in die Risikoanalyse. Die zusammengetra- ist im Gesamtleitungskreis über einzelne Verant- genen spezifischen Risiken aus den Leistungsbe- wortlichkeiten nach Themen organisiert. Der Wis- reichen sowie die Ergebnisse aus den Workshops senstransfer in die Leistungsbereiche wird über flossen in das vorliegende Konzept ein. Es wurde die Anfang 2019 eingeführte Teamleitungsstruk- von einer elfköpfigen erweiterten Redaktions- tur sichergestellt. Dies beinhaltet neben einer ver- gruppe, bestehend aus Mitarbeiter*innen aller besserten Kommunikation und einer Kontrolle vor Leistungsbereiche und Hierarchieebenen, gegen- Ort, auch, dass Menschen in den jeweiligen Orga- gelesen und in einem weiteren Workshop bear- nisationseinheiten die Verantwortung für die fort- beitet. Natürlich hätten wir das Schutzkonzept auf führende Bearbeitung von Themen mittragen anderem Weg schneller fertigstellen können. können. Aber es wäre dadurch nicht so sehr „unser“ ge- Ein weiterer wesentlicher Bestandteil der Neu- meinsames Konzept geworden. Das Schutzkon- ausrichtung ist die Modernisierung der Marke zept gibt, zusammen mit bereits erarbeiteten und „Margaretenhort“. Ein neues Logo als Teil der Cor- noch folgenden Konzepten, Orientierung darüber, porate Identity (Unternehmensidentität) soll die mit welcher Haltung, mit welchen Werten und gemeinsam erreichte Haltung im Margaretenhort welchen pädagogischen Grundgedanken wir im erlebbar machen. Das 2019 mit allen Teams abge- Margaretenhort handeln. stimmte Motto „alle.gleich.anders.“ ermöglicht eine Identifikation im institutionellen Miteinan- der. Ein neues Schutzkonzept sehen wir als Schlüssel- text an. „Es geht um Grundsätzliches, ohne das Prävention einfach nicht funktioniert“, beobachtete ein Kol- lege in einem der zwei Workshop, zusammenge- setzt aus Mitarbeiter*innen unterschiedlicher Leistungsbereiche. „Es geht um Fragen, die wir uns immer wieder stellen müssen: Mit welcher Haltung arbeite ich? Wo verlaufen die Grenzen zwischen meiner Arbeit und meinem Privatleben? 4
SCHUTZKONZEPT 1. EINLEITUNG SCHUTZAUFTRAG ALS TEIL DER Wir erhalten Gelegenheit, unsere ORGANISATIONSSTRUKTUR Arbeitsbeziehungen und die eigene Dieses Dokument gilt als Grundlagentext verbind- Rolle auch im Hinblick auf Macht, Ohn- lich für alle Haupt- und Ehrenamtlichen, die in der macht, Machtgefälle in kollegialer Beratung, Margaretenhort gGmbH mitarbeiten. Ergänzt Dienstbesprechungen, Einzelberatungen und Su- wird es durch ein Partizipationskonzept, ein Kon- pervisionen zu hinterfragen. zept für Beschwerdeverfahren, die Handlungs- Gemeinsam wollen wir außerdem alle Nutzer*in- grundsätze und eine Interventionskette. Zukünftig nen über ihre Rechte und unseren Schutzauftrag kommt ein sexualpädagogisches Konzept dazu. aufklären und sie in die Implementierung des „Habe ich da richtig gehandelt oder war das über- neuen Schutzkonzeptes einbeziehen. Wir erklä- griffig?“: Das Schutzkonzept nimmt auch kleinere ren ihnen, wo wir Grenzen ziehen und wie wir auf Vorfälle und Grenzverletzungen in den Blick. Es ist die Wahrung dieser Grenzen achten. Teil einer Organisationskultur, in der Unsicherhei- Das aktuelle Schutzkonzept versteht sich als Leit- ten in einer Alltagssituation im Team gemeinsam faden für alle Mitarbeiter*innen der Margareten- reflektiert und alternative Handlungsansätze er- hort gGmbH und will den Dialog über Prävention arbeitet werden, so dass Situationen z. B. nicht in allen Leistungsbereichen verstetigen. dramatisiert oder bagatellisiert werden. 5
SCHUTZKONZEPT 2. SCHUTZAUFTRAG möglicherweise unbeab- sichtigten Grenzverletzun- „Eine Haltung kann sich nur etablieren, wenn alle sie leben!“ gen hin zu Übergriffen, die Svenja Bitzer (Öffentlichkeitsarbeit, Fundraising, Geschäftsführungsassistenz) auch aus mangelnder fachlicher Vorbereitung Wer Menschen Schutz gewährt, übernimmt Ver- geschehen, bis zu geplantem Machtmissbrauch. antwortung. Diese Verantwortung liegt bei der Es ist eine mehrdimensionale Aufgabe: Wie schüt- Margaretenhort gGmbH als Ganzem, aber auch zen wir Nutzer*innen vor Übergriffen durch Mit- bei jedem*r von uns Mitarbeiter*innen. Zur indi- arbeiter*innen? Wie beugen wir Gewalt von Kin- viduellen Verantwortung gehört, die eigene Rolle dern, Jugendlichen und Erwachsenen untereinan- zu reflektieren, sie professionell auszufüllen und der vor? Wie schützen wir sie vor Gewalt in ihren Grenzen nicht zu überschreiten. Die in der eige- Familien? Und was können wir präventiv gegen nen Arbeit liegenden spezifischen Risiken für ei- mögliche Übergriffe durch Nutzer*innen auf un- gene Grenzüberschreitungen lassen sich am bes- sere Mitarbeiter*innen tun? ten vermeiden, wenn wir sie kennen und als Team „Es braucht dieses fachliche Fundament, das alle Mitarbeiter*innen in den Blick nehmen. für sich entwickeln müssen, um Verantwortung übernehmen zu können!“ Wie gehen wir selbst und Rainer Rißmann (Geschäftsführung) wie gehen Kolleg*innen mit dem zur Arbeit gehörenden Machtgefälle um? Auch wenn sich jede*r Einzelne bemüht, auf Au- genhöhe mit den Nutzer*innen zu sprechen und zu handeln, bleiben die Handlungsoptionen in ei- nem bestehenden Machtgefälle ungleich verteilt. Dies kann zu Fehlhandlungen führen und miss- braucht werden. Im schlimmsten Fall geschieht dies vorsätzlich. Ziel des Schutzkonzeptes ist es, jede Form von Machtmissbrauch und physischer, psychischer und sexueller Gewalt innerhalb unseres Margare- tenhorts zu vermeiden, etwaige Vorfälle aufzuklä- ren und gegebenenfalls arbeitsrechtliche Konse- quenzen zu ziehen sowie strafrechtliche Maßnah- men einzuleiten. Die Art der Vorfälle, denen das Konzept vorbeugen will, reicht von kleineren, 6
SCHUTZKONZEPT 2. SCHUTZAUFTRAG 2.1 GRENZVERLETZUNGEN KATEGORIEN VON ÜBERGRIFFEN Ein gewalttätiger Übergriff erfordert an- „Manchmal ist es in der Arbeit dere Konsequenzen als eine unabsichtli- selbstverständlich, dass wir mal eben che Grenzverletzung. An dieser Stelle soll aber zu- vergessen, die eigenen Handlungen zu reflektieren.“ nächst die Bandbreite der Vorfälle dargestellt Saskia Straehler-Pohl (pädagogische Mitarbeiterin, werden, auf die das Schutzkonzept eingeht. Mitarbeiter*innenvertretung) Zartbitter e. V. hat dazu eine Einteilung entwi- ckelt. Die 1987 gegründete Kontakt- und Informa- Es kann die Hand auf der Schulter, die spontane tionsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Kin- Umarmung oder die unabsichtliche Berührung dern empfiehlt zur präventiven fachlichen Arbeit sein, die als bedrohlich empfunden wird. Ignorie- die Differenzierung in drei Kategorien: ren die Teamkolleg*innen unbeabsichtigte Grenz- „Grenzverletzungen, die unabsichtlich verübt verletzungen, entsteht schnell eine Atmosphäre, werden und/oder aus fachlichen bzw. persön- in der auch beabsichtigte oder billigend in Kauf lichen Unzulänglichkeiten oder einer ‚Kultur genommene Grenzverletzungen nicht mehr der Grenzverletzungen‘ resultieren, wahrgenommen werden. Potenzielle Täter*innen Übergriffe, die Ausdruck eines unzureichenden nutzen dies gezielt. Respekts gegenüber Mädchen und Jungen1 Abwertende und sexualisierte Schimpfworte so- grundlegender fachlicher Mängel und/oder ei- wie Beleidigungen unter Kindern, Jugendlichen ner gezielten Desensibilisierung im Rahmen und Jungerwachsenen sind erste Anzeichen von der Vorbereitung eines sexuellen Miss- Grenzverletzungen. Hier gilt es, klar und konse- brauchs/eines Machtmissbrauchs sind, quent pädagogisch einzugreifen, um zu verdeutli- Strafrechtlich relevante Formen der Gewalt chen, dass derartige Grenzverletzungen in unse- (wie zum Beispiel körperliche Gewalt, sexuel- rem Margaretenhort nicht toleriert werden. ler Missbrauch, Erpressung/(sexuelle) Nöti- Wenn Mitarbeiter*innen Nutzer*innen demüti- gung).“2 gen, beschimpfen oder bloßstellen, verletzt dies Grenzen. 1 Anmerkung der Redaktion: Wir im Margaretenhort bezie- fen und strafrechtlich relevanten Formen der Gewalt im pä- hen in unsere Betrachtung Menschen aller Geschlechter mit dagogischen Alltag, https://www.zartbitter.de/gegen_sexu- ein, nicht nur Mädchen und Jungen. ellen_missbrauch/Fachinformationen/6005_miss- 2 Zur Differenzierung zwischen Grenzverletzungen, Übergrif- brauch_in_der_schule.php (abgerufen am 22.08.2019). 7
SCHUTZKONZEPT 2. SCHUTZAUFTRAG 2.2 GEWALTTÄTIGE ÜBERGRIFFE SO SETZTEN WIR DEN SCHUTZ- AUFTRAG UM „Wir müssen den feinen Unterschied Wir Mitarbeiter*innen im Margareten- zwischen Grenzverletzung und über- hort wirken aktiv an der Prävention von Macht- griffigem Verhalten kennen.“ missbrauch, Grenzverletzungen und gewalttäti- Agata Pilot (Teamleitung) gen Übergriffen mit. Auch kleinere Fehlhandlun- gen thematisieren wir und arbeiten sie in ange- Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert messener Weise auf. Verdachtsmomenten und Gewalt so: „Der absichtliche Gebrauch von ange- unerklärlichem Verhalten wird nachgegangen. drohtem oder tatsächlichem körperlichen Zwang Wir machen uns das Anliegen des Schutzkonzep- oder physischer Macht gegen die eigene oder an- tes zu eigen und unterstützen dessen Umsetzung dere Person, gegen eine Gruppe oder Gemein- in unseren jeweiligen Leistungsbereichen. Zum schaft, der entweder konkret oder mit hoher Vorgehen bei vermuteten relevanten Vorfällen Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychi- nutzen wir die Interventionskette (s. Kap. Inter- schen Schäden, Fehlentwicklung und Deprivation vention, S. 42) führt.“3 Deprivation meint hier das Erleiden eines Verlusts oder eines Mangels. Auch die Ausübung von psychischer Gewalt in Form von Manipula- tion, Mobbing, Ausgrenzung, Nichtbeachtung oder ständi- ger verbaler Beschimpfungen und Entwertungen sowie jeg- liche Formen von Diskriminie- rung, Sexismus, Homophobie, Transphobie und Rassismus bewerten wir im Margareten- hort als Gewalt. 3WHO, Weltbericht Gewalt und Gesundheit, Zusammenfas- tion/violence/world_report/en/summary_ge.pdf, S. 5 (abge- sung, 2003, https://www.who.int/violence_injury_preven- rufen am 22.08.2019). 8
SCHUTZKONZEPT 3. STRATEGIEN VON TÄTER*INNEN Es ist wichtig, typische Strategien von Täter*innen 3.1 AUSGEPRÄGTE HIERARCHIEN UND UN- zu kennen. Wie kommt es zu Übergriffen inner- STRUKTURIERTE ORGANISATIONEN halb einer pädagogischen Institution? Gibt es be- Allein die strukturelle Überlegenheit Erwachsener sonders risikoreiche Situationen? Wie kommt es gegenüber Kindern sorgt schon dafür, dass Strate- schließlich dazu, dass Täter*innen die Kolleg*in- gien angewendet werden können, die die Nut- nen und die Leitung austricksen, die strukturellen zer*innen entweder nicht erkennen bzw. gegen Gegebenheiten ausnutzen und so Situationen die sie sich nicht zur Wehr zu setzen wissen. Wo entstehen, in denen Nutzer*innen missbraucht Erwachsene und Kinder aufeinandertreffen, ist werden können? diese strukturelle Überlegenheit immer vorhan- Wenn kleine Grenzüberschreitungen von Mitar- den. Es entsteht eine sensible Erwachsenen-Kind- beiter*innen unkommentiert bleiben, ist es für Beziehung, die strukturell ungleich ist. Diese Täter*innen leicht, die Grenzen zu verschieben Machtstruktur ist ein Risikofaktor für Machtmiss- und Anknüpfungspunkte für Missbrauch zu schaf- brauch aller Art. Darauf müssen wir in der präven- fen. tiven Arbeit eingehen. Die wenigsten Täter*innen sind pädosexuell. Die Unterschieden werden kann zwischen den struk- meisten kommen aus dem sozialen Umfeld des turellen Anknüpfungspunkten für Täter*innen Opfers. Strategien in den pädagogischen Instituti- und den individuellen Voraussetzungen, die onen sind es, mit denen wir uns hier beschäftigen der*die Nutzer*in mitbringt. müssen. Nur so können wir dafür sorgen, dass es Sowohl stark autoritär strukturierte als auch un- keine Anknüpfungspunkte vor Ort gibt. strukturierte Organisationen sind besonders ge- fährdet. Im ersten Fall stellen die besonders aus- geprägten Machtverhältnisse, die sich auch in der Erwachsenen-Kind-Beziehung widerspiegeln, eine Gefahr dar. Im zweiten Fall sind es die undeutli- chen, schwer erkennbaren Hierarchien, die sich dementsprechend schwer infrage stellen lassen und die Bildung von verdeckten Macht- und Ab- hängigkeitsverhältnissen begünstigen. Es gehört also zu unserer Präventionsarbeit, unsere Struktu- ren kritisch zu reflektieren. Sie sollten so beschaf- fen sein, dass möglichst keine missbräuchlichen Machtstrukturen entstehen können. 9
SCHUTZKONZEPT 3. STRATEGIEN VON TÄTER*INNEN 3.2 TABUS UND SORGEN UM DEN RUF Macht und Überlegenheit der Täter*innen ver- Ein anderer Anknüpfungspunkt für die Täter*in- stärkt die Angst der Menschen und veranlasst nen ist der meist gegebene Zusammenhalt inner- diese zum Schweigen. halb der Institution. Vor allem bei Angriffen von außen gibt es geradezu einen Reflex, ohne weite- „Das Schutzkonzept macht mir res Nachdenken erst einmal die Reihen zu schlie- deutlich, welche Grenzverletzungen ßen gegenüber einer Außenwelt, die in dem Mo- ich als Schülerin vor rund 45 Jahren ment als „feindlich“ empfunden wird. Es gibt in erfahren musste, die zudem keine relevanten vielen Organisationen Tabus, über die nicht ge- Konsequenzen für die Pädagog*innen nach sich sprochen wird – schon aus Sorge um den guten zogen. Das beschäftigt mich heute noch immer!“ Anonym Ruf. Die Angst vor einer Gefährdung des guten Ru- fes bietet gleichzeitig die Möglichkeit für Täter*in- nen, dass ihr Handeln nicht thematisiert wird, da- mit der Rahmen nicht zerbricht. 3.3 EMOTIONALE BEDÜRFTIGKEIT Die emotionale Bedürftigkeit der Menschen ist es, die Täter*innen in pädagogischen Institutionen am häufigsten ausnutzen. Täter*innen bedienen das Bedürfnis der potenziellen Opfer nach Auf- merksamkeit, Zuwendung und Zärtlichkeit und lassen in entsprechenden Situationen sexuelle Handlungen einfließen. Menschen, deren emotio- nale und körperliche Grenzen noch nicht klar de- finiert, noch gar nicht entwickelt oder schon wie- der zerstört sind, gehören zu den bevorzugten Opfern. Diese Menschen finden sich oft in päda- gogischen Organisationseinheiten der Jugend- o- der Eingliederungshilfe wieder. Auch durch Dro- hungen oder Erpressung bzw. durch das Anbieten materieller Vorteile wie z. B. Alkohol werden Nut- zer*innen zu sexuellen Handlungen gebracht. Die 10
SCHUTZKONZEPT 4. ALLGEMEINE RISIKOANALYSE Ganz unterschiedliche Faktoren und Gegebenhei- Die allgemeinen und besonderen Risiken berück- ten können Grenzverletzungen begünstigen. Ei- sichtigen wir bei allen weiteren Analysen und Prä- nige liegen auf der Hand, andere sind eher subtil. ventionsmaßnahmen. Wir haben für das neue Schutzkonzept die allge- meinen Risiken analysiert und in den Strategien 4.1 GEWALT UNTER NUTZER*INNEN zur Vorbeugung berücksichtigt (s. Kap. Prä- Gewalt kann von Mitarbeiter*innen ausgehen, vention, S. 28 ff.). aber auch von Nutzer*innen. Es kann zu Gewalt unter Nutzer*innen und gegenüber Mitarbei- ter*innen kommen. BEISPIEL 1: Ich verzichte auf verbales und non- verbales abwertendes Verhalten und be- ziehe aktiv Stellung gegen gewalttätige, diskrimi- nierende, rassistische, sexistische, homo- und transphobe Handlungen. (Handlungsgrundsatz 6) Ein Jugendlicher aus dem Schulkooperationspro- jekt verhielt sich vermehrt provokant seinem schwarzen Mitschüler gegenüber. Er äußerte Sätze wie „Heute wieder schwarzgefahren?“ oder Viele Nutzer*innen von Angeboten der Margare- „Hey, hast du mal einen Negerkuss für mich?“ Die tenhort gGmbH sind nicht in der Lage, Grenzver- Mitarbeiter*innen sprachen mehrmals mit dem letzungen zu erkennen und zu verbalisieren und Jugendlichen und erklärten, was grenzverletzend sind damit potenziell gefährdet. an den Äußerungen ist. Sie versuchten, in einem Ein Teil der Nutzer*innen hat in der eigenen Fami- Perspektivwechsel aufzuzeigen, wie sich andere lie Grenzverletzungen oder Gewalt erlebt oder Menschen fühlen, die verletzt werden. durchleidet dies gerade, kann es aber möglicher- weise nicht kommunizieren. Anderen ist es auf- Im (gewaltvollen) Verhalten der Nutzer*innen zei- grund einer psychischen Erkrankung oder einer gen sich die seelischen Belastungen aus der Ver- Behinderung nicht möglich, über erlittene Über- gangenheit, die aktuellen Belastungen aus Fami- griffe zu sprechen. Diese Gruppen tragen ein noch lie, Peer-Group („peer“ = Gleichgestellte*r), deutlich höheres Risiko, Grenzverletzungen und Schule oder die Wünsche an die pädagogische Be- Übergriffe zu erleiden. ziehung. Ziel der pädagogischen Arbeit ist es, das 11
SCHUTZKONZEPT 4. ALLGEMEINE RISIKOANALYSE Verhalten auf der Subjektebene zu betrachten – 4.2 WENN FACHWISSEN FEHLT die Nutzer*innen sind nicht unnormal, sondern reagieren normal auf belastende Entwicklungsbe- „Es wäre gut, wenn wir Verwal- dingungen. tungskräfte auch Fortbildungen für Für die pädagogische Arbeit bedeutet das: Wir pädagogische Handlungsalternativen sind aufmerksam dafür, wie die uns anvertrauten bekommen würden.“ Menschen auch untereinander agieren, wie sie Ingrid Dobbeck (Buchhaltung) miteinander sprechen und umgehen. Wir fördern die Entwicklung von Sensibilität für eigene und Idealerweise kennen alle Mitarbeiter*innen der auch fremde Grenzüberschreitungen und greifen Margaretenhort gGmbH mehrere pädagogische ein, wenn es zum Schutz der Nutzer*innen not- Handlungsstrategien, auf die sie zurückgreifen wendig ist. Wir bauen pädagogische Beziehungen können, wenn es schwierig wird (z. B., wenn sie in auf, die Sicherheit bieten sollen. einer Gruppe von Heranwachsenden auf heraus- forderndes Verhalten treffen). Auch von den Nut- zer*innen durchlebte Krisen und psychisch belas- tende Situationen müssen pädagogisch bewältigt DIESE VIER FAKTOREN werden. Dafür brauchen Mitarbeiter*innen fun- LEITEN UNSER HANDELN dierte Fachlichkeit. Wem Fachwissen fehlt, Objektive Informationen: Biografie, aktuelle Le- der*die nutzt – schon aus Hilflosigkeit – mit eini- benssituation, beobachtbares Verhalten ger Wahrscheinlichkeit die eigene Machtposition Subjektive Informationen: Was könnte hinter aus. dem Verhalten stehen (Perspektivwechsel) Szenische Informationen: Was macht das Ver- halten mit mir? Folgerung: Was braucht der*die Nutzer*in? 12
SCHUTZKONZEPT 4. ALLGEMEINE RISIKOANALYSE BEISPIEL 2: BEISPIEL 3: Ich weiß um das Machtgefälle im pä- Ich weiß um das Machtgefälle im pä- dagogischen Kontext und reflektiere mein Verhal- dagogischen Kontext und reflektiere mein Verhal- ten. (Handlungsgrundsatz 7) ten. (Handlungsgrundsatz 7) Ein Mitarbeiter teilte in der Nachmittagsbetreu- In einer Wohngemeinschaft für Kinder tobten die ung seiner Gruppe mit, dass ein weiteres Kind in Kinder in der Schulwoche am Abend draußen die Gruppe aufgenommen werde. Die Kinder rea- herum und wollten nicht in ihre Zimmer und gierten unwillig, sie wollten den Jungen nicht in schlafen. Sie waren laut, einige beleidigten die der Gruppe, er rieche nicht gut. Der Mitarbeiter Mitarbeiter*innen im Dienst. Die beiden Mitar- fühlte sich an seine eigene Schulzeit erinnert, in beiter*innen versuchten verschiedene Interven- der er selbst Mobbing erlitten hatte. Er wollte das tionen: die Kinder partizipativ an einer Lösung be- noch nicht anwesende Kind schützen und ver- teiligen, Konsequenzen benennen … Schließlich langte von den Kindern, zur Bestrafung ihres ab- beschlossen die Kinder, draußen unter dem be- lehnenden Verhaltens übers Wochenende zwei leuchteten Vordach zu schlafen. Die eine Mitar- Seiten zu diesem Thema zu schreiben. Darüber beiterin reagierte aufgrund von Unsicherheit und beschwerten sich Eltern. Im Gespräch erklärte der Verzweiflung mit einer Drohung: „Dann stelle ich Mitarbeiter, er habe durch die harte Strafe ab- euch den Strom ab.“ Die Kinder reagierten ver- schrecken wollen. Auf diese Weise habe er errei- ängstigt und die zweite Mitarbeiterin nahm die chen wollen, dass es niemand wagt, das neue Kind Aussage der ersten zurück. zu mobben. Im Gespräch wurde geklärt, wie die Das Verhalten der Mitarbeiterin wurde in einem Gruppenleitung in einem solchen Fall selbstreflek- Gespräch reflektiert und Handlungsalternativen tiert handeln und auch Beschwerden von Nut- überlegt: Es ist gut, den eigenen Ärger zu benen- zer*innen wahrnehmen und besprechen kann. Ei- nen und auch zu sagen, dass das Verhalten der gene Erlebnisse und Erfahrungen dürfen nicht Kinder nicht in Ordnung ist. Das Verhalten der Kin- dazu führen, die eigene zum Verlust der professi- der hat nichts mit der Mitarbeiterin persönlich zu onellen Haltung nicht wahrnehmen zu können. tun. Handlungsunsicherheit darf nicht auslösen, dass sie nicht mehr entsprechend ihrer professio- nellen Haltung agieren kann. 13
SCHUTZKONZEPT 4. ALLGEMEINE RISIKOANALYSE 4.3 WENN FACHKRÄFTE FEHLEN „Der Personalmangel hat nicht nur Auswirkungen auf die Belastung von Kolleg*innen, z. B. in Dienstplanbesetzungen, sondern insbesondere auch auf die pädagogische Arbeit mit den Nutzer*innen!“ Gia-Vinh Le (Teamleitung) Der Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit stellt auch in unserem Margaretenhort einen Risikofak- BEISPIEL 4: tor dar. Er erschwert die Ausführung in den Orga- nisationseinheiten und Projekten vor Ort und Ich verstehe alle Verhaltensweisen führt zu belastenden Arbeitssituationen für uns von Nutzer*innen als eine Überlebensstrategie. Mitarbeiter*innen. So müssen in Phasen, in de- (Handlungsgrundsatz 4) nen nicht alle Stellen besetzt sind, im stationären Eine Mitarbeiterin arbeitete in einer Wohnge- Leistungsbereich mehr Dienste (z. B. Nachtbereit- meinschaft für Kinder, in der es aufgrund von schaften) und im ambulanten und teilstationären Fachkräftemangel zu wenig Personal gab. Leistungsbereich mehr Fälle übernommen wer- Eines der Kinder wurde wütend, schrie und knallte den, sodass Mehrarbeitsstunden anfallen. Im mit der Flurtür. Die Mitarbeiterin versuchte, das Schulkooperationsbereich muss eine Fachkraft Kind zu beruhigen, jedoch ohne Erfolg. Aufgrund beim Ausfall von Kolleg*innen mehr Kinder zur der personellen Situation hatte sie im Vorfeld be- gleichen Zeit betreuen, sodass der Betreuungs- reits einige Dienste abgeleistet und war müde und schlüssel deutlich steigt. In allen Fällen führen genervt. Ihre Geduld hielt nicht lange und so Engpässe in der Personalbesetzung zu einer wurde sie laut, packte das Kind und zog es von der Mehrbelastung der Teams sowie von einzelnen Tür weg. Das Kind wurde noch wütender, be- Mitarbeiter*innen. nannte, dass die Mitarbeiterin ihm wehgetan habe und es eskalierte weiter. „In Zeiten von Personalmangel, In der Reflexion erkannte die Mitarbeiterin, dass z. B. aufgrund von Krankheitsaus- sie nicht auf Deeskalationsstrategien zurückge- fällen, in denen die gesunden Mitarbeiter*innen griffen hatte, sondern sich die Wut und Verzweif- viele Vertretungen übernehmen müssen, läuft lung des Kindes sogar noch auf sie übertragen hat- das gesamte Team auf ‚Standby-Modus‘.“ ten. Wichtig für die gute Bearbeitung der Situa- Ann-Kathrin Kaiser (Teamleitung) tion war die Reflexion, auch hinsichtlich künftiger Handlungsalternativen. Ebenso war ein Austausch mit Kolleg*innen in der Übergabe hilfreich. 14
SCHUTZKONZEPT 4. ALLGEMEINE RISIKOANALYSE 4.4 PERSONALSCHLÜSSEL UND RAHMENBE- DINGUNGEN BEISPIEL 5: In mehreren Leistungsbereichen arbeiten Kol- Ich verpflichte mich, die Nutzer*in- leg*innen regelmäßig allein mit den Nutzer*in- nen vor körperlicher, seelischer und sexu- nen. Sie können bei Schwierigkeiten keine*n Kol- alisierter Gewalt zu schützen. leg*in um Rat fragen. Sollte es tatsächlich zu (Handlungsgrundsatz 1) Grenzverletzungen kommen oder der Verdacht An unseren GBS-Standorten gibt die Behörde ei- geäußert werden, gibt es keine Kolleg*innen, die nen Stellenschlüssel von 1 zu 17 vor. In der Vor- das bezeugen. Das ist eine Herausforderung für schulgruppe betreuen zwei pädagogische Fach- das Schutzkonzept: Wie lässt sich die Prävention kräfte 27 Kinder. An einem Tag, an dem alle Kin- stärken, wenn Rahmenbedingungen und Setting der vor Ort waren, war die Gruppe der Fünf- bis kaum veränderbar sind? Wichtig ist hier die Ge- Sechsjährigen sehr wuselig, der Geräuschpegel staltung dieser besonderen Arbeitssituation: sehr hoch und es kam zwischen einigen Kindern durch ein Schutzkonzept, das in den Alltag einge- zu körperlichen Auseinandersetzungen. Nach ei- bunden ist; durch Austausch im Team über die nem Streit lief ein Junge weg und kletterte im Grundhaltung; durch Dienstbesprechungen, die Treppenhaus über das Geländer. Die eine Mitar- für Prävention genutzt werden; durch Supervi- beiterin der Gruppe lief hinterher. Der Junge war sion, Weiterbildung, Beschwerdewege und Feh- kaum ansprechbar und drohte verbal sowie mit lerkultur. seiner Körperhaltung, dass er hinunterspringen werde, da er nicht mehr leben wolle. Die Mitar- beiterin hielt daraufhin durch das Geländer den „Der von der Behörde finanzierte Jungen fest. Da kein*e Kolleg*in in der Nähe war, schlechte Betreuungsschlüssel kann bat sie eine andere Kindsmutter, die die Situation zur Folge haben, dass die pädagogische beobachtete, die Teamleitung zu holen. Gemein- Arbeit am Standort leidet! Die Belastung sam mit der Teamleitung konnte die Mitarbeiterin steigt und kann eine Gleichgültigkeit zur Folge nach 30 Minuten die Situation deeskalieren, der haben. Oft bremsen die Rahmenbedingungen die Junge kletterte wieder zurück. Die Situation Idealvorstellungen aus.“ wurde im Anschluss mit dem Jungen besprochen, Ann-Kathrin Kaiser (Teamleitung) der berichtete, dass er öfter das Gefühl habe, nicht mehr leben zu wollen. In der Folge wurde der Kindsvater angerufen und ein gemeinsames „Es ist ein Systemproblem: Gespräch geführt. In der Zwischenzeit war der an- zu große Gruppen führen zu dere Mitarbeiter der Gruppe allein mit 26 Kin- großer Belastung.“ dern. Martin Barth (pädagogischer Mitarbeiter) 15
SCHUTZKONZEPT 5. ARBEITSFELDSPEZIFISCHE RISIKEN In den Leistungsbereichen der Margaretenhort tiges, abwechslungsreiches und ressourcenorien- gGmbH bestehen teilweise spezifische Risiken. tiertes Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungspro- Diese betrachten wir an dieser Stelle genauer. gramm angeboten. Durch die Auflistung wird deutlich, was unsere In den Räumen der Schulen ist es oft schon auf- Präventionsarbeit leisten muss. grund der großen Zahl von Kindern sehr laut. Es entstehen schnell Grup- „Das Schutzkonzept sensibilisiert auch die Verwaltung pendynamiken, auf die re- für die pädagogische Arbeit vor Ort.“ agiert werden muss. Ingrid Dobbeck (Buchhaltung) Die Kooperation mit Schu- len bringt eine besondere 5.1 SCHULKOOPERATION Arbeitssituation mit sich. Die Nachmittagsbetreu- Im Leistungsbereich Schulkooperation sind wir als ung findet in den Räumlichkeiten der Schule statt. Träger von zwei schulpflichtersetzenden Jugendhil- Viele Regeln und der Rahmen der Arbeit sind von feprojekten, als Kooperationspartner im Rahmen der Schule oder von der Schulbehörde vorgege- der ganztägigen Bildung und Betreuung (GBS) und ben. Es wird möglicherweise mit unterschiedlichen als Dienstleistungspartner an Ganztagsschulen pädagogischen Haltungen gearbeitet, der Aus- (GTS) aktiv. An den insgesamt vier Ganztagsschu- tausch und die Vernetzung zwischen den Kolle- len wird schwerpunktmäßig am Nachmittag, aber gien und den Teams der Nachmittagsbetreuung auch am Vormittag und in den Ferien ein reichhal- 16
SCHUTZKONZEPT 5. ARBEITSFELDSPEZIFISCHE RISIKEN ist schon aufgrund unterschiedlicher Arbeitszei- ten erschwert. BEISPIEL 6: Manche Vorschulkinder benötigen direkte Unter- Ich verstehe alle Verhaltensweisen stützung und Pflege durch Mitarbeiter*innen, die von Nutzer*innen als eine Überlebens- gleichzeitig die Aufsicht über die Gruppe haben. strategie. (Handlungsgrundsatz 4) Es ist aber schwierig, unter diesen Umständen im- Eine Kollegin am Schulkooperationsstandort mer alle Kinder im Blick zu behalten. Hier stellen wollte während ihres Dienstes kurz etwas in der die Rahmenbedingungen ein Risiko dar. Hinzu Mensa klären. Da erfuhr sie von einem Kind, dass kommt: Die Kinder können je nach Alter mögliche ein Junge im Gruppenraum sehr wütend sei und Übergriffe durch andere Kinder oder Grenzverlet- herumschreie. Die Kollegin eilte zurück und fand zungen und Machtmissbrauch noch nicht verbal, den Jungen mit anderen Kindern in einem Streit. sondern höchstens körperlich ausdrücken. Hier Als die Mitarbeiterin schlichten wollte, rannte der brauchen Mitarbeiter*innen Ideen und Hand- Junge in den Toilettenraum. Er trat um sich, lungsstrategien, wie sie in der jeweiligen Situation wurde immer wütender und begann, sich selbst Zugang finden zu den betroffenen Nutzer*innen. zu verletzen. Die Mitarbeiterin befürchtete eine massive Fremd- und Selbstgefährdung. Sie hielt den Jungen fest, während sie die Eltern und im Anschluss den Rettungswagen für einen psychiat- rischen Notfall anrief. Die Sanitäter*innen muss- ten den Jungen vorübergehend fixieren. Am nächsten Tag sprach die Mitarbeiterin mit ihm. Sie fasste das Gespräch im Nachhinein so zusammen: „Ich habe ihm erklärt, wie ich die Situation erlebt habe und dass ich mir Sorgen gemacht habe. Da- raufhin haben wir als gemeinsame Lösungsstrate- gie Orte ausgesucht, zu denen er ‚weglaufen‘ darf. Weiter hat er mir erklärt, was er nicht braucht, wenn er wütend wird.“ Fazit: In grenzverletzen- den Situationen ist es sehr wichtig, sich selbst ein- schätzen zu können. Nur dann ist es möglich, Nut- zer*innen effektiv vor sich selbst und anderen zu schützen. Wichtig ist auch, dass wir jede Situation gut reflektieren und nachbesprechen. Nur dann können Mitarbeiter*innen und Nutzer*innen ge- meinsam Lösungsstrategien finden. 17
SCHUTZKONZEPT 5. ARBEITSFELDSPEZIFISCHE RISIKEN 5.2 SOZIALRAUMANGEBOTE eventuellen Übergriffen gäbe es keine*n Kol- Die Sozialraumangebote der Margaretenhort leg*in, der*die den Vorfall bezeugen kann. Da es gGmbH finden teils in öffentlich zugänglichen sich bei sozialräumlichen Angeboten nicht um Hil- Räumen wie Stadtteiltreffs statt, teils auch als auf- fen zur Erziehung (HzE) handelt, gibt es keine feste suchende Arbeit in den Wohnungen der Nut- Fallzuständigkeit im ASD/beim Jugendamt. Der ex- zer*innen. Auch in diesem Leistungsbereich ar- terne Beschwerdeweg ist also in diesem Fall er- beitet meist ein*e Kolleg*in allein. Dabei liegt es schwert. in der Natur der Tätigkeit, dass wir Mitarbeiter*in- nen die Nutzer*innen unregelmäßig sehen. Die Margaretenhort gGmbH bietet im Freizeitzen- BEISPIEL 7: trum (FZ) Sandbek Offene Kinder- und Jugendar- Ich nehme jeden Menschen so an, wie beit (OKJA) an. Wie bei anderen offenen Sozial- er*sie ist. (Handlungsgrundsatz 2) raumangeboten besteht das Risiko, dass Vorfälle Eine Mutter besuchte zum erstem Mal mit ihrer unerkannt bleiben: Wenn die Nutzer*innen etwas vierjährigen Tochter ein offenes Elterncafé. Beide stört oder verunsichert, kommen sie einfach nicht erschienen durch ihre Kleidung und ihr Auftreten wieder. vernachlässigt und unsicher. Die Mitarbeiter*in- Die als Elternlots*innen tätigen ehrenamtlichen nen versuchten den Erstkontakt positiv zu gestal- Mitarbeiter*innen beraten, unterstützen und be- ten, um Mutter und Tochter zu einem erneuten gleiten Familien mit Migrationsbiografien. Politi- Cafébesuch zu motivieren. Beide kamen eine Wo- sche und religiöse Differenzen zwischen Mitarbei- che später wieder. Allerdings wurden sie von den ter*innen und Familien können zu Grenzverlet- anderen Müttern und Kindern gemieden. Mutter zungen führen. Im Rahmen ihrer ehrenamtlichen und Tochter wirkten noch ungepflegter als die Tätigkeit beteiligen sich Elternlots*innen am Fa- Woche zuvor. Die Mitarbeiter*innen versuchten, milienleben und nehmen am Alltag der Familien die Mutter über einen intensiven Kontakt und ver- teil. Das erschwert die professionelle Abgrenzung schiedene Hilfsangebote (Kleiderkammer, Tafel, und erhöht das Risiko von Übergriffen. Es entsteht weiterführende Hilfen) zu unterstützen. Die Mut- ein Gefühl der Verbundenheit zu den unterstütz- ter zeigte sich betroffen, nickte alle Informationen ten Familien. Übergriffe oder Grenzverletzungen ab - und kam nie wieder. als solche zu erkennen und zu melden erfordert umso mehr Professionalität und Abgrenzungs- kompetenz. Im Leistungsbereich der Frühen Hilfen tragen Mit- Auch bei den individuellen sozialräumlichen Unter- arbeiter*innen bei ihrer Tätigkeit in Familien mit stützungen sind die Nutzer*innen allein mit Mitar- Neugeborenen und Babys besondere Verantwor- beiter*innen im eigenen häuslichen Umfeld. Bei tung für eine professionelle, gut verständliche und kompetente Beratung. So kann bereits eine 18
SCHUTZKONZEPT 5. ARBEITSFELDSPEZIFISCHE RISIKEN minimal falsche oder missverständliche Beratung durch Mitarbeiter*innen, beispielsweise zur Ernäh- „Beim Lesen des Schutzkonzeptes habe ich intensiver über meine eigene rung, fatale Auswirkungen Rolle und das Machtverhältnis zwischen Nutzer*innen und auf den Säugling haben. Mitarbeiter*innen nachgedacht. Ich trage eine hohe Verantwortung.“ Ähnlich wie Mitarbei- Martin Barth (pädagogischer Mitarbeiter) ter*innen in den Eltern- Kind-Wohnformen, treffen Kolleg*innen auch bei den Frühen Hilfen auf eine Vielfalt von kulturellen Vorstellungen, sei es zu Ernährung, Bekleidung o- BEISPIEL 8: der Erziehung. Was Mitarbeiter*innen sagen oder Ich achte die Intimsphäre, das Scham- tun, kann tendenziell als übergriffig empfunden gefühl und die individuellen Grenzen werden. Auch sie selbst erleben möglicherweise der Nutzer*innen, ohne diese zu bewerten. (Hand- grenzverletzendes Verhalten. lungsgrundsatz 5) Eine Mitarbeiterin machte einen Hausbesuch in 5.3 AMBULANTE HILFEN einer Familie. Der Vater hatte sie informiert, dass Zu den Aufgaben des Ambulanten Leistungsberei- er um 16.30 Uhr zu Hause sein werde, um 18 Uhr ches gehören Sozialpädagogische Familienhilfe war er noch nicht da. Die Kinder waren allein zu (SPFH), Erziehungsbeistandschaft/Betreuungshel- Hause, dies schien für sie nicht ungewöhnlich zu fer*in und Erziehungsberatung. Die Mitarbei- sein. Die Wohnung war nicht gelüftet, der Müll ter*innen sind in der Regel allein mit den Nut- quoll über, die Wäsche war nicht gewaschen. Die zer*innen, zum Teil in deren Wohnungen oder Mitarbeiterin half beim Saubermachen und ver- dem häuslichen Umfeld und können die Fälle im einbarte weitere Aufgaben. Zum Schutz der Kin- Team nur schwer reflektieren, weil nicht alle Kol- der nahm sie sich vor, mit dem Vater über seine leg*innen den*die Nutzer*in kennen. Für ihre Anwesenheit zu Hause zu sprechen. Aufgabe benötigen sie weitreichende Einblicke in Das Beispiel zeigt, wie viel Einblick Mitarbeiter*in- die Privatsphäre, die Wohnung (z. B. Ordnung und nen in das Leben und den Alltag der Nutzer*innen Sauberkeit), die Finanzen etc. In diesem Setting erhalten. Sie gehen in die Wohnung, beobachten besteht die Gefahr einer unzureichenden oder und sprechen Gefährdungen an. Es ist eine Her- unangemessenen Beratung. Gleichwohl kann ausforderung, klar zu benennen, was verändert durch die professionelle Rolle von Mitarbeiter*in- werden muss, dabei wertschätzend zu bleiben nen ein Machtgefälle und eine Abhängigkeit der und den Nutzer*innen nicht das Gefühl zu geben, Nutzer*innen entstehen. sie zu bevormunden und zu beschämen. 19
SCHUTZKONZEPT 5. ARBEITSFELDSPEZIFISCHE RISIKEN 5.4 EINGLIEDERUNGSHILFE/AMBULANTE SO- den persönlichen Lebensbereich der Nutzer*in- ZIALPSYCHIATRIE nen. Die Herausforderung für die Mitarbeiter*in- nen ist, auf eine Weise zu handeln, die nicht Mitarbeiter*innen im Leistungsbereich Ambu- grenzüberschreitend und beziehungsgefährdend lante Sozialpsychiatrie (ASP) sehen sich herausfor- ist. dernden Verhaltensweisen der Nutzer*innen ge- genüber. Nutzer*innen kann es schwerfallen, zu BEISPIEL 9: akzeptieren, dass Mitarbeiter*innen nicht 24 Stunden am Tag für sie da sind. Sie begründen ihr Ich verpflichte mich, die Nutzer*in- Verhalten mit Sätzen wie: „Du warst ja nicht für nen vor körperlicher, seelischer und se- mich da.“ Mitarbeiter*innen können das Gefühl xualisierter Gewalt und Machtmissbrauch zu erhalten, nicht genug getan zu haben und geben schützen. (Handlungsgrundsatz 1) sich die Schuld für Krisen o. ä. Häufig erleben Mit- Eine Nutzerin hatte regelmäßige Suizidgedanken arbeiter*innen autoaggressives Verhalten wie und sprach darüber mit ihrer zuständigen Mitar- Selbstverletzungen und Suizidandrohungen. Dies beiterin. Die folgenden Situationen sind zwei Bei- ist eine emotionale Herausforderung und verlangt spiele dafür, dass Mitarbeiter*innen die Grenzen den Mitarbeiter*innen ab, ruhig und professionell von Nutzer*innen auch bewusst überschreiten zu bleiben. Darüber hinaus beobachten Mitarbei- können, um sie vor sich selbst zu schützen. Es wird ter*innen schwierige Interaktionen zwischen den auch deutlich, dass Mitarbeiter*innen die Pflicht Nutzer*innen und müssen deeskalieren, z. B. bei haben, in bestimmten Situationen einzugreifen. subtiler, unterschwelliger Gewalt wie Ausgren- SITUATION 1: Die Nutzerin berichtete von einem zung oder Lästern. Nutzer*innen zeigen auch Suizidversuch. Die Mitarbeiterin schätzte die Situ- grenzverletzendes Verhalten gegenüber anderen ation als gefährdend ein und bat die Nutzerin, mit Menschen, wenn sie z. B. die eigenen Kinder an- ihr in die Klinik zu fahren. Das wollte sie nicht. Aus schreien. Mitarbeiter*innen müssen darauf rea- diesem Grund vereinbarte die Mitarbeiterin mit gieren. Weiterhin müssen sie die Nutzer*innen der Nutzerin, dass diese sich in den nächsten Ta- vor grenzüberschreitendem Verhalten und gen zu festen Zeiten melden sollte – sollte dies Machtmissbrauch aus dem Umfeld schützen. Nut- nicht geschehen, würde die Mitarbeiterin die Po- zer*innen erfahren häusliche Gewalt durch Part- lizei alarmieren. ner*innen oder extremen Druck durch Eltern und SITUATION 2: Die Nutzerin befand sich in der psy- Freund*innen. Die Mitarbeiter*innen der Woh- chiatrischen Klinik und berichtete von einem Sui- nassistenzen unterstützen die Nutzer*innen da- zidplan. Daraufhin sagte ihr die Mitarbeiterin, bei, Selbstständigkeit in ihrem Alltag zu erreichen dass sie sich mit diesen Gedanken an ihre Thera- und begleiten sie u.a. bei den Themen Finanzen peut*innen in der Klinik wenden solle. Weigere und Hauswirtschaft. Dabei blicken sie intensiv in sie sich, würde die Mitarbeiterin selbst die Thera- peut*innen informieren. 20
Sie können auch lesen