So hoffe ich auf dich" - Jahresrückblick 2020/21 - Stadtmission Nürnberg
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© Stadtmission Nürnberg/Stephan Grumbach »... so hoffe ich auf dich« Psalm 56,4 Jahresrückblick 2020/21
Weil wir selbst Hoffnung haben, HILFE können wir Hoffnung weiter- geben. Hoffnung hilft Menschen, IM LEBEN ihr Leben zu gestalten. Sie hilft aufzustehen – aus eigener Kraft, gestärkt vom Zuspruch und Zu- Tätigkeitsfelder und Einrichtungen der Stadtmission Nürnberg trauen des Gegenübers. Hilfe im Leben geben, heißt Hoffnung stiften. Dem Nächsten helfen, sich selbst zu helfen. »... so hoffe ich auf dich« Kraft dafür schöpfen wir auch Psalm 56,4 aus dem, was die Bibel über Gott sagt: »Ich habe Frieden für euch im Sinn und will euch vom Leid befreien. Ich gebe euch wieder Zukunft und Hoffnung.«
27 1 42 ER in GRÄFENBERG LA in ERLANGEN TH NG EU YR EN BA WIR SIND DA 35 34 Weil wir selbst Hoffnung haben, 7 36 können wir Hoffnung weiter- 44 in LAUF 29 L AU F geben. Hoffnung hilft Menschen, ihr Leben zu gestalten. Sie hilft aufzustehen – aus eigener Kraft, 8 46 32 28 KINDER, JUGEND KINDER in RÖTHENBACH gestärkt vom Zuspruch und Zu- UND FAMILIE H B AC HEN Tätigkeitsfelder und Einrichtungen der Stadtmission Nürnberg RÖT 41 34 Martin-Luther-Haus SUCHTHILFE FÜ 40 15 Jugendhilfeverbund trauen des Gegenübers. RT H 31 49 3 34 Familienwohngruppen 1 Haus Martinsruh in Gräfenberg 9 34 Heilpädagogische Tagesstätte 2 Ambulant Betreutes Wohnen für 13 38 Menschen mit Suchterkran- 30 50 33 34 Heilpädagogische Kindertagesstätte kungen 14 34 Heilpädagogische Wohngruppen 3 Suchthilfezentrum 2 23 49 Heilpädagogische Kindertagesstätte 4 Therapiezentrum Wolkersdorf in ALTSTADT Pilotystraße Hilfe im Leben geben, heißt Schwabach-Wolkersdorf 34 JUMP Selbstständigkeitstraining SENIOREN & PFLEGE AUTISMUS 34 Überregionales Beratungszentrum (ÜBZ) Hoffnung stiften. Dem Nächsten 3 Betreuungsverein 13 Autismus-Ambulanz Vorsorgeberatung zu Vollmacht / 35 Martin-Luther-Schule Autismus-Kompetenz-Zentrum 24 14 Betreuungs- und Patientenver- fügung / Rechtliche Vertretung Mittelfranken gGmbH Ω NÜRNBERG 36 Stütz- und Förderklassen helfen, sich selbst zu helfen. von Erwachsenen / Beratung von 3 Ergänzende unabhängige 38 3 Schulbegleitung Teilhabeberatung (EUTB) 47 21 für Kinder und Jugendliche mit ehrenamtlichen Betreuern*innen 22 10 besonderem Förderbedarf und Bevollmächtigten 13 Schulbegleitung 12 5 Christian-Geyer-Heim 38 Ambulante Erzieherische Hilfen 43 Senioren-Pflegeheim 48 51 12 Chancen für junge Menschen ZENTRALE / 45 20 26 6 Diakonie Team Noris 6 12 Schulförderkurse Ambulante Pflege GESCHÄFTSSTELLE 5 Kraft dafür schöpfen wir auch 15 Empfang – Zentrale Auskünfte 12 Intensive Ausbildungsvorbereitung 3 Ergänzende unabhängige 19 53 RE (IAV) Teilhabeberatung (EUTB) Vorstand GE NS 12 Jugendmigrationsdienst 7 Hephata Pflegezentrum BU Bezirksstelle RG aus dem, was die Bibel über Gott STRAFFÄLLIGENHILFE 12 Stadtteilmütter 8 Karl-Heller-Stift Öffentlichkeitsreferat Senioren-Pflegeheim 22 Arbeitskreis Resozialisierung 39 Diana-Hort Spenden / Fundraising 9 Seniorenzentrum am Tiergärtnertor — Psychotherapeutische Fach 40 Spiel- und Lernstube Lobsinger sagt: »Ich habe Frieden für euch Personalmanagement ambulanz für Sexual- und 9 Seniorenberatung / Fachstelle für 31 41 Erziehungs-, Paar- und Lebensbera- Verwaltung Gewaltstraftäter in Nürnberg Maria-Augsten-Haus pflegende Angehörige / Kirchliche tung für Familien, Kinder, Jugend- und Regensburg 25 Wohnheim für Menschen mit Allgemeine Sozialarbeit (KASA) 3 Gleichstellungsbeauftragter liche, Paare und Alleinstehende seelischer Erkrankung für Seniorinnen und Senioren 23 Wendepunkt. Sozialtherapie im Sinn und will euch vom Leid 3 Pastorale Dienste 41 Pastoralpsychologisches Zentrum 32 Marianne-Leipziger-Haus 9 Seniorennetzwerke 24 Zentralstelle für Strafent SEELISCHE ERKRANKUNG 3 Diakonie im Dekanat/ Übergangseinrichtung für Men- 41 Heilpädagogische Kindertagesstätte Seniorennetzwerk St. Johannis lassenenhilfe Ω 3 Ehrenamtsbörse Betreuungsverein schen mit seelischer Erkrankung Seniorennetzwerk Ziegelstein und 42 Integrative Kindertageseinrichtung 50 RESPEKT – Fachstelle Täter- befreien. Ich gebe euch wieder Buchenbühl 28 Betreutes Wohnen 33 OASE im Nordostpark *innenarbeit häusliche Gewalt für Menschen mit seelischer 45 SIGENA-Stützpunkt Sündersbühl HILFE BEI ARBEITSLOSIG- 39 48 Südstadt-OASE 43 Integrative Kindertagesseinrichtung 53 Wohnprojekt Züricher Straße Erkrankung 52 Matthias-Claudius KEIT UND ARMUT 15 Beratungsstelle Persönliches Budget 15 Betreutes Wohnen in Gastfamilien Zukunft und Hoffnung.« im Julius-Schieder-Haus 44 Lernintegration KRISEN UND NOTFÄLLE 16 allerhand – Spendenannahme- INTEGRATIONSUNTER- 16 3 Ergänzende unabhängige Heilpädagogische Praxis und Inter- 10 Bahnhofsmission Ω stelle und Lager 15 Sozialpsychiatrischer Dienst NEHMEN Teilhabeberatung (EUTB) disziplinäre Frühförderung in Lauf im Julius-Schieder-Haus — Telefonseelsorge 17 19 20 allerhand – Gebrauchtwarenläden 12 CHANCEN gastro gGmbH 29 ERPEKA gGmbH* 3 Staatlich anerkannte Beratungsstelle 51 33 Therapeutische Werkstatt 3 Kirchliche Allgemeine Sozialarbeit Medizinische und berufliche für Schwangerschaftsfragen und 25 DAMUS gGmbH Arbeitstherapie für Menschen mit (KASA) Rehabilitation für Menschen mit Sexualberatung ASYL UND MIGRATION seelischer Erkrankung 3 seelischer Erkrankung Ökumenisches Arbeitslosen- 46 Kinderhaus Funkelstein Diakonie 3 Flüchtlings- und Integrations- DIENSTLEISTUNGEN 15 Gerontopsychiatrischer Fachdienst zentrum Ω 30 Integrationsfachdienst gGmbH* beratung 27 HW-Service GmbH in Erlangen 47 Lernintegration 52 21 (IFD) Beratung und Begleitung Migrationsberatung für Ökumenische Wärmestube Ω AIDS / HIV Interdisziplinäre Frühförderung von Menschen mit Behinderung H Erwachsene 26 PROSUM GmbH Nürnberg AC 3 Hilfen für Menschen im Beruf und zur Erreichung eines 3 AIDS-Beratung Mittelfranken H AC Jugendmigrationsdienst in Wohnungsnot 27 DNE Catering GmbH in Erlangen Arbeitsplatzes mit Betreutem Wohnen Jugend-Reha AB 12 42 SB HW 4 N A 17 SC Ω Mehrfachträgerschaft in WOLKERSDORF
STADTMISSION NÜRNBERG Inhalt /// Jahresrückblick 2020/21 2–3 JAHRES- LIEBE FREUNDE*INNEN DER RÜCKBLICK STADTMISSION NÜRNBERG, 2020/2021 Zuversicht haben wir besonders in Zeiten großer Unge- Streetworker*innen für Obdachlose, Pflegende, Jugend- 3 wissheit nötig. Die zurückliegenden 15 Monate waren helfer*innen, die überforderte Eltern entlasten und Kin- ohne Zweifel solche ungewisse Zeiten. Die Sehnsucht der schützen, Berater*innen, die Existenzen von Men- nach einem Ziel, nach einem Ende der Pandemie, schen sichern; Betreuer*innen, die psychisch erkrankte 1 einem Ende von Isolation und (Berührungs-)Ängsten. oder labile Menschen stabilisieren; Erzieher*innen, Dieses Ringen um Stabilität und Existenzsicherheit – Psychotherapeuten*innen, Suchtberater*innen – sie alle es hat zweifellos alle Arbeit, alle Begegnungen der haben dafür gesorgt, dass diese Pandemie nicht zu Unsere Mitarbeitenden Stadtmission der jüngsten Monate geprägt. Wo sichere einer humanitären Krise geworden ist. Und sie sind es, Aussichten fehlen, kann Vertrauen helfen, sich mit aller die auch künftig daran arbeiten, die neuen oder tiefer Kraft und Kreativität dem Jetzt zu stellen, auch wenn gewordenen sozialen Gräben zu überbrücken. Menschen aus unseren 40 In Zahlen das gute Ende noch nicht absehbar ist. Wir sind dankbar für die vielseitige und umfangreiche Einrichtungen 41 Ausgezeichnet »Wenn ich mich fürchte, so hoffe ich auf dich.« Der Be- Rückendeckung, die uns öffentliche und private För- mit dem Goldenen ter in diesem Psalm macht sich selbst Mut. Die Feinde derer*innen für diese Arbeit haben zukommen lassen. Kronenkreuz machen ihm Angst, er fühlt sich wehrlos und kann sich Wir haben gemeinsam viel geschafft. Davon lesen Sie 4 Armuts- und Krisenhilfe nur an Gott wenden, der einzige Anker, den es für ihn exemplarisch in diesem Jahresrückblick: Sogar neue 42 Im Interview noch gibt. »Zähle die Tage meiner Flucht«, betet er Einrichtungen und Projekte sind an den Start gegan- 10 Hilfe für Menschen mit weiter – und man hört: Beende die Tage meines Aus- gen – darunter ein Wohnprojekt für finanziell und sozial seelischen Erkrankungen geliefertseins. Bring mich zurück in Sicherheit. Auf dich benachteiligte Menschen oder ein neuer Werkstatt- Gott, hoffe ich! standort, an dem Menschen mit psychischen Erkran- 14 Integrationsarbeit kungen beschäftigt sind. Das alles haben Mitarbeitende 4 Nicht nur die Zuversicht auf Gott hat uns in den letzten trotz – oder gerade wegen der Corona-Krise geschafft! 18 Beratung Monaten angetrieben. Es sind gerade die Erfahrungen des Zusammenstehens in der Krise, die beispiellos Wir wissen nicht, wann und wie diese Pandemie zu 22 Straffälligenhilfe viel Energie unter Kollegen*innen, Förderern*innen und Ende gehen wird. Wann wir wieder in der Lage sind, Klienten*innen der Stadtmission Nürnberg mobilisiert auf lange Sicht zu fahren. Doch wir dürfen zuversicht- 24 Pflege und Seniorenarbeit haben. Auftrag und Angebote der Diakonie haben sich lich sein, weil wir uns als Stadtmission Nürnberg von Wirtschaft und als systemrelevant erwiesen. Menschen brauchen ihre einer lebendigen Hoffnung und zahlreichen Unterstüt- 32 Suchthilfe Nächsten und sie brauchen mehr Hilfe im Leben als vor zern*innen und Freunden*innen getragen wissen. Und Finanzen der Pandemie. Die professionelle Sozial- und Pflege- weil wir wissen, dass wir am richtigen Ort als Hel- 34 Kinder, Jugend und Familie arbeit war in der Krise das Rückgrat des Sozialstaates. fer*innen im Leben wirksam sind. 48 Finanzüberblick 52 Spenden und Helfen 2 Stiftung HILFE IM LEBEN 36 Förderprojekte 2020 Matthias Ewelt Gabi Rubenbauer Markus Köhler Dr. Jürgen Körnlein Vorstand Vorständin Vorstand Vorsitzender des Aufsichtsrats
STADTMISSION NÜRNBERG Armuts- und Krisenhilfe /// Jahresrückblick 2020/21 4–5 »DER WOHNSITZ IST VORAUSSET- ZUNG FÜR ALLES« Ein Berliner Paar strandet 2018 in Nürnberg. Ihr letztes Geld reicht für zwei Wochen Hotelpension, es folgen zwei Jahre in Obdachlosigkeit. Johanna Pittroff hat Uwe Kirstein und seine Frau begleitet. »Ick hab jedacht, wenn ick den die sei »Voraussetzung für alles«: Früher hingegen war er Chefkoch in Kopp in den Sand stecke, komm Gesundheitliche Regeneration, einem Berliner Interhotel, » hatte ein ick zu jar nüschd mehr«, meint Uwe soziale Anbindung, Beschäftigung – Haufen Leute unter sich«, bis sein Kirstein. Der 64-Jährige nennt sich letztlich die eigene Existenz. Die Rücken kaputtging. Als »reisender selbst einen »Berliner Sturschädel« – Kirsteins, erinnert sich die Sozial- Koch« zog er nach Italien w eiter und kantig, geradeaus, hartnäckig ist er. pädagogin, waren extrem engagiert irgendwann zurück in die Bundes Zwei Jahre lang saß er mit seiner bei der Wohnungssuche. Sie hatten hauptstadt, wo das Paar 2017 wegen Frau in einer Nürnberger Obdach losenpension fest. Eine eigene Woh- nung zu finden in der Stadt? Fast ihre Schulden beglichen, waren verlässlich, organisiert, freundlich. »Trotzdem tat sich nichts auf. Leider Eigenbedarf »aus seiner Wohnung rausgekündigt« wurde. Uwe Kirstein durchlief damals gerade ein Insol- »Endlich wieder hatte er selbst nicht mehr daran ge- glaubt, bis er im Oktober 2020 einen Anruf vom Nürnberger Sozialamt er- ist das schon lange kein Einzelfall mehr.« 52 Menschen betreut Pitroff in der Obdachlosenpension Pirck- venzverfahren. »Dat war aussichts- los für uns was Neues zu finden«. So landete das Paar auf der Straße ein bisschen hielt: »Ja oder Nein, Herr Kirstein?« hieß es da am anderen Ende: »Wir hätten da eine Wohnung«. Kirstein heimerstraße – ein »Querschnitt der Bevölkerung«, wie sie sagt. Je län- ger sie hier sind, desto schwieriger und kam im Herbst 2018 nach Nürn- berg. Licht im Tunnel.« zögert nicht: »JA. Nehm ich – unge- werde es, wieder auf eigene Füße Inzwischen geht es für die beiden UWE KIRSTEIN sehen!«. zu kommen: »Der Mensch gewöhnt wieder bergauf – wohin genau, da Klient der Wohnungslosenhilfe sich an die schwierigsten Leben- möchte sich Uwe Kirstein weder Johanna Pittroff von der Woh- sumstände. Und irgendwann wird Visionen noch Illusionen machen: nungslosenhilfe der Stadtmission jede neue Veränderung, auch wenn »Ick nehme alles, wie es kommt. hat Uwe Kirstein und seine Frau in sie vielleicht Besseres verspricht, zu Bringt ja nüschd«. Sein Pragmatis- der Obdachlosenpension betreut, schwer.« Die magische Grenze liege mus hat nichts Bitteres – im Gegen- hat mit ihnen Wohnungen gesucht bei etwa zwei Jahren, meint Pittroff. teil: Der 64-Jährige will und kann © Stadtmission Nürnberg/Stephan Grumbach und Amtsangelegenheiten abge- »nicht still sitzen«. Jetzt verteilt er wickelt. Und das in einer Zeit, »in Diese magische Grenze hatten auch selbst regelmäßig Kaffee, Kleider der sich wegen der Pandemie alle Uwe Kirstein und seine Frau im oder Stullen an Obdachlose. Oder abgeschottet hatten«. Auch Pittroff letzten Jahr erreicht. Rückblickend er springt in der Obdachlosenpen und ihr Kollege versuchten anfäng- sagt der Berliner über seine Zeit als sion als Hausmeister ein – ehren- lich noch fernmündlich zu arbei- Obdachloser: »Wir mussten es halt amtlich, weil andere ihm vertrauen. ten. Schon nach wenigen Wochen so hinnehmen. Wichtig war: Zum Das alles nennt er »endlich wieder aber war klar: »Wir müssen vor Ort Alkoholiker durfte man sich nicht ein bisschen Licht im Tunnel«. UWE KIRSTEIN MIT SOZIALPÄDAGOGIN bei den Klienten sein.« Oberstes machen.« Der 64-Jährige hat auszu- JOHANNA PITTROFF Ziel dabei: Menschen, die in der halten gelernt. Allein im letzten Jahr an der Obdachlosenpen- Pension stranden, zügig wieder hat er 10 OPs hinter sich gebracht, sion Pirckheimerstraße. in eine Wohnung vermitteln, denn fast den rechten Fuß verloren.
STADTMISSION NÜRNBERG Armuts- und Krisenhilfe /// Jahresrückblick 2020/21 6–7 © Stadtmission Nürnberg/Stephan Grumbach VIER WÄNDE, VIELE CHANCEN Erst grüßte man sich nur höflich. Bald trank man regelmäßig einen Kaffee zusammen. Das von der Stadtmission Nürnberg 2020 eröffnete soziale Wohnprojekt Züricher Straße ist nach einem Jahr ein Haus geworden, »in dem es menschelt wie überall«. Genau, wie wir es wollten – sagt die Sozialpädagogin Ksenia Rott. Ein Glücksfall nach langer Zeit, sagt Mieterin Vroni Roggenbeck Ω. Ein Donnerstagnachmittag im Juni: forderung. Denn Vroni pflegt auch habe ich angeschrieben. Keiner hat Die 58-jährige Vroni Roggenbeck den altgewordenen, dementen Vater mir eine Chance gegeben, weil da sitzt mit einem Kaffee in der Hand über Jahre hinweg. stand Haftentlassung. Ich wollte auf einer schlichten, gemütlichen aber auch nicht gleich wieder mit Couch im Gemeinschaftsraum. Es Abschalten gelingt ihr damals nur einer Lüge anfangen.« ist zugleich der Arbeitsplatz von noch, wenn sie zwischendurch VRONI Sozialpädagogin Ksenia Rott, die einen Joint rauchen kann. Und Neben Vroni Roggenbeck haben ROGGENBECK Ω für die Bewohner*innen des Hauses irgendwann scheint ihr der auch 19 andere Mieter*innen in dem ist glücklich über ihre 38qm Wohnung, »Vermittlerin«, »Kummerkasten« und für die ständigen Geldsorgen eine Stadtmissions-Haus eine Chance wo sie ihr Leben neu Unterstützerin in allen möglichen Lösung: Sie fängt an Haschisch zu bekommen, die ihnen andere nicht starten kann. und misslichen Alltagslagen ist. verkaufen und handelt sich damit zugestehen wollten. 20 weitere sind »Das ist Gold wert, dass ich hier erst »ein zusätzliches Taschengeld« Mieter*innen mit kleinem Einkom- immer runter kommen kann zum und schließlich fünf Jahre Lebens- men. Denn auf dem »brutalen Sprechen. Ich hab’ halt auch wenig zeit hinter Gittern ein. »Ich war Wohnungsmarkt« in Nürnberg fallen Freunde nach der langen Haft«, bemerkt die 58-Jährige. Seit neun Monaten bewohnt sie eine Ein-Zim- fürchterlich erschrocken von diesem Urteil. So viel wie im Knast habe ich nie in meinem Leben geweint.« Menschen schon wegen kleinster Kleinigkeiten und Vorurteilen durchs Raster, meint Rott: Psychische »Für mich ist mer-Wohnung im 1. Stock. Vroni Roggenbeck sagt selbst, Im Oktober 2020 – vier Wochen nach ihrer Haftentlassung – ist Vroni Erkrankungen, kleine, instabile Einkommen, gebrochene Biografien, Familiennamen aus aller Herren diese Wohnung sie habe eigentlich immer ein sehr bodenständiges Leben gehabt: Behütete Kindheit in einfachen Ver- Roggenbeck eine der ersten Mie- terinnen, die in das neue, soziale Wohnprojekt der Stadtmission Länder. »Mitverloren geht ihre gesellschaftliche Teilhabe.« In der Züricher Straße wiederum »wächst pure Wert- hältnissen. Ausbildung zur Kondito- einziehen. Vermittelt und bis heu- das zarte Pflänzchen guter Nach- schätzung.« © Stadtmission Nürnberg/Stephan Grumbach reifachverkäuferin, später Umschu- te betreut wird sie vom Team des barschaft jeden Tag ein bisschen lung als Bürokauffrau. Den ersten Arbeitskreises Resozialisierung, zu mehr«, meint die Sozialpädagogin. und einzigen Sohn zieht sie als dem sie schon in der JVA Kontakt Die meisten seien im Wartemodus, VRONI ROGGENBECK Ω Alleinerziehende groß. So weit, so pflegt. »38 qm, möbliert. Geschirr, bis Corona endlich Geschichte sei, Bewohnerin der Züricher Straße unauffällig. Wer genauer nachfragt, Bettzeug, Küche, alles war drin. Für sagt Vroni Roggenbeck. Spiele hört aber auch, wo sich die Risse mich ist diese Wohnung pure Wert- abende, Sommerfest und gemein- auftun: »Ich war immer sehr knapp schätzung.« Vroni meint, sie habe same Gartl-Aktionen stünden an. mit dem Geld. Wir kamen eigent- hier auch ihre erste und einzige Schon jetzt weiß die 58-Jährige lich nie auf einen grünen Zweig.« Chance für einen Neuanfang be- auch: »Weihnachten 2021 feiere ich KSENIA ROTT Aus den täglichen Sorgen um Sohn kommen. »Bevor ich hier einziehen mit meinen Nachbarn.« ist Vermittlerin, und Einkommen, wird zunehmend konnte – alle Wohnungsgesellschaf- Kummerkasten und Unterstützerin für Erschöpfung und schließlich Über- ten, Stiftungen, unzählige Vermieter Ω Name geändert alle Bewohner*innen des Hauses.
STADTMISSION NÜRNBERG Armuts- und Krisenhilfe /// Jahresrückblick 2020/21 8–9 © Stadtmission Nürnberg/Stephan Grumbach VOM SCHIRM VERSCHWUNDEN Wie tief die Verwerfungen nach monatelangem Heimunterricht, Kontaktbeschränkungen und Existenzängsten für Kinder und Jugendliche aus strukturell benachteiligten Familien sind, wird nach und nach sichtbar. Klar ist: Ohne zielgerichtete Hilfe werden viele dieser Kinder zu Abgehängten. Statt als Gruppe »Die Hausaufgaben sind leichter reich Lernen zu können. »Nach dem cen für junge Menschen«. Was den zu toben, zu lernen, zu spielen, kamen zu lösen, wenn ich in die Schule ersten Lockdown im Frühjahr 2020 Jungen und Mädchen helfe, seien die Kinder im Pan- gehe«, sagt der 9-jährige Daniel, der konnten wir schon sehen, wie die persönliche Kontakte und individu- demiejahr allein oder mit seiner Familie in einem großen schulischen Leistungen der Kinder elle, niederschwellige Förderung in mit Geschwistern zu festen Terminen Mietkomplex am Kirchenweg in stark nachgelassen hatten. Manche geschütztem Rahmen. in die Spiel- und Nürnberg wohnt. Normalerweise taten sich schwer damit, wieder in Lernstube. kommt er nach der Schule regel- der Gruppe zu sein, länger still zu Die Pädagogen*innen der Stadtmis- mäßig in die Spiel- und Lernstube sitzen, sich zu konzentrieren. Die sion machen genau das: Mit dem Lobsinger der Stadtmission, nimmt weggefallene Struktur im Alltag hat kostenlosen Nachhilfeprogramm am gemeinsamen Mittagessen teil, löst seine Hausaufgaben, spielt Theater, knobelt oder trifft sich hier bei den Kindern ein Riesenchaos im Kopf verursacht«, erzählt Leonie Lawen aus der Spiel- und Lernstube »1000+1 Stunde« für Einzelne oder den Schulförderkursen für Ab- schlussschüler*innen in kleinen, »Wir sind mit seinen Freunden zum Basket- ballspielen. Doch als die zweite Corona-Infektionswelle auch in Lobsinger. Bis Weihnachten war vieles wieder festen Gruppen. Und gerade in den schärfsten Lock-Down-Wochen blieben ihre regelmäßigen Telefo- erfinderisch Nürnberg erneut zur Schließung von Schul- und Jugendeinrichtungen führte, musste Daniel größtenteils aufgeholt. Dann kam der nächste Lockdown. Daniel sei im Distanz unterricht schließlich buchstäblich nate mit Kindern und Eltern oder Einzelgesprächs- und Kreativange- bote an der frischen Luft wichtige und flexibel wieder allein durch den Tag kom- men. Das frustrierte den 9-Jährigen, oft war er wütend. »Wozu soll ich »vom Schirm verschwunden«. Er schwänzte häufiger den Online unterricht, bis den Hausaufgaben- Anker für Kinder, wie Daniel, die aus dem Sichtfeld geraten sind. »Wir sind erfinderisch und flexibel wie nie wie nie denn überhaupt noch aufstehen, wenn wegen Corona keine Schule ist und es verboten ist, Freunde zu betreuerinnen in der Lobsinger auffiel, was er bereits alles verpasst hatte. Daniel hatte da längst Angst geworden«, lächelt Leonie Lawen. »Manche Kids haben wir auch vor allem durch unsere Essenspakete © Stadtmission Nürnberg/Stephan Grumbach geworden.« treffen? Meine Lehrer geben auch vorm Distanzunterricht entwickelt: »to go« erreicht, die das Team jeden LEONIE LAWEN keine Rückmeldung auf die ge- »Wenn ich das alles nicht verstehe, Tag am Fenster verteilte. Unsere Teamleitung der Spiel- und Lernstube Lobsinger machten Hausaufgaben!« Nicht nur kann mir das niemand richtig erklä- Jungen und Mädchen wussten Schulstoff ging Daniel immer mehr ren. Ich schaff das dann nicht.« damit, dass sie jeden Tag kommen verloren. Es bröckelten auch die können. Grundlagen, um überhaupt erfolg- »Kinder brauchen nicht nur Wissen und Tablets. Sie brauchen Men- Mit jedem Lunch- paket, das die schen, die begleiten, die motivieren Kinder sich abhol- und an ihren Auf und Abs Anteil ten, konnten die nehmen«, sagt Alexandra Frittrang, Pädagogen*innen nachhaken: Geht Leiterin der Angebote von »Chan- es dir gut? Was brauchst du gerade?
STADTMISSION NÜRNBERG Hilfe für Menschen mit seelischen Erkrankungen /// Jahresrückblick 2020/21 10 – 11 VOR DER KRISE SICHER Die Therapeutische Werkstatt für Menschen mit psychischen Erkran- kungen hat im Coronajahr alles in Bewegung gesetzt, damit Klien- ten*innen kontinuierlich zur Arbeit kommen können. Denn Alltag schafft Sicherheit. Die Eröffnung eines 2. Standortes war dabei wohl die weitreichendste Entscheidung. »Ich wüsste nicht, wo ich heute ste- Bilder. Für die einen geht es dabei als sie nicht in die Werkstatt konnte. hen würde ohne diese Werkstatt«, um eine übergangsweise Reha Sie brauche die feste Struktur, eine sagt Tanja D., die ihren täglichen bilitation, andere sind hier langfri- Aufgabe und Menschen, die ihr ver- Dienst seit einigen Tagen in den stig angebunden, um die eigenen trauen. »Eigentlich haben mir Men- neuen Gewerberäumen der Thera- Fertigkeiten nicht zu verlieren und schen überhaupt das erste Mal hier peutischen Werkstatt an der Tafel- psychisch stabil zu bleiben. in der Therapeutischen Werkstatt feldstraße antritt. Hier arbeitet sie Vertrauen entgegengebracht. Das »unten im Lager«, nimmt Ware an, Sechs Wochen blieb die Therapeu- kannte ich vorher nicht«, bemerkt verpackt die von den Kollegen*innen tische Werkstatt im Frühjahr 2020 sie. Es könnte nur so dahingesagt montierten Industrieprodukte und kümmert sich um deren Versand. Den Großteil ihrer Arbeitszeit ver- für Klienten*innen geschlossen. Simon Weghorn und sein Team telefonierten stattdessen täglich mit sein, doch es steckt eine lange Geschichte dahinter: 15 Jahre ihres Lebens hatte die junge Frau in einer »Es gibt bringt sie allein, Tanja D. braucht es so. »Mich überfordern Menschen, ich habe viel mit Sozialphobien zu ihren Klienten*innen. Manche von ihnen erledigten in dieser Zeit die Montagearbeiten aus der Werk- Psychiatrie verbracht, bevor sie in die Therapeutische Werkstatt kam. Kaum einer hatte ihr damals zuge- für jeden kämpfen«, erzählt sie. Permanent Maske tragen – auch das schafft die 41-Jährige nicht ohne Panikreak statt zu Hause am Küchentisch, einfach um die Leere des Tages mit vertrauter Beschäftigung zu traut, dass sie jemals ein selbststän- diges Leben führen könne. Doch elf Jahre später hat sie es nicht nur einen Platz, tionen. Allein im Lager aber darf sie frei Schnaufen. füllen. Das Werkstattteam arbeitete unterdessen ein komplexes Hygie- nekonzept aus, mit dem schließlich geschafft ein regelmäßiges Arbeits- leben durchzuhalten, sondern sich auch einen eigenständigen Alltag in der passt.« »Die Therapeutische Werkstatt, »seit Mai 2020 durchgängig wieder eigener kleiner Wohnung aufgebaut. SIMON WEGHORN die Arbeit, das vertraute Setting alle Klienten regelmäßig vor Ort Leiter der Therapeutischen Werkstatt hier, das war ein Anker für unsere beschäftigt werden« konnten. Drei Dass die Therapeutische Werkstatt Klienten im zurückliegenden Pan- kurze Schichten mit kleiner Beset- zu diesem Erfolg wohl einiges bei- demiejahr«, betont Simon Weghorn, zung statt zwei große, Masken für getragen hat, ahnt, wer Simon der die Werkstatt leitet. Bis zu 250 alle, Umbau der Montageräume und Weghorn über die Betreuungsphilo- Menschen mit einer psychischen schließlich ein zweiter Standort – all sophie seines Teams sprechen hört: Erkrankung sind derzeit an die Ein- das war Teil dieses Corona-Bewälti- »Der Schlüssel liegt für uns in der richtung angebunden und können gungsplans. »Die Leute haben sich Wertschätzung der Klienten. Es gibt hier unter enger Betreuung arbei- hier sicher gefühlt – und das obwohl für jeden einen Platz, der passt. Die ten. Neben Produktmontagen und Ängste und Panikstörungen extrem Schwere der psychischen Erkran- Verpackungsarbeiten, erledigen sie verbreitet sind« so Weghorn. kung spielt für uns eine untergeord- Möbelreparaturen, bearbeiten große nete Rolle.« Versandaufträge oder digitalisieren Auch Tanja D. hat »Corona an die ei- © Stephan Minx genen Grenzen gebracht«, vor allem TANJA D. arbeitet seit elf Jahren in der ersten Welle im Frühjahr 2020, jeden Tag in der Thera- peutischen Werkstatt.
STADTMISSION NÜRNBERG Hilfe für Menschen mit seelischen Erkrankungen /// Jahresrückblick 2020/21 12 – 13 © Stadtmission Nürnberg/Stephan Grumbach ANDERS NORMAL © Stadtmission Nürnberg/Stephan Grumbach Im zurückliegenden Corona-Jahr, sagt Sora Stiegler Ω, sei der Abstand zwischen den so genannten »Normalen« und Menschen wie ihr kleiner geworden. Einsamkeit, Panik, Sozialphobien – die Pandemie habe solcherlei Gefühle flächendeckend unter die Menschen gebracht. Für Sora Stiegler war das nichts Neues. 2020 brachte ihr trotzdem den Umbruch. »Es gab keine Woche, wo mich nicht gegessen.« Soras Gewicht schnellt rung zu stellen. Unzähligen Arztbe- irgendwelche Leute, oft Fremde in dieser Zeit auf 210 Kilo hoch, suche und Ämtergänge hatte sie auf der Straße, beleidigt haben. nur mühsam wird sie später Bruch- auf dem Weg dorthin bewältigt. Ein Natürlich ziehst du dich da zurück«, teile davon wieder los. Seit jenem Jahr später ist sie 70 kg leichter und erzählt die 33-jährige Sora Stiegler. Klinikaufenthalt weiß Sora Stiegler wirkt erleichtert wie lange nicht. Ihr Der Grund? Bis im vergangenen Jahr wog sie noch etwa 190 kg. Heute sind es 70 kg weniger. Für auch ganz offiziell von ihrer Mehr- fach-Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen, Leben komme allmählich in »norma- le« Bahnen. Fast zwei Jahre schon war sie nicht mehr in der Klinik. »Ich »Ich habe meine Voller Lebens- energie stecke Lebensqualität wieder.« Sora Stiegler Ω (l.) die junge Frau ist das ein Erfolg und Borderline. Dass gleich mehrere habe meine Lebensqualität wieder.« sagt Ellen Fester (r.) vom Betreuten Entlastung gleichermaßen. Denn die psychische Erkrankungsbilder wie Wohnen. Davor Kilos stehen sinnbildlich auch für bei Sora zusammenfallen sei eher Und natürlich weiß Sora Stiegler könne sie nur eine psychische Last, die sie seit die Regel als ein Einzelfall, sagt auch heute genau, wie es für sie SORA STIEGLER Ω Respekt haben. ihrer Teenagerzeit durchs Leben Ellen Vester von der Stadtmission, weitergeht: »In 110 Tagen fängt Klientin des Betreuten Wohnens für Menschen mit seelischer Erkrankung schleppt. die sie heute ambulant betreut. meine neue Ausbildung an«. Zur Kauffrau für IT-Systemmanagement. »Recht groß und pummelig«, das Doch Sora Stiegler ist eine Kämp- Sie strahlt. Und mit ihr Ellen Vester. war Sora Stiegler schon als Kind. fernatur und »ein typischer Streber«, Für Sora ist dieser Rückhalt einzig- Und: »Ein kleiner Nerd«, wie sie wie sie selbst sagt. Immer wieder artig. Vester kann sie anvertrauen, lächelnd bemerkt. Mit unendlicher setzt sie sich neue Ziele, will nach was ihr in vielen anderen Bezügen Neugier habe sie alles, was mit ihrem Schulabschluss mit Einser- als Stigma anheftet: »Wenn es mir Computern zu tun gehabt habe, ge- schnitt auch eine IT-Ausbildung psychisch nicht gut geht – teile ich meinsam mit ihrem Opa erforscht. schaffen. Zwei Versuche scheitern. meine Gedanken mit ihr.« Aus ihrem Lange später wird sie eben diese Regelmäßig muss die junge Frau Freundeskreis dagegen halte sie Neugier zum Beruf machen. »Mit in die psychiatrische Klinik und das »ganze Psychozeug« raus. Oft- Computern kann ich einfach besser sucht im Anschluss neue Projekte, mals wäre sie froh, wenn »ihr ganzer einig werden, als mit Menschen«, die sie akribisch durchplant. Zeit- Leidensweg, die Diagnosen, auch meint die sensible Frau. pläne, Meilensteine – all das habe nicht mehr in jeder Akte stünden«. ihr immer Sicherheit gegeben. Die Und so spürt man genau, was die Als Sora Stiegler 18 ist, verselbst- Zukunft schien damit irgendwie 33-Jährige meint, wenn sie ihren © Stadtmission Nürnberg/Stephan Grumbach ständigt sich ihre Geschichte auf steuerbar, weniger beunruhigend. wichtigsten Zukunftswunsch »ein bittere Weise: Nach einem Suizid- Ellen Vester beeindruckt diese inne- ganz normales Leben« nennt. versuch muss die junge Frau sich re Stärke: »Immer wieder aufstehen eineinhalb Jahre in einer psychia und anfangen«, das zeichne Sora Ω Name geändert trischen, geschlossenen Klinik Stiegler aus. »Da ist so viel Lebens- behandeln lassen. »Gefühlt habe energie, trotz Suizidgedanken.« ich dort nur noch geschlafen und Mit dieser Lebensenergie schafft es Sora Stiegler auch, sich im Mai 2020 – trotz Panik vorm OP-Saal – einer operativen Magenverkleine-
STADTMISSION NÜRNBERG Integrationsarbeit /// Jahresrückblick 2020/21 14 – 15 ZWISCHEN DEN ZEILEN SPRECHEN Zum Dolmetscherpool der Stadtmission gehören insgesamt 40 Ehrenamtliche, die gemeinsam 28 Sprachen sprechen. Nicht nur in der Schwangerenberatung erleichtern sie vielen Menschen den Zugang zum lokalen Hilfesystem, der durch Kontaktbeschränkungen und Lockdowns im letzten Jahr schwerer war denn je. Suad Kassem motivierte das umso mehr. »Für die Frauen war das letzte Jahr lichkeiten, Hilfe zu kriegen, waren arabisch-sprachigen Klienten*innen unheimlich schwer. Alles ist kompli- total eingeschränkt. Keine Sprech- in drei unterschiedlichen Bera- zierter geworden – wie komme ich stunden in Behörden zum Beispiel. tungsstellen der Stadtmission. Ein im Lockdown an eine Geburtsur- Ja sogar in der eigenen Community, bis zwei Mal pro Woche ist sie in kunde? Wer hilft mir jetzt mit diesen in der sich sonst immer jemand der Schwangerenberatung. »Ganz Anträgen beim Elterngeld? Noch findet, der was weiß oder jemanden oft ist es so, dass eine Frau kommt ein Kind – mit Kurzarbeit und vier kennt, konnten die Frauen sich und ihren Mann dabeihat, erstmal Schulkindern zuhause – ich schaff nicht einfach Unterstützung suchen. als Sicherheit. Wenn ich sie dann das nicht mehr!« Ruth Persau, Keine Kontakte war das Credo.« anspreche auf ihrer Muttersprache, Leiterin der Sexual- und Schwan- Ruth Persau und ihr Team haben in bricht das Eis und ihre Unsicher- gerenberatung der Stadtmission diesen Monaten alle möglichen Ge- heit ist weg. Dann sagt sie zu ihrem Nürnberg sitzt im Garten des Bera- sprächskanäle und -konstellationen Mann: ›Du bleibst jetzt mal hier. Ich tungszentrums. Manchmal saß sie aufgemacht: Beratung am Telefon, mach das alleine‹.« Ruth Persau im letzten Jahr auch mit Klientinnen hier draußen – in der kühlen Luft, mit Abstand und Maske. Persönlich, Beratung vor der Kamera, Beratung hinter Plexiglas und Mundschutz, Beratung unter freiem Himmel. He- sagt, sie erlebe diese erste, warme Begegnung von Klientinnen und Sprachmittlerin oft wie »ein gegen- »Brücken trotz aller Umstände. Etwa 50 Prozent der Frauen, die rausfordernd blieben die Gespräche mit Frauen in einem Schwanger- schaftskonflikt, deren Erstsprache seitiges Wiedererkennen«. »Frau Kassem hört immer auch, was zwi- schen den Zeilen gesagt wird, zum bauen und in einer Notsituation die Hilfe der Sexual- und Schwangerenberatung brauchen, sprechen nur ganz wenig z. B. Russisch, Farsi, Amharisch oder Vietnamesisch war. »Nur mit Händen und Füßen wird man der in- Beispiel zaghafte Andeutungen von Gewalt, die Frauen erlebten.« Und sie hilft den Beratern*innen: »Wel- Türen öffnen« oder ein sehr einfaches Deutsch. neren Unruhe und dem Chaos, auch che Höflichkeitsformen sind ange- sei die Fähigkeit der Sprachmittler*innen, sagt Umso wichtiger sind für ihre Bera- der Verzweiflung einer unglücklich bracht? Wie direkt und explizit darf Ruth Persau, Leiterin der Schwangerenberatung ter*innen alle nonverbalen Eindrü- schwangeren Frau nicht gerecht«, ich sein, welche Gesten, welchen © Stadtmission Nürnberg/Stephan Grumbach cke, die sie bei Begegnungen mit meint Persau. Schon gar nicht, als Raum brauchen vielleicht auch die ihnen sammeln können. Ein ange- selbst noch unsere Mimik hinter eine Ehemänner?« – auch das beobach- spanntes Stirnrunzeln, ein unsi- Maske verschwinden musste.« tet und übersetzt Suaad Kassem cherer Tonfall, ein fragender Blick – für alle Seiten. Sie wolle einfach für SUAAD KASSEM all das verrate ganz viel darüber, wo Frauen wie Suaad Kassem, 53, alle da sein, sagt die 53-Jährige. »Es ist selbst mit Mann die sensiblen Knackpunkte für eine konnten dann immer wieder »Brü- steckt mein ganzes Herz in dieser und Kindern aus dem Irak nach schwangere Frau seien. »Der Druck cken bauen und Türen öffnen«: Arbeit.« Nürnberg geflüchtet. für sie war zuletzt immens. Die Die gebürtige Irakerin und Mutter Heute übersetzt sie finanziellen Probleme der Familien von vier Kindern hilft als ehrenamt- jede Woche in der Schwangerenbera- haben zugenommen. Und die Mög- liche Sprachmittlerin kurdisch- und tung und der Flücht- lingsberatung.
STADTMISSION NÜRNBERG Integrationsarbeit /// Jahresrückblick 2020/21 16 – 17 »Sie haben an mich geglaubt. Das war sehr EHRGEIZ UND wichtig für mich.« SEHNSUCHT SHEILA Ω Klientin des Jugendmigrationsdienstes Sheila Ω war 13, als sie mit ihren Eltern und sieben Geschwistern aus Syrien nach Deutschland flüchtete. Sechs Jahre später studiert die junge Frau Medizintechnik an der TH Nürnberg. Dass sie diese steile Entwicklungskurve genommen hat, liegt auch am Rückenwind vom Jugendmigrationsdienst (JMD). Der wird heuer 60. Eine Gemeinschaftsunterkunft bei derter Familien schneller und besser gerade stand: »Sie haben an mich Weiden in der Oberpfalz – hier konn- Deutsch sprechen als die Eltern geglaubt. Das war wichtig für mich«, te Sheila nach mehreren Wochen und dann früh als Sprachmittler für sagt Sheila dankbar. Inzwischen Flucht aus dem Kriegsgebiet ihrer die ganze Familie Verantwortung studiert sie im 3. Semester Medizin- Heimat endlich Halt machen. Ein übernehmen«, sagt Dörr. Das Team technik und hat einen unbefristeten echtes Zuhause waren die zwei des Jugendmigrationsdienstes Aufenthalt in Deutschland. Sheila Zimmer für Sheila und ihre Fami- jedenfalls war von Sheilas Potenzial lächelt: »Meine Sehnsucht nach lie freilich noch nicht, ein Ort zum überzeugt. Sie halfen ihr, in die 11. Syrien bleibt.« Doch egal wo Sheila Neuanfangen aber allemal. Sheila Klasse einer Fachoberschule aufge- künftig leben wird, ihre Ausbildung nutzte ihre Chancen: Nachdem sie nommen zu werden, organisierten wird immer ein Schatz sein. ihren Mittleren Schulabschluss noch Nachhilfe durch einen ehrenamt- in der Oberpfalz erfolgreich absol- lichen Mitarbeiter und unterstützten Tausende junge Leute haben in den vierte, gelang ihr nach dem Umzug Sheila bei der Praktikumssuche und letzten 60 Jahren Hilfe beim Ju- nach Nürnberg später sogar das beim Berichteschreiben. Und immer gendmigrationsdienst gefunden, von Fachabitur. »Es war mein großer wieder gelang es, durch Gespräche Aussiedlern*innen aus der Sowjet- Traum, hier in Deutschland zu stu- mit Sheilas Lehrkräften und Schul- union, über junge Erwachsene aus dieren. Auch wenn es eine riesige leitung, schwierige Situationen auf- allen Staaten der Europäischen Uni- Herausforderung für mich war«, zulösen: »Sheila hatte zum Beispiel on bis hin zu geflüchteten Jugend- erzählt die heute 21-Jährige stolz. Angst, vor der Klasse zu sprechen, lichen aus dem Nahen Osten – im Elke Dörr, Leiterin des Jugendmi- weil sie früher wegen der Sprache JMD spiegeln sich immer Wande- grationsdienstes der Stadtmission, ausgelacht worden war. Am Ende rungsbewegungen aus aller Welt. begleitet Sheila seit 2018. »Sheila durfte Sheila ihre mündlichen Prü- »Egal ob es um Schule, Beruf, Ämter war immer sehr schüchtern, aber fungen ohne Publikum absolvieren.« oder die Belange junger Eltern geht. mindestens auch genauso ehrgei- Inzwischen ist die junge Frau viel Wir helfen und begleiten so lange © Stadtmission Nürnberg/Stephan Grumbach zig. Sicherlich waren auch drei ihrer selbstbewusster, sicherlich auch und intensiv wie nötig. Das galt auch älteren Geschwister, die ebenfalls durch die »Lesewerkstatt« des JMD: in den Coronamonaten: Wir waren studierten, Vorbilder für sie.« Junge Migranten*innen werden immer erreichbar, und wenn wir uns Extrem gefordert war Sheila per- darin von einer Theaterpädagogin draußen im Regen treffen mussten.« manent – nicht nur in der Schule: geschult, um Kindern oder auch Das sei zentral gewesen, meint Dörr. Nachdem die älteren Geschwister älteren Menschen vorzulesen. Das »Denn viele unserer jungen Men- bereits ausgezogen waren, muss- macht sie mutiger und sprachsi- schen hatten ansonsten monatelang te sie sich als älteste Tochter im cherer. so gut wie keine Kontakte mehr.« SHEILA Ω Haushalt häufig um die Belange (r.) besucht Elke Dörr der Eltern und der jüngeren Ge- In unendlich vielen Beratungsge- Ω Name geändert vom JMD nur noch schwister kümmern. »Das erleben sprächen holte Dörrs Team S heila sporadisch, denn die 21-jährige Studentin wir oft, dass die Kinder zugewan- immer wieder dort ab, wo sie kommt inzwischen gut allein zurecht.
STADTMISSION NÜRNBERG Beratung /// Jahresrückblick 2020/21 18 – 19 Seit Dezember 2020 führt die AIDS-Beratung Mittelfranken selbst HIV-Tests durch. »NICHT-WISSEN IST DAS GRÖSSTE RISIKO« 10.000 bis 13.000 Menschen in Deutschland wissen nicht, dass sie HIV-positiv sind. Von ihnen geht das größte Risiko aus, das Virus weiterzu- geben. Weil die Corona-Pandemie zuletzt aber dazu geführt hat, dass sich weniger Menschen testen lassen, steuert die AIDS-Beratung Mittelfranken seit 2020 mit einem eigenen Testangebot gegen. »Einer der Hauptgründe, warum der HIV-Beratungsstellen erheb- »Eine HIV-Infektion muss kein Menschen 2020 bei uns anriefen, lich beschränkt werden. Sexarbeit medizinisches Drama mehr sein, war die Suche nach einer HIV-Test- verschwand komplett im illegalen sofern sie früh erkannt und behan- möglichkeit«, bilanziert Sarah Arm- Dunkelfeld. delt wird«, sagt die Psychologin brecht, Leiterin der AIDS-Beratung Armbrecht. Denn wer entsprechend Mittelfranken. Die Gründe dafür »Alle Aufmerksamkeit war auf CO- medikamentös behandelt wird, hat liegen auf der Hand: Der Zugang VID-19 gerichtet. Wir befürchten ei- nicht nur eine weitgehend normale zu medizinischen und psychoso- nen Anstieg von HIV-Neuinfektionen Lebenserwartung, sondern kann zialen Angeboten war im Jahr der Pandemie für potentielle HIV-Risiko gruppen schwerer geworden. im Schatten von Corona«. Sarah Armbrecht und ihre Kollegen*innen begannen deshalb am Welt-AIDS- das HI-Virus nicht mehr ü bertragen. »Allerdings wissen nur etwa 10 Pro- zent der Bevölkerung in Deutsch- »Keiner bleibt Denn Corona hatte das öffentliche Gesundheitssystem vollends in Be- schlag genommen: Gesundheits- Tag 2020 damit, selbst HIV-Antigen- Tests in ihrer Beratungsstelle anzu- bieten. Erst seit dem Frühjahr 2020 land von dieser Tatsache.« So ist die Mission der AIDS-Beratung Mittel franken klar: »Wir machen diese bei uns mit dem ämter konnten monatelang kaum mehr HIV-Testungen durchführen, Menschen mieden Arztpraxen, dürfen diese in Deutschland nämlich ohne ärztliche Aufsicht durchgeführt werden. »Keiner bleibt bei uns mit Fakten bekannt, damit weniger Vor- urteile auf positiv getesteten Men- schen lasten.« Und wer keine Angst Testergebnis und sofern sie nicht akut Behandlung brauchten. Gleichzeitig mussten offene Sprechstunden und zahl- dem Testergebnis und seinen Fol- gen alleine«, meint Armbrecht und ergänzt: »Die Leute erleben uns als vor Stigmatisierung haben müsse, sei eher bereit, Tests und professio- nelle Unterstützung in Anspruch zu seinen Folgen reiche Präventionsveranstaltungen Experten, mit denen man offen und unbefangen reden kann über Sexu- alität. Das ist anders als beispielwei- nehmen. alleine.« se in Arztpraxen.« Mit jedem Test in SARAH ARMBRECHT der AIDS-Beratung Mittelfranken, Einrichtungsleiterin der AIDS-Beratung Mittelfranken erhalten Menschen immer auch eine psychosoziale Beratung. © Stephan Minx
STADTMISSION NÜRNBERG Beratung /// Jahresrückblick 2020/21 20 – 21 »Das sind all die tollen Ehrenamtlichen, NOTRUF die das wuppen.« FÜR DIE SEELE BIRGIT DIER Leiterin der TelefonSeelsorge Geschätzt 876 000 Krisengespräche führten die Ehrenamt- lichen der ersten bayerischen TelefonSeelsorge Nürnberg in den letzten 60 Jahren. Das Jubiläumsjahr 2021 bricht dabei alle Anrufrekorde der letzten Jahrzehnte. Verzweifelte »Lebensmüde«, die neben ihrem Beruf noch eine andere Seit Beginn der Pandemie ist die nicht wissen wohin. Leute, d enen sinnstiftende Aufgabe suchen. Die Zahl der eingehenden Anrufe der Tod näher scheint, als ein gucken alle unterschiedlich aufs Le- um 25 Prozent gestiegen. Die Mensch zum Reden. Für sie wurde ben, auch auf Probleme.« Kein Tele- TelefonSeelsorge hat dabei auch die erste deutsche TelefonSeelsorge fongespräch laufe also nach Skript, Beratungsstellen oder Selbsthil- vor 65 Jahren in Berlin gegründet. sondern lebe von den Eigenheiten fegruppen kompensiert, die lange Auch die erste bayerische Stelle, und Stärken der Gesprächspart- allenfalls eingeschränkt arbeiten die 1961 von der Stadtmission ner*innen auf beiden Seiten der konnten. Noch mehr Menschen Nürnberg ins Leben gerufen wurde, Leitung. »Kein Ehrenamtlicher muss kämpften jetzt mit der Einsamkeit, sorgte sich vor allem um suizidge- Angst haben, das er etwas Falsches sagt Dier. Dazu kämen Jobängste, fährdete Menschen. Durchschnitt- sagt, den Anrufer womöglich noch Beziehungskonflikte oder Sorgen lich sechs Anrufe pro Tag gingen in tiefer in die Krise stürzt. Reden hilft um Kinder, weil der Druck zuhause diesen Anfangsjahren bei der Nürn- fast immer.« ständig steige. Die Ehrenamtliche berger Telefonseelsorge ein. Heute Heike R. meint aber auch, dass sind es etwa 40 täglich aus einem Das bestätigt auch Heike R. Die »die Hemmschwelle für einen Anruf Einzugsgebiet mit einer Million Men- 47-Jährige gehört seit 2018 zum bei der TelefonSeelsorge« gesun- schen. 90 ehrenamtlich Engagierte Nürnberger TelefonSeelsorge-Team. ken sei. »Die Menschen nehmen besetzen die Nürnberger Kummer- Drei bis vier Telefonschichten über- sich nicht mehr selbst als traurigen Hotline, die 24 Stunden an 365 nimmt sie im Monat – überdurch- Einzelfall war. Es sind ja alle in einer Tagen im Jahr offen ist. Die langjäh- schnittlich viele. Heike hatte gezielt Krise. Man liest jeden Tag davon.« rigste Mitarbeiterin nimmt bereits nach einer Aufgabe gesucht, mit der Sie freut sich, dass deshalb mehr seit 39 Jahren Anrufe entgegen. sie anderen Menschen in Krisensitu- Menschen den Mut haben, sich Hilfe ationen helfen kann. »Ich war selbst zu holen. »Gäbe es uns nicht seit 60 Der große Schatz der ehrenamt- vor nicht allzu langer Zeit durch Jahren – spätestens nach Corona, lichen Laien am Telefon sei ihre eine Krise durch und hatte da so wäre die TelefonSeelsorge erfunden © Stadtmission Nürnberg/Stephan Grumbach Vielfalt, meint die Pfarrerin und viel Hilfe, von Psychotherapeuten, worden«, schmunzelt auch Birgit Einrichtungsleiterin Birgit Dier. »Wir aber auch anderen. Ich wollte das Dier und ergänzt: »Ich bin einfach haben Studierende, Psychologen in weitergeben.« Bei ihrem ersten begeistert, dass es immer noch so Rente oder alleinstehende Frauen, Seelsorge-Gespräch habe sie funktioniert. Das sind all die tollen die Karriere gemacht haben und gezittert vor Aufregung. Inzwischen Ehrenamtlichen, die das wuppen.« ist ihre Sicherheit gewachsen. »Das Anonyme schafft Vertrauen bei den Anrufern. Und ich beurteile nicht, PFARRERIN ich begleite ein Stück. Ich bekomme BIRGIT DIER da ganz viel zurück.« leitet seit 2011 die Nürnberger Telefon- Seelsorge, hinter der 90 ehrenamtliche Mitarbeitende stehen.
STADTMISSION NÜRNBERG Straffälligenhilfe /// Jahresrückblick 2020/21 22 – 23 »Täterhilfe ist »DIE WENIGSTEN Opferschutz.« TÄTER SIND FELIX TER-NEDDEN Psychologe SCHLÄGERTYPEN« Corona hat die Gewalt in deutschen Haushalten nachweislich befeuert. Kurz vorm zweiten Lockdown starteten Stadtmission Nürnberg und Treffpunkt e. V. im Herbst 2020 mit der ersten mittel- fränkischen Fachstelle für Täter*innen häuslicher Gewalt. Stephan Weilheim Ω war einer der ersten, der sich bei ihr meldete. Seine jüngste Tat war gerade zwei erschrocken. Und man merkte: Er Voraussetzungen für die Teilnehmer Tage her, als Stephan Weilheim Ω steht an einem Tiefpunkt s eines gab es dennoch: Die Täter mussten von der neuen Stelle für Täter*innen Lebens«, erzählt Ter-Nedden. ernsthaft bereit sein, Verantwortung häuslicher Gewalt in der Zeitung Auch wenn Stephan Weilheim kein für ihr Handeln zu übernehmen und las. »Das könnte es sein«, dachte Klischee erfüllt, einige bekannte Tä- an sich zu arbeiten. Wie, erklärt sich der 48-Jährige und nahm ter-Muster kennzeichnen auch ihn: Felix Ter-Nedden: »Wo und wann Kontakt zu Susanne Scharch und »Nur in der Familie – dieses Prinzip spüre ich meine Wut, meinen stei- Felix Ter-Nedden auf. »Da war sofort ist oft für die sozial angepassten genden Stresspegel? Wie kann ich spürbar, der Mann hat ein extrem Täter typisch. Außerhalb ihrer Fa- eskalierende Situationen unterbre- hohes Stresslevel, da ist Angst, da milien sind das unauffällige, meist chen? Was macht meine Gewalt mit ist Ohnmacht«, erzählt der Psy- beruflich etablierte Persönlich- meinem Opfer und nicht zuletzt mit chologe Felix Ter-Nedden von der keiten.« Zur Gewalt würden sie unter meinen Kindern?« Fragen wie diesen ersten Begegnung mit dem Fami anderem greifen, weil es ihnen nicht stellte sich auch Stephan Weilheim. lienvater. gelinge, Konflikte zu deeskalieren Und er begann sein eigenes, über- oder verbal auszuhandeln, die eige- zogenes Männlichkeitsbild zu hin- Stephan Weilheim erfüllt nicht das nen Emotionen zu regulieren und: terfragen, erzählt Ter-Nedden. »Weil Stereotyp des prügelnden, stetig eigene Verletzungen anzusprechen er sich immer auch um seinen Sohn aggressiven Mannes: Zwar zieht statt anzustauen, erklärt Sozialpä- und seine Vaterrolle sorgte«. Nach sich die Gewalt als Mittel und dagogin Susanne Scharch. acht Monaten Training, sagt Susan- Thema durch sein Leben – nur ne Scharch, habe Weilheim »seinen selten aber kommt sie mit Fäusten Im Oktober 2020 startete das Duo starren Blick lockern können«. Er sei © Stadtmission Nürnberg/Stephan Grumbach zum Ausdruck. Stattdessen: Psy- von Stadtmission und Treffpunkt kommunikativer geworden und be- chische und verbale Gewalt, soziale e. V. mit dem ersten Trainingspro- käme inzwischen schnell mit, wenn Kontrolle und Einengung der Part- gramm für Männer, die im häus- sein Erregungslevel steige. »Jetzt nerin. Über Banalitäten – seien es lichen Kontext gewalttätig geworden geht er immer direkt raus zum Rau- Schmutzränder auf der Couch oder sind. Bemerkenswert dabei: Bisher chen.« Auch die erste »Bewährungs- ein verloren gegangener Einkaufs- meldeten sich dafür ausschließlich frist« für seine Beziehung habe er beleg – eskalieren regelmäßig die Väter – aus eigenem Antrieb. Der geschafft. Für Stephan Weilheim ist Das Trainingspro- Konflikte zuhause. Weilheim schreit, Intensivkurs, zu dem 25 Grup- damit ein großer Anfang gemacht. gramm RESPEKT droht, schubst. Oder er schweigt pensitzungen und ergänzende beinhaltet 25 Grup- eisern. Und dann doch irgendwann Einzelgespräche zählen, ist neu in Ω Name geändert pensitzungen und ergänzende Einzel- und einmalig: Schläge ins Gesicht Mittelfranken und, anders als viele gespräche für alle der Partnerin. »Er war aufgewühlt, Antiaggressionstrainings, kostenlos. Teilnehmenden.
STADTMISSION NÜRNBERG Pflege und Seniorenarbeit /// Jahresrückblick 2020/21 24 – 25 WILHELM MEYER, ehemaliger Schwimm- meister, trainiert regel- mäßig mindestens eine halbe Stunde im neuen Fitnessareal des Hephata. »VOLLES PRO- GRAMM« – GEHT AUCH MIT 78 Im Hephata Pflegezentrum haben Spender*innen mehr als 30.000 Euro für eine barrierefreie Fitnessanlage im hauseigenen Garten zusammengetragen. Dort können die Bewohner*innen jetzt selbstständig Sport machen, wann immer ihnen danach ist. Sich fit halten, das eigene Körper- Oterendorp, die den Sozialdienst und Selbstbewusstsein stärken – im Hephata leitet. Nicht nur Seni- Bewegung tut in vielerlei Hinsicht oren*innen, auch Enkel und Ange- gut. Das gilt natürlich auch für hörige können hier wuseln. Und pflegebedürftige Menschen. Kegel- wer selbst nicht trainieren möchte, und Gymnastikstunden oder lange nimmt in den anliegenden Sitzecken Spaziergänge gehören deshalb im am bunten Treiben teil. Einrich- Hephata schon lange zum Pro- tungsleiter Andrew Scheffel nennt gramm. Was bis zuletzt aber fehlte, das alles einen »echten Gewinn war ein spezielles Trainingsangebot an Lebensqualität« für viele, nicht an der frischen Luft, das alle – auch zuletzt, weil »immer mehr Men- Rollstuhlfahrer*innen – jederzeit schen einer jüngeren Generation allein nutzen können. Seit Sommer im Haus wohnen, für die Sport das 2020 ist das anders: Im Außenge- ganze Leben lang wichtig war.« lände des Hauses wurde ein neuer Heike Doß (56) gehört zu dieser Bewegungspark angelegt, der aus- Generation. Bevor sie durch eine schließlich aus Spenden finanziert Gehirnblutung pflegebedürftig wurde. Wilhelm Meyer ist seither wurde, war der Sport ihr wichtigstes regelmäßig hier. Er mache »das Hobby. »Ich habe regelmäßig im volle Programm, mindestens eine Fitnessstudio trainiert und bin bei halbe Stunde«, so der 78-Jährige. Marathons mitgelaufen.« Andrew Lächelnd sitzt er auf einem Dreh- hocker und dehnt behutsam seine Flanke. »Bei mir pfeift’s in jeder Rip- Scheffel sieht aber auch, dass die Fitnessgeräte unter freiem Himmel besonders Männer mobilisieren, die »Die Anlage ist auch ein kleiner neuer © Stadtmission Nürnberg/Stephan Grumbach pe, deshalb benutz’ ich das«. Sport sich von anderen Gruppenangebo- war immer wichtig im Leben des ten im Haus weniger angesprochen ehemaligen Schwimmmeisters, bis fühlten. Letztlich sei auch der neue ihm eine Chlorgasvergiftung diese Passion zunichtemachte. Bewegungspark aus Überzeugung entstanden: »Im Hephata sollen die Menschen aktives Leben, Kultur und Dorfplatz für unser »Die Anlage ist auch ein kleiner neuer Dorfplatz für unser Haus geworden«, freut sich Insa van Gemeinschaft erleben. Viele blühen bei uns im hohen Alter nochmal auf.« Haus geworden.« INSA VAN OTERENDORP Leiterin des Sozialdienstes im Hephata Pflegezentrum
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