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9 l 2015 SCHWEIZER GEMEINDE COMUNE SVIZZERO VISCHNANCA SVIZRA COMMUNE SUISSE Zeitschrift für Gemeinden und Gemeindepersonal | Revue pour Communes et leur personnel Rivista per Comuni e i loro impiegati | Revista per Vischnancas e ses persunal Schwerpunkt Klimaerwärmung Pontresina: Pionierin im Umgang mit dem Permafrost APEA: attention aux chiffres Schweizerischer Gemeindeverband | Association des Communes Suisses | Associazione dei Comuni Svizzeri | Associaziun da las Vischnancas Svizras
INHALT I CONTENU I CONTENUTO 5 Editorial Flexibilität ist gefragt 10 7 Schweizerischer Gemeindeverband Kinder der Fruchtfolgeflächen kein Teil mehr von RPG2 Landstrasse Vier Fragen und Antworten zur 9 Persönlich Archiveinsicht. Gemeindepräsident Christian von Känels Sorgenkind «Glacier de la plaine Morte» 10 Soziales «Wir sollten uns getrauen, genauer hinzuschauen» 14 Finanzen Mehrwertsteuer – wie der Bund sich bei den Gemeinden bedient 16 Umwelt Schwerpunkt Klimawandel: 16 «Auf vergangene Ereignisse reagieren ist Schwerpunkt nicht effizient», im Gespräch mit Reto Knutti, Klimawandel Klimaforscher an der ETH, Zürich Hochwasser im Frühling, Hitze im 23 Aménagement du territoire Sommer. Wie der Penser aux dangers naturels Klimawandel in den Gemeinden wirkt. 26 Ambiente «Reagire a eventi passati non è efficace» 30 Associazione dei Comuni Svizzeri L’avvicendamento delle colture fuori dalla LPT2 31 Umwelt Zielkonflikte am Alpenrhein 45 34 Gemeindeporträt APEA En Suisse Pontresina: Pionierin im Umgang mit alémanique, le Permafrost débat dans les médias est hostile. 42 Energie Sans connais- Die Berggebiete ringen um die Wasserkraft sance des chiffres. 45 Social APEA: attention aux chiffres 50 Association des Communes Suisses Les surfaces d’assolement ne font plus partie de la LAT2 58 Mosaik Titelbild Wohlen b. Bern bringt Kriegsflüchtlinge Schneenetze im Permafrost oberhalb von Pontresina. oberirdisch und dezentral unter Bild: Marcia Phillips/SLF Schweizerischer Gemeindeverband @CH_Gemeinden SCHWEIZER GEMEINDE 9 l 2015 3
EDITORIAL Flexibilität La flexibilité est Occorre ist gefragt de mise flessibilità Im Zusammenhang mit dem Stopp der Dans le contexte de l’arrêt de la révi- Parallelamente all’arresto della revi- RPG2-Revision (siehe Seite 7) wurden sion de la LAT 2 (voir page 50), les tra- sione della LPT2 (v. pag. 30), anche i auch die Arbeiten zum Kulturland- vaux sur la protection des terres agri- lavori inerenti alla protezione dei ter- schutz, Sachplan Fruchtfolgeflächen, coles, plan sectoriel des surfaces reni coltivi, piano settoriale per l’avvi- neu aufgegleist. Es ist begrüssenswert, d’assolement, ont repris. Il est positif cendamento delle colture, sono stati dass eine Expertengruppe eine Ausle- qu’un groupe d’experts élabore un état rimessi sui binari. È rallegrante che geordnung zum Thema Fruchtfolgeflä- des lieux à ce propos. Des systèmes de un’analisi del tema dell’avvicenda- chen erarbeiten wird. Geografische In- géodonnées et des cartes des sols mento delle colture venga elaborata da formationssysteme und flächen- couvrant tout le territoire permettent un gruppo di esperti. I sistemi di infor- deckende Bodenkarten erlauben heute aujourd’hui une évaluation meilleure mazione geografica e delle carte capil- eine bessere und sachgerechtere Be- et plus correcte. lari del territorio consentono oggi una urteilung. La surface minimale et l’utilisation des valutazione migliore e più oggettiva. Der Mindestumfang und die Beanspru- surfaces d’assolement mettent les L’estensione minima e la rivendica- chung von Fruchtfolgeflächen stellen communes devant de grands défis, car zione di superfici per l’avvicendamento die Gemeinden vor grosse Herausfor- beaucoup d’entre elles sont con- delle colture (SAC) pongono i comuni derungen. Denn viele sind bei Zonen cernées par des extensions de zones. di fronte a grandi sfide: molti di essi erweiterungen davon betroffen. Ein Une utilisation souple des surfaces cono infatti toccati da ampliamenti flexibler Umgang mit d’assolement s’impose delle zone. Dal punto di vista comu- Fruchtfolgeflächen ist du point de vue commu- nale, un approccio più flessibile alle aus kommunaler Sicht nal. C’est pourquoi l’ACS SAC è imprescindibile. L’ACS si è per- zwingend. Der SGV hat s’est déclarée contre une ciò dichiarata contraria a una rigida sich deshalb gegen einen protection rigide des ter- protezione dei terreni idonei all’agricol- starren Schutz des acker- res agricoles. L’instru- tura. Lo strumento cautelativo risale fähigen Kulturlandes ment de protection date agli anni della guerra, quando si trat- ausgesprochen. Das des années de guerre, tava di garantire la sicurezza alimen- Schutzinstrument lorsqu’il s’agissait d’as- tare: una sua estensione non farebbe stammt aus den Kriegs- surer la sécurité alimen- che limitare inutilmente la capacità di jahren, als es darum taire. Si la protection est manovra di cantoni e comuni (soprat- ging, die Ernährungs- étendue, la capacité d’ac- tutto di campagna). Per contro, una sicherheit zu gewährleis- tion des cantons et des compensazione forzata dovrebbe es- ten. Wird der Schutz aus- communes (surtout rura- sere possibile in caso di perdita di geweitet, würde die les) serait limitée sans né- SAC, quando l’estensione minima – Handlungsfähigkeit von Kantonen und cessité. Par contre, une obligation de stabilita dal Consiglio federale – non (vor allem ländlichen) Gemeinden compensation lors de la perte de surfa- dovesse essere raggiunta. ohne Not eingeschränkt. Hingegen soll ces d’assolement doit être possible Dei preziosi terreni coltivi bisogna ein Kompensationszwang beim Verlust quand la surface minimale est inféri- avere cura. Tuttavia, questo non deve von Fruchtfolgeflächen möglich sein, eure à celle fixée par le Conseil fédéral. far sì che un piano settoriale per l’avvi- wenn der Mindestumfang – vom Bun- Il faut certes protéger les précieuses cendamento delle colture eccessiva- desrat festgelegt – unterschritten wird. terres arables. Cependant, ceci ne doit mente rigido, con una interpretazione Dem wertvollen Gut Kulturland ist pas mener à ce qu’une interprétation altrettanto severa, pregiudichi gli svi- Sorge zu tragen. Allerdings darf dies trop stricte du plan sectoriel des surfa- luppi ulteriori. Altrimenti, come nel nicht dazu führen, dass eine allzu ces d’assolement empêche un dé- caso dei boschi, si avrebbe una situa- starre Sachplanung Fruchtfolgeflächen veloppement. Sinon, il y aura, comme zione in cui un ragionevole amplia- mit entsprechender strenger Ausle- pour les forêts, une situation dans la- mento delle zone in considerazione dei gung eine Weiterentwicklung verhin- quelle une extension de zone raison- beni più diversi risulterebbe pratica- dert. Sonst besteht wie beim Wald eine nable tenant compte des biens les plus mente impossibile. Piuttosto si do- Situation, in der eine vernünftige Zo- divers ne sera plus guère possible. vrebbe dar spazio alla possibilità di nenerweiterung unter Abwägung ver- Bien au contraire, il faut créer la possi- convertire superfici non idonee in SAC schiedenster Güter kaum mehr mög- bilité d’appliquer les mesures d’amé- mediante interventi di miglioramento lich ist. Vielmehr soll die Möglichkeit lioration des sols des surfaces d’asso- del terreno. Ciò che occorre sono fles- geschaffen werden, Nichtfruchtfolgeflä- lement à celles qui ne sont pas pré- sibilità e spazio di manovra, non un’in- chen mit Bodenverbesserungsmass- vues pour l’assolement. La flexibilité et terpretazione rigida e burocratica. nahmen der Fruchtfolgefläche zuzufüh- la marge de manœuvre sont de mise, ren. Flexibilität und Spielraum sind et non une interprétation rigide et gefragt und nicht eine starre, bürokrati- bureaucratique. sche Auslegung. Beat Tinner Vorstandsmitglied/Membre du comité/ Membro del comitato SCHWEIZER GEMEINDE 9 l 2015 5
Publireportage Einheitliche Standards im Zahlungsverkehr Der ISO-20022-Standard löst nationale Zahlungs- instrumente ab und macht den Zahlungsverkehr ein- facher und effizienter für alle – auch für Gemeinden. Die internationale Norm für den elektronischen Datenaustausch in der Finanzbranche (ISO 20022) schafft nationale Zahlungs- instrumente ab und vereinfacht die globale Zusammenarbeit. «PostFinance engagiert sich seit Beginn der Harmonisierung Die Vorhaben der Finanzbranche Avisierungsformate, denn je nach für eine Verringerung der Format- In einem ersten Schritt werden bis Bedürfnis könne es beispiels- vielfalt und der Standards auf Ende 2017 die Überweisungen, weise sinnvoll sein, die Lastschrift- dem Finanzmarkt Schweiz», sagt Avisierungen und Lastschriften auf avisierung statt im PDF-Format Roland Garo, Marktmanager die ISO-Formate umgestellt. neu im ISO-Format zu erhalten, da- bei der PostFinance AG. Die An- Ab Mitte 2018 bis 2020 werden mit die Software den Status der gleichung an europäische die heutigen roten und orangen Zahlungen aktualisieren kann. Standards bringe zwar einen Einzahlungsscheine durch einen Initialisierungsaufwand mit neuen Einzahlungsschein er- Unterstützung durch PostFinance sich, mache den Zahlungsverkehr setzt. Dieser eignet sich für sämt- PostFinance begleitet Sie auf der letztlich aber einfacher und liche Zahlungsarten, ermöglicht Reise zum harmonisierten Zah- effizienter für alle, nicht zuletzt eine durchgängige Verwendung lungsverkehr und stellt Ihnen unter auch für öffentlich-rechtliche der IBAN – auch für ESR-Zah- postfinance.ch/harmonisierung-zv Körperschaften. lungen – und enthält einen QR- umfangreiches Informationsmaterial Code anstelle einer Codierzeile. und eine Testplattform zur Ver- Die Vorteile von ISO 20022 fügung. Bei Fragen kontaktieren Sie Für Garo liegen die Vorteile des Die Umstellung jetzt planen Ihren Kundenberater oder Ihre ISO-20022-Standards auf der Gemeinden sollten jetzt aktiv Kundenberaterin. Sie stehen Ihnen Hand. «Dank Kontonummern im werden. «Es ist an der Zeit, gerne mit Rat und Tat zur Seite. IBAN-Format, standardisierten den Softwarepartner zu kontak- Meldungen für die Abwicklung tieren und mit ihm zusammen und Avisierung, einheitlichen das Vorgehen und den Zeitplan Validierungen und Fehlermeldungen, für die Umstellung auf die einer Belegreduktion und ISO-20022-Formate festzulegen», einem erhöhten Automatisierungs- sagt Garo. Je nachdem, welche grad aufgrund durchgängiger Bereiche im Zahlungsprozess be- PostFinance AG Beratung und Verkauf Referenzen spricht die Finanzwirt- troffen sind und ob mit einer Geschäftskunden schaft künftig ein und dieselbe Standardsoftware oder einer in- Telefon +41 848 848 848 Sprache.» Ausserdem würden die dividuellen Lösung gearbeitet postfinance.ch/ harmonisierung-zv Laufzeit für Transaktionen ver- wird, könne die Anpassung einfacher kürzt sowie die Kosten für Zahlun- oder aufwändiger sein. Gleich- gen innerhalb des europäischen zeitig lohne sich auch eine Über- Zahlungsraums reduziert. prüfung der derzeit genutzten 6 SCHWEIZER GEMEINDE 9 l 2015
SCHWEIZERISCHER GEMEINDEVERBAND Fruchtfolgeflächen sind nicht mehr Teil von RPG2 Das Bundesamt für Raumentwicklung koppelt das Thema Fruchtfolgeflächen von der zweiten Etappe des revidierten Raumplanungsgesetzes ab. Stattdessen wird der Sachplan Fruchtfolgeflächen überarbeitet. Im Mai dieses Jahres stoppte der Bund – Keine klaren Kriterien tobahn bei Wartau (SG) gerügt und ver- auf Druck der Kantone, des Schweizeri- Gemäss Lukas Bühlmann, Direktor der langt, dass Alternativstandorte, die keine schen Gemeindeverbandes (SGV) und der Schweizerischen Vereinigung für Lan- FFF beanspruchen, geprüft werden. pb Wirtschaft – die zweite Etappe des revi- desplanung (VLP-Aspan), werden die dierten Raumplanungsgesetzes (RPG2). FFF in den Kantonen zurzeit unterschied- Informationen: Ende Juni informierte das Bundesamt lich stark geschützt. Das liegt auch daran, www.tinyurl.com/Brief-are für Raumentwicklung (ARE) die Kantone dass die Grundlagen auf Bundesebene dann in einem Brief, dass «im Interesse «zu wenig sorgfältig» erarbeitet worden Waldschutz lockern? der Planungssicherheit» während der seien. «Als der Sachplan erlassen wurde, Umsetzung von RPG1 in den kantonalen gab es keine klaren Kriterien, was als Richtplänen keine neuen Regelungen in Fruchtfolgefläche gilt. Jeder Kanton Den Wald in die Raumplanung integ- Kraft treten sollen. schied die Fruchtfolgeflächen nach eige- rieren und entsprechend den strikten «Wir begrüssen die Verlangsamung der nem Gutdünken aus», sagt Bühlmann. Waldschutz lockern: Das fordert der Revision», sagt SGV-Direktor Reto Lin- Das ist eine schlechte Ausgangslage für Ökonom Daniel Müller-Jentsch von degger. «Denn die Gemeinden sind mo- einen guten Vollzug. Trotzdem wird laut der Denkfabrik Avenir Suisse in ei- mentan schon genug mit ARE dem Vollzug des heute nem Essay, der in der Schweizeri- der Umsetzung von RPG1 «Es braucht geltenden Sachplans eine schen Zeitschrift für Forstwesen er- beschäftigt – darauf haben «hohe Bedeutung» zukom- schienen ist. Der Problemdruck und wir immer wieder hingewie- eine men, «damit dem Kultur- der allgemeine Unmut über Zersiede- sen.» Bei der Siedlungsent- Kooperation landschutz während der lung, exzessiven Zweitwohnungsbau wicklung nach innen, dem von Bund, Überarbeitung des Sachpla- und verschandelte Ortsbilder hätten Kernstück von RPG1, prallen nes FFF genügend Rech- im Jahr 2013 «erfreulicherweise» zur unterschiedliche Interessen Kantonen und nung getragen werden Revision des Raumplanungsgesetzes aufeinander, und die Pro- Gemeinden.» kann». Das ARE weist in die- geführt, schreibt Müller-Jentsch. Der zesse müssen sorgfältig ge- sem Zusammenhang auf raumplanerischen Interessenabwä- plant werden. Zudem gibt es immer die Vollzugshilfe aus dem Jahr 2006 hin, gung entzogen bleibe jedoch der noch Unklarheiten beim Vollzug. «Bund wo sich «wesentliche Hinweise zur Um- Wald − 31 Prozent der Landesfläche −, und Kantone sollen die Gemeinden des- setzung des Sachplans» finden. Und das weil er absoluten Schutz geniesse. halb unterstützen», fordert Lindegger, Bundesamt erinnert an die seit dem «Nahezu einen Drittel der Schweizer «es braucht eine enge Zusammenarbeit 1. Mai 2014 geltende Bestimmung in Ar- Landesfläche von dieser Interessenab- aller drei Staatsebenen.» tikel 30 Absatz 1 der Raumplanungsver- wägung auszunehmen, schafft eine ordnung. Demgemäss dürfen Fruchtfol- Unwucht im raumplanerischen Ge- Neuer Sachplan Fruchtfolgeflächen geflächen nur eingezont werden, wenn füge und ist nicht mehr zeitgemäss», In seinem Brief an die Kantone schreibt «ein auch aus der Sicht des Kantons so Müller-Jentsch. Es brauche eine das ARE weiter, dass die Themen Kultur- wichtiges Ziel ohne die Beanspruchung griffige und umfassende Raumpla- landschutz und Fruchtfolgeflächen (FFF) von Fruchtfolgeflächen nicht sinnvoll er- nung «ohne Tabuzonen». Die Überle- nicht mehr Gegenstand des RPG2 sein reicht werden kann» und «sichergestellt gungen von Müller-Jentsch erachtet werden. Stattdessen soll zusammen mit wird, dass die beanspruchten Flächen Lukas Bühlmann, Direktor der Schwei- den Kantonen der Sachplan FFF überar- nach dem Stand der Erkenntnisse opti- zerischen Vereinigung für Landespla- beitet werden. Eine Expertengruppe mal genutzt werden». nung, grundsätzlich als «prüfenswert». wird dazu die Ausgangslage aufarbeiten Ein flexiblerer Waldschutz sei jedoch und die Stossrichtung für den neuen Bundesgericht rügt Astra nur dann denkbar, wenn er mit einem Sachplan FFF vorgeben. «Ob Anpassun- Das Thema FFF ist komplex. Die VLP-As- stärken Schutz des Kulturlandes ein- gen von Gesetzen und Verordnungen pan schreibt im Julinewsletter, dass hergehe. Zudem sei der Zeitpunkt (insbesondere RPG und RPV) erforder- auch der Bund bei seinen Infrastruktur- nicht passend. Bühlmann: «Bevor der lich sein werden und wie die Umsetzung vorhaben die FFF nicht immer ausrei- Wald in die Raumplanung integriert des überarbeiteten Sachplans in den chend in der Interessenabwägung be- wird, müssen die Potenziale der Ver- Kantonen aussehen wird, kann zum heu- rücksichtige, und verweist auf ein dichtung nach innen ausgeschöpft tigen Zeitpunkt nicht gesagt werden», Bundesgerichtsurteil von 2012 (Urteil werden.» pb schreibt das ARE. Fest steht jedoch, dass BGer 1C_94/2012). Das Bundesgericht mit der Verabschiedung des neuen Sach- hat das Bundesamt für Strassen im Fall Informationen: plans FFF durch den Bundesrat nicht vor einer Vergrösserung einer Strassenab- www.tinyurl.com/essay-mueller 2018 zu rechnen ist. wasser-Behandlungsanlage an der Au- SCHWEIZER GEMEINDE 9 l 2015 7
PERSÖNLICH «Ein kribbeliges Gefühl» Der Lenker Landwirt und Gemeindepräsident Christian von Känel (55) will sich nicht «Klimaexperte» nennen. Und doch beschäftigt er sich seit vier Jahren intensiv mit den Gefahren zunehmender Eisschmelze der «Plaine Morte». « Neben meiner rund 40-prozentigen Tätigkeit als Gemeindepräsident und Präsident des Gemeinderats bin ich seit zwei Jahren Mitglied des Grossen Rats vom Kanton Bern. Daneben widme ich mich der Landwirtschaft. Schon mein Urgrossvater war Bauer. Heute betreibe ich eine Generationengemeinschaft mit meinem Neffen. Mein Bruder arbeitet auch mit, dank seiner Hilfe kann ich mich vor allem der Politik zuwenden. Aber an Wochenenden steht oft der Bauernhof im Vordergrund – bei schönem Wetter gibt es immer was zu tun. Das Klima spielt in einer tourismusori- entierten Region eine grosse Rolle. Im Sommer beschäftigt uns die Gletscher- schmelze. Natürlich mache ich mir Sor- gen. Denn es wird immer mehr Wasser geben, das wir in unseren Bergtälern Christian von Känel beim Gletschersee auf der Plaine Morte. Bild: zvg bewältigen müssen. Vor vier, fünf Jahren hiess es noch, der Glacier de la Plaine viel Wasser kommt. Die brisante Zeit ist gefährlich werden, müssten wir an den Morte bestehe noch hundert Jahre. Ende Juli, Anfang August. Dieses Jahr kritischen Punkten sofort die Menschen Heute spricht man von 60 Jahren – die hat sich der See etwas früher entleert, informieren, Wanderwege oder Strassen Klimaerwärmung. Konkret wurde es erst weil es natürlich ein viel wärmerer Som- sperren. Dann würde unser sechsköpfi- vor vier Jahren. Damals realisierten wir, mer war. Speziell ist, dass wir zwar über- ges Kernteam ausrücken, und zusätzlich dass der Favergessee, mit 2,2 Milliarden wachen, aber niemals voraussagen kön- würde die Feuerwehr aufgeboten. Ich Liter Wasser der grösste von drei Glet- nen, was kommt. Das Wasser sucht sich persönlich gehöre nicht zum Kernteam, scherseen oberhalb der Lenk, nicht mehr unterirdisch einen Weg. Irgendwo frisst werde aber über alle Handlungen genau normal ausläuft. Plötzlich flossen viel es sich einen Kanal aus, wo der jeweils informiert und funktioniere als Koordi- grössere Wassermengen ins Tal und in ist, wissen wir nicht. Mal ist der Prozess nator. die Simme als früher. Aus Sicherheits- nach zwei Tagen vorbei, heuer dauerte Für uns ist der Gletscher ein wichtiger gründen haben wir begonnen, ein Über- es acht Tage. Letztes Jahr kamen maxi- Wasserversorger. Im Winter haben wir wachungssystem aufzubauen. Wir über- mal rund 30 Kubik pro Sekunde, dieses auch wegen des Schnees immer genü- wachen drei Seen: den Favergessee, den Jahr nur die Hälfte. gend Schmelzwasser. Mit Wasserknapp- Vatseret- und den Strubelsee – obwohl heit werden wir uns also noch nicht so uns die beiden kleineren Seen eigentlich Wann kommt der See? bald beschäftigen müssen. Wir hoffen keine Sorgen machen. Die Seen sind Immerhin können wir dank der Überwa- natürlich nach wie vor auf gute, schnee- ganz natürlich am Rande des Gletschers chung auf die jeweilige Situation re- reiche Winter, weil diese für unseren durch die Abschmelzung entstanden. Es agieren. Wir hatten noch nie grössere Tourismus sehr wichtig sind. Aber selbst bildet sich eine Art Schüssel, wo das Schäden, auch Menschen waren nie in für schlechte Winter sind wir gerüstet. Wasser aufgefangen wird und durch Ka- Gefahr – da hatten wir bisher wirklich Dank den Schneekanonen können wir näle abfliesst. Die Kanäle frieren im Win- Glück. Solange es keine starken Gewitter jede Situation gut überbrücken. ter zu, so sammelt sich das Wasser. in der prekären Zeit gibt, ist die Lage nicht Der Tourismus ist ein enorm wichtiger so dramatisch. Bis jetzt konnten wir das Bereich für uns. Wir müssen ihn unbe- Die neuen Technologien nützen immer problemlos bewältigen. Ich gebe dingt fördern – auch wegen der Zweit- Heute haben wir Webcams oben am zu, dass mir die Ungewissheit manchmal wohnungsinitiative, weil das Bauge- Berg, die Bilder sehe ich auf einem Bild- den Schlaf raubt. Die Frage ist: Wann werbe weniger Arbeit haben wird. Beim schirm in der Gemeindeverwaltung, und kommt er? Es ist beunruhigend: Wir se- Sommertourismus haben wir Hand- ich kann mich auf sie verlassen. Und Son- hen, der See ist voll. Aber wir wissen lungsbedarf. Wir wollen die Besucher den messen die Pegel der Seen. Wenn es nicht, wann er ausläuft. vor allem zum Wandern einladen. Die zu plötzlichen Wasserstandsänderungen Wir arbeiten mit Klimaexperten und Sicherheit in den Wandergebieten ist ein « kommt, wird ein Alarm ausgelöst, und Wissenschaftlern zusammen. Weil die- wichtiger Punkt. Und wir setzen alles da- wir können die nötigen Massnahmen sen Sommer alles so gemässigt lief, se- ran, sie weiter zu gewährleisten. ergreifen. Eine weitere Messstelle haben hen wir zurzeit keinen Bedarf, weitere wir am Trübbach installiert, sie zeigt, wie Massnahmen zu ergreifen. Sollte es mal Cécile Klotzbach SCHWEIZER GEMEINDE 9 l 2015 9
SOZIALES «Wir sollten uns getrauen, genau hinzuschauen» Die Schweiz hat begonnen, die Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen aufzuarbeiten. Auch die Gemeinden können zur Wiedergutmachung beitragen. Vier Fragen und Antworten. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wur- den in der Schweiz Kinder und Jugend- liche aus wirtschaftlichen oder morali- schen Gründen fremdplatziert. Sie ka- men als Verdingkinder zu Privaten, meist Bauernfamilien, oder in Heime. An ihren Pflegeplätzen mussten sie hart arbeiten, viele von ihnen erlitten massive physi- sche, psychische und sexuelle Gewalt. Jugendliche und Erwachsene konnten bis 1981 von Verwaltungsbehörden zur «Nacherziehung» in Strafanstalten ein- gewiesen – «administrativ versorgt» – werden, auf unbestimmte Zeit, ohne Rekursmöglichkeit. Bis in die 1970er- Jahre kam es auch zu Zwangssterilisati- onen, und bestimmten Müttern wurden die Neugeborenen weggenommen und zur Adoption freigegeben (Zwangsadop- tionen). Nach Jahren des Schweigens erzählen immer mehr Betroffene von ihren Schicksalen, doch die systemati- sche wissenschaftliche Aufarbeitung die- ser rigiden Kapitel schweizerischer Sozi- alpolitik steht erst am Anfang. Welche Rolle spielten die Gemeindebehörden? Die Historikerin Loretta Seglias beschäf- tigt sich seit Längerem mit der Thematik. Sie sagt, die Gemeindebehörden hätten eine wichtige Rolle gespielt, weil sie in vielen Fällen gleichzeitig Armen- und spä- ter auch Vormundschaftsbehörden gewe- «Menschen auf der Suche nach Antworten»: Verdingmädchen im Bild: Walter Studer sen seien, teils in Personalunion: «Bei Emmental, 1954. den Fremdplatzierungen waren die Ge- meindebehörden für den Entscheid, für die Finanzierung und – wo es sie gab – teilweise auch für die Kontrolle zustän- dig.» Bis in die 1970er-Jahre waren dabei immer wieder wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend für eine Fremdplatzie- rung. Die Gemeinden hätten die betrof- «Wir stellen uns einer für fenen Familien entlasten, sie aber auch disziplinieren wollen, weiss die Histori- die Betroffenen äusserst kerin. Die Kinder sollten das Arbeiten schmerzhaften Thematik.» lernen, um nicht armengenössig zu blei- ben. Die Gemeinde bezahlte für sie teil- weise Kostgeld, achtete aber darauf, die Kosten tief zu halten. Zwar kam es im 20. Jahrhundert kaum mehr zu den be- rüchtigten Mindersteigerungen, bei de- nen die Behörden die Verdingkinder auf 10 SCHWEIZER GEMEINDE 9 l 2015
SOZIALES dem Dorfplatz jenen zuteilten, die am rischen Gemeindeverbandes (SGV) und Begründungen «im Graubereich», sagt wenigsten für sie verlangten. «Doch es selber auch Historiker. Er findet es aller- die Historikerin. Für die Sterilisationen finden sich auch fürs 20. Jahrhundert dings schwierig, sich als Nachgeborener habe es nur im Kanton Waadt eine ge- noch Einträge, aus denen hervorgeht, ein generelles Urteil über das damalige setzliche Grundlage gegeben. Überall dass die Gemeinde die Kinder lieber an Behördenhandeln zu erlauben. Dieses sonst hätte es – wie auch bei den Adop- einem kostengünstigen Ort beliess, an- müsse immer auch aus der Zeit heraus tionen – das Einverständnis der Betrof- statt sie an einen teureren Platz zu ge- verstanden werden, «ohne damit began- fenen gebraucht, «doch wir wissen ben, an dem sie es besser gehabt hät- genes Unrecht rechtfertigen zu wollen». heute, dass es diese Unterschrift in man- ten», sagt Seglias. Kontrollen der Pflege- Gemäss Historikerin Loretta Seglias er- chen Fällen nicht gab oder dass sie unter und Kostgeldplätze durch die Behörden klärt «bis zu einem gewissen Grad» der Druck zustande kam». habe es nicht überall gegeben, und damalige Zeitgeist das Handeln der Ge- Die Gemeinden hätten im Spannungs- wenn, seien sie stark personenabhängig meindebehörden. Viele verfügte Mass- feld zwischen Fürsorge und Zwang gewesen. Laut Seglias gab es engagierte nahmen hätten darauf abgezielt, bürger- agiert. Sie seien zu Recht eingeschritten, Amtspersonen, aber auch überlastete. liche Werte durchzusetzen. Was mora- wenn es in Familien Probleme wegen Im Kanton Bern seien Armen- und lisch tragbar war, sei viel enger definiert Gewalt oder Alkoholismus gegeben Pflegekinderinspektoren für bis zu 300 gewesen als heute. So nahmen Vor- habe, doch dann fehlte es nicht selten an Kinder zuständig gewesen, dies im Ne- mundschaftsbehörden ledigen Müttern den Mitteln für gute Pflegeplätze. Oft benamt. Erst ab der Mitte des 20. Jahr- und angeblich verwahrlosten Familien hätten die Gemeinden selber mit mas- hunderts führten die Kantone und Ge- die Kinder weg, auch wenn sie nicht ar- siven wirtschaftlichen Problemen zu meinden allmählich systematische Kon- mengenössig waren. «Da gab es einen kämpfen gehabt, einzelne Gemeinden trollen im Pflegekinder- und Heimwesen relativ breiten gesellschaftlichen Kon- seien deswegen sogar von den Kanto- ein. sens über die Parteigrenzen hinweg», nen bevormundet worden, sagt die His- sagt Seglias. Die Fremdplatzierungen torikerin. Trotzdem könne man die Ver- Ist es legitim, vergangenes Handeln und die administrativen Versorgungen – gangenheit nicht mit dem Argument aus heutiger Sicht zu beurteilen? wegen «Arbeitsscheu» oder «Liederlich- abtun, es seien halt andere Zeiten gewe- «Wir stellen uns der für die Betroffenen keit» – hätten auf gesetzlichen Grundla- sen, findet Seglias. Zum einen habe es äusserst schmerzhaften Thematik», sagt gen basiert. Doch bei den Fremdplatzie- schon früh Kritik am Verding- und Heim- Reto Lindegger, Direktor des Schweize- rungen fänden sich in den Quellen oft kinderwesen und an den administrati- Knabe aus dem Erziehungsheim Sonnenberg Kriens (LU), 1944. Bild: Paul Senn, FFV, Kunstmuseum Bern, Dep. GKS, @GKS SCHWEIZER GEMEINDE 9 l 2015 11
SOZIALES ven Versorgungen gegeben. Zu den massnahmen und Fremdplatzierungen Betroffene haben das Recht, Akten und zeitgenössischen Kritikern gehörten «in erster Linie in den Verantwortungs- Protokolle einzusehen, in denen es um beispielsweise der Schriftsteller und bereich der Kantone und Gemeinden» sie geht. Das unterstreicht Beat Gnädin- Journalist Carl Albert Loosli, der Schrift- gefallen. Gefordert sei vor allem der ger, Präsident der Schweizerischen Ar- steller und Pfarrer Jeremias Gotthelf und Bund, sagt Guido Fluri, Hauptinitiant der chivdirektorenkonferenz und Staatsar- die Kinderärztin Marie Meierhofer. Zum Wiedergutmachungsinitiative. Auch er chivar des Kantons Zürich. Die auf den anderen könne es für die Gesellschaft spricht höchstens von freiwilligen Beiträ- Akten liegenden Schutzfristen gälten für und damit auch für die Gemeinden loh- gen der Gemeinden, dies «im Wissen die Betroffenen selber nicht. Um ihnen nend sein, «wenn man sich getraut, ge- um deren knappe finanzielle Ressour- Akteneinsicht zu gewähren, brauche es nau hinzuschauen und zu erkennen, wo cen». Fluri sieht dennoch eine «histori- keinen speziellen Beschluss durch den es Mängel gab». Wenn heutige Behörden sche Verantwortung» der Gemeinden, Gemeinderat oder andere Gremien, sagt ihr Handeln mit dem Bewusstsein für die «an vorderster Stelle für die Wiedergut- Gnädinger. Er empfiehlt sorgfältiges Vor- damaligen Geschehnisse reflektierten, machung einzustehen». Er erwartet von gehen. Dazu gehöre, die Gesuchsteller wirke sich dies möglicherweise positiv den Gemeinden, dass sie sich im politi- oder allfällige Bevollmächtigte einwand- auf die heutige Praxis aus, so die Histo- schen Prozess klar für eine Wiedergut- frei als Betroffene zu identifizieren und rikerin. machungslösung aussprechen: «Das ist Persönlichkeitsrechte Dritter zu schüt- das Mindeste!» National- und Ständerat zen. Wenn in den Unterlagen eines von Was können die Gemeinden zur werden sich voraussichtlich 2016 mit der Gemeinde betriebenen Waisenhau- Wiedergutmachung beitragen? dem Geschäft befassen. ses auch Namen von anderen Kindern Der SGV nimmt an den Sitzungen des Eine zentrale Rolle wird den Gemeinden erwähnt seien, gelte es, diese abzude- runden Tischs teil, der 2014 ein Mass- bei der Aufarbeitung der Schicksale zu- cken – auch wenn in der Praxis die Heim- nahmenpaket zur Aufarbeitung der für- gesprochen, vor allem beim Zugang der kinder ja voneinander wussten, wie Gnä- sorgerischen Zwangs- dinger anfügt. Weniger massnahmen verab- schützenswert seien schiedet hat (vgl. SG hingegen die Namen Nr. 4/2014). Dazu ge- von Personen in Funk- hören auch finanzielle tionen, also Heimleiter Leistungen für die Op- oder Heimpersonal. fer – nicht im Sinne Als Faustregel gilt, einer Entschädigung, dass die relevanten Ak- sondern als Solidari- ten meist bei den Ge- tätsbeitrag und gesell- meinden oder bei den schaftliche Anerken- Institutionen liegen, nung erlittenen Un- die für den Vollzug zu- rechts. Um den Soli- ständig waren, wie daritätsfonds wird der- etwa Heime oder An- zeit politisch gerungen. stalten. Auf kantonaler Auf dem Tisch liegt die Stufe sind zusätzlich Volksinitiative des Zu- manchmal Unterlagen ger Unternehmers Gui- aufgrund von Rekur- do Fluri, die 500 Millio- sen oder Aufsichts- nen Franken für ehe- funktionen vorhanden. malige Verding- und Anfrage des Zentralsekretariats Pro Juventute an das Quelle: Bundesarchiv Zum Dschungel wird Heimkinder sowie an- Polizeikommando des Kantons Argau, 1938. das Ganze, weil die Ak- dere Opfergruppen ver- ten zuweilen an meh- langt. Der indirekte Ge- reren Orten lagern. genvorschlag, den der Bundesrat in die Betroffenen zu den Akten. Es sei «aus «Fremdplatzierungen bedeuteten eben Vernehmlassung geschickt hat, sieht serordentlich wichtig», dass sich die Ge- auch Weiterreichungen – von der Bau- Beiträge von 300 Millionen Franken an meinden da «nicht abwehrend, sondern ernfamilie ins Heim, von Heim zu Heim, 12 000 bis 15 000 Opfer vor, finanziert kooperativ» zeigten, sagt der Delegierte von Ort zu Ort, von Behörde zu Behörde», durch den Bund und freiwillige Zuwen- des Bundesrats, Luzius Mader. Für Initi- sagt Roland Gerber, Leiter des Berner dungen der Kantone. Welche Haltung ant Guido Fluri geht es darum, die Men- Stadtarchivs, in dem gegen 30000 Fall- der SGV zum Gegenvorschlag des Bun- schen zu unterstützen, die «auf der Su- dossiers aus der Zeit zwischen 1920 und desrats einnimmt, war bis zum Redakti- che nach Antworten sind». Auch SGV-Di- 1960 aufbewahrt werden. So gelte es oft, onsschluss dieser Ausgabe noch nicht rektor Reto Lindegger sieht hier den Mosaiksteine aus verschiedenen Dos- entschieden. Entscheidend für die Ge- wichtigsten Beitrag der Gemeinden: siers zusammenzutragen. Die Archivare meinden ist, dass weder der Bundesrat «Wir empfehlen unbedingt, dieTüren für raten den Gemeinden, sich beim Eintref- noch die Initianten sie zu Zahlungen ver- die Betroffenen offen zu halten und ih- fen eines Gesuchs an das Staatsarchiv pflichten wollen. Freiwillige Beiträge von nen nicht Steine in den Weg zu legen.» des Kantons zu wenden, das den Über- Städten und Gemeinden, wie es sie auch blick habe. Auch bei den Datenschützern bei der bereits laufenden Soforthilfe ge- erhalten Gemeinden Auskünfte zum kor- geben hat, seien aber «sehr willkom- Wie gehen die Gemeinden mit rekten Vorgehen. Die Originalakten dür- men», sagt Luzius Mader, stellvertreten- Gesuchen um Akteneinsicht um? fen den Betroffenen weder mit nach der Direktor des Bundesamts für Justiz Ehemalige Verding- und Heimkinder, ad- Hause gegeben werden, noch sollten die und Delegierter des Bundesrates in die- ministrativ Versorgte und andere von Gesuchsteller aufgefordert werden, auf ser Sache. Schliesslich seien die Zwangs- fürsorgerischen Zwangsmassnahmen eigene Faust im Gemeindearchiv zu su- 12 SCHWEIZER GEMEINDE 9 l 2015
SOZIALES chen. Das sei «grobfahrlässig», sagt müssen.» Nach der Akteneinsicht höre chiven anbieten, sagt Gnädinger. Das Gnädinger, weil die Gemeinde damit in er von vielen Betroffenen, dass sie jetzt Zürcher Staatsarchiv führt im Herbst Kauf nehme, Interesse von Dritten zu abschliessen könnten, sagt der Zürcher Schulungen für Gemeindevertreter im verletzen. Staatsarchivar Beat Gnädinger. Die Ar- Kanton durch. Es lohne sich für die Ge- Zur Einsicht in die Akten vereinbarte die chivdirektorenkonferenz rät den Ge- meinden, im Umgang mit den Opfern Gemeinde am besten einen Termin mit meinden, den Betroffenen Gratiskopien fürsorgerischer Zwangsmassnahmen dem Gesuchsteller und stehe der wichtigsten Dokumente die nötige Zeit zu investieren, sagt Gnä- ihm beim Sichten der Akten auszuhändigen, auch wenn es dinger: «Das ist auch ein Zeichen der Wenn es zur Seite. So handhabt es nicht überall ausdrückliche ge- Wertschätzung.» auch das Berner Stadtarchiv, Probleme setzliche Grundlagen dafür das immer mehr Einsichtsge- gab, wurde gebe. Zudem können die Be- Susanne Wenger suche erhält. Die Begleitung zu Recht troffenen einen Bestreitungs- erlaube es, die Menschen auf vermerk anbringen, wenn sie die «damals recht unzimper eingegriffen. mit Darstellungen der Behör- liche» Behördensprache vor- den in den Akten nicht einver- zubereiten, sagt Gerber. In Einzelfällen standen sind. Der Vermerk wird dem übergibt das Stadtarchiv die Aktenein- Dossier beigelegt. sicht der Kindes- und Erwachsenen- Bei den Gemeinden habe ein Bewusst- schutzbehörde (Kesb), weil die psycho- seinswandel stattgefunden, anerkennt logisch geschulten Profis emotionale der oberste Archivar der Schweiz. Reaktionen auffangen können. Für Ger- Heute hätten die meisten «sehr viel gu- ber ist es eindrücklich, zu sehen, wie die ten Willen», den Einsichtsgesuchen zu Menschen nach Jahren der Ungewiss- entsprechen. Auch vorsätzliche Akten- heit endlich mehr Klarheit über die Um- vernichtung habe er «nie beobachtet», stände in ihrer Kindheit und Jugend er- sagt Gnädinger. Wenn Akten geschred- Informationen: langten: «Die Forderung nach Geld steht dert worden seien, dann meist «aus www.tinyurl.com/fuersorg-zwang meist nicht im Vordergrund, es geht ih- falsch verstandenem Datenschutzbe- www.tinyurl.com/fachstellen nen um das Wissen, was vorgefallen ist, wusstsein». Bevor Gemeinden Akten www. tinyurl.com/ZDF-Kinder und darum, sich nicht mehr schämen zu vernichteten, müssten sie sie den Ar- www. tinyurl.com/Bundesarchiv-Heimatlose Anzeige SCHWEIZER GEMEINDE 9 l 2015 13
FINANZEN Die Katze beisst sich in den eigenen Schwanz Die Mehrwertsteuer (MWST) für die Gemeinden ist ein Unding. Auch aus Sicht der Wissenschaft ergibt es wenig Sinn, dass der Bund den Gemeinden finanzielle Mittel entzieht und zusätzlich noch erhebliche administrative Kosten aufbürdet. Mystisch Okkultes und nüchterne Steu- stetig steigt: «Immer wieder müssen bei elle Mittel entzieht und zusätzlich auch ern, das erscheint als Widerspruch par Gesetzesänderungen die Auswirkungen noch hohe Kosten für die Administration excellence. Und doch, die schweizeri- auf die städtische Rechnungslegung über- aufbürdet.» Die Rechnung für die Stadt schen Gemeinden plagt exakt eine sol- prüft werden. Und finden die Luzern gehe hinten und vorne che Steuer, es ist die «Taxe occulte», die Revisoren der Eidgenössischen «Für den nicht auf. «Wir bezahlen via bei der MWST anfällt. Die Taxe occulte, Steuerverwaltung (ESTV) ver- Bau eines MWST alles in allem mehr auch Schattensteuer genannt, entsteht meintliche Fehler heraus, so Schulhauses Mittel in die Bundeskasse ein, vor allem bei Umsätzen, die von der kommt es regelmässig zu als wir von Bern erhalten», MWST ausgenommen sind, aber auch Nachforderungen, die aus un- ist die stellt Roth nüchtern fest. Die bei nicht unternehmerischen Tätigkei- serer Sicht nicht gerechtfertigt MWST zu letzten MWST-Revisionen hät- ten. Da bei diesen Umsätzen die Vor- sind und denen wir deshalb bezahlen.» ten die Probleme zudem nicht steuer (siehe Kasten) nicht abgezogen mit Einsprachen begegnen gemildert, sondern eher noch werden kann, entsteht auf den Vorleis- müssen», erklärt Stefan Roth, Stadtprä- verschärft. tungen, die für die Erbringung dieser sident von Luzern. Weil Änderungen die- Für die Gemeinwesen ist deshalb klar: Umsätze nötig sind, die erwähnte Schat- ser Steuer oft sehr komplex seien, müs- Die Taxe occulte muss verschwinden. tensteuer. Die MWST ist für den Bund sten auch immer wieder externe Experten Sie fordern deshalb die Einführung einer aktuell die ergiebigste Finanzierungs- beigezogen werden, mit hohen Kostenfol- voraussetzungslosen Rückerstattung der quelle. Sie ist eigentlich eine Konsum- gen. Roth moniert zudem grundlegende, Vorsteuern. So könnten auch die massi- steuer, die den privaten Endverbrauch systematische Widersinnigkeiten: «Aus ven Steuerausfälle kompensiert werden, belasten soll – nicht aber die produzie- unserer Sicht ergibt es keinen Sinn, dass die durch die anstehende Unterneh- rende Wirtschaft. Deshalb können Unter- die oberste Staatsebene der untersten menssteuerreform III bei Kantonen, Städ- nehmen bei den Einkäufen immer einen Staatsebene über diese Abgabe finanzi- ten und Gemeinden anfielen. Vorsteuerabzug geltend machen und die Der Luzerner Stadtpräsident begrüsst bei ihren Ausgaben anfallenden MWST diesen Vorschlag ohne Wenn und Aber: zurückfordern oder abziehen. «Es ist schlicht nicht einzusehen, wieso Genau dies ist für die Gemeinden aber Worum geht es? die Gemeinwesen für die Erfüllung ihrer nicht möglich, da sie ihre Leistungen ja hoheitlichen Aufgaben, zum Beispiel grösstenteils nicht am Markt, sondern Die MWST ist eine Konsumsteuer, beim Bau eines Schulhauses, auch noch MWST-frei im Rahmen ihrer öffentlichen die indirekt erhoben wird. Es han- MWST-Kosten zu berappen haben.» Dies Aufgaben anbieten. Sie werden deshalb delt sich um eine Netto-Allphasen- stelle einen nicht nachvollziehbaren voll von der Taxe occulte erfasst und steuer mit Vorsteuerabzug. Wer et- Transfer von Steuergeldern von Städten müssen diese mit eigenen, meist direk- was konsumiert, soll Steuern und Gemeinden zum Bund dar. Irr: Heute ten Steuern oder über Gebühren finan- bezahlen. Es wäre aber zu kompli- könne es sogar vorkommen, dass die zieren. Und dies nicht zu knapp. Nach ziert, wenn jeder Einzelne abrechnen Stadt Luzern vom Kanton einen Beitrag Schätzungen des Städteverbands ent- müsste, so wird die Steuer bei den an ein Projekt erhalte und sogar auf spricht ein MWST-Prozent rund 210 Mil- Unternehmen erhoben. Besteuert diese Kostenbeteiligung MWST bezah- lionen Franken Taxe occulte für Kantone, werden Leistungen, die im Inland len müsse. Städte und Gemeinden. Insgesamt wer- gegen Entgelt erbracht werden und den allein die Gemeinden mit rund einer für die das Gesetz keine Ausnahme Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist halben Milliarde Franken belastet. Kein vorsieht. Wer steuerpflichtig ist und Die Forderung der Gemeinden ist be- Wunder also, empfinden sie diese Schat- eine Leistung eines anderen Unter- rechtigt, das Kind darf aber nicht mit tensteuer als Bürde. Dies umso mehr, als nehmens für seine eigene unterneh- dem Bade ausgeschüttet werden: «Eine weitere Erhöhungen der MWST abseh- merische Tätigkeit verwendet, soll vollständige Befreiung der Städte und bar sind, etwa für die IV-Zusatzfinanzie- nicht besteuert werden. Deshalb Gemeinden von der MWST wäre ebenso rung, für die AHV und wahrscheinlich darf er die von seinem Leistungser- falsch wie der heutige Zustand», sagt der auch für den Ausbau der Bahninfrastruk- bringer verrechnete MWST (die sog. Steuerexperte Diego Clavadetscher, In- tur. Vorsteuer) abziehen. Der Abzug wird haber der Langenthaler Steueradvoka- verweigert respektive reduziert bei tur Clavatax. «Solange Gemeinwesen Steigender administrativer Aufwand nicht unternehmerischen Tätigkei- der MWST unterworfene Leistungen an Doch es sind nicht nur finanzielle Gründe, ten, von der Steuer ausgenomme- Private erbringen, muss dies logischer- welche die Gemeinden nerven. Als nen Tätigkeiten und beim Empfang weise auch mit MWST erfolgen.» Dies ebenso störend empfinden sie den admi- von Subventionen. fg geschehe beispielsweise, wenn die nistrativen Aufwand, der bei der MWST Städte über ihre Stadtwerke Strom und 14 SCHWEIZER GEMEINDE 9 l 2015
Anzeige Wasser verkauften. Würde da keine MWST eingezogen, so würde dies dem Ziel, den privaten Konsum fiskalisch zu erfassen, zuwiderlaufen. Bei einer gene- rellen Befreiung käme es sodann zu Wettbewerbsverzerrungen, die von der Wirtschaft zu Recht nicht akzeptiert wür- den. Logischer Schluss: Überall dort, wo Dienststellen von Gemeinwesen im MWST-Bereich tätig sind, muss weiter- hin das MWST-Recht gelten. Die MWST stellt nach Clavadetscher in diesem Be- reich auch keine echte Belastung für die Gemeinwesen dar, weil sie ja auf die Abnehmer überwälzt werden kann. Gemeinden finanzieren den Bund Hingegen hält der Langenthaler Steuer- experte die MWST-Belastung bei den nicht steuerpflichtigen Gemeinwesen ebenfalls für sachwidrig. Sie führe dazu, dass Gemeinden und Kantone dem Bund MWST abzuliefern hätten, die sie aus ihren eigenen Steuereinnahmen finanzieren müssten. Somit finde eine Verschiebung von Steuersubstrat, das den Kantonen und Gemeinden zustehe, zum Bund statt. «Dies geschieht insbe- sondere, wenn ureigene, staatshoheitli- che Leistungen erbracht werden, etwa, wenn ein Schulhaus gebaut wird», be- tont Clavadetscher. Abhilfe liesse sich relativ einfach schaffen: «Den nicht steu- erpflichtigen Gemeinwesen müsste ein Rückerstattungsrecht für die von ihnen bezahlte MWST zugestanden werden. Faktisch würde dies zu einem Vorsteuer- abzugsrecht der nicht steuerpflichtigen Gemeinwesen führen.» Der Luzerner Ökonomieprofessor Chris- toph A. Schaltegger unterstützt diese Forderung aus wissenschaftlicher Sicht: «Staatsaufgaben sind immer ebenenge- recht zuzuordnen und gleichzeitig auch die dafür notwendigen Steuerquellen.» Denn der Föderalismus mit weitgehend selbstverantwortlichen Kantonen und Gemeinden biete für unser Land auch heute noch viele Vorteile. Fredy Gilgen Informationen: www. tinyurl.com/MWST-SSV www. tinyurl.com/Tagung-MWST SCHWEIZER GEMEINDE 9 l 2015 15
UMWELT «Auf vergangene Ereignisse reagieren ist nicht effizient» Unwetter im Gasterntal im Oktober 2011. Extremereignisse lassen sich kaum vorhersagen. Bild: Bergasthaus Heimritz Dieser Sommer hatte es in sich. Das Wasser wurde in einigen Gemeinden knapp. Die Landwirte beklagen Ernteausfälle. Reto Knutti beschäftigt sich an der ETH Zürich mit dem Klima. Für ihn waren die Extreme keine Überraschung. Schweizer Gemeinde: Wir haben einen Auch das Frühjahr hatte es in sich. Es Man lernt mit Extremen umzugehen. sehr heissen Sommer hinter uns. Sind fehlten Zentimeter bis zu grösseren Gesamtschäden setzen sich zusammen Sie überrascht? Überschwemmungen. aus der Häufigkeit der Wetterextreme Reto Knutti: Nein. Von den 20 wärmsten Der Klimawandel beeinflusst nicht alle und dem Wert sowie der Verwundbarkeit Jahren in der Schweiz seit Messbeginn Wetterextreme. Bei Hagel und Windstür- der Infrastruktur im betroffenen Gebiet. 1864 sind 17 seit 1990 aufgetreten. Nicht men ist der Einfluss zum Beispiel unklar. Wir haben aus vergangenen Ereignissen jeder Sommer ist heiss, das Wetter wird Aber warme Luft kann mehr Wasser auf- viel gelernt. Heute sind die Wettervor- immer variabel sein. Aber langfristig ist nehmen, und darum sehen wir an den hersagen besser, Naturgefahren und der Erwärmungstrend weltweit und in meisten Orten einen Trend zu intensive- Hinweise zum Verhalten sind online und der Schweiz klar, und er ist eine Folge ren Starkniederschlägen. Das kann zu auf jedem Telefon verfügbar, und des menschgemachten Klimawandels. mehr Überschwemmungen und Schä- Alarmierungen sind schweizweit koordi- Der wärmste Juli in der Schweiz, der den führen, muss aber nicht. Es hängt niert. Mit frühen Warnungen, einer Re- wärmste Juni weltweit, voraussichtlich davon ab, wie nass der Boden vorher gulierung des Thunersees dank dem 2015 als wärmstes Jahr überhaupt, es war und wie lange das Ereignis andau- neuen Abflussstollen und mobilen Sper- passt alles ins Bild des Klimawandels. ert. ren im Mattequartier in Bern konnte man Jahresmittel der Temperaturen 1961–2014 1961 1962 1963 1964 16 SCHWEIZER GEMEINDE 9 l 2015
UMWELT 0.0 – 1.99 2 – 4.99 5 – 9.99 10 – 49.99 50 – 99.99 100 – 199.99 200 – 712 Teuerungsbereinigte Schadenssumme pro Gemeinde für die Jahre 1972 bis 2014 (in Mio. Franken) Karte: wsl im Mai eine Überschwemmung verhin- In einem stabilen Klima können vergan- mit der Meteoschweiz und anderen Bun- dern. Ein schönes Beispiel von geschick- gene Ereignisse eine gute Entschei- desämtern zusammen Szenarien für die ten Anpassungsmassnahmen. Und hier dungsgrundlage sein. Man baut nicht Schweiz, mit dem Ziel, dass Klimainfor- sind die Gemeinden gefragt. Für sinn- dort, wo früher Lawinen niedergingen mation zum heutigen und zukünftigen volle und kostengünstige Anpassungen oder wo es früher Hochwasser gab, oder Klima für Behörden, Gemeinden oder braucht es die Mitwirkung der Gemein- aber man baut zumindest mit Hochpar- Architekten bald so einfach zugänglich den, und zwar vor und nicht erst nach terre. Aber weil das Klima nicht mehr ist wie die Wetterprognose. Klimawan- dem Jahrhunderthochwasser oder Er- stabil ist, tritt ein Jahrhundertereignis an del ist wie das Wetter lokal extrem kom- drutsch. einigen Orten heute schon wesentlich plex, besonders in den Bergen, und wir häufiger auf als erwartet. Nur auf ver- stehen erst am Anfang. Aber das Ziel ist, Immer wichtiger wird die gangene Ereignisse reagieren ist teuer dass Klimainformationen bei der Raum- Schadenprävention. Dabei stützt und nicht effizient. planung oder bei Bauprojekten Teil des man sich auf Jahrhundertereignisse, Entscheidungsprozesses werden. sie sollten ein Mal in Hundert Jahren Gibt es einen besseren Ansatz, als von vorkommen. Jahrhunderthochwasser der Vergangenheit zu lernen? Bei der Abwägung von Risiken spielen gab es 1999, 2005 und dann 2007. Computermodelle für Wetter und Klima immer auch die Kosten von Schäden Ist das ein tauglicher Ansatz? werden immer besser. Wir entwickeln eine Rolle. Die Frage lautet, wie lange 1965 1966 1967 1968 © Meteoschweiz SCHWEIZER GEMEINDE 9 l 2015 17
UMWELT Was ist die Alternative? Es gibt zwei Möglichkeiten: Versichern oder aufgeben. Bei sehr seltenen Ereig- Reto Knutti nissen stehen die Kosten für Schutz- massnahmen in keinem Verhältnis zum ist seit 2007 Professor für Klima- Nutzen, und es ist billiger, diesen Fall zu physik am Institut für Atmosphäre versichern. Zum Beispiel hat nicht jedes und Klima der ETH Zürich. Er private Wohnhaus eine Sprinkleranlage, stammt aus Gstaad und arbeitete aber jedes ist gegen Elementarschaden vorher bei der Universität Bern und versichert. Aber Versicherungen funktio- dem National Center for Atmospheric nieren nur, wenn sie seltene Fälle abde- Research, Boulder, Colorado. cken. Wenn ein Haus immer wieder zer- stört wird, dann wird es die Versicherung nicht mehr versichern wollen. Das Risiko Wie muss man sich die Schweiz ist zu gross, und die anderen Versicher- vorstellen, wenn die Temperatur ten wollen nicht dafür bezahlen. global um zwei Grad steigt? In der Schweiz wären das dann vielleicht Der Schutz vor Naturgefahren stösst drei Grad. Das hat Auswirkungen auf die bei den Betroffenen auf Widerstand, Landwirtschaft, auf die Gesundheit, die zum Beispiel weil landwirtschaftlich Infrastruktur, auf den Wintertourismus nutzbares Land verloren geht oder weil und die Gletscher. Warme Sommer sind Reto Knutti. Bild: ETH Zürich Siedlungen in Risikogebieten liegen. zwar schön zum Baden, aber die Hitze- Können Sie das nachvollziehen? wellen dieses Jahrs haben auch viele es sich lohnt, in Schutzmassnahmen Natürlich. Das ist immer ein Abwägen Probleme verursacht, gerade in der zu investieren. von Kosten, Nutzen und Risiken. Aber Landwirtschaft. Das muss von Fall zu Fall entscheiden Raumplanung ist immer ein Kompro- werden. Der Schutz für Menschenleben miss von verschiedenen Interessen. Und Sind die zwei Grad erreichbar? lohnt sich immer. Aber bei den Infra- insbesondere muss man die individuel- Im Prinzip ja, in dem Sinne, dass es tech- strukturen kommt irgendwann vielleicht len Interessen gegen diejenigen der Ge- nologisch machbar und bezahlbar wäre. ein Punkt, ab dem es sich nicht mehr sellschaft als Ganzes abwägen. Aber im Moment sind die Anstrengun- lohnt. gen zum Klimaschutz weltweit und in Wie kann man in diesem Fall der Schweiz bei Weitem nicht ausrei- argumentieren? Oft heisst es chend, um das erklärte Ziel von zwei National Centre for von den Gegnern: Es ist bis jetzt Grad globaler Erwärmung einzuhalten. Climate Services noch nichts passiert. In der Schweiz müssten wir den CO2-Aus- Der Atmosphärenchemiker und Nobel- stoss bis 2050 um mindestens 80% re- Im Herbst 2015 nimmt das National preisträger Sherwood Row- duzieren. Es liegt an uns allen, Centre for Climate Services (NCCS) lands fragte einmal, was denn «Es kommt heute zu entscheiden, welche seinen Betrieb auf. Das NCCS ist ein der Wert von wissenschaftli- vielleicht ein Zukunft wir wollen. Aber es Zusammenschluss von Bundesäm- chen Vorhersagen sei, wenn geht nicht nur um uns: Was Punkt, ab tern und nationalen Forschungsinsti- wir am Schluss nur bereit sind, wir heute tun, hat Auswirkun- tutionen mit Geschäftsstelle beim abzuwarten, bis sie eintreffen. dem sich der gen auf Menschen auf ande- Bundesamt für Meteorologie und Kli- Dass noch nichts passiert ist, ist Schutz nicht ren Kontinenten und auf viele matologie MeteoSchweiz. Ziel des eine kurzsichtige Argumenta- mehr lohnt.» Generationen nach uns. Die NCCS ist die Koordination, die Ent- tion. Und sie ist heikel, wenn Verursacher sind nicht diejeni- wicklung und das Bereitstellen von der Steuerzahler oder die Versicherung gen, die am meisten darunter leiden. anwendungsorientierten Klimainfor- gerade stehen muss, wenn es schiefgeht. mationen und -daten zum heutigen Nicht überall sind Voraussagen und Risi- Interview: Peter Camenzind und zukünftigen Klima, sogenannten koabschätzungen präzise, aber dort, wo Klimadiensten. Klimadienste werden robuste Information verfügbar ist, dürfen Informationen: zum Beispiel die nächste Generation wir sie nicht ignorieren. In einer Gesell- www.ch2014-impacts.ch nationaler Klimaszenarien und Infor- schaft und Umwelt, die sich so schnell www.tinyurl.com/Naturgefahren mationen zum Wasserkreislauf und ändert, können wir uns nicht nur an der www.tinyurl.com/Klima-ETH seiner Entwicklung sein. Vergangenheit orientieren, sondern müs- www.tinyurl.com/Bewaeltigung sen vorausschauend planen. www.proclimweb.scnat.ch/ 1969 1970 1971 1972 18 SCHWEIZER GEMEINDE 9 l 2015
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