SICHERHEIT SCHWEIZ - Lagebericht 2014 des Nachrichtendienstes des Bundes

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SICHERHEIT SCHWEIZ

                              Lagebericht 2014
            des Nachrichtendienstes des Bundes
Sicherheit Schweiz
              2014
Inhaltsverzeichnis

Abwehr stärken                                                                        5

Der Lagebericht in Kürze                                                             6

Strategisches Umfeld im Wandel                                                       8

Schwerpunkt: Informationssicherheit nach der Affäre Snowden                          18

Dschihadistisch motivierter Gewaltextremismus und Terrorismus                        25

Ethno-nationalistisch motivierter Gewaltextremismus und Terrorismus                  39

Rechts-, Links- und Tierrechtextremismus                                             45

Proliferation                                                                        57

Verbotener Nachrichtendienst                                                         65

Angriffe auf Schweizer Informationsinfrastrukturen                                   73

Abkürzungsverzeichnis                                                                81

                                                                      L AG E BE R ICH T 2 0 1 4 | NDB   3
Abwehr stärken
Die Schweiz pflegt mit praktisch allen Staaten der Welt gute Beziehungen. Trotzdem hat uns das
vergangene Jahr die alte Erkenntnis bestätigt, dass Staaten letztlich nur Interessen kennen und kei-
ne Freunde. Vertrauen scheint zwar für gut befunden zu werden, Kontrolle aber als besser. Die
Snowden-Dokumente haben die Dimension der heutigen internationalen Überwachung und Spiona-
ge gezeigt. Alle international übertragene Kommunikation, die nicht besonders geschützt ist, wird
erfasst, gespeichert und ausgewertet. Wo es möglich ist, geschieht dies auch innerhalb von fremden
Staaten. Der Anspruch ist, jederzeit auf jede elektronisch gespeicherte oder übertragene Information
zugreifen zu können.
Diese Doktrin beschränkt sich nicht nur auf die USA. Im Gegenteil, die Enthüllungen über die Fähig-
keiten der NSA und ihrer Verbündeten werden den Ehrgeiz anderer Länder antreiben, es ihr gleich-
zutun oder sie noch zu übertreffen. Ich beurteile deshalb die Aussichten auf griffige internationale
Regelungen der Spionage, auch als No-Spy-Abkommen in der Diskussion, als klein. Kein Land wird
sich die Möglichkeit nehmen lassen, zur Wahrung wichtiger Interessen auch in die Interessen ande-
rer Länder einzugreifen. Man erinnere sich nur an die weiterhin deklarierte Bereitschaft, gestohlene
Bankdaten aufzukaufen, oder die permanenten Cyberattacken auf internationaler Ebene.
Selbstverständlich sind die Beziehungen zu anderen Ländern weiterhin zu pflegen und sektoriell
allen nutzbringende Abkommen zu schliessen. Die Schweiz muss sich aber gleichzeitig auch wapp-
nen und bereithalten, ihre Interessen zu wahren und zu verteidigen.
Dazu gehören zwei Massnahmen: Erstens der weiterhin offene internationale Dialog auf Augenhö-
he unter souveränen Staaten und zweitens die Stärkung der Abwehr gegen Bedrohungen der inneren
und äusseren Sicherheit und weiterer wesentlicher Landesinteressen.
Ein leistungsfähiger Nachrichtendienst, der politisch gesteuert und wirksam kontrolliert wird, ist für
die Abwehr ein unverzichtbares Element. In einem demokratischen Staat muss er die Bevölkerung
schützen und darf nur soweit in ihre Freiheitsrechte eingreifen, wie es für das frühzeitige Erkennen
und Bekämpfen von Bedrohungen absolut notwendig ist. Das war und ist die Richtlinie, die von
Anfang an für das neue Nachrichtendienstgesetz gegolten hat. Seine Massnahmen sollen weit gehen
                 können, aber nur in den wenigen Fällen, wo sie absolut unverzichtbar sind. Das ist
                   der entscheidende Unterschied zu ausländischen Nachrichtendiensten, die ihre
                      Kompetenzen zu äusserst breitflächigen Überwachungen einsetzen.
                         Stärken wir unsere Abwehr nicht, sind wir diesen Praktiken erst recht aus-
                           geliefert und sind auch kein ernstzunehmender Verhandlungspartner am
                            diplomatischen Tisch. Die Schweiz braucht deshalb das Nachrichten-
                             dienstgesetz als ein modernes, auf die heutige Lage ausgerichtetes Re-
                             gelwerk, das die richtige Balance aufweist.

                                Eidgenössisches Departement für Verteidigung,
                                Bevölkerungsschutz und Sport VBS

                                Ueli Maurer
                                Bundesrat

                                                                                      L AG E BE R ICH T 2 0 1 4 | NDB   5
Der Lagebericht in Kürze

               Wie sicher ist die Schweiz? Was sollte die Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz beunruhi-
             gen, von wem werden wir bedroht und wodurch gefährdet? Der Lageradar des NDB bietet für diese
             Fragen einen Überblick aus sicherheitspolitischer Sicht; er zeigt aus der Optik des NDB, was die
             Schweiz im Bereich Sicherheit derzeit hauptsächlich beschäftigt und welche Gefährdungen derzeit
             nur latent vorhanden sind.

             ▪▪ Langfristig gesehen und im Unterschied zu         unserem unmittelbaren Umfeld immer noch
                sehr vielen anderen Ländern befindet sich         mehrere Jahre des Krisenmanagements zur
                die Schweiz in einer sehr stabilen und ruhi-      Bewältigung der europäischen Schuldenkri-
                gen sicherheitspolitischen Situation. Trotz-      se und der Folgen des arabischen Frühlings
                dem stehen gleich zwei Themen des verbo-          ab. Russland konsolidiert sich politisch,
                tenen Nachrichtendiensts im Brennpunkt des        wirtschaftlich und militärisch und verstärkt
                Lageradars.                                       seine Einflussnahme besonders in Europa.
                                                                  Die Weiterverbreitung von Massenvernich-
             ▪▪ Weiterhin wird in der Schweiz verbotener
                                                                  tungswaffen und deren Trägersystemen ist
                Nachrichtendienst betrieben. Es ist dabei
                                                                  nach wie vor eines der grossen Problemfel-
                nicht neu, dass die Informationsabschöp-
                                                                  der unserer Zeit.
                fung immer häufiger über Informatikmit-
                tel stattfindet. In den Brennpunkt gerückt
                                                                ▪▪ Kaum verändert haben sich die Bedrohun-
                wurde die Informationssicherheit aufgrund
                                                                   gen in den Bereichen Terrorismus und Ex-
                der Erkenntnisse aus der Affäre um Ed-
                                                                   tremismus. Weiterhin ist die Schweiz kein
                ward Snowden. Namentlich durch die enge
                                                                   prioritäres Ziel dschihadistisch motivierter
                Zusammenarbeit der USA mit Schlüssel-
                                                                   Anschläge, doch sind Schweizer Bürgerin-
                technologiefirmen, die möglicherweise bis
                                                                   nen und Bürger namentlich in Konfliktzonen
                zur Korrumpierung der Produktesicherheit
                                                                   des islamischen Raums einem erhöhten Ent-
                reicht, erreichen die Möglichkeiten illegaler
                                                                   führungsrisiko ausgesetzt und können Opfer
                Informationsabschöpfung durch Nachrich-
                                                                   dschihadistischer Gewalt- oder Terrorakte
                tendienste eine neue Dimension. Dabei geht
                                                                   werden. Zugenommen hat die Anzahl der
                die Problematik über den verbotenen Nach-
                                                                   Dschihadreisenden aus Europa, insbeson-
                richtendienst hinaus, denn Daten können
                                                                   dere nach Syrien. Kehren Dschihadreisende
                nicht nur abgeschöpft, sondern auch verän-
                                                                   ideologisch indoktriniert und kampferprobt
                dert oder vernichtet werden.
                                                                   zurück, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit,
             ▪▪ Das strategische Umfeld der Schweiz ist zum        dass sie hier zum Beispiel Anschläge ver-
                einen geprägt vom Wandel des internationa-         üben oder als Vorbild für die Anwerbung
                len Systems, ausgelöst von der allmählichen        weiterer Dschihadisten dienen. Obwohl das
                Verschiebung der machtpolitischen Gewich-          Potenzial des Gewaltextremismus jeglicher
                te vom Westen in den asiatischen Osten und         Couleur weiterhin besteht, ist die Lage in der
                in den Süden. Zum andern zeichnen sich in          Schweiz derzeit entspannt.

6   L AGEBE R I C HT 2014 | N D B
ik    / Wir tschaf t / Militä
                                                                   Polit                                             r
                                                                               Latente Themen
                                                Konventioneller
                                                 Krieg in Europa

                                                                                Früherkennung

                                                                          Organisierte                Migrations-
                                                           Energie-       Kriminalität                  risiken
                                                         sicherheit                                                                                           Nukleare
                                                                                                                                                             Bedrohung
                                                                                                                     Druck auf
                                                                                Hauptthemen                         die Schweiz
                                                            Arabischer
              Finanzierung                                    Frühling
                                          Al-Qaida und
                                            regionale                                                                             Nordkorea
                                             Ableger
Terrorismus

                                                                                                                                                                                Pr o l i fe ra t i o n

                                                                   Dschihad-                                             Iran
                                                                    reisende
                                                                                     Brenn-
                                      Entführungen                                   punkte
                 LTTE                                                                                    Spionage gegen
                                            Hausgemachter       PKK              Wirtschafts-            sicherheitspolitische
                                              Terrorismus                           spionage             Interessen der Schweiz
                                  Einzeltäter                Links-
                                                          extremismus
                                                                                                                Überwachung aus-
                                                                                                            ländischer Staatsbürger
                                                 Rechts-                                 Cyber-                      in der Schweiz
                                               extremismus                               aktivismus
                                                                                                                                                                        nst
                                                                                                                                                                     die

                              Tierrecht-                                              Bedrohungen
                                                                               kritischer Infrastrukturen
                                                                                                                                                                   en

                             extremismus
                        Ex

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                                                                      ro h u n
                                                                                 gen i m Cy b ersp

                                                                                                                                                                 L AG E BE R ICH T 2 0 1 4 | NDB         7
STRATEGISCHES UMFELD IM WANDEL 

             Strategisches Umfeld im Wandel
                Das internationale System nähert sich dem                  – noch schwer absehbare Folgen für Mali und
             Ende des unipolaren Zeitalters, wie es seit                    den westlichen Sahel bis weit nach Osten ans
             dem Ende des Kalten Kriegs vorherrscht. Die                    Horn von Afrika – mit Auswirkungen auf die
             machtpolitischen Gewichte – gemessen an                        humanitäre Lage, Migrationsströme sowie die
             Faktoren wie Wirtschaftskraft, Bevölkerungs-                   Sicherheit von lokalen Bevölkerungen und in-
             zahl, Militärausgaben und Investitionen in neue                ternationalen Interessen. Darüber hinaus ist das
             Technologien – verlagern sich allmählich vom                   unmittelbare strategische Umfeld der Schweiz
             Westen in den asiatischen Osten und in den Sü-                 weiterhin geprägt von den politischen und wirt-
             den. Die USA und Europa werden einflussreich                   schaftlichen Folgen der Schuldenkrise in Euro-
             bleiben, aber möglicherweise den Zenit ihrer                   pa, der wachsenden Einflussnahme Russlands
             Macht überschreiten und mehr Platz einräumen                   auf dem europäischen Kontinent und den nach
             müssen für Mächte wie China, Indien oder Bra-                  wie vor schwer vorhersehbaren Entwicklungen
             silien, die bereits wichtige Akteure der Welt-                 im Nahen und Mittleren Osten in der Folge des
             wirtschaft darstellen (von der G-8 zur G-20).                  arabischen Frühlings.
             Damit werden die Entwicklungen in Asien und
             insbesondere jene der Konfliktlagen auf der                   Schuldenkrise: Noch viele Jahre des
             koreanischen Halbinsel, im Ost- und Südchine-                 Krisenmanagements notwendig
             sischen Meer und auf dem indischen Subkonti-                    In der europäischen Schuldenkrise sind erste
             nent aufgrund ihrer Bedeutung für die Stabilität              Schritte im Krisenmanagement gemacht, und
             der Weltwirtschaft auch an Bedeutung für die                  harte Strukturreformen besonders in den Län-
             Schweiz gewinnen. In Afrika hat die Destabili-                dern der Peripherie sind im Gange. Aber wei-
             sierung der Sahelzone – eine Konsequenz unter                 tere, politisch schwierige Massnahmen stehen
             anderem des Umbruchs in Libyen nach Qaddafi                   noch bevor und werden den grössten Teil des
                                                                           laufenden Jahrzehnts in Anspruch nehmen.
                                                                           Nachdem 2013 ein Hilfsprogramm für Zypern
                                                                           notwendig wurde, werden Portugal und Grie-
                                                                           chenland wahrscheinlich weitere Unterstützung
                                                                           benötigen. Irland versucht, ab 2014 wieder
                                                                           auf eigenen Beinen zu stehen. Darüber hinaus
                              Instrument Lageradar
                                                                           wird das europäische Bankensystem, dessen
                 Der NDB benützt für die Darstellung der für die Schweiz   Bilanzsumme immer noch dreimal grösser ist
                 relevanten Bedrohungen das Instrument Lageradar. In       als die jährliche Wirtschaftsleistung des Konti-
                 einer vereinfachten Version ohne vertrauliche Daten ist   nents, im Hinblick auf eine Stabilisierung der
                 der Lageradar auch Bestandteil des vorliegenden Be-       Finanzsysteme weiter schrumpfen sowie grosse
                 richts. Diese öffentliche Version führt die Bedrohungen
                 auf, die im Arbeitsgebiet des NDB liegen, ergänzt mit
                 den sicherheitspolitisch ebenfalls relevanten Punkten
                „Migrationsrisiken“ und „organisierte Kriminalität“. Auf
                 diese beiden Punkte wird im Bericht nicht eingegan-
                 gen, sondern auf die Berichterstattung der zuständi-
                 gen Bundesbehörden verwiesen.

8   L AGEBE R I C HT 2014 | N D B
STRATEGISCHES UMFELD IM WANDEL 

zusätzliche Abschreibungen und Rücklagen           paweit zu einem Legitimationsverlust der EU-
vornehmen müssen. Die Kreditvergabe wird da-       Institutionen und zu Gewinnen euroskeptischer
durch über Jahre eingeschränkt bleiben, was die    Parteien führen. Insgesamt könnte sich in einer
wirtschaftliche Erholung verzögern wird. Poli-     Phase, in der die EU-28-weite Integration stark
tische Krisen wie 2013 in Zypern, Griechen-        gebremst ist, die Entwicklung eines Europa mit
land, Portugal und Italien schlagen regelmässig    unterschiedlichen Geschwindigkeiten als ein
auf die Ebene der Eurozone durch. Fortan wird      Lösungsansatz erweisen. Weitere Integrations-
auch der angekündigte graduelle Ausstieg in        schritte sind zwar möglich, könnten sich aber
den USA aus der expansiven Geldpolitik im          inskünftig auf die Eurozone-18 oder eine noch
international stark vernetzten Finanzsystem Er-    kleinere Kernzone beschränken. So einigte sich
schütterungen bis nach Europa verursachen.         die Eurozone 2013 erstmals darauf, die nationa-
   Die Bewältigung dieser tiefgreifenden wirt-     len Haushalte vor der Genehmigung durch die
schaftlichen Krisenlage ist ein Testfall für die   nationalen Parlamente einer Prüfung in Brüssel
politische Ordnung Europas und damit für das       unterziehen zu lassen. Im selben Jahr bildete
unmittelbare Umfeld der Schweiz. Die europä-       sich auch eine Kerngruppe von elf Ländern
ische Einigung, wie wir sie seit dem Zweiten       (inklusive Deutschland, Frankreich, Spanien
Weltkrieg kennen, ist unvermittelt nicht mehr      und Italien) für die Einführung einer Finanz-
eine unveränderliche Gewissheit. Der politi-       transaktionssteuer. 2014 werden zusätzliche
sche Wille, die Errungenschaften der Integrati-    umfangreiche Kompetenzen zur Überwachung
on zu verteidigen, gewinnt bisher zwar immer       des Bankensystems in der Eurozone an die Eu-
wieder die Oberhand über einen politisch sehr      ropäische Zentralbank vergeben werden.
schwierigen Prozess des Krisenmanagements.            Für die Schweiz als integralen Teil Europas
Aber auch heute noch könnte ein schockarti-        ist die Stabilisierung der Eurozone zunächst
ger Vertrauensverlust in das angeschlagene         von grösster wirtschaftlicher Bedeutung. Eine
europäische Bankensystem die gemeinsame            Verschärfung der Schuldenkrise auf grosse
Währung und anschliessend den gemeinsamen          EU-Länder und deren Bankensysteme birgt
Markt gefährden. Dies würde zu gravierenden        weiterhin erhebliche Risiken für unsere eigene
politischen und sozialen Verwerfungen führen.      Wirtschaft. Aber auch die Politik ist stark ge-
Aber auch in einem langsameren, über Jahre         fordert. Der Wandel der europäischen Ordnung
erstreckten Verlauf der wirtschaftlichen und so-   wird die Schweiz an unterschiedlichen Fronten
zialen Krise, in dem die EU, der Euro und der      unter Normierungs- und Solidarisierungsdruck
gemeinsame Markt überdauern, wird Europa           halten. Unsere offene Volkswirtschaft steht in
vor erhebliche Herausforderungen gestellt sein:    einem zunehmend härter geführten Wettbewerb
Leere Staatskassen, steigende soziale Spannun-     um Arbeitsplätze und Steuersubstrat. In vielen
gen, zunehmend populistische politische Nei-       Fällen werden schwierige Abwägungen von po-
gungen und teilweise Renationalisierung der        litischen und wirtschaftlichen Landesinteressen
Aussen- und Sicherheitspolitik können euro-        notwendig werden.

                                                                                   L AG E BE R ICH T 2 0 1 4 | NDB   9
STRATEGISCHES UMFELD IM WANDEL 

              Russland verstärkt seine Einflussnahme                                              Moldova zwar das Freihandelsabkommen mit
              in Europa                                                                           der EU, sieht sich deshalb jedoch steigendem
                Für ein Europa in der Krise können sich mit-                                      russischem Druck ausgesetzt. Den Fokus die-
              telfristig auch die sicherheitspolitischen Risi-                                    ser starken west-östlichen Konkurrenz stellt
              ken wieder erhöhen. Russland ist daran, sich                                        die Ukraine dar, die derzeit von einer heftigen
              intern zu konsolidieren und sein Augenmerk                                          politischen Krise erschüttert wird. Während der
              wieder vermehrt nach aussen zu richten. Da-                                         Westen des Kontinents mit der Schuldenkrise
              bei räumt Moskau den Herausforderungen an                                           absorbiert ist, hat sich Russland mit jahrelan-
              seiner Südflanke, aber auch dem weiten Raum                                         gem systematischem Druck über eine breite
              an seiner Westflanke Priorität ein. Ziel Russ-                                      Palette von Machtmitteln in eine günstige Po-
              lands ist es, mittels der gezielten Schaffung                                       sition versetzt, um auch eine neue Regierung in
              und Nutzung von vorwiegend wirtschaftlichen                                         ihrem Handlungspielraum einzuschränken und
              und politischen Abhängigkeiten einen Puffer                                         das Ziel weiterzuverfolgen, die Ukraine mittel-
              zwischen sich und dem Westen zu retablieren,                                        fristig im eigenen Einflussbereich zu verankern.
              den es nach seiner eigenen Einschätzung mit                                            Diese Entwicklung hat auch Bedeutung für
              den Osterweiterungen von EU und Nato verlo-                                         die Schweiz. Während der russische Einfluss
              ren hat. Ende 2011 hat Belarus unter grossem                                        in Osteuropa eine graduell steigende Tendenz
              Druck seine strategischen Wirtschaftssekto-                                         zeigt und bis weit nach Zentral- und Westeu-
              ren an Russland verkauft. Ende 2012 gewann                                          ropa hineinreicht, führt im Westen die lange
              in Georgien ein Premierminister mit starken                                         wirtschaftliche Krisenlage, gekoppelt mit ei-
              Verbindungen nach Russland die Parlaments-                                          ner verstärkten Orientierung der USA hin zum
              wahlen, und sein Kandidat siegte 2013 bei den                                       asiatisch-pazifischen Raum, zu vermehrten
              Präsidentschaftswahlen. Ende 2013 wurde Ar-                                         Unsicherheiten über die künftige Wahrneh-
              menien abrupt in die russisch dominierte Zoll-                                      mung der europäischen und transatlantischen
              union gezogen. Und Ende 2013 paraphierte                                            Nato-Bündnisverpflichtungen. Damit sind die
                                                                                           FIN*
                                                       NOR**                                            Nord Stream                            Nato- und EU-Zone
                                                                  SWE*                                                                       * nur EU-Mitglied
                                                                                             EST                                            ** nur Nato-Mitglied
                                                                        O s t s ee
                                                                                                                Moskau                         Zollunion mit Russland
                                                                                             LVA
                                                       DNK                                                                                        Gasexportrouten
                IRL
                                                                                            LTU
                                                                                     RUS                                                          Ölexportrouten
                            GBR                                                                         Minsk            RUSSLAND
                                               NLD                                                 BELARUS                                                  KASACHSTAN
                                                                             POL
                                          BEL          DEU
                                                                                                                Kiew

                                           LUX                    CZE                                        UKRAINE
                                                                            SVK
                                                                                                         MDA                     South Stream
                               FRA                             AUT*                                                                (geplant)
                                                 CHE                         HUN
                                                               SVN*                                                                               Kaukasus
                                                                      HRV                         ROU
                                                                                                                                                      GEO
                                                                                 SRB                                           S c h w ar z e s                     AZE
                                                        ITA                                                                         Meer                     ARM
               ESP
                                                                                                  BGR
                                                                            ALB**
                                                                                                                            TUR**
                           Mit t e l m e e r                                           GRC

                                                                                                                                                                   NDB

10   L AGEBE R I C HT 2014 | N D B
STRATEGISCHES UMFELD IM WANDEL 

Voraussetzungen für eine erneute west-östliche                                 Damit verbunden ist vielerorts eine Professi-
machtpolitische Konkurrenz in Europa ge-                                       onalisierung der Streitkräfte, was sich positiv
schaffen, eine Konkurrenz, die im überwunden                                   auf die Bereitschaft, den Ausbildungsstand
geglaubten Ost-West-Konflikt der vergangenen                                   und damit auf die allgemeine Leistungsfähig-
Jahrhunderte historisch verwurzelt ist. Die-                                   keit der Streitkräfte auswirkt. Schwere Mittel
se Konkurrenz kann zwischen dem Baltikum                                       zur konventionellen Kriegführung werden aber
und dem Balkan ganz unterschiedliche Inten-                                    fortlaufend reduziert und nur teilweise durch
sitäten und Ausprägungen annehmen. Sie wird                                    neue spezifische Fähigkeiten ersetzt. Bei den
auch die von der Schweiz in den letzten beiden                                 europäischen Luftwaffen werden trotz beacht-
Jahrzehnten stark entwickelten politischen und                                 lichen Investitionen in Kampfflugzeugflotten
wirtschaftlichen Beziehungsgeflechte in Euro-                                  Fähigkeitslücken entstehen. Die Zahl der Län-
pa tangieren können. Insbesondere werden die                                   der ohne Kampfflugzeuge und damit ohne die
Möglichkeiten, wie Russland seine Beziehun-                                    Fähigkeit zur Durchführung des Luftpolizei-
gen zur Einflussnahme auf die schweizerischen                                  diensts wird zunehmen. Die Verteidigung der
und europäischen politischen und wirtschaftli-                                 einzelnen Staatsgebiete wird vermehrt an die
chen Prozesse nutzt, vermehrt in den Fokus der                                 Nato und die EU delegiert. Bei der Umsetzung
Behörden geraten.                                                              der dem zugrundeliegenden Kooperationspro-
                                                                               gramme (Smart Defense / Pooling and Sharing)
Militärische Potenziale in Westeuropa                                          zeigen sich jedoch erhebliche Schwierigkeiten.
abnehmend, in Russland zunehmend
   Sowohl die Schuldenkrise wie das Erstarken
Russlands widerspiegeln sich auch in der Ent-                                               Ukraine
wicklung der militärischen Potenziale in Europa.                                            Ende Februar hat Russland den seit vielen Jahren
Bei west- und mitteleuropäischen Streitkräften                                              ausgetragenen Konflikt mit der Ukraine eskaliert und
werden Verteidigungs- und Rüstungsausgaben                                                  die militärische Kontrolle über die Halbinsel Krim
tendenziell gekürzt; Mittel und Truppenbestän-                                              übernommen. Damit hat die russische Führung den
de werden reduziert. Der Trend geht weg von                                                 schwersten Ost-West-Konflikt in Europa seit dem Ende
herkömmlichen Verteidigungsarmeen und hin                                                   des Kalten Kriegs ausgelöst. Die Krise ist der bisher
zu Interventionsarmeen mit rasch einsetzbaren,                                              deutlichste Hinweis darauf, wie sich das strategische
flexiblen und modular aufgebauten Verbänden.                                                Umfeld der Schweiz verändert. Der NDB hat hierzu
                                                                                            regelmässig berichtet, ausführlich etwa im Lagebe-
 Warschau
                                                                                                           richt 2013: Russland erstarkt, anerkennt
                                BELARUS
                                                                                                           die Osterweiterungen von Nato und EU
                                                    Tschernihiw                        RUSSLAND
 POLEN              Lutsk                                                                                  nicht und demonstriert den politischen
                                 Schytomyr       Kiew                                                      Willen, den Status quo herauszufordern.
            Lemberg                                                     Charkiw
                      Ternopil                                Poltawa                                      Europa tritt damit definitiv in eine Ära
                                           Tscherkassy
                                         UKRAINE
                                                                                              Luhansik     ein, in der die Konkurrenz um west-
          Chernivtsi                                                       Dnipropetrowsk
                                             Kirowohrad                                                    östliche Einflusszonen wieder stärker
                                                                                  Donezk
                               MOLDOVA                                                                     hervortritt. Diese Konkurrenz wird un-
                                                         Mykolajiu                                 Rostow
                                 Chisinau
                                                                                                           ter Einsatz von politischen, wirtschaftli-
       RUMÄNIEN                                  Odessa                                                    chen und auch mit militärischen Mitteln
                                                                                    Kertsch                in einer breiten Zone von Finnland über
                                                                  Krim                           Krasnodar
                                                          Simferopol
              Bukarest                                                       Feodosiya       Novorossiysk  Osteuropa bis in den Südkaukasus aus-
                                                     Sewastopol
                                                                      Jalta
                                                                                                           getragen.
   NDB                                  Schwarzes Meer

                                                                                                                                 L AG E BE R ICH T 2 0 1 4 | NDB   11
STRATEGISCHES UMFELD IM WANDEL 

              Und die Frage, wie die USA in einer Ära auf-                ren aus. Damit kehrt Moskau dem Massenheer
              strebender machtpolitischer Pole im asiatischen             sowjetischer Prägung konzeptionell endgültig
              Osten ihre traditionelle Verantwortung für die              den Rücken. Wegen der anhaltend rückläufigen
              Stabilität der Ordnung in Europa inskünftig                 demografischen Entwicklung liegt der tatsächli-
              wahrnehmen werden, stellt sich mit einer Deut-              che Truppenbestand allerdings derzeit rund ein
              lichkeit wie seit 1945 nicht mehr. Insgesamt ist            Viertel unter dem Soll von einer Million Mann.
              über die nächsten zehn Jahre in West- und Mit-              Dennoch dürften die russischen Streitkräfte ins-
              teleuropa von einer weiteren Schwächung der                 gesamt über die nächsten zehn Jahre substan-
              Verteidigungsfähigkeiten auszugehen.                        zielle Fähigkeitssteigerungen realisieren.
                 Demgegenüber erhöht Russland seit der
              Jahrtausendwende kontinuierlich seine Vertei-               Militärische Bedrohungen bleiben
              digungsausgaben. Es finanziert damit tiefgrei-              nachgeordnet
              fende Streitkräftereformen, erstmals in dieser                Militärische Potenziale im engeren Umfeld
              Ernsthaftigkeit seit dem Zusammenbruch der                  der Schweiz bleiben – wenn auch in immer ge-
              Sowjetunion und dem Niedergang der Roten                    ringerem Umfang – weiterhin vorhanden, wer-
              Armee. Seit 2011 läuft ein auf über 500 Mil-                den allerdings hauptsächlich im Nato-Rahmen
              liarden Franken dotiertes zehnjähriges Rüs-                 bereitgestellt. Russland hat seine langsame,
              tungsprogramm. Es wird eine breite Moderni-                 aber systematische militärische Konsolidierung
              sierung des mehrheitlich veralteten Materials               an die Hand genommen. Erkennbare Priorität
              bewirken, auch wenn das Programm am Ende                    haben dabei die Sicherung seiner Südflanke
              nicht vollständig umgesetzt wird. Bei den Luft-             und die Konsolidierung einer Pufferzone ge-
              streitkräften sind Fortschritte bereits sichtbar.           genüber der Nato an der Westflanke. Von sei-
              Ansehnliche Stückzahlen moderner Kampfflug-                 ner Absicht, sehr langfristig (über 2025 hinaus)
              zeuge befinden sich im Zulauf. Eine Erhöhung                auch wieder über das Potenzial zu verfügen, um
              der Luftbetankungskapazitäten wird angestrebt.              einen allfälligen konventionellen Grosskonflikt
              Die Streitkräftereformen umfassen auch schlan-              mit dem Westen bestehen zu können, ist aus-
              kere Kommandostrukturen, die sich über die                  zugehen. Die nukleare Triade (land-, see- und
              nächsten Jahre einspielen dürften. Zudem weist              luftgestützte Systeme) bleibt noch für eine lan-
              ein neues Wehrmodell im Kern einen deutlich                 ge Zeit seine Rückversicherung.
              höheren Anteil an Vertragssoldaten und ein                    Unter der Annahme einer einigermassen sta-
              neues professionelles Korps von Unteroffizie-               bilen wirtschaftlichen Entwicklung in Russ-
                                                                          land, wofür der Rohstoffreichtum des Landes
                                                                          grundsätzlich gute Voraussetzungen liefert,
                  Der Militärische Nachrichtendienst                      werden den Streitkräftereformen substanziel-
                  Der Militärische Nachrichtendienst (MND) ist das per-   le finanzielle Mittel zufliessen. Damit werden
                  manente, oberste Nachrichtenorgan der Armee. Nebst      die Streitkräfte über die nächsten zehn Jahre an
                  anderen Aufgaben unterstützt er die laufenden oder in   konventionellen Fähigkeiten gewinnen – bei
                  Planung stehenden Einsätze der Armee. Er leistet zu-
                  dem einen wesentlichen Beitrag zur zukunftsorientier-
                  ten Weiterentwicklung der Armee, indem er die Einsät-
                  ze zum Beispiel anderer Armeen und die Entwicklung
                  im Militär- und Sicherheitsbereich mitverfolgt und
                  analysiert. Im Rahmen dieser Aufgabe hat der MND
                  am vorliegenden Bericht als Autor mitgewirkt.

12   L AGEBE R I C HT 2014 | N D B
STRATEGISCHES UMFELD IM WANDEL 

der Luftwaffe rascher, bei den Landstreitkräf-                          unterhalb der Kriegsschwelle weiter am Sinken
ten und der Marine langsamer. Diese Fähigkei-                           ist, sei dies im Bereich von Cyberangriffen oder
ten werden dannzumal ausreichen, um seine                               nachrichtendienstlichen Aktivitäten oder sei es
Interessen in einer Zone gegenüber der Nato-                            im Bereich von terroristischen Aktivitäten und
Ostgrenze zu konsolidieren. Einzelne kritische                          der Bekämpfung derselben.
Schlüsselfähigkeiten für die Führung eines
Grosskriegs in Zentraleuropa werden jedoch                              Arabischer Frühling und der Umbruch im
auch in zehn Jahren nach wie vor fehlen. Dazu                           Nahen und Mittleren Osten
gehört etwa die Aufklärung und Logistik für                               Auch in der südlichen Nachbarschaft Euro-
raumgreifende Operationen, wie dies für eine                            pas ist noch immer ein tiefgreifender Umbruch
Front in Zentraleuropa notwendig wäre. Diese                            im Gange, der sich mittlerweile ins vierte Jahr
Entwicklung wäre während ihrer Entstehung in                            nach den Revolten von 2011 zieht. 2013 ist in
wesentlichen Elementen erkennbar.                                       Ägypten, der historischen Führungsmacht in
  Ausserhalb Zentraleuropas kann der Einsatz                            der Region, die erste frei gewählte Regierung
von militärischen Mitteln hingegen an der ge-                           nach dem Machtwechsel durch einen Putsch
samten europäischen Peripherie ohne grosse                              beseitigt worden. Seither dominieren wieder
Vorwarnzeit erfolgen. Dank neuen Technolo-                              die Militärs und drängen die Muslimbruder-
gien können heute weltweit begrenzte risikore-                          schaft erneut in den Untergrund. Die innere
duzierte militärische Aktionen mit kurzen Vor-                          Sicherheit bleibt prekär, und vor den neuen
bereitungszeiten aus dem rückwärtigen Raum                              Machthabern türmen sich derweil die wirt-
ausgelöst und mit hoher Präzision durchgeführt                          schaftlichen Herausforderungen auf. In Syrien
werden. Durch die anhaltende Proliferation der                          scheint der Tiefpunkt der Krise noch nicht er-
Technologien für die Herstellung von Massen-                            reicht: Das Regime griff 2013 wahrscheinlich
vernichtungswaffen und weitreichenden Träger-                           mehrfach zum Mittel des Chemiewaffeneinsat-
systemen entwickelt sich auch die Bedrohung                             zes, entging einer amerikanischen militärischen
für die Schweiz aus entfernten Regionen weiter.                         Vergeltung nur knapp und gräbt sich seither in
Darüber hinaus kann beobachtet werden, dass                             der Hauptstadt und strategisch wichtigen Regi-
die Hemmschwelle zum Einsatz von Gewalt                                 onen und Achsen immer tiefer ein. Den zerstrit-

                                                               TÜRKEI                                                                                   Ti g
                                                                                                                                        Al Kamischli           ris
                                                                                    Jarabulus             Ras Al-Ayn
                                                          Azaz
                                                                                  Manbij                                   Al Hasaka
                                                                      Aleppo          Assad
                                                       Idlib                           See            Ar Rakka
                                  Jisr Ash-Shughur
                                                            Maarrat
                                   Latakia                  An-Numan
                                                                                                                  Eu
                                                                                                                     ph

                    ZYPERN                                                                                Dair as Saur
                                                                                                                         ra

                                    Baniyas          Hama
                                                                                                                          t

                                                                 Salamiyah        SYRIEN
                                     Tartus
                                                            Homs
                     Mittelmeer                                                           Tadmur                         Abu Kamal
                                                                                          (Palmyra)
                                                            An-Nabk
                                    LIBANON
                                                                               Sab Abar
                                                Duma                                                                                       IRAK
                                                                                                At-Tanf
                                                     Damaskus
                                    Golan-
                                    höhen
                             ISRAEL     Dara           As-Suwayda
                                     Jo rd an

                                                            Salkhad
                                                                          JORDANIEN
                                                                                                                                                       NDB

                                                                                                                                         L AG E BE R ICH T 2 0 1 4 | NDB   13
STRATEGISCHES UMFELD IM WANDEL 

              tenen Rebellenorganisationen gelingt es dabei      nen sich neue Freiräume für terroristische oder
              nicht, eine in den Augen der Mehrheit der Sy-      kriminelle Organisationen. Für die Schweiz
              rer glaubwürdige Alternative aufzubauen. Im-       werden deshalb eine ganze Reihe von Prob-
              merhin ist ein Prozess in Gang gekommen, die       lemfeldern die unverminderte Aufmerksamkeit
              grossen Bestände an chemischen Kampfstoffen        der Behörden verlangen: Die Bedrohung der
              dem Zugriff der Kriegsparteien mehrheitlich zu     Sicherheit von Staatsangehörigen und diplo-
              entziehen. Auch in zahlreichen anderen Län-        matischen Vertretungen in der Region, terroris-
              dern der Region überwiegen Probleme der in-        tische Bedrohungen und Entführungsfälle, die
              neren Sicherheit, enger werdender wirtschaftli-    Störung von Handel und Energieversorgung,
              cher Spielräume und der ungelösten Integration     die Bewältigung von Sanktionsregimen und
              des politischen Islams. Zwar hat die Welle der     Potentatengeldern sowie die Migration aus den
              Revolte seit 2011 keine weiteren Staaten erfasst   Krisengebieten.
              und insbesondere die für die globale Energie-
              versorgung wichtigen Golfmonarchien wur-           Schwerpunktthema Informationssicherheit
              den – mit der Ausnahme von Bahrain – bisher        nach der Affäre Snowden
              kaum betroffen. Aber die Folgen der Ereignisse        Im Sommer 2013 rückten die durch Edward
              sind über die Region hinaus zu spüren. Die Sa-     Snowden ins Rollen gebrachten Enthüllun-
              helzone, wo seit Ende 2012 eine von Frankreich     gen die Kommunikationsüberwachung durch
              angeführte internationale Intervention mit Zen-    Nachrichtendienste ins Scheinwerferlicht der
              trum in Mali läuft, ist durch den Machtwechsel     weltweiten Öffentlichkeit. Nicht nur Hacker
              in Libyen zusätzlich destabilisiert worden.        gefährden im Einzelfall die – weit über den
                Der Ausgang dieses Umbruchs ist nach wie         Datenschutz hinausreichende – Informationssi-
              vor offen. In Syrien wird das Regime mögli-        cherheit, sondern auch Staaten beeinträchtigen
              cherweise überleben – zwar ohne Kontrolle          diese potenziell auf umfassende Weise. Die
              über grosse Randgebiete des Landes, aber als       Problematik erhält dadurch eine sicherheitspo-
              legitimer Ansprechpartner der internationalen      litische Dimension. Staaten beziehungsweise
              Gemeinschaft. Ägypten, Tunesien und Libyen         deren Nachrichtendienste beschaffen zum ei-
              ringen mit unterschiedlichen Strategien und        nen durch Kommunikationsüberwachung und
              Mitteln um eine Stabilisierung der Machtver-       aktives Eindringen in Informatiksysteme ver-
              hältnisse. Die Schweiz unterstützt den schwie-     trauliche Informationen auf breiter Front. Sie
              rigen und langwierigen Transformationsprozess      können diese zum anderen unter Umständen
              in diesen Ländern. Aber sie kann sich den Risi-    auch verfälschen und so sogar Prozesse und
              ken im südlichen und östlichen Mittelmeerraum      Infrastrukturen sabotieren. Insbesondere die
              nicht entziehen: Die wirtschaftliche Entwick-      mutmasslich enge Zusammenarbeit der USA
              lung ist zurückgeworfen, die innere Sicherheit     mit Schlüsseltechnologiefirmen bis hin zur
              problematisch. Es kommt zu unkontrolliertem        möglichen Korrumpierung der Produktesicher-
              Zufluss und Abfluss von Waffen, und es öff-        heit stellt eine neue Dimension dar. Dies gilt

14   L AGEBE R I C HT 2014 | N D B
STRATEGISCHES UMFELD IM WANDEL 

aber nicht nur für die im Kreuzfeuer der Dis-     aktivitäten ein. Sie hat ebenfalls Sanktionen
kussionen stehenden USA, auch andere Länder       gegen Iran ergriffen, die über die UNO-Sank-
benützen vermehrt Mittel der elektronischen       tionen hinausgehen und sich weitgehend an
Spionage. Die Auswirkungen dieser Entwick-        den EU-Sanktionen orientieren. Die Schweiz
lung auf die Informationssicherheit bilden das    als innovativer, wettbewerbsfähiger Werkplatz
Schwerpunktsthema dieses Berichts.                und Wirtschaftsstandort hat ein besonderes
  Nachfolgend ein Überblick über weitere          Interesse daran, Beschaffungsversuche und
wichtige Themen auf dem Radar des NDB.            Umgehungsgeschäfte zu verhindern und in der
                                                  Schweiz tätige Firmen wie auch Forschungs-
Proliferation                                     und Bildungseinrichtungen gegenüber Reputa-
  Die Weiterverbreitung von Massenvernich-        tionsrisiken von Geschäften beziehungsweise
tungswaffen und deren Trägersystemen ist          Beziehungen mit proliferationskritischen Län-
eines der grossen Problemfelder unserer Zeit      dern zu sensibilisieren.
und Gegenstand zunehmend enger multilatera-
ler Kooperation. Eine Reihe von Staaten steht     Terrorismus
unter Beobachtung. Syrien ist 2013, nach Be-        Der Terrorismus stellt weiterhin eine Bedro-
kanntwerden des Einsatzes chemischer Waffen,      hung für die innere und äussere Sicherheit der
der Organisation für das Verbot chemischer        Schweiz dar. Die Bedrohung geht vor allem
Waffen (OPCW) beigetreten und kooperiert          vom dschihadistischen Terrorismus aus, das
derzeit bei der internationalen Kontrolle und     heisst von der global ausgerichteten, von der
anschliessenden Vernichtung seines Chemie-        Ideologie der al-Qaida inspirierten Bewegung.
waffenarsenals. Im Zentrum der Besorgnis          Zwar ist die Schweiz weiterhin kein erklärtes
steht allerdings nach wie vor die Entwicklung     prioritäres Ziel dschihadistisch motivierter
in Iran und Nordkorea. Betreffend Iran hat die    Gruppierungen. Aber auch ideologisch radi-
Internationale Atomenergiebehörde (IAEA)          kalisierte Einzeltäter können Terroranschläge
wiederholt den Verdacht formuliert, dass dieses   verüben, und Schweizerinnen und Schweizer
Land sein Nuklearprojekt nicht ausschliesslich    können im Ausland, wie in den letzten Jahren
für zivile Ziele verwendet, sondern seit Jahren   verschiedentlich geschehen, weiterhin Opfer
verdeckt an der Entwicklung einer Kernwaffe       von terroristisch motivierten Entführungen
arbeitet. Iran und die fünf ständigen Mitglie-    oder Anschlägen werden. Darüber hinaus ist
der des UNO-Sicherheitsrats (USA, Grossbri-       darauf hinzuweisen, dass ausländische Inter-
tannien, Frankreich, Russland und China) plus     essen in der Schweiz – zum Beispiel Botschaf-
Deutschland haben im November 2013 ein            ten – oder in unserem Land anwesende supra-
Übergangsabkommen erzielt, als Basis für wei-     oder internationale Organisationen fallweise
tere Verhandlungen über eine mögliche umfas-      oder permanent einer höheren Bedrohung sei-
sende Lösung des Nuklearstreits. Die Schweiz      tens terroristischer oder gewaltextremistischer
setzt sich entschieden gegen Proliferations-      Gruppierungen ausgesetzt sein können.

                                                                                  L AG E BE R ICH T 2 0 1 4 | NDB   15
STRATEGISCHES UMFELD IM WANDEL 

                Die in Europa festgestellte Zunahme von          jedoch lassen sich in beiden Szenen keine Hin-
              dschihadistisch motivierten Reisebewegungen        weise auf Entwicklungen hin zu terroristischen
              hält weiter an, insbesondere nach Syrien. Der      Aktivitäten erkennen.
              NDB geht von rund 15 Dschihadreisenden
              aus der Schweiz Richtung Syrien aus; jedoch        Verbotener Nachrichtendienst
              sind fast alle diese Fälle nach nachrichten-         Die Snowden-Affäre hat die Einschätzung
              dienstlichen Kriterien nicht bestätigt. Es liegt   bestätigt, dass Spionageaktivitäten auch un-
              im Interesse der Schweiz, nicht nur Anschläge      ter sogenannt befreundeten Nationen stattfin-
              im eigenen Land zu verhindern, sondern auch        den. Weiterhin sind Politik und Wirtschaft der
              Handlungen, die terroristische Aktivitäten im      Schweiz, aber auch hier niedergelassene aus-
              Ausland ermöglichen oder erleichtern könnten.      ländische Vertretungen und internationale Insti-
                                                                 tutionen Ziel von Spionage durch die Nachrich-
              Rechts- und Linksextremismus                       tendienste verschiedener Staaten. Diese Dienste
                 Der gewalttätige Extremismus in der Schweiz     bedienen sich dabei verschiedener Spionage-
              ist nicht staatsgefährdend. Zudem ist seit rund    methoden, und neben traditionellen Mitteln wie
              zwei Jahren die Lage ruhiger als zuvor. Zum        insbesondere dem Einsatz von menschlichen
              einen tritt die gewaltbereite rechtsextreme Sze-   Quellen steht immer stärker die elektronische
              ne kaum mehr öffentlich und organisiert auf;       Spionage im Vordergrund.
              Gewalttaten haben meist spontanen Charakter,
              werden häufig unter Alkoholeinfluss verübt         Energiesicherheit
              und lassen keinerlei strategische Dimension           In Zeiten krisenhafter Wirtschaftsentwick-
              erkennen. Zum anderen übt sich die linksex-        lungen und politischer Verwerfungen dringt
              treme Szene weiterhin in taktischer Zurückhal-     die Abhängigkeit von Rohstoff- und Energie-
              tung, die sich in einer nachlassenden Intensität   importen stärker ins Bewusstsein der Öffent-
              der Gewalttaten zeigt. Über die letzten zehn       lichkeit. Was die Energiesicherheit der Schweiz
              Jahre ist die gewaltbereite rechtsextreme Sze-     anbelangt, haben sich die Risiken nicht verän-
              ne geschrumpft, die linksextreme gewachsen.        dert. Sie ist bei den Ölimporten dank eines gut
              Ihr jeweiliges Gewaltpotenzial hat sich dabei      funktionierenden internationalen Erdölmarkts
              nicht verändert: Es ist als erheblich anzusehen,   gewährleistet, auch in Zeiten erhöhter Unsi-

                                                                                           „Tanz Dich Frei“ –
                                                                                            Ausschreitungen am
                                                                                            25. Mai 2013 in Bern

16   L AGEBE R I C HT 2014 | N D B
STRATEGISCHES UMFELD IM WANDEL 

cherheiten in den Krisenregionen des Nahen          treiber kritischer Infrastrukturen als Erbringer
und Mittleren Ostens. Strukturell anders gela-      von Leistungen mit übergeordneter sicherheits-
gert ist der Fall bei den Erdgasimporten, bei de-   relevanter Bedeutung, der IKT-Leistungserbrin-
nen ein integrierter internationaler Markt noch     ger und der Systemlieferanten, in eine Strategie
nicht existiert und die Schweiz aufgrund der        zum Schutz vor Cyberrisiken ist deshalb essen-
Abhängigkeit von fixen Pipelinesystemen stark       ziell.
auf Russland ausgerichtet ist. Diese Lage wird
sich in naher Zukunft nicht verbessern, nach-
dem das EU-Grossprojekt Nabucco in seiner
Funktion als wichtigstes nicht-russisches alter-
natives Pipelinesystem auf dem europäischen
Kontinent nicht realisiert wird. Längerfristig
hat die technologische Revolution im Zusam-
menhang mit der Förderung von Schiefergas
das Potenzial, die Entwicklung eines internati-
onalen Erdgasmarkts zu beschleunigen und die
Energiesicherheit auch der Schweiz positiv zu
beeinflussen.

Cyberbedrohungen
  Viele Dienstleistungen werden heute über
elektronische Kanäle angeboten und genutzt.
Damit wachsen die Präsenz aller Akteure im In-
ternet und die Abhängigkeit der kritischen Infra-
strukturen von solchen Informations- und Kom-
munikationstechnologien. Zusätzlich nehmen
die Bedrohungen im Cyberraum zum Beispiel
durch Angriffe mit Betrugs- beziehungsweise
Bereicherungsabsichten oder Wirtschaftsspio-
nage zu. Cyberangriffe auf kritische Infrastruk-
turen können besonders gravierende Folgen
haben, weil sie lebenswichtige Funktionen wie
zum Beispiel die Stromversorgung oder Tele-
kommunikationsdienste beeinträchtigen oder
fatale Kettenreaktionen auslösen können. Der
Einbezug der Wirtschaft, insbesondere der Be-

                                                                                     L AG E BE R ICH T 2 0 1 4 | NDB   17
SCHWERPUNKT: INFORMATIONSSICHERHEIT NACH DER AFFÄRE SNOWDEN 

              Schwerpunkt:
              Informationssicherheit nach der Affäre Snowden
              Informationstechnologie: Grosse Chancen,               diese potenziell auf umfassende Weise. Die
              aber auch substanzielle Risiken                        Problematik erhält dadurch eine sicherheitspo-
                Generell werden die neuen Möglichkeiten              litische Dimension. Staaten beziehungsweise
              der Informationstechnologie primär als grosser         deren Nachrichtendienste beschaffen zum ei-
              Fortschritt gewertet. Datenbanken und Infor-           nen durch Kommunikationsüberwachung und
              mationen werden immer enger vernetzt und die           aktives Eindringen in Informatiksysteme ver-
              verschiedenen Informatikgeräte wie Telefon,            trauliche Informationen auf breiter Front. Sie
              Computer, Kamera oder Musikwiedergabege-               können diese zum anderen unter Umständen
              rät verschmelzen zu einem einzigen tragbaren           auch verfälschen und so sogar Prozesse und In-
              Gerät. Umgekehrt zeichnen sich aber auch               frastrukturen sabotieren. Dies gilt nicht nur für
              neue grosse Risiken ab, insbesondere in den            die derzeit im Kreuzfeuer der Diskussionen ste-
              Bereichen Datenschutz, Informationssicher-             henden USA, sondern auch für andere Länder
              heit und kritische Infrastrukturen. Diese In­          mit grossen Nachrichtendiensten und technolo-
              frastrukturen (von der Elektrizitätsversorgung         gischen Schlüsselkompetenzen.
              über Kommunikations- und Finanzdienstleis-
              tungen bis hin zu Wasserversorgung und Le-             Durchdringung der Kommunikation tiefer
              bensmittellogistik) werden durch gezielte Stö-         als angenommen
              rungen bedroht.                                          Die Problematik breit angelegter, internatio-
                                                                     naler Kommunikationsüberwachung ist grund-
              Neue Bedrohungsdimension durch                         sätzlich spätestens seit den ersten Diskussionen
              umfassende Überwachungstätigkeiten                     in den späten 1990er-Jahren unter dem Stich-
                 Im Sommer 2013 rückten die durch Edward             wort „Echelon“ bekannt. Damals wurde unter
              Snowden, einen ehemaligen Mitarbeiter ame-             anderem im Rahmen einer Untersuchung des
              rikanischer Nachrichtendienste, ins Rollen             europäischen Parlaments über ein weltweites
              gebrachten Enthüllungen die Kommunikati-               Spionagenetz der USA, Grossbritanniens, Ka-
              onsüberwachung durch Nachrichtendienste ins            nadas, Australiens und Neuseelands berichtet.
              Scheinwerferlicht der internationalen Öffent-          Dennoch ist das Ausmass fast flächendeckender
              lichkeit. Zuvor war die Problematik primär in          und mit entsprechendem finanziellem, techni-
              Fachkreisen diskutiert worden. Nicht nur Ha-           schem und personellem Aufwand betriebener
              cker gefährden im Einzelfall die – weit über den       Überwachungen für viele überraschend. Auch
              Datenschutz hinausreichende – Informationssi-          die mutmassliche direkte Beauftragung gro-
              cherheit, sondern auch Staaten beeinträchtigen         sser Kommunikationsfirmen mit anscheinend

                                                                                                              Rechts:
                                                                                                     Angriffswege auf
                                                                                            Informationstechnologien

18   L AGEBE R I C HT 2014 | N D B
SCHWERPUNKT: INFORMATIONSSICHERHEIT NACH DER AFFÄRE SNOWDEN 

nur kursorischer rechtlicher oder politischer        Elektronische Angriffe reduzieren
Überprüfung, kombiniert mit einem allenfalls         Entdeckungsrisiko
auch diesen Firmen unbekannten, verdeckten              Bis vor wenigen Jahren bedeutete Spionage
Zugang zu Hauptsträngen der Kommunikation,           oder im Konfliktfall auch Sabotage, dass nach-
ist in dieser flächendeckenden Systematik neu.       richtendienstliche Agenten das Zielland selbst
Insbesondere amerikanische Nachrichtendiens-         betreten oder eine Bürgerin oder einen Bürger
te sollen seit Jahren systematisch Verschlüsse-      dieses Landes im Ausland gezielt persönlich
lungen aufgebrochen und geschwächt sowie in-         anwerben mussten. Damit bestand das Risiko,
ternationale Kryptostandards beeinflusst haben.      enttarnt und verhaftet zu werden. Diese Situa-
Wenn auch stichhaltige Beweise für diese Be-         tion hat sich in den letzten zehn bis fünfzehn
hauptungen zu einem guten Teil fehlen, haben         Jahren grundlegend verändert. Durch die Ver-
die Enthüllungen einer grösseren Öffentlichkeit      bindung früher zum Teil noch voneinander ge-
neue Bedrohungen durch eine fast unbegrenzte         trennter Informatiknetzwerke über das Internet
und unkontrollierte Nutzung der heutigen Mög-        und die weltweite Verknüpfung von Infrastruk-
lichkeiten der Informations- und Kommunika-          turen sind die Kommunikation dieser Systeme
tionstechnologien für Spionagezwecke bewusst         untereinander und der Fernzugriff auf solche
gemacht. Ebenso werfen sie ein Schlaglicht auf       Systeme weltweit möglich geworden. Durch
die grundsätzliche Frage, inwiefern eine mög-        das Mittel elektronischer Angriffe kann auf In-
lichst komplette Erfassung der verfügbaren           formationen eines Ausforschungsziels zugegrif-
Kommunikations- und Datenkanäle auf Vorrat,          fen – oder können diese beeinflusst – werden,
um fallspezifisch gewisse Sensoren zu aktivie-       ohne dass das Zielland je betreten werden muss.
ren, effizient und vor allem rechtsstaatlich kon-    Selbst kleinere Staaten oder nichtstaatliche Ak-
trollierbar ist.                                     teure können heute ihre wirtschaftlichen Kon-
                                                     kurrenten oder politischen Gegner auf diesem
                                                     Weg gezielt ausspionieren. Bei solchen Angrif-
                                                     fen wird vor allem Schadsoftware eingesetzt,

                                                Provider
        Nutzer                                                                             Nutzer

                          1                 2                          3

                                                                    1 Erhebung von Daten per Verpflichtung
                                                                        (NSA – amerikanische Unternehmen)
                                                                    2 Zugang zu Daten per Angriff auf Provider
                                                                        (grosse Nachrichtendienste)
                        Nachrichtendienst                           3 individueller, gezielter Angriff
                                                                        (herkömmlich)

                                                                                              L AG E BE R ICH T 2 0 1 4 | NDB   19
SCHWERPUNKT: INFORMATIONSSICHERHEIT NACH DER AFFÄRE SNOWDEN  

                  Kommunikationsüberwachung durch die USA – die aktuellen Erkenntnisse
                    Die seit Sommer 2013 durch Edward Snowden ins Rollen gebrachten Enthül-
                  lungen verschiedener internationaler Medien zeichnen ein relativ scharfes Bild
                  der Fähigkeiten amerikanischer Nachrichtendienste in der Kommunikationsüber-
                  wachung und ihrer Möglichkeiten, in Computernetzwerke einzudringen. Was den
                  Einsatz solcher Mittel im Ausland betrifft, widersprechen die USA diesen Erkennt-
                  nissen grösstenteils nicht. Für die Einschätzungen gibt es derzeit keine Beweise im
                  strafrechtlichen Sinn, wohl aber zahlreiche unabhängige Hinweise und Indizien.
                  Wie oben erwähnt, dürften einige andere Nachrichtendienste mindestens teilweise
                  auch über vergleichbare Möglichkeiten verfügen.
                    Die National Security Agency (NSA) betreibt demnach mehrere sich ergänzende
                  Organisationen und Programme. So werden Informationen über weltweit verteilte
                  passive Abhöreinrichtungen an Internetknotenpunkten erfasst. Die NSA verfügt
                  aber auch über eine Einheit, um in fremde Systeme einzudringen. Das Vorgehen
                  bei der Beschaffung von Informationen lässt sich vereinfacht wie folgt darstellen:
                  ▪▪ Bei schwacher Verschlüsselung können die Daten sofort geknackt werden.

                  ▪▪ Stammt die Verschlüsselung von einem amerikanischen Unternehmen, verlangt
                     die NSA von diesem den Zugang und die Entschlüsselung der Daten.

                  ▪▪ Der Datenzugriff erfolgt mit aktiven Massnahmen auch direkt auf die Netzwer-
                     ke, um die Daten vor Ort und noch unverschlüsselt zu erfassen. Die NSA scheint
                     sich zudem in den unverschlüsselten Verkehr zu den Rechenzentren grosser In-
                     ternetdienstleister eingeklinkt zu haben.

                  ▪▪ Die NSA nimmt zudem Einfluss auf kommerziell genutzte Verschlüsselungs-
                     algorithmen – zum einen über die Förderung generell schwacher Verschlüsse-
                     lungen, zum anderen über eingebaute Hintertüren oder Passepartouts, die die
                     Entschlüsselung erleichtern.

                    Aufgrund der bisherigen Fakten und Überlegungen kann davon ausgegangen
                  werden, dass die USA – und möglicherweise auch weitere Länder – Zugang zu
                  mindestens einem Teil der schweizerischen Kommunikationsinfrastruktur haben.
                  Die Ausspähung richtet sich vermutlich vorwiegend gegen Drittstaaten auf dem
                  Platz Genf und wohl teilweise auch gegen politische und wirtschaftliche Interessen
                  der Schweiz.
                    Nach den verfügbaren Informationen dürfte die NSA in grossem Ausmass Daten
                  sammeln und speichern, um sie bei Bedarf Leistungsbezügern der US-Adminis-
                  tration zur Verfügung zu stellen. Die amerikanischen Nachrichtendienste verfü-
                  gen mutmasslich über Mittel und Möglichkeiten, die amerikanische IT-Industrie
                  für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Schliesslich können IT-Systeme, die von den
                  USA eingebaute Schwachstellen haben, auch Angriffsflächen für Dritte bieten.

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SCHWERPUNKT: INFORMATIONSSICHERHEIT NACH DER AFFÄRE SNOWDEN 

die an ausgesuchte Opfer versendet wird. Auch          henden USA; auch einige andere Länder verfü-
werden so Eingriffe in Steuerungsanlagen mög-          gen zumindest potenziell über solche Möglich-
lich, die zu einer gezielten Sabotage etwa von         keiten.
Fabrikationsanlagen oder kritischen Infrastruk-
turen benützt werden können. Eine weitere Be-          Grundsätzliche Fragen zur Nutzung von
drohung ist, dass Informationen durch Schad-           Grundtechnologien
software unwiederbringlich zerstört – wogegen             Die Implikationen einer breit angelegten, zu-
allenfalls solide Backupkonzepte helfen – oder         mindest von aussen umfassend erscheinenden
schleichend verfälscht werden können, was viel         Nutzung von Internettechnologien für nach-
schwieriger zu entdecken wäre.                         richtendienstliche Zwecke werden erst langsam
                                                       erkannt. Wenn grundlegende Informations- und
Gefahr der Korrumpierung der                           Kommunikationstechnologien der weltwei-
Informationstechnologien                               ten Vernetzung als nicht mehr zuverlässig er-
   Für einige im Bereich der Informationstech-         scheinen, können Schutzmassnahmen nur sehr
nologien führende Staaten sind noch tiefere,           schwierig getroffen werden, ist es doch prak-
weltweite Eingriffsmöglichkeiten in an sich            tisch nicht mehr möglich, sich der Nutzung die-
gesicherte Informationsnetzwerke entstanden.           ser Technologien komplett zu entziehen. Auch
Die technische Entwicklung vor allem von               die rechtliche Einordnung dieser Aktivitäten ist
Netzwerkkomponenten und Systemsoftware                 schwierig; wie weit geht legitime internationale
ist auf wenige Grossfirmen in diesen Staa-             Terrorismusbekämpfung – und auf wessen An-
ten konzentriert. Durch den direkten Zugriff           ordnung –, und was stellt eine Verletzung der
auf die Herstellung und Programmierung bei             Privatsphäre oder Spionage dar? Während im
diesen Firmen und hier insbesondere auf die            innerstaatlichen Bereich Kommunikationsüber-
Updates der Netzwerkkomponenten und Be-                wachung zumindest in demokratischen Ländern
triebssysteme oder auch durch die künstliche           meist streng kontrolliert wird und richterlich im
Schwächung von Verschlüsselungssystemen ist            Einzelfall bewilligt werden muss, ist im inter-
es diesen Staaten beziehungsweise deren Nach-          nationalen Bereich der Eingriff in die Kommu-
richtendiensten grundsätzlich möglich, direkt in       nikation von Drittstaaten nicht umfassend gere-
die gewünschten Systeme einzugreifen. Da so            gelt beziehungsweise wird aus Sicht des jeweils
kein systemfremder Schadcode eingesetzt wird           agierenden Staats als legitim angesehen.
und die Manipulation zum Teil des gelieferten
Systems wird, ist es für das Opfer der Ausfor-         Mögliche Lösungen durch einseitige
schung bei der heutigen Komplexität der Syste-         Erklärung oder internationalen Diskurs
me sehr schwierig zu erkennen, dass überhaupt            Im Zentrum steht die Frage, inwieweit ein
ein Angriff stattfindet. Dies gilt nicht nur für die   Land mit einer starken Vormachtstellung im
im Kreuzfeuer der aktuellen Diskussionen ste-          Bereich der Informatik- und Netzwerktechno-

                                                                                            L AG E BE R ICH T 2 0 1 4 | NDB   21
SCHWERPUNKT: INFORMATIONSSICHERHEIT NACH DER AFFÄRE SNOWDEN  

              logien bereit ist, seine Dominanz gegenüber             hat im Menschenrechtsrat der UNO zusammen
              anderen auszuspielen, beziehungsweise die               mit Deutschland, Österreich und Liechtenstein
              Frage, ob sich ein solches Land über seine Vor-         eine Initiative zum Schutz der Privatsphäre im
              machtstellung und die globalen Implikationen,           Internetzeitalter eingereicht und unterstützte
              die diese mit sich bringt, überhaupt im Klaren          eine von Brasilien und Deutschland vorgelegte
              ist.                                                    UNO-Resolution zum Schutz der Privatsphäre
                 Am Ende zielt diese Frage auf die Zuver-             im digitalen Zeitalter. Die Resolution, die im-
              lässigkeit von Partnerschaften mit solchen              merhin einen Empfehlungscharakter hat, ist
              Ländern, was den Schutz vor Willkür oder                von der Generalversammlung der UNO Mitte
              Machtmissbrauch angeht. Eine entsprechende              Dezember 2013 angenommen worden.
              Planungs- und Rechtssicherheit bildet auch für
              die Wirtschaft das Fundament im Umgang mit              Einführung national abgeschotteter
              Partnern, die im Rechtsbereich dieser Länder            Netzwerke die schlechtere Lösung
              handeln.                                                  Eine länger andauernde Phase der Unklarheit
                 Es geht dabei um eine politische Klarstellung        und Unberechenbarkeit könnte zur Folge haben,
              gegenüber Dritten, welche Ziele diese Länder            dass Staaten, die ihre Souveränität im Bereich
              mit der Kommunikationsüberwachung verfol-               der Informationssicherheit bewahren wollen,
              gen und wieweit sie beabsichtigen, dabei ihr            mittelfristig auf jeweils eigene, unabhängige
              Eigeninteresse auf Kosten der anderen durch-            IKT-Lösungen setzen müssen. Dies fände al-
              zusetzen: Entweder sind technologische Leit-            lerdings nicht mehr im Rahmen des weltwei-
              staaten gewillt, mit ihrer Rechtsordnung und ih-        ten Wirtschaftswettbewerbs statt, sondern bil-
              rem Einfluss auf die einheimische – aber global         dete eine sicherheitspolitische Massnahme in
              tätige – Industrie ihre eigenen sicherheitspoli-        expliziter Abgrenzung zu den Produkten aus
              tischen (und möglicherweise wirtschaftlichen)           den technologischen Leitstaaten. Diese Lösung
              Interessen zum Nachteil anderer Staaten zu              wäre ineffizient, weil sie zusätzliche Schnitt-
              verfolgen. Oder sie verzichten explizit hierauf         stellen schafft und die Technologieentwicklung
              und setzen solche, den anderen Ländern nicht            verlangsamt, und mit hohen Kosten für den
              zur Verfügung stehenden Mittel nur internatio-          Staat, aber auch für die Wirtschaft und speziell
              nal koordiniert für gemeinsam anerkannte Ziele          die kritischen Infrastrukturen verbunden. Sinn-
              wie die gemeinsame Terrorismusbekämpfung                voll könnte hingegen sein – und ist zum Teil
              ein. Es ist die Aufgabe der Staatengemeinschaft,        heute schon Praxis –, dass zum Beispiel eine
              diese Fragen im internationalen Diskurs zu stel-        Regierung oder auch eine private Organisati-
              len und auf deren Klärung zum Beispiel im               on für besonders sensible Informationen ein
              Rahmen internationaler Abkommen hinzuarbei-             physisch von anderen Netzwerken getrenntes
              ten. Die Schweiz ist zu diesem Thema in mul-            Netzwerk aufbaut. Dies kann zwar keine ab-
              tilateralen und bilateralen Foren aktiv tätig. Sie      solute, aber eine stark verbesserte Sicherheit

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SCHWERPUNKT: INFORMATIONSSICHERHEIT NACH DER AFFÄRE SNOWDEN 

bieten. Diese Fragen werden zu diskutieren
sein, zum Beispiel bei der Umsetzung der im
Juni 2012 vom Bundesrat verabschiedeten nati-
onalen Strategien zum Schutz der Schweiz vor
Cyberrisiken und zum Schutz kritischer Infra-
strukturen.

                 Die Affäre Snowden und das neue Nachrichtendienstgesetz
                   Wie andere Staaten hat auch in der Schweiz der Nachrichtendienst in einem
                 gewissen Rahmen Kompetenzen für die strategische Kommunikationsaufklä-
                 rung im Ausland. Diese steht allerdings nur schon technisch bedingt auf einer
                 bedeutend tieferen Ebene als zum Beispiel in den USA, gehört die Schweiz
                 doch in diesem Bereich nicht zu den technologischen Leitstaaten. Das neue
                 Nachrichtendienstgesetz (NDG) soll hier einen klaren rechtlichen Rahmen
                 setzen und neu zudem eine gesetzliche Regelung für Fernmelde- und Compu-
                 terüberwachungen im Inland schaffen. Die Regelungen des NDG beschränken
                 die Anwendung solcher Mittel auf wichtige sicherheitspolitische Bedrohungs-
                 lagen, binden sie an die Verhältnismässigkeit und Notwendigkeit und unter-
                 stellen sie justiziellen oder politischen Genehmigungs- und Kontrollverfahren
                 oder gar beidem. Ein vollständiger Verzicht auf Mittel der Kommunikations-
                 aufklärung ist aber nicht im Interesse der Schweiz und überliesse das Feld
                 erst recht Dritten. Die Schweizer Abwehrorgane wären wie heute weiterhin
                 kaum in der Lage, solche Aktivitäten auch nur ansatzweise festzustellen und
                 aufzuklären, weil ihnen der Zugang zu diesen Datenkanälen verboten bliebe.
                 Wirksame eigene Aufklärungs- und Abwehrmittel sind in genau definierten
                 Fällen notwendig, um die Sicherheit der Schweiz zu schützen und ihre Sou-
                 veränität zu bewahren. Die Botschaft des Bundesrates zum NDG trägt mit
                 den eingebauten Sicherheiten und Einschränkungen den Gefahren einer fast
                 unbeschränkten und kaum zielgerichteten technischen Aufklärung Rechnung.
                 Das NDG ist nicht auf die umfassende Überwachung von Datenströmen aus-
                 gerichtet, sondern auf die zielgerichtete Erfassung von Kommunikationen, für
                 die konkrete Anhaltspunkte für sicherheitsbedrohende Inhalte bestehen. Da-
                 mit sind zentrale Forderungen zu Kritikpunkten an der Praxis der NSA schon
                 vor deren Bekanntwerden im Entwurf des NDG erfüllt worden.

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