Skilled N 22019 - Eidgenössisches Hochschulinstitut für ...
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Schwerpunktthema 19 Diskriminierung 32 Programm trans:formation Grafikwettbewerb Gender «Homosexualität ist noch oft ein Tabu» Eintauchen in einen Digi-Check- Workshop in Lausanne Illustrationen 4 Analyse der Lehrverträge 20 Für die Praxis aus dem Tessin Frauen und Männer lernen Wege zu einer gendergerechteren andere Berufe Berufsausbildung Schule für Gestaltung Zürich skilled 1/19: Motivation 6 Geschlechtersegregation in der Berufsbildung Berufsfachschule Aarau Der Beruf stiftet Identität – skilled 1/17: Kreativität auch bezüglich des Geschlechts Schule für Gestaltung St. Gallen skilled 1/18: Digitalisierung Schule für Gestaltung Bern & Biel skilled 1/17: Kreativität skilled 2/17: Migration 34 Stefan Eberle, Prüfungsexperte für Hauswirtschaft «Da fing es an, ich war der einzige Kerl» Centro scolastico per le industrie artistiche Weitere Themen (CSIA) in Lugano skilled 2/19: Gender 22 Neues Ausbildungskonzept am EHB Innovative Studienpläne für die Zukunft 25 Coaching Walliser Schule für Gestaltung ECAV in Siders skilled 2/18: Kompetenz In der Kürze liegt die Würze 11 ICT-Berufe bei Swisscom 26 Gina Girardi, lernende Feinwerkoptikerin 36 Neue Angebote «Wir wollen das Interesse Im Bann des Prismas Am Puls der Berufsbildung junger Frauen stärken» Für diese Ausgabe von «skilled» haben sich Studierende 37 Master of Science in Berufsbildung der kantonalen Kunstschule im Tessin, die zum Centro 12 Nachgefragt scolastico per le industrie artistiche (CSIA) in Lugano AD(H)S die Stirn bieten gehört, mit dem Thema Gender auseinandergesetzt. Die Was, wenn der Traumberuf Werke zeigen die persönlichen Gedanken, Assoziationen das falsche Geschlecht hat? 38 Diplomiert: Brigitte Spielmann, bili-Absolventin und Ideen der Jugendlichen zur Genderthematik. In der 14 Berufslehre «Es ist wie ein Stein im Wasser, Kombination von Kupferstichen, Fotografie und Malerei der Wellen schlägt» treffen dabei ganz unterschiedliche Techniken aufeinan- Was hinter der beruflichen der. Eine Auswahl der entstandenen Kreationen illust- Sozialisation steckt 39 Carte Blanche: Christophe Nydegger riert den Schwerpunktteil dieses Hefts. Besonders gefallen hat der «skilled»-Redaktion die 16 Laufbahnstudie im Sozialbereich Endlich wird es konkret! Illustration von Alison Antonioli, die auf der Titelseite Eine Lehre in einem typischen 28 Alumni / Nachrichten 40 7 Fragen an … dieser Ausgabe zu sehen ist. Wir gratulieren Alison Antonioli herzlich zu diesem ersten Platz. Frauenberuf – und dann? News aus dem EHB EHB-Mitarbeiter Unser Dank gilt der dritten und vierten Klasse der 18 Chancengleichheit 30 Serge Frech, Geschäftsführer ICT-Berufsbildung André Zbinden Abteilung für Drucktechnik an der CSIA, Carolina Maria Nazar, die das Projekt als Lehrperson betreut hat, sowie Mit ConciLab die Gleichstellung «Den Mädchen werden IT-Berufe 41 Agenda Direktor Roberto Borioli und Vizedirektor Nicola Soldini, an Berufsfachschulen fördern noch immer ausgeredet» EHB-Anlässe bis Mai 2020 die es überhaupt ermöglicht haben. ▶ www.csia.ch
skilled 2/19 Der Präsident skilled 2/19 Editorial Der Geschlechterfrage als Typisch Frau, typisch Mann Herausforderung begegnen gilt noch immer «Wir müssen auch darauf achten, dass «Für die wirklich freie Wahl braucht es ein Frauen die gleichen Chancen haben wie Umdenken in unseren Köpfen. Stärken Männer, in Führungspositionen auf- wir Jugendliche, sich berufliche Terrains zusteigen, und dass Rahmenbedingungen zu erobern, die für ihr Geschlecht noch für eine gerechtere Gesellschaft wenig typisch sind.» geschaffen werden.» EHB / Alexander Jaquemet EHB / Ben Zurbriggen Liebe Leserin, lieber Leser Die Vorstellung, die sich Frauen und spielsweise für Frauen nach einer Schei- Liebe Leserin, lieber Leser sollten die zentralen Fragen sein, wenn wieder einen leicht irritierten Blick – Männer heute von ihrer Rolle machen, dung) und etwas dagegen zu tun. Wir junge Frauen und Männer ihren Beruf und hat längst ein Rezept dagegen. Es Unser Land verfügt zwar über ein ho- hinkt noch oft der immer schnelleren müssen auch darauf achten (wir tun Es gibt sie: die Maurerin, Metallbau- wählen. Theoretisch stehen heute al- braucht solche Pionierinnen und Pionie- hes Bildungsniveau und eine beeindru- wirtschaftlichen und gesellschaftlichen dies am EHB), dass Frauen die gleichen praktikerin oder Informatikerin. Und len sämtliche Berufe offen. Praktisch re in der immer noch stark geschlechts- ckende Wettbewerbsfähigkeit, aber Entwicklung hinterher. Das auffälligs Chancen haben wie Männer, in Füh- es gibt ihn: den Fachmann Gesund- aber gibt es Barrieren – auch das Ge- spezifisch strukturierten Berufswelt. bezüglich der Gleichstellung der Ge- te Beispiel dafür ist das traditionelle rungspositionen aufzusteigen, und heit, Floristen oder Dentalassistenten. schlecht ist eine. Auch wir am EHB betreten diesen schlechter haben wir noch grossen Auf- Familienmodell mit einem Mann, der dass Rahmenbedingungen für eine ge- Doch sie sind auch 2019 noch selten. Für die wirklich freie Wahl braucht Herbst Neuland: Unser erster Bache- holbedarf. Vollzeit arbeitet, und einer Frau, die rechtere Gesellschaft geschaffen wer- Die Zeit der typischen Frauen- und es ein Umdenken in unseren Köpfen. lor of Science in Berufsbildung startet, 1971 wurde auf eidgenössischer Ebe- nur in Teilzeit beschäftigt ist, obwohl den. Nicht nur die Wirtschaft wird da- Männerberufe ist nicht passé. Auch Stärken wir Jugendliche, sich berufli- und in der Ausbildung setzen wir auf ne das Frauenstimmrecht eingeführt. an den Hochschulen längst mehr Frau- von profitieren, sondern auch unser heutzutage entscheiden sich viele Ju- che Terrains zu erobern, die für ihr Ge- ein neues Konzept. Mit dem Programm 1977 hielt ein Bundesgerichtsurteil en als Männer studieren. Die Frau küm- soziales Gefüge. gendliche für einen Beruf, der zu ih- schlecht noch wenig typisch sind. Da- trans:formation unterstützen wir zu- fest, dass eine Lehrerin gleich viel ver- mert sich nach diesem überholten Mus- rem Geschlecht «passt», wie eine Ana- für braucht es auch Lehrpersonen und dem weiterhin Berufsfachschulen bei dienen soll wie ein Lehrer! 1996 trat ter um die Kinder, den Haushalt, die lyse des EHB zeigt. Wie sich das erklä- Berufsbildner/innen, die alle Lernen- ihrer digitalen Transformation. das Bundesgesetz über die Gleichstel- Eltern und die Schwiegereltern, wäh- ren lässt, was die Folgen davon sind den unabhängig vom Geschlecht und lung von Frau und Mann in Kraft. Seit- rend der Mann dafür nicht im gleichen und weitere Gender-Aspekte in der der sexuellen Orientierung vorurteils- her wurden weitere Gesetze erlassen, Ausmass zur Verfügung steht. Dr. Philippe Gnaegi, Berufsbildung beleuchten wir in die- los begleiten und unterstützen. wie etwa jenes über die Aufteilung der Es ist die Aufgabe des Bildungssys- Präsident EHB-Rat sem «skilled». Stefan Eberle hat es gewagt. Der Prü- beruflichen Vorsorge zwischen Ehe- tems, über diese Stereotype zu spre- Was kann ich gut? Was interessiert fungsexperte für Hauswirtschaft (siehe Jean-Pierre Perdrizat, paaren bei einer Scheidung. chen, ihre Gefahren aufzuzeigen (bei- mich? Was fordert mich heraus? Das S. 34 in diesem Heft) erntet immer mal Direktor ad interim EHB 2 3
skilled 2/19 Gender Die 20 populärsten Berufe: Frauen- und Männeranteile Analyse der Lehrverträge 62,25 % 37,75 % 1. Kaufmann/frau Profil E (26 805*) Maler/in mit einem Männeranteil von Frauen und Männer lernen 59,88 % 40,12 % 2. Detailhandelsfachmann/frau (13 219) 59,4 Prozent oder Bäcker/in-Kondi- 87,98 % 12,02 % tor/in mit einem Männeranteil von 3. Fachmann/frau Gesundheit (10 987) 56 Prozent. andere Berufe 82,92 % 17,08 % 4. Fachmann/frau Betreuung (8249) 34 der 231 Berufe werden heute 2,05 % 97,95 % 5. Elektroinstallateur/in (6866) noch ausschliesslich von Frauen oder 6,84 % 93,16 % 6. Informatiker/in (5656) Männern gewählt. In 197 der 231 Be- Von Manuel Aepli, Andreas Kuhn und Jürg Schweri rufe gibt es Lehrverträge von Frauen 31,92 % 68,08 % 7. Zeichner/in (5438) und Männern. Nichtsdestotrotz do- 3,36 % 96,64 % 8. Polymechaniker/in (5211) miniert in der Mehrheit der Berufe 63,14 % 36,86 % 9. Kaufmann/frau Profil B (4864) eines der beiden Geschlechter. Die bei der Berufswahl offenbar nicht die ganze 10,64 % 89,36 % 10. Logistiker/in (4605) Ursachen und Folgen dieser unglei- Bandbreite der Möglichkeiten nutzen, sondern chen Berufswahl beschreibt der Ar- 37,03 % 62,97 % 11. Koch/Köchin (4488) häufig geschlechtstypische Berufe vorziehen. tikel von Miriam Grønning und Ire- 11,87 % 88,13 % 12. Schreiner/in (4381) Die folgende Analyse stützt sich auf Daten ne Kriesi (siehe S. 6–10 in diesem des Bundesamts für Statistik (BFS) zu allen lau- 3,96 % 96,04 % 13. Automobil-Fachmann/frau (3708) Heft). fenden Lehrverträgen im Ausbildungsjahr 89,84 % 10,16 % 14. Coiffeur/euse (2943) 2016/2017. Sie liefert damit ein vollständiges Bild 64 Prozent müssten wechseln 23,12 % 76,88 % 15. Gärtner/in (2825) davon, wie stark sich die Wahl der Lehrberufe Die Unterschiede in der Wahl des 98,89 % 1,11 % 16. Dentalassistent/in (2796) zwischen Frauen und Männern unterscheidet. Lehrberufs lassen sich in einer statis- Von den insgesamt 197 391 Lehrverträgen, grup- 99,06 % 0,94 % 17. Medizinische/r Praxisassistent/in (2780) tischen Kennzahl zusammenfassen: piert in 231 verschiedene Lehrberufe, wurden 14,01 % 85,99 % 18. Landwirt/in (2770) Der sogenannte Dissimilaritätsindex 82 134 Lehrverträge mit Frauen und 115 257 mit nach Duncan und Duncan kann Wer- 65,80 % 34,20 % 19. Detailhandelsassistent/in (2655) Männern abgeschlossen. Lernende sind somit te zwischen 0 und 1 annehmen. Ein 0,64 % 99,36 % 20. Maurer/in (2638) zu 58,4 Prozent männlich, während Frauen et- Wert von 0 bedeutet, dass das Verhält- was häufiger andere Ausbildungsformen der 100 80 60 40 20 % 20 40 60 80 100 nis von Frauen und Männern in jedem Sekundarstufe II wie das Gymnasium oder die Frauen Männer *Anzahl Lehrverträge Beruf gleich wäre. Ein Wert von 1 wür- Fachmittelschule wählen. Quelle: Grunddaten BFS; Datenanalyse EHB Grafik: EHB / Lukas Schuhmacher de bedeuten, dass es keinerlei Über- schneidungen in der Berufswahl gibt, Populär und bei beiden Geschlechtern anlagenbauer, bei denen es 2016/17 gar keine weiblichen das heisst, dass Berufe entweder nur von Frauen oder nur beliebt Lernenden gab. Tatsächlich werden rund 65 Prozent al- von Männern gewählt werden. Unter den am häufigsten gewählten Berufen ler Lehrverträge von Männern in Berufen abgeschlossen, Der Dissimilaritätsindex beträgt für die hier verwen- finden sich einige wenige, die bei Frauen und in welchen der Anteil an Männern 80 Prozent oder mehr deten Daten 0,638 – ein hoher Wert, der die deutlichen Männern populär sind. Das gilt insbesondere beträgt. Mehr als 72 Prozent der Lehrverträge von Män- Unterschiede in der Berufswahl zwischen Frauen und für die Berufe Kaufmann/frau und Detailhan- nern werden in Berufen mit einem Männeranteil von 50 Männern in der Schweiz unterstreicht. Der ermittelte Wert delsfachmann/frau, die beiden am häufigsten oder mehr Prozent abgeschlossen. bedeutet nämlich, dass 63,8 Prozent aller Frauen (oder al- gewählten Lehrberufe. Rund 16 beziehungs- ler Männer) ihren Lehrberuf wechseln müssten, damit ↑ Illustration von Alice Wunderle, Abteilung für Drucktechnik, Centro scolastico weise 6,7 Prozent aller Lehrverträge werden Sieben reine Frauenberufe das Geschlechterverhältnis in allen Berufen gleich wäre. per le industrie artistiche (CSIA), Lugano in den Berufen Kaufmann/frau (Profil E und Umgekehrt finden sich unter den zehn meistgewählten Die Berufswahl von jungen Frauen und Männern unter- B) sowie Detailhandelsfachmann/frau abgeschlossen. Berufen mit den Fachfrauen Gesundheit und den Fach- ■ Manuel Aepli, MA, Junior Researcher Forschungsfeld Bildungswahl und Lehrstellenmarkt, EHB ■ Dr. Andreas Kuhn, Senior Researcher scheidet sich markant, wie ein Blick in die Daten deutlich Der Männeranteil liegt in diesen Berufen bei 38 bezie- frauen Betreuung zwei Berufe mit einem hohen Frau- Forschungsfeld Bildungswahl und Lehrstellenmarkt, EHB ■ Prof. Dr. macht. Forscher des EHB analysierten sämtliche laufenden hungsweise 40 Prozent, ist also trotzdem unterdurch- enanteil von 88 beziehungsweise 83 Prozent. Bei den Kos- Jürg Schweri, Co-Leiter Forschungsschwerpunkt Steuerung der Lehrverträge des Ausbildungsjahrs 2016/2017. Dabei zeigt schnittlich. metikerinnen, Gewebegestalterinnen und fünf weiteren Berufsbildung, EHB sich: 65 Prozent aller Männer und 42 Prozent aller Frau- Berufen gab es 2016/17 nur weibliche Lernende. Literatur en wählen einen Beruf, der für ihr Geschlecht typisch ist. Männer bleiben oft unter sich Insgesamt werden bei den Frauen rund 42 Prozent al- Duncan, O. D. & Duncan, B. (1955). A Methodological Analysis of Allerdings stellen solche gemischten Berufe nicht die Re- ler Lehrverträge in Berufen abgeschlossen, in welchen Segregation Indexes. American Sociological Review, 20(2), 210–217. Die erstmalige Berufswahl ist nicht mehr so prägend wie gel dar. Vielmehr werden viele Berufe von einer deutli- der Frauenanteil 80 Prozent oder mehr beträgt. Etwas Eine ausführlichere Grafik zu den Frauen- und Männeranteilen in einst, als das Bildungssystem noch wenig Durchlässigkeit chen Mehrheit eines Geschlechts geprägt. Unter den zehn mehr als 85 Prozent der weiblichen Lernenden arbeiten Berufslehren (Ausbildungsjahr 2016/17) finden Sie unter: bot und die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt beschränkt meistgewählten Berufen stechen die Elektroinstallateu- in einem Beruf mit einem Frauenanteil von mindestens ▶ www.ehb.swiss/skilled war. Die Berufswahl bleibt aber eine wichtige Weichen- re, Polymechaniker und Informatiker mit Männerantei- 50 Prozent. stellung mit Folgen sowohl für weitere Bildungsentschei- len von 98, 97 und 93 Prozent hervor. Noch extremer sind Berufe mit einem ausgewogenen Geschlechterverhält- dungen als auch für den späteren Arbeitsmarkterfolg, bei- einige Berufe mit Eidgenössischem Berufsattest wie Rei- nis, also mit einem Männeranteil von ungefähr 58 Pro- spielsweise den Lohn. Es erstaunt daher, dass Lernende fenpraktiker oder Baupraktiker, aber auch die Lüftungs- zent, sind eher selten. Beispiele für solche Berufe sind 4 5
skilled 2/19 Gender Geschlechtersegregation in der Berufsbildung Der Beruf stiftet Identität – auch bezüglich des Geschlechts Von Irene Kriesi und Miriam Grønning Viele Jugendliche in der Schweiz absolvieren eine Ausbil- ten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Frauendomäne dung, die für ihr Geschlecht typisch ist. Auch später arbeiten entwickelt. Frauen und Männer mehrheitlich in unterschiedlichen Wie kommt die ausgeprägte Aufteilung der Berufe in Berufen. Das wirkt sich auf ihre gesamte berufliche Lauf- typische Frauen- und Männerdomänen – auch berufliche bahn aus und hat Folgen für die Betriebe. Doch warum Geschlechtersegregation genannt – zustande? In der so- wählen die Jugendlichen so? In der Forschung gibt es dafür zialwissenschaftlichen Forschung sind dafür verschiede- unterschiedliche Erklärungsansätze. ne Erklärungsansätze zu finden, mit denen sich ein Arti- kel von Irene Kriesi und Christian Imdorf befasst, der kürz- Im Jahr 2019 haben Berufe in der Schweiz noch ganz lich in einem Forschungshandbuch für Bildungssoziologie klar ein Geschlecht – und die Mehrheit der Jugendlichen publiziert wurde. orientiert sich daran. Die meisten jungen Frauen und Männer wählen nach wie vor einen Beruf, der zahlen- Geschlechtstypische Berufswahl als mässig vom eigenen Geschlecht dominiert wird, wie rationaler Entscheid neue Studien von Melina Heiniger und Christian Imdorf Ein Ansatz sieht die Hauptursache darin, dass es für Mäd- sowie Jürg Schweri und Andreas Kuhn zeigen. Dieses chen und Buben rational sei, geschlechtstypische Ausbil- Verhalten lässt sich bei Jugendli- dungen zu wählen, weil diese lang- Wir sind damit aufgewach- chen in der Berufsbildung noch in fristig punkto Erwerbschancen und sen, dass die Kranken- deutlich stärkerem Ausmass beob- Einkommen den grössten Nutzen bie- schwester eine Frau und der achten als bei Studierenden an den ten würden. Frauendominierte Be- Schreiner ein Mann ist. Universitäten. So absolvieren 65 Pro- rufe bieten mehr Teilzeitmöglichkei- zent der jungen Männer und 42 Prozent der jungen Frau- ten und bessere Chancen für den Wiedereinstieg nach ei- en die Lehre in einem Beruf, der fast ausschliesslich nem Erwerbsunterbruch. Männerdominierte Berufe vom eigenen Geschlecht erlernt wird (siehe S. 4–5 in die- hingegen zeichnen sich durch höhere Löhne aus. Für jun- sem Heft). ge Frauen und Männer, die traditionelle Geschlechterrol- Für die meisten von uns liegt es auf der Hand, dass len antizipieren, ist die Wahl eines geschlechtstypischen junge Frauen und Männer oft unterschiedliche Berufs- Berufs deshalb von Vorteil. wünsche haben. Wir sind damit aufgewachsen, dass die Dieser Erklärungsansatz betont auch Kompetenzun- Krankenschwester eine Frau und der Schreiner ein Mann terschiede zwischen Frauen und Männern. Er postuliert, ist. Dass solche Unterschiede nicht nur mit natürlichen dass sich die relativen durchschnittlichen Leistungen von Geschlechterunterschieden zu tun haben, fällt erst auf, jungen Frauen und Männern sowohl bezüglich Sprache, wenn die Geschlechterzusammensetzung der Berufe län- Kommunikation und der sozialen Fähigkeiten als auch dervergleichend oder aus historischer Perspektive ange- bezüglich Mathematik und der technischen Fähigkeiten schaut wird. unterscheiden. Da kommunikative und soziale Fähigkei- Obwohl in den meisten Ländern Männer häufiger tech- ten in vielen Frauenberufen und mathematisch-techni- nische und Frauen soziale Berufe erlernen, sind die Un- sche Fähigkeiten in vielen Männerberufen erforderlich terschiede nicht überall so ausgeprägt wie in der Schweiz. sind, lohne es sich für die Mehrheit der Frauen und Män- Zudem zeigt eine Reihe von Beispielen, dass sich der Ge- ner, geschlechtstypische Berufe zu wählen. schlechtstyp eines Berufs auch ändern kann. Zu denken Die verfügbaren Studien können zeigen, dass vor al- ist etwa an den Beruf des Primarlehrers, der bis Anfang lem der unterschiedlichen Arbeitszeitregelung Erklä- des 20. Jahrhunderts eine Männerdomäne war. Auch die rungskraft zukommt: Frauen achten auf Teilzeitmöglich- weiblich konnotierte Krankenpflege hat sich, wie Claudia keiten und die Gepflogenheiten in Bezug auf Überstun- Bischoff in ihren Arbeiten aufgezeigt hat, erst in der zwei- den. Der Unterschied zwischen den Fähigkeiten von 6 → Illustration von Alessandra Sassi und Lara Müller, Abteilung für Druck- technik, Centro scolastico per le industrie artistiche (CSIA), Lugano
skilled 2/19 Gender skilled 2/19 XXX Gender Interessen entwickeln. Geschlechterstereotype Verteilung von Frauen und Männern in der prägen aber auch die Wahrnehmung der eige- Ausbildung und im Arbeitsmarkt problema- nen Kompetenzen. Mädchen nehmen ihre ma- tisch sein. thematischen und technischen Fähigkeiten als Neuere Studien, beispielsweise von Julia deutlich schlechter wahr als Buben mit ver- B. Bear und Anita Williams Woolley, zeigen, gleichbaren Fähigkeiten. Folglich trauen sie dass die Produktivität und der Erfolg von Ar- es sich weniger zu als Buben, einen Beruf zu beitsgruppen mit der Geschlechterzusam- ergreifen, für den diese Fähigkeiten wichtig mensetzung in einem Beruf in Verbindung sind. stehen. Arbeitsteams in Berufen, die Frauen Zweitens beeinflussen Geschlechterstereo und Männer ungefähr zu gleichen Teilen aus- type die Fremdwahrnehmung von Eltern, Lehr- üben, leisten bessere Arbeit. Das liegt zum personen, Berufsberater/innen sowie Berufs- Teil daran, dass die Leistung von Frauen in bildungsverantwortlichen in den Betrieben. gemischten Berufen besser anerkannt wird. Dies schlägt sich in geschlechtstypischen Rat- Zusätzlich ist die Kommunikation in gemischt- schlägen zur Berufswahl nieder und lässt Be- geschlechtlichen Gruppen besser. Das bedeu- triebe bei Ausbildungsberufen, die stark von ei- tet beispielsweise, dass die Redezeiten ausge- nem Geschlecht dominiert sind, manchmal zö- glichener sind und die Entscheidungsprozes- gern, Lernende mit dem «falschen» Geschlecht se im Team demokratischer ablaufen. Die zu rekrutieren. bessere Zusammenarbeit optimiert die Ergeb- Dem dritten Mechanismus schliesslich wird nisse von Arbeitsgruppen und führt beispiels- in der Forschung grosses Gewicht beigemes- weise zu einer besseren Qualität der Produk- sen. Er postuliert, dass die geschlechtstypi- te, höheren finanziellen Erträgen oder auch sche Berufswahl in wohlhabenden und stark zu einer besseren subjektiven Einschätzung individualisierten Ländern als Mittel dient, des Erfolgs. um die eigene Geschlechtsidentität zu entwi- ckeln und zu stabilisieren. Die Berufswahl wird Schlechtere Perspektiven demnach nicht in erster Linie von ökonomi- Beschäftigte in typischen Frauenberufen ha- schen Überlegungen geleitet. Sie dient viel- ben oft weniger Aufstiegsmöglichkeiten als mehr der Selbstverwirklichung und hilft den Erwerbstätige in geschlechtsneutralen Beru- Jugendlichen, die eigene Geschlechtsidentität fen oder typischen Männerberufen. Dies liegt auszudrücken. einerseits an betrieblichen Strukturen, die sich Dies erklärt auch, warum die berufliche Ge- teilweise unterscheiden. Eine Fachfrau Betreu- ↑ Illustration von Alison Antonioli, Abteilung für Drucktechnik, Centro scolastico per le ↑ Illustration von Lisa Marazzi, Abteilung für Drucktechnik, Centro scolastico per le industrie industrie artistiche (CSIA), Lugano schlechtersegregation in Ländern mit einer ung in einer Kindertagesstätte oder eine me- artistiche (CSIA), Lugano starken Berufsbildung besonders hoch ist. In dizinische Praxisassistentin haben zum Beispiel weniger Als typische Frauenberufe gelten in der Studie Berufe, in Frauen und Männern jedoch ist zu gering, um die unter- diesen Ländern muss sich die Mehrheit der Jugendlichen Karrieremöglichkeiten als ein Multimediaelektroniker denen mindestens 70 Prozent der Beschäftigten Frauen schiedliche Berufswahl zu erklären. im selben Alter für einen Erstberuf entscheiden, in dem oder ein Informatiker, die oft auch in grösseren Betrieben sind, während typische Männerberufe maximal einen auch die Geschlechtsidentität entwickelt wird. Da der Zu- mit internen Aufstiegsmöglichkeiten arbeiten. Anderer- Anteil von 30 Prozent Frauen aufweisen. Stereotype als prägender Faktor gang zu den meisten qualifizierten Berufen in der Schweiz seits sind die Weiterbildungsmöglichkeiten in vielen frau- Ein anderer Erklärungsansatz stellt die kulturellen Vor- stärker an eine spezifische formale Berufsausbildung ge- entypischen Berufen schlechter als in Berufen mit einem Frauen verdienen generell weniger stellungen bezüglich der Eigenschaften von Frauen und knüpft ist, als dies beispielsweise in den angelsächsischen ausgeglichenen Geschlechterverhältnis oder einem ho- Diese grossen Unterschiede könnten im Prinzip auch da- Männern sowie von Berufen ins Zentrum. Frauen gelten Ländern der Fall ist, bleibt die starke Geschlechtersegre- hen Männeranteil. Dies wirkt sich auf die Berufsverläufe rauf zurückzuführen sein, dass sich die Erwerbstätigen demnach als besonders geeignet, um Frauenberufe aus- gation, die das Ausbildungssystem prägt, später auch im von Frauen und Männern aus, denn sich weiterzubilden, und die Betriebe in frauendominerten, männerdominier- zuüben, da ihnen soziale, emotionale und kommunika- Arbeitsmarkt bestehen. ist oft eine wichtige Voraussetzung, um sich beruflich ent- ten und geschlechterintegrierten Berufen bezüglich wich- tive Kompetenzen zugeschrieben werden. Diese Attribu- wickeln zu können. tiger Merkmale, wie etwa der Berufserfahrung oder der te sind auch in die Berufsbilder von Frauenberufen ein- Gemischte Teams arbeiten besser Die Forschung zeigt auch, dass der Geschlechtstyp ei- Betriebsgrösse, unterscheiden. Um solche Ursachen für gelagert. Umgekehrt gelten Männer als mathematisch Warum ist das Ausmass der geschlechtstypischen Be- nes Berufs mit dem Lohn zusammenhängt. Diesen Zu- Lohnunterschiede auszuschliessen, wurde der Lohn in und technisch begabter als Frauen, wobei diese Eigen- rufswahl überhaupt wichtig? Auf den ersten Blick scheint sammenhang weist eine neue Studie von Irene Kriesi, den drei Berufstypen anhand von Regressionsanalysen schaften mit den Berufsbildern von vielen Männerberu- es wenig problematisch, dass junge Frauen und Männer Miriam Grønning und Stefan Sacchi insbesondere auch untersucht. Die Ergebnisse sind in der Abbildung auf Sei- fen assoziiert werden. Solche Geschlechterstereotype verschiedene Interessen haben und unterschiedliche für junge Berufstätige mit einer beruflichen Grundbil- te 10 dargestellt. verstärken die geschlechtstypische Berufswahl durch drei Berufe wählen. Die Forschung zeigt allerdings auf, dass dung nach. Die Ergebnisse machen deutlich, dass junge Sie bestätigen erstens, dass Personen in frauentypi- Hauptmechanismen. eine starke Geschlechtersegregation sowohl individuel- Erwerbstätige in frauentypischen Berufen pro Jahr im schen Berufen auch bei vergleichbarer Qualifikation ge- Erstens führen sie dazu, dass Mädchen und Buben un- le Bildungs- und Berufslaufbahnen als auch die Leistung Durchschnitt 5800 Franken weniger verdienen als Er- nerell weniger verdienen als Personen in männertypi- terschiedlich sozialisiert werden und unterschiedliche von Betrieben beeinflusst. Deshalb kann eine ungleiche werbstätige in Berufen, die vor allem Männer erlernen. schen Berufen. So werden beispielsweise Maurer besser 8 9
skilled 2/19 Gender skilled 2/19 Gender Jährliches Bruttoerwerbseinkommen in Franken entlohnt als Dentalassistentinnen. Zudem macht die Ab- 56 000 ICT-Berufe bei Swisscom «Wir wollen das Interesse bildung deutlich, dass Frauen in männerdominierten und 55 000 Frauen geschlechterintegrierten Berufen signifikant weniger ver- 54 000 Männer dienen als ihre gleich qualifizierten Kollegen. Das bedeu- junger Frauen stärken» 53 000 tet beispielsweise, dass Malerinnen weniger verdienen als 52 000 Maler. In typischen Frauenberufen ist der Einkommens- 51 000 unterschied zwischen den Geschlechtern klein und sta- 50 000 Von Anna Keller und Antje Barabasch tistisch nicht signifikant. 49 000 48 000 Warum diese Lohnunterschiede? 47 000 In der Forschung werden verschiedene Ursachen für die- 46 000 se Unterschiede diskutiert. Der generell tiefere Lohn in Wie lassen sich junge Frauen für einen Berufsein- vielen frauentypischen Berufen wird oft damit erklärt, 45 000 stieg im Bereich Informations- und Kommunika- männerdominierte gemischte frauendominierte dass diese Berufe einen geringeren Status haben als män- Berufe Berufe Berufe tionstechnologie begeistern? Im Rahmen einer nertypische oder integrierte Berufe. Den Eigenschaften, Fallstudie zur Lernkultur in der Berufsbildung Quelle: Daten der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung 2003–2016; die mit den Berufsbildern von typischen Frauenberufen hat ein Team des EHB Berufsbildungsverantwort- die Zahlen beruhen auf eigenen Regressionsanalysen mit assoziiert werden, wird ein geringerer Wert beigemes- erwerbstätigen Personen mit einer beruflichen Grundbildung und liche und Lernende bei Swisscom dazu befragt. sen, was sich auch im Lohn widerspiegelt. Dies erklärt maximal zehn Jahren Berufserfahrung. Grafik: EHB allerdings nicht, warum Frauen in männerdominierten 483 Lernende machten bei Swisscom im Jahr und integrierten Berufen weniger verdienen als ihre telt werden. Männertypische Ausbildungsberufe lehren 2018 eine Lehre im Bereich Informations- und gleich qualifizierten Kollegen. Neuere Studien legen den mehr berufsspezifisches Fachwissen als Frauenberufe, die Kommunikationstechnologie (ICT), 112 davon Schluss nahe, dass der Arbeit von Frauen unabhängig mehr berufsübergreifendes Allgemeinwissen vermitteln. waren junge Frauen. Sie arbeiteten als Media- vom Berufstyp weniger Wert beigemessen wird als jener Der Lohnunterschied wird darauf zurückgeführt, dass Fach- matikerinnen, Informatikerinnen, ICT-Fachfrau- von Männern. Diese abwertende Haltung kann den Lohn wissen in der frühen Berufslaufbahn höher entlohnt wird en oder Interactive Media Designerinnen. Swiss- unterschied zwischen frauentypischen und männertypi- als Allgemeinwissen. Obwohl frauentypische Berufsausbil- com will den Frauenanteil in ICT-Berufen erhö- schen Berufen wiederum verstärken. dungen in der Schweiz im Schnitt tatsächlich weniger be- hen. Gerade ein Engagement in der Berufsbildung Als weitere mögliche Ursache für den Lohnunterschied rufsfachliche Kenntnisse vermitteln als männertypische kann dazu beitragen. wird die Art der Kenntnisse diskutiert, die in typischen frau- Ausbildungen, kann dieser Unterschied gemäss unserer en- und männerdominierten Ausbildungsberufen vermit- Studie nur einen sehr kleinen Teil des Lohnunterschieds Das Bild der ICT-Berufe verändern zwischen männer- und frauendominierten Berufen erklä- Obwohl die Anzahl junger Frauen in den ICT-Lehr- ↑ Illustration von Giorgia Bevilacqua und Lara Müller, Abteilung für Drucktechnik, Centro scolastico per le industrie artistiche (CSIA), Lugano ren. Vielmehr scheinen sich in diesem Unterschied kultu- berufen bei Swisscom in kleinen Schritten zu- rell geprägte und historisch gewachsene Vorstellungen vom nimmt, bewerben sich weit mehr junge Männer als junge werfen können, um für sich herauszufinden, ob ein sol- Wert «weiblicher» Arbeit und «männlicher» Arbeit zu spie- Frauen auf offene Lehrstellen. Wenn das Geschlecht bei cher Beruf zu ihnen passt. Speziell ist, dass die Events geln, die sich auch heute noch hartnäckig halten. der Rekrutierung keine Rolle spielen soll, werden in der komplett von ICT-Lernenden geplant und durchgeführt Folge auch entsprechend mehr junge Männer angestellt. werden. Die Besucherinnen erfahren so, dass es nicht nur ■ Prof. Dr. Irene Kriesi, Co-Leiterin Forschungsschwerpunkt Steuerung der Berufsbildung, EHB ■ Miriam Grønning, MA, wissenschaftliche «Deshalb wollen wir das Interesse junger Frauen an den theoretisch möglich ist, Informatikerin zu werden, son- Mitarbeiterin Forschungsfeld Institutionelle Bedingungen der ICT-Berufen stärken», sagt Willy Rösch, der bei Swisscom dern dass bei Swisscom wirklich Frauen aktiv in diesen Berufsbildung, EHB für die Rekrutierung der Lernenden zuständig ist. Dazu Berufen arbeiten, was zur Identifikation mit dem Beruf Literatur wird beispielsweise in Inseraten – entgegen dem oftmals beitragen kann. Die diesjährigen «Digital Days for Girls» ■ Grønning, M., Kriesi, I. & Sacchi, S. (in Vorbereitung). Skill specificity sehr techniklastigen Bild der ICT-Berufe – hervorgehoben, plante eine Mediamatiklernende im dritten Lehrjahr. Ihr of upper-secondary training occupations and the gender pay gap. dass in diesen Berufen heute auch Kreativität und Team- ist es wichtig, dass die Leiterinnen vor Ort nicht einfach Erscheint voraussichtlich 2020 in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie; Sonderheft Berufe und soziale Ungleichheit. fähigkeit gefragt sind und dass Informatiker/innen nicht vorne referieren, sondern dass die Besucherinnen mög- ■ Heiniger, M. & Imdorf, C. (2018). The role of vocational education in nur im stillen Kämmerchen arbeiten, sondern im Unter- lichst viel selbst ausprobieren können, wobei sie von den the transmission of gender segregation from education to nehmen viel bewegen können. In der Werbung für die ver- Swisscom-Lernenden individuelle Unterstützung erhalten. employment: Switzerland and Bulgaria compared, Journal for Labour Market Research, 52(1). schiedenen ICT-Ausbildungen werden Frauen und Män- ■ Anna Keller, MSc, Junior Researcher Forschungsfeld Lernkulturen ■ Kriesi, I. & Imdorf, C. (2019). Gender Segregation in Education. Seiten ner bewusst gleichermassen als Sujets gewählt, um dem und Didaktik, EHB ■ Prof. Dr. Antje Barabasch, Leiterin 193–212 in R. Becker (Ed.), Research Handbook of Sociology of Bild einer typischen Männerdomäne entgegenzuwirken. Forschungsschwerpunkt Lehren und Lernen in der Berufsbildung, EHB Education. Cheltenham, UK and Northampton, MA, USA: Edward Elgar Publishing. ▶ www.ehb.swiss/project/dimensionen-lernkulturen ■ Bear, J. B. & Woolley, A. W. (2011). The role of gender in team Identifikation mit Vorbildern ▶ www.swisscom.ch/de/about/jobs/digital-days-for-girls.html collaboration and performance. Interdisciplinary Science Reviews, Swisscom bietet mit den «Digital Days for Girls» spezifi- 36(2), 146–153. sche Events für Schulabgängerinnen an. Gemäss Projekt- ↑ Illustration von Giulia Ferrario und Lara Müller, Abteilung für Drucktechnik, ▶ www.ehb.swiss/forschungsfeld-32-projekte leiter Urs Gloggner ist das Ziel dieser Spezialtage, dass die Centro scolastico per le industrie artistiche (CSIA), Lugano ▶ www.ehb.swiss/forschungsfeld-32-publikationen Besucherinnen einen Blick hinter die Kulisse der ICT-Welt 10 11
skilled 2/19 Gender skilled 2/19 Gender Nachgefragt «Im Kanton Baselland bekommen al- weisen wir während unseren Eltern-Schüler/innen-Ver- Was, wenn der Traumberuf das le Schülerinnen und Schüler am Gen- anstaltungen gezielt auf das Thema der offenen Berufs- dertag-Zukunftstag im November je- wahl hin und zeigen auf, dass die individuelle Wahl im BIZ Liestal / ©Raisa Durandi weils Einblicke in untypische Berufe gesamten Berufswahlspektrum für alle ein Gewinn ist falsche Geschlecht hat? und setzen sich unabhängig vom Ge- schlecht regelmässig mit dem The- ma Arbeit auseinander. und von allen gefördert werden soll.» Nicole Fiechter, Leiterin Berufs-, Studien- und Lauf- Umfrage: Kommunikation EHB In der Beratung ist es dann einfach, bahnberatung BIZ Liestal sowie Mitglied der Fachgruppe diese Erfahrungen aufzugreifen und Gender und der Begleitgruppe Gendertag-Zukunftstag des aufzuzeigen, wie breit die Berufswahl sein kann, wenn man Kantons Baselland sich nicht von stereotypen Vorstellungen leiten lässt. Wich- tig ist, dass man auch die Eltern mit im Boot hat. Deswegen Wie animieren Sie Jugendliche dazu, sich in der Berufswahl nicht von stereotypen Vorstellungen über Frauen- und Männerberufe einschränken zu lassen? Sieben Berufsberater/innen erzählen, wie sie in ihrem Alltag mit dieser Herausforderung umgehen. «Der Meinung von andern wird in kann Vorteile haben, weil sie genauer hinschaut. Umge- der Pubertät viel Bedeutung beige- kehrt kann ein junger Mann in der Pflege auf ältere Män- «Die Geschlechterklischees sind tief Schwierigkeiten zu kämpfen: Da gibt es Anspielungen, messen. Wenn ich mit jungen Men- ner eine beruhigende Ausstrahlung haben, weil sie sich verwurzelt. Es ist illusorisch zu glau- herabsetzende Bemerkungen ... Die Männer hingegen wer- schen rede, versuche ich, ihnen be- vielleicht lieber von einem Mann als von einer Frau pfle- ben, dass sie sich durch ein Gespräch den in sogenannt weiblichen Berufen eher gehätschelt. wusst zu machen, was bei der Be- gen lassen. Wenn man in gemischten Teams arbeitet, er- in der Berufsberatung ausräumen Junge Frauen, die sich für einen atypischen Beruf ent- rufswahl wirklich zählt: die eigenen gibt sich ausserdem meist eine angenehmere Arbeits lassen. Hier geht es vielmehr darum, scheiden, wissen meist sehr gut, dass sie dies wollen. Wir Wünsche und Fähigkeiten, die Per- atmosphäre.» die Vorstellungen zu erweitern, die versuchen, sie vorzubereiten, indem wir mit ihnen über sönlichkeit und die Kompetenzen. zvg sich die jungen Leute von der Berufs- mögliche Widerstände reden, die sie zu bewältigen haben.» Ich versuche, ihnen klarzumachen, Kamylla Montandon, Berufsberaterin bei der welt machen, und sie zu motivieren, dass es keine weiblichen oder männlichen Berufe gibt. Ei- Berufsberatung in Sainte-Croix und Yverdon-les-Bains zvg in Betrieben Praktika zu absolvieren Jean-Pierre Cattin, Leiter des Dienstes für Berufs-, ne junge Frau, die in einem technischen Beruf arbeitet, oder an Unternehmenspräsentationen teilzunehmen. Die Studien- und Laufbahnberatung im Kanton Genf Frauen haben in der Regel in atypischen Berufen mit mehr «In Schulklassen versuche ich, die che Herausforderungen hin. Wenn von den Jugendlichen Jugendlichen dafür zu sensibilisieren, oder den Eltern grosse Vorbehalte kommen, versuche ich «Auch bei der Berufswahl lässt sich zu treffen. Wer einen Weg einschlägt, den er oder sie dass sie als Freund oder Freundin ei- nicht, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Erfahrungsgemäss die Gleichstellung der Geschlechter wirklich einschlagen will, geht die Ausbildung und die nen Einfluss auf die Berufswahl ha- führt das zu einer Rechtfertigungshaltung und Verhärtung fördern: Die Berufsbilder werden möglichen Hindernisse motiviert an. Solche Personen ben. Ich versuche nachvollziehbar zu der Position.» heute ohne weibliche und männli- tragen letztlich dazu bei, dass unser Arbeitsmarkt jedem machen, dass die Reaktion ‹Was? Das che Konnotationen vorgestellt. Man und jeder ohne Geschlechterklischees offensteht.» ist doch ein Beruf für Frauen/Män- Tobias Roder, Berufs- und Laufbahnberater am darf jedoch nicht vergessen, dass die ner› einen Berufswunsch zerstören Berufsberatungs- und Informationszentrum in Burgdorf zvg geschlechtsspezifischen Stereotype Matteo Crivelli, Berufsberater bei der Schul- und kann – ein sorgfältiger Umgang da- in unserer Gesellschaft mehr oder Berufsberatung in Breganzona gegen vieles möglich macht. In der Einzelberatung versu- zvg weniger explizit immer noch vor- che ich, die Vorteile aufzuzeigen, die sich aus einer solchen handen sind. In der Berufsberatung wollen wir junge Berufswahl ergeben können, weise aber auch auf mögli- Menschen dabei unterstützen, eine bewusste eigene Wahl «Wichtig ist zu vermitteln, dass alle Mann, der Kindergärtner ist? Frag sie, was gut läuft und «Wir animieren Jugendliche mit dem spät kommt, Meinungen und Prägungen werden vorher Ideen und Berufswünsche einen wo die effektiven Tücken sind. Denn: ‹Wählst du einen Berufswahltheater ‹My Top Job› und gebildet. Meine Erfahrung zeigt, dass das Umfeld mitent- Platz haben, auch wenn sie nicht in Beruf, den du liebst, brauchst du keinen Tag in deinem dazugehörenden flippigen Plakaten scheidend ist und sich Jugendliche im Berufswahlalter ein Schema passen. ‹Hör auf deine Leben mehr zu arbeiten› (Konfuzius).» und Karten sowie mit ‹Rent-a-Stift›, von ihrem familiären Umfeld und Peer-Gruppen leiten zvg / @FLUSSREIF innere Stimme›, ist die zentrale Bot- einem Schulbesuch, bei dem Lernen- lassen. Den eigenen untypischen Berufswunsch setzen schaft, ‹und verschaffe dir einen Ein- Martin Ziltener, Abteilungsleiter Berufs-, Studien- und de aus geschlechtsuntypischen Be- sie dann manchmal erst mit dem Zweitberuf um.» blick in die Berufswelt!› Laufbahnberatung und Mitglied der Geschäftsleitung, rufen aus ihrem Alltag berichten. Konkret: Es ist wertvoll, eine oder ask! – Beratungsdienste für Ausbildung und Beruf Aarau In der Beratung suche ich nach be- Andrea Egli, Berufs- und Laufbahnberaterin, Leiterin mehrere Schnupperlehren im Wunsch- zvg kannten Vorbildern in ihrem nahen Berufs- und Weiterbildungsberatung Obwalden beruf zu machen oder in einem ähnlichen Beruf aus dem- Umfeld, die Jugendliche unterstützen können. Oftmals selben Berufsfeld. Hilfreich ist zudem, ein Vorbild zu su- zeigt sich, dass diese Diskussion im Berufswahlalter zu chen: Kennst du eine Frau, die auf dem Bau arbeitet? Einen 12 13
skilled 2/19 Gender skilled 2/19 Gender Berufslehre gen … Aber der Beruf als Technologe ist halt Was hinter der beruflichen mehr etwas für Männer … […] Etwa wenn es darum geht, Paletten zu schleppen … » Hier wird Männlichkeit mit körperlicher Sozialisation steckt Kraft assoziiert, obwohl sich die Arbeitsbedin- gungen in diesem Beruf mittlerweile verändert haben. Die Berufsbildner/innen geben also Von Nadia Lamamra ebenfalls Normen weiter, vor allem, was die vermeintliche körperliche Eignung betrifft. Diese sozialen Normen werden von Caroline, Detailfachhändlerin und Ausbildnerin in einem Viele Berufe und die Ausbildungen dazu sind nach wie vor zweiten Phase aus der Geschlechterperspektive analy- kleinen Laden, gar explizit genannt: «Vor vier stark geschlechtsspezifisch geprägt. Obwohl sich verschie- siert wurde. So müssen sich etwa männliche Lernende Jahren habe ich ein Mädchen eingestellt, 16 dene Akteure ein ausgewogeneres Geschlechterverhältnis in Berufen, die vorwiegend von Männern ausgeübt wer- Jahre, richtig süss, […], aber das Problem war, wünschen, ist ein guter Mix immer noch nicht vorhanden. den, entsprechenden Männlichkeitsnormen und -stan- dass es eine Art gibt, wie man sich kleiden In zwei Studien hat das EHB untersucht, wie die duale Be- dards unterwerfen. sollte […] diese ordinäre Art, das passt nicht rufsbildung geschlechtsspezifische Berufsbilder mitprägt Théo, ein 16-jähriger Gärtnerlehrling, der seine Lehre wirklich …» und dazu beiträgt, Geschlechternormen zu verfestigen. abgebrochen hat, erzählt dazu: «Das sind Körbe, die fas- Dies ist eine sehr deutliche Zurechtweisung, sen, sagen wir, 70 Liter … Wenn das Gras also nass ist […] und sie hat vor allem einen stark normativen Die enge Verbindung mit dem Arbeitsmarkt macht die Be- Ja, dann ist das ziemlich harte Arbeit … Ja, das hat schon Charakter. Eine Frau muss also nicht nur fach- rufsbildung zu einem idealen Gebiet, um die berufliche Spass gemacht.» Die jungen Männer lernen also, Anstren- lich gut sein, sondern sie muss auch vielen, Sozialisation zu erforschen. Im Kontext von stark ge- gung als Spass zu sehen und zu verneinen, dass sie da oft zweifelhaften gesellschaftlichen Erwartun- schlechtsspezifisch geprägten Berufen runter leiden, wie die Sozialpsychologin gen entsprechen. (siehe S. 4–5 in diesem Heft) erfolgt auch Pascale Molinier analysiert hat. In ein Berufsfeld einzutreten, bedeutet also die Berufsbildung nicht geschlechtsneu- Bei Frauen hat die Anpassung oft stär- oft, dass man sich an die dort herrschenden tral. Es ist ein Teil der beruflichen So- ker mit dem Aussehen zu tun. Yasmine Normen von Männlichkeit oder Weiblichkeit zialisation, die Lernenden mit den gän- ist 16 Jahre alt und hat als Dentalassisten- anzupassen hat. Diese Normen werden selten gigen Geschlechterrollen eines Berufs- tin gekündigt. Sie erzählt von den Erwar- hinterfragt, obwohl sie meist sehr klischiert felds vertraut zu machen. tungen an sie, den «richtigen Körper» ha- sind. Sie verstärken die geschlechtsspezifische Der Arbeitsmarkt ist stark geschlechts- ben zu müssen: «Einer [ein Arbeitgeber] Arbeitsteilung und tragen dazu bei, die kaum spezifisch strukturiert. Frauen und Män- hat mir gesagt: ‹Ich weiss halt nicht, ob bis gar nicht durchmischte Berufswelt aufrecht- ner üben nicht dieselben Berufe aus, und sie gut um den Zahnarztstuhl herum- zuerhalten. es gibt unter diesen Berufen eine Hier- kommt.› Das ist diskriminierend, das ↑ Illustration von Nina Biaggio, Abteilung für Drucktechnik, Centro scolastico per le ■ Prof. Dr. Nadia Lamamra, Leiterin Forschungsfeld archie. Bereits Jugendliche werden in ih- müsste verboten sein. Wenn man heut- Integrations- und Ausschlussprozesse, EHB industrie artistiche (CSIA), Lugano rer beruflichen Sozialisation mit diesen zutage ein Mannequin sein muss, um ei- Prinzipien der Trennung und Hierarchi- ne Lehre machen zu können, dann frage Sie sagten, […] das ist doch kein Beruf für Mädchen, ich ▶ www.ehb.swiss/project/betriebliche-berufsbildnerInnen- schluesselrolle sierung vertraut gemacht. Schliesslich ich mich, wo das noch hinführt.» würde es sowieso nicht lange in der Autowerkstatt aus- ▶ www.ehb.swiss/project/berufsbildung-als-ort-der- sind auch Unternehmenskulturen stark Wenn von jungen Frauen ein «pro- halten.» geschlechterkonstruktion geschlechtsspezifisch geprägt, wie die fessionelles Auftreten» erwartet wird, Mit diesen expliziten Äusserungen gab das Kollektiv Literatur Soziologin Catherine Marry in ihrer For- ↑ Illustration von Lea Bignotti, Abteilung heisst das in der Regel, dass sie sich pas- der jungen Frau zu verstehen, dass sie in diesem Beruf ■ BFS (2013). Vers l’égalité? Neuchâtel: BFS. für Drucktechnik, Centro scolastico per schung über Pionierinnen aufgezeigt hat. le industrie artistiche (CSIA), Lugano send kleiden. Sie müssen also nicht nur keinen Platz hat. ■ Kergoat, D. (2000). Division sexuelle du travail et rapports sociaux de Diese geschlechtsspezifische Sozia- die Codes des Berufs kennen, sondern sexe. In H. Hirata, F. Laborie, H. Le Doaré & D. Senotier (Hrsg.), Dictionnaire critique du féminisme, 35–44. Paris: PUF. lisation war auch Gegenstand von zwei Studien, die For- auch jene der Weiblichkeit einzusetzen wissen: Sie sollen Im Zentrum der Gender-Sozialisation ■ Lamamra, N., Duc, B. & Besozzi, R. (2019). Au cœur du système dual: schende des EHB durchgeführt haben. Die eine befasste attraktiv sein, aber nicht vulgär. Aus der Studie von 2019 geht deutlich hervor, dass die Be- les formateurs et formatrices en entreprise. Renens: IFFP. sich mit Lernenden, die andere mit Berufsbildner/innen Arbeitskolleginnen und -kollegen spielen in diesem rufsbildner/innen in den Betrieben wichtige Referenzper- ■ Lamamra, N. (2016). Le genre de l'apprentissage, l'apprentissage du genre. Quand les arrêts prématurés révèlent les logiques à l'oeuvre in den Betrieben. Die nachfolgend präsentierten Auszü- Prozess eine wichtige Rolle. Wenn das Verhalten junger sonen sind, wenn es um die Wahrnehmung des Berufs- en formation professionnelle initiale. Zürich/Genf. ge stammen aus diesen beiden Untersuchungen. Menschen als abweichend betrachtet wird, werden sie bildes geht. Ihre Ansichten sind für die Lernenden von ■ Marry, C. (2007). Celles qui dérogent… In C. Baudelot & R. Establet oft zurechtgewiesen, manchmal auch stigmatisiert. Agnès, grosser Bedeutung. Einige Berufsbildner/innen reprodu- (Hrsg.), Quoi de neuf chez les filles? Entre stéréotypes et liberté, 123–128. Paris. Lernende werden mit Geschlechterrollen konfrontiert 18 Jahre alt, betonte nach dem Abbruch ihrer Ausbildung zieren dabei überholte Rollenbilder, obwohl sie sich ei- ■ Molinier, P. (2000). Virilité défensive, masculinité créatrice. In Travail, Geschlechternormen werden im Alltag manchmal durch- zur Carrosserielackiererin, wie heftig ihr immer wieder gentlich für ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis genre et sociétés, 3, 25–43. aus bewusst vermittelt, sie können aber auch durch vie- Vorwürfe gemacht wurden und wie sehr ihr Minderhei- aussprechen, wie etwa Benjamin, Lebensmitteltechnolo- le kleine, fast unsichtbare Gesten weitergegeben werden. tenstatus als Frau die Situation noch verschärfte: «Am ge und Berufsbildner in einem Grossunternehmen: «Ich Dies zeigt eine Studie über Lehrabbrüche, die in einer Anfang ging es gut, aber dann wurde ich heruntergemacht. mache keinen Unterschied zwischen Mädchen und Jun- 14 15
skilled 2/19 Gender Laufbahnstudie im Sozialbereich Eine Lehre in einem typischen Frauenberuf – und dann? Von Belinda Aeschlimann und Ines Trede In den Sozialberufen ist die Abwanderungsquote von qua- stellen, die ihre Lehre in einem typischen Frauenberuf lifizierten Berufsleuten überdurchschnittlich. In der Kin- machen? Diese Frage haben Forschende des EHB bei an- derbetreuung fehlen insbesondere Männer. Ob angehende gehenden Fachfrauen und Fachmännern Betreuung Fachfrauen und Fachmänner Betreuung dem Sozialbereich (FABE) untersucht. 86 Prozent von ihnen sind Frauen. nach ihrem Abschluss erhalten bleiben, untersuchten das EHB und SAVOIRSOCIAL in einer Laufbahnstudie. Männernische im Frauenberuf Die Lernenden FABE werden am häufigsten in den Fach- Dass Frauen und Männer weltweit verschiedene Berufe richtungen Behinderten- und Kinderbetreuung ausge- wählen, ist bekannt. In der Schweiz zeigt sich dies deut- bildet. Die Behindertenbetreuung (BEH) findet oft in lich bei der ersten Berufswahl. Frauen bevorzugen Beru- geschützten Werkstätten statt und ist von handwerkli- fe aus den Bereichen Soziales und Ge- chen und industriellen Arbeiten ge- Frauen bevorzugen Berufe sundheit, während Männer vor allem prägt – Tätigkeiten, die als typisch aus den Bereichen Soziales in handwerklich-technischen Ausbil- männlich angesehen werden. Die und Gesundheit, während dungen vertreten sind (siehe S. 4–5 in Kinderbetreuung (KIBE) wiederum Männer vor allem in diesem Heft). Eine geschlechtstypi- ist aufgrund ihrer vor allem fürsorg- handwerklich-technischen sche Berufswahl ist insbesondere für lichen Tätigkeiten als Frauendomä- Ausbildungen vertreten Frauen problematisch, da sie – auch ne einzuordnen. Dass die BEH eine sind. auf höheren Bildungsstufen – oft mit Männernische in einem Frauenbe- tieferem Lohn und geringeren Karrierechancen verbun- ruf ist, zeigt sich in der Ausbildungsstatistik: Der Män- ↑ Illustration von Lara Müller, Abteilung für Drucktechnik, Centro scolastico per le industrie artistiche (CSIA), Lugano den ist (siehe S. 6–10 in diesem Heft). Lassen sich diese neranteil unter den Lernenden ist dort mit 30 Prozent Tendenzen auch bei jungen Frauen und Männern fest- fast viermal höher als in der Kinderbetreuung, wo es 8 Pro- Männer revidieren ihre erste Wahl tere Anstellungsbedingungen einher. Die Tendenz der zent sind. Die Analysen dieser vier Gruppen zeigen, dass die Be- Männer, aus dem Sozialbereich auszusteigen oder eine Laufbahnstudie im Sozialbereich rufs- und Bildungsabsichten stark divergieren. Weibliche höhere Berufsbildung im Bereich Soziales zu absolvie- Im Auftrag von SAVOIRSOCIAL hat das Schweizerische Observatorium für die Vier Gruppen untersucht Lernende der Fachrichtung KIBE möchten am häufigs- ren, spricht eher für eine Korrektur der geschlechtsun- Berufsbildung des EHB eine dreiteilige Laufbahnstudie zu Ausbildungs- Dies bedeutet, dass Lernende FABE mit ihrer Berufswahl ten im Beruf und in der Kinderbetreuung bleiben. Gleich- typischen Berufswahl. Damit verbunden ist die Aussicht und Erwerbsverläufen im Sozialbereich durchgeführt. Die hier präsentierten punkto Geschlechtstypik eine doppelte Entscheidung ge- zeitig streben sie seltener eine Tertiärbildung oder eine auf bessere Karrierechancen und mehr Lohn. Diese Ten- Ergebnisse stammen aus der ersten troffen haben: Erstens für das frauentypische Berufspro- Tätigkeit ausserhalb des Sozialbereiches an. Weibliche denz unterläuft die Absichten der Branche, die Berufs- Befragung von 2160 lernenden fil FABE und zweitens für eine mehr oder weniger frau- Lernende der Fachrichtung BEH sind hingegen mobiler. ausstiege zu reduzieren und den Anteil an qualifiziertem Fachfrauen und Fachmännern entypische Fachrichtung. Basierend darauf untersuchte Sie planen insbesondere, eine höhere Fachschule zu be- Personal zu erhöhen. Betreuung im Jahr 2016. die Studie vier Gruppen von angehenden Betreuungsfach- suchen. Die männlichen Lernenden tendieren insgesamt Warum Kinderbetreuerinnen kaum Tertiärbildungen Eine zweite Befragung derselben kräften: 1. Frauen im KIBE-Bereich und 2. Frauen im we- stärker dazu, den Beruf zu wechseln, sei dies über ein Stu- anstreben und männliche FABE häufiger den Beruf wech- Personen fand im Frühling 2019 statt. Ergebnisse, die beide Befragungs niger geschlechtstypischen Arbeitsbereich BEH, 3. Män- dium an einer höheren Fachschule oder Fachhochschule seln möchten, wird derzeit vertieft analysiert. Die Gründe zeitpunkte einbeziehen, werden diesen ner im für sie geschlechtstypischen BEH-Bereich und 4. oder mit einer Tätigkeit ausserhalb des Sozialbereichs – dafür dürften sowohl im Bildungsangebot Soziales als Spätherbst publiziert. Ein ausführlicher Männer im KIBE-Bereich. Unbekannt war bisher, welche wobei es sie bevorzugt in potenziell prestigeträchtigere auch in individuellen Präferenzen zu finden sein. Beitrag zur Bedeutung des Geschlechts Berufs- und Bildungsentscheidungen diese vier Gruppen Tertiärberufe wie beispielsweise in pädagogische Berufe ■ Dr. Belinda Aeschlimann, Senior Researcher Schweizerisches beim Übergang in die berufliche nach Lehrabschluss treffen und ob sie ihre geschlechtsty- im Bildungswesen zieht. Observatorium für die Berufsbildung, EHB ■ Prof. Dr. Ines Trede, Tertiärbildung im Sozialbereich wird im pische oder -untypische Erstwahl beibehalten, verstärken Leiterin Schweizerisches Observatorium für die Berufsbildung, EHB Buch «Gendersensible Berufs oder revidieren. Dies analysierten die Forschenden nun Bessere Karrierechancen mit einem Ausstieg? orientierung und Berufswahl» zu finden ▶ www.ehb.swiss/obs/fachkraftemangel-im-sozialbereich anhand der Absichten der Lernenden, nach ihrem Ab- Aus sozialpolitischer Sicht sind die ausgeprägten Absich- sein, das im November im hep-Verlag schluss im Arbeitsbereich zu bleiben oder ihn zu wech- ten der Kinderbetreuerinnen, im Beruf und im Arbeits- erscheint. seln, ein Hochschulstudium oder eine höhere Berufsbil- bereich KIBE zu verbleiben, als problematisch zu bewer- dung zu beginnen oder den Sozialbereich zu verlassen. ten, denn damit gehen ein schlechterer Lohn und schlech- 16 17
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