Skilled N 22019 - Eidgenössisches Hochschulinstitut für ...

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Skilled N 22019 - Eidgenössisches Hochschulinstitut für ...
skilled
                                                                       N°2
                                                                       20
                                                                        19

Das Magazin des Eidgenössischen Hochschulinstituts für Berufsbildung

                       Gender
Skilled N 22019 - Eidgenössisches Hochschulinstitut für ...
Schwerpunktthema                          19    Diskriminierung                                32    Programm trans:formation                                               Grafikwettbewerb

              Gender                                      «Homosexualität ist noch
                                                           oft ein Tabu»
                                                                                                                Eintauchen in einen Digi-Check-
                                                                                                                Workshop in Lausanne                                      Illustrationen
4     Analyse der Lehrverträge                       20    Für die Praxis                                                                                                 aus dem Tessin
      Frauen und Männer lernen                             Wege zu einer gendergerechteren
      andere Berufe                                        Berufsausbildung                                                                                                                 Schule für Gestaltung Zürich
                                                                                                                                                                                            skilled 1/19: Motivation
6     Geschlechtersegregation in der Berufsbildung
                                                                                                                                                                                       Berufsfachschule Aarau
      Der Beruf stiftet Identität –                                                                                                                                                    skilled 1/17: Kreativität

      auch bezüglich des Geschlechts                                                                                                                                                                 Schule für Gestaltung St. Gallen
                                                                                                                                                                                                     skilled 1/18: Digitalisierung

                                                                                                                                                                      Schule für Gestaltung Bern & Biel
                                                                                                                                                                      skilled 1/17: Kreativität
                                                                                                                                                                      skilled 2/17: Migration
                                                                                                          34    Stefan Eberle, Prüfungsexperte für Hauswirtschaft

                                                                                                               «Da fing es an, ich war
                                                                                                                der einzige Kerl»
                                                                                                                                                                                                   Centro scolastico per
                                                                                                                                                                                                   le industrie artistiche
                                                                      Weitere Themen                                                                                                               (CSIA) in Lugano
                                                                                                                                                                                                   skilled 2/19: Gender

                                                     22    Neues Ausbildungskonzept am EHB

                                                           Innovative Studienpläne
                                                           für die Zukunft
                                                     25    Coaching                                                                                                 Walliser Schule für Gestaltung ECAV in Siders
                                                                                                                                                                    skilled 2/18: Kompetenz
                                                           In der Kürze liegt die Würze
11    ICT-Berufe bei Swisscom                        26    Gina Girardi, lernende Feinwerkoptikerin
                                                                                                          36    Neue Angebote
     «Wir wollen das Interesse                            Im Bann des Prismas
                                                                                                                Am Puls der Berufsbildung
      junger Frauen stärken»                                                                                                                                           Für diese Ausgabe von «skilled» haben sich Studierende
                                                                                                          37    Master of Science in Berufsbildung                     der kantonalen Kunstschule im Tessin, die zum Centro
12    Nachgefragt                                                                                                                                                      scolastico per le industrie artistiche (CSIA) in Lugano
                                                                                                                AD(H)S die Stirn bieten                                gehört, mit dem Thema Gender auseinandergesetzt. Die
      Was, wenn der Traumberuf                                                                                                                                         Werke zeigen die persönlichen Gedanken, Assoziationen
      das falsche Geschlecht hat?                                                                         38    Diplomiert: Brigitte Spielmann, bili-Absolventin
                                                                                                                                                                       und Ideen der Jugendlichen zur Genderthematik. In der

14    Berufslehre
                                                                                                               «Es ist wie ein Stein im Wasser,                       Kombination von Kupferstichen, Fotografie und Malerei
                                                                                                                der Wellen schlägt»                                    treffen dabei ganz unterschiedliche Techniken aufeinan-
      Was hinter der beruflichen                                                                                                                                       der. Eine Auswahl der entstandenen Kreationen illust-
      Sozialisation steckt                                                                                39    Carte Blanche: Christophe Nydegger                     riert den Schwerpunktteil dieses Hefts.
                                                                                                                                                                          Besonders gefallen hat der «skilled»-Redaktion die
16    Laufbahnstudie im Sozialbereich
                                                                                                                Endlich wird es konkret!                               Illustration von Alison Antonioli, die auf der Titelseite

      Eine Lehre in einem typischen                  28    Alumni / Nachrichten                           40    7 Fragen an …                                         dieser Ausgabe zu sehen ist. Wir gratulieren Alison Antonioli
                                                                                                                                                                       herzlich zu diesem ersten Platz.
      Frauenberuf – und dann?                              News aus dem EHB                                     EHB-Mitarbeiter                                           Unser Dank gilt der dritten und vierten Klasse der

18    Chancengleichheit                              30	Serge Frech, Geschäftsführer ICT-Berufsbildung
                                                                                                                André Zbinden                                          Abteilung für Drucktechnik an der CSIA, Carolina Maria
                                                                                                                                                                       Nazar, die das Projekt als Lehrperson betreut hat, sowie
      Mit ConciLab die Gleichstellung                  «Den Mädchen werden IT-Berufe                     41	
                                                                                                             Agenda                                                    Direktor Roberto Borioli und Vizedirektor Nicola Soldini,
      an Berufsfachschulen fördern                      noch immer ausgeredet»                               EHB-Anlässe bis Mai 2020                                  die es überhaupt ermöglicht haben.

                                                                                                                                                                       ▶ www.csia.ch
Skilled N 22019 - Eidgenössisches Hochschulinstitut für ...
skilled 2/19               Der Präsident                                                                                       skilled 2/19           Editorial

Der Geschlechterfrage als                                                                                                      Typisch Frau, typisch Mann
Herausforderung begegnen                                                                                                       gilt noch immer

                                                      «Wir müssen auch darauf achten, dass
                                                                                                                                                                                    «Für die wirklich freie Wahl braucht es ein
                                                        Frauen die gleichen Chancen haben wie
                                                                                                                                                                                      Umdenken in unseren Köpfen. Stärken
                                                        Männer, in Führungspositionen auf-
                                                                                                                                                                                      wir Jugendliche, sich berufliche Terrains
                                                        zusteigen, und dass Rahmenbedingungen
                                                                                                                                                                                      zu erobern, die für ihr Geschlecht noch
                                                        für eine gerechtere Gesellschaft
                                                                                                                                                                                      wenig typisch sind.»
                                                        geschaffen werden.»
EHB / Alexander Jaquemet

                                                                                                                               EHB / Ben Zurbriggen
Liebe Leserin, lieber Leser                    Die Vorstellung, die sich Frauen und spielsweise für Frauen nach einer Schei-   Liebe Leserin, lieber Leser               sollten die zentralen Fragen sein, wenn     wieder einen leicht irritierten Blick –
                                            Männer heute von ihrer Rolle machen, dung) und etwas dagegen zu tun. Wir                                                     junge Frauen und Männer ihren Beruf         und hat längst ein Rezept dage­gen. Es
Unser Land verfügt zwar über ein ho-        hinkt noch oft der immer schnelleren müssen auch darauf achten (wir tun            Es gibt sie: die Maurerin, Metallbau-     wählen. Theoretisch stehen heute al-        braucht solche Pionierinnen und Pionie-
hes Bildungsniveau und eine beeindru-       wirtschaftlichen und gesellschaftlichen dies am EHB), dass Frauen die gleichen     praktikerin oder Informatikerin. Und      len sämtliche Berufe offen. Praktisch       re in der immer noch stark geschlechts-
ckende Wettbewerbsfähigkeit, aber           Entwicklung hinterher. Das auffälligs­ Chancen haben wie Männer, in Füh-           es gibt ihn: den Fachmann Gesund-         aber gibt es Barrieren – auch das Ge-       spezifisch strukturierten Berufswelt.
bezüglich der Gleichstellung der Ge-        te Beispiel dafür ist das traditionelle rungspositionen aufzusteigen, und          heit, Floristen oder Dentalassistenten.   schlecht ist eine.                              Auch wir am EHB betreten diesen
schlechter haben wir noch grossen Auf-      Familienmodell mit einem Mann, der dass Rahmenbedingungen für eine ge-             Doch sie sind auch 2019 noch selten.          Für die wirklich freie Wahl braucht     Herbst Neuland: Unser erster Bache-
holbedarf.                                  Vollzeit arbeitet, und einer Frau, die rechtere Gesellschaft geschaffen wer-          Die Zeit der typischen Frauen- und     es ein Umdenken in unseren Köpfen.          lor of Science in Berufsbildung startet,
   1971 wurde auf eidgenössischer Ebe-      nur in Teilzeit beschäftigt ist, obwohl den. Nicht nur die Wirtschaft wird da-     Männerberufe ist nicht passé. Auch        Stärken wir Jugendliche, sich berufli-      und in der Ausbildung setzen wir auf
ne das Frauenstimmrecht eingeführt.         an den Hochschulen längst mehr Frau- von profitieren, sondern auch unser           heutzutage entscheiden sich viele Ju-     che Terrains zu erobern, die für ihr Ge-    ein neues Konzept. Mit dem Programm
1977 hielt ein Bundesgerichtsurteil         en als Männer studieren. Die Frau küm- soziales Gefüge.                            gendliche für einen Beruf, der zu ih-     schlecht noch wenig typisch sind. Da-       trans:formation unterstützen wir zu-
fest, dass eine Lehrerin gleich viel ver-   mert sich nach diesem überholten Mus-                                              rem Geschlecht «passt», wie eine Ana-     für braucht es auch Lehrpersonen und        dem weiterhin Berufsfachschulen bei
dienen soll wie ein Lehrer! 1996 trat       ter um die Kinder, den Haushalt, die                                               lyse des EHB zeigt. Wie sich das erklä-   Berufsbildner/innen, die alle Lernen-       ihrer digitalen Transformation.
das Bundesgesetz über die Gleichstel-       Eltern und die Schwiegereltern, wäh-                                               ren lässt, was die Folgen davon sind      den unabhängig vom Geschlecht und
lung von Frau und Mann in Kraft. Seit-      rend der Mann dafür nicht im gleichen                                              und weitere Gender-Aspekte in der         der sexuellen Orientierung vorurteils-
her wurden weitere Gesetze erlassen,        Ausmass zur Verfügung steht.            Dr. Philippe Gnaegi,                       Berufsbildung beleuchten wir in die-      los begleiten und unterstützen.
wie etwa jenes über die Aufteilung der         Es ist die Aufgabe des Bildungssys- Präsident EHB-Rat                           sem «skilled».                                Stefan Eberle hat es gewagt. Der Prü-
beruflichen Vorsorge zwischen Ehe-          tems, über diese Stereotype zu spre-                                                  Was kann ich gut? Was interessiert     fungsexperte für Hauswirtschaft (siehe      Jean-Pierre Perdrizat,
paaren bei einer Scheidung.                 chen, ihre Gefahren aufzuzeigen (bei-                                              mich? Was fordert mich heraus? Das        S. 34 in diesem Heft) erntet immer mal      Direktor ad interim EHB

2                                                                                                                                                                                                                                                         3
Skilled N 22019 - Eidgenössisches Hochschulinstitut für ...
skilled 2/19             Gender
                                                                                                                                                     Die 20 populärsten Berufe: Frauen- und Männeranteile

          Analyse der Lehrverträge                                                                                                                                 62,25 % 37,75  %                 1. Kaufmann/frau Profil E (26 805*)         Maler/in mit einem Männeranteil von

          Frauen und Männer lernen
                                                                                                                                                                   59,88 % 40,12 %                  2. Detailhandelsfachmann/frau (13 219)      59,4 Prozent oder Bäcker/in-Kondi-
                                                                                                                                                                   87,98 % 12,02 %
                                                                                                                                                                                                                                                tor/in mit einem Männeranteil von
                                                                                                                                                                                                    3. Fachmann/frau Gesundheit (10 987)
                                                                                                                                                                                                                                                56 Prozent.

          andere Berufe
                                                                                                                                                                   82,92 % 17,08 %                  4. Fachmann/frau Betreuung (8249)
                                                                                                                                                                                                                                                   34 der 231 Berufe werden heute
                                                                                                                                                                    2,05 % 97,95 %                  5. Elektroinstallateur/in (6866)            noch ausschliesslich von Frauen oder
                                                                                                                                                                    6,84 % 93,16 %                  6. Informatiker/in (5656)                   Männern gewählt. In 197 der 231 Be-
          Von Manuel Aepli, Andreas Kuhn und Jürg Schweri
                                                                                                                                                                                                                                                rufe gibt es Lehrverträge von Frauen
                                                                                                                                                                   31,92 % 68,08 %                  7. Zeichner/in (5438)
                                                                                                                                                                                                                                                und Männern. Nichtsdestotrotz do-
                                                                                                                                                                    3,36 % 96,64 %                  8. Polymechaniker/in (5211)
                                                                                                                                                                                                                                                miniert in der Mehrheit der Berufe
                                                                                                                                                                   63,14 % 36,86 %                  9. Kaufmann/frau Profil B (4864)            eines der beiden Geschlechter. Die
                                                                                               bei der Berufswahl offenbar nicht die ganze                         10,64 % 89,36 %                  10. Logistiker/in (4605)                    Ursachen und Folgen dieser unglei-
                                                                                               Bandbreite der Möglichkeiten nutzen, sondern                                                                                                     chen Berufswahl beschreibt der Ar-
                                                                                                                                                                   37,03 % 62,97 %                  11. Koch/Köchin (4488)
                                                                                               häufig geschlechtstypische Berufe vorziehen.                                                                                                     tikel von Miriam Grønning und Ire-
                                                                                                                                                                   11,87 % 88,13 %                  12. Schreiner/in (4381)
                                                                                                  Die folgende Analyse stützt sich auf Daten                                                                                                    ne Kriesi (siehe S. 6–10 in diesem
                                                                                               des Bundesamts für Statistik (BFS) zu allen lau-                     3,96 % 96,04 %                  13. Automobil-Fachmann/frau (3708)          Heft).
                                                                                               fenden Lehrverträgen im Ausbildungsjahr                             89,84 % 10,16 %                  14. Coiffeur/euse (2943)
                                                                                               2016/2017. Sie liefert damit ein vollständiges Bild                                                                                                64 Prozent müssten wechseln
                                                                                                                                                                   23,12 % 76,88 %                  15. Gärtner/in (2825)
                                                                                               davon, wie stark sich die Wahl der Lehrberufe                                                                                                      Die Unterschiede in der Wahl des
                                                                                                                                                                    98,89 % 1,11 %               16. Dentalassistent/in (2796)
                                                                                               zwischen Frauen und Männern unterscheidet.                                                                                                         Lehrberufs lassen sich in einer statis-
                                                                                               Von den insgesamt 197 391 Lehrverträgen, grup-                       99,06 % 0,94 %               17. Medizinische/r Praxisassistent/in (2780)     tischen Kennzahl zusammenfassen:
                                                                                               piert in 231 verschiedene Lehrberufe, wurden                         14,01 % 85,99 %              18. Landwirt/in (2770)                           Der sogenannte Dissimilaritätsindex
                                                                                               82 134 Lehrverträge mit Frauen und 115 257 mit                                                                                                     nach Duncan und Duncan kann Wer-
                                                                                                                                                                    65,80 % 34,20 %              19. Detailhandelsassistent/in (2655)
                                                                                               Männern abgeschlossen. Lernende sind somit                                                                                                         te zwischen 0 und 1 annehmen. Ein
                                                                                                                                                                     0,64 % 99,36 %              20. Maurer/in (2638)
                                                                                               zu 58,4 Prozent männlich, während Frauen et-                                                                                                       Wert von 0 bedeutet, dass das Verhält-
                                                                                               was häufiger andere Ausbildungsformen der             100 80 60 40 20 % 20 40 60 80 100                                                            nis von Frauen und Männern in jedem
                                                                                               Sekundarstufe II wie das Gymnasium oder die              Frauen     Männer *Anzahl Lehrverträge
                                                                                                                                                                                                                                                  Beruf gleich wäre. Ein Wert von 1 wür-
                                                                                               Fachmittelschule wählen.                              Quelle: Grunddaten BFS; Datenanalyse EHB              Grafik: EHB / Lukas Schuhmacher       de bedeuten, dass es keinerlei Über-
                                                                                                                                                                                                                                                  schneidungen in der Berufswahl gibt,
                                                                                                Populär und bei beiden Geschlechtern                     anlagenbauer, bei denen es 2016/17 gar keine weiblichen das heisst, dass Berufe entweder nur von Frauen oder nur
                                                                                                beliebt                                                  Lernenden gab. Tatsächlich werden rund 65 Prozent al- von Männern gewählt werden.
                                                                                                Unter den am häufigsten gewählten Berufen                ler Lehrverträge von Männern in Berufen abgeschlossen,               Der Dissimilaritätsindex beträgt für die hier verwen-
                                                                                                finden sich einige wenige, die bei Frauen und            in welchen der Anteil an Männern 80 Prozent oder mehr deten Daten 0,638 – ein hoher Wert, der die deutlichen
                                                                                                Männern populär sind. Das gilt insbesondere              beträgt. Mehr als 72 Prozent der Lehrverträge von Män- Unterschiede in der Berufswahl zwischen Frauen und
                                                                                                für die Berufe Kaufmann/frau und Detailhan-              nern werden in Berufen mit einem Männeranteil von 50 Männern in der Schweiz unterstreicht. Der ermittelte Wert
                                                                                                delsfachmann/frau, die beiden am häufigsten              oder mehr Prozent abgeschlossen.                                  bedeutet nämlich, dass 63,8 Prozent aller Frauen (oder al-
                                                                                                gewählten Lehrberufe. Rund 16 beziehungs-                                                                                  ler Männer) ihren Lehrberuf wechseln müssten, damit
↑	Illustration von Alice Wunderle, Abteilung für Drucktechnik, Centro scolastico               weise 6,7 Prozent aller Lehrverträge werden              Sieben reine Frauenberufe                                         das Geschlechterverhältnis in allen Berufen gleich wäre.
   per le industrie artistiche (CSIA), Lugano
                                                                                                in den Berufen Kaufmann/frau (Profil E und               Umgekehrt finden sich unter den zehn meistgewählten
          Die Berufswahl von jungen Frauen und Männern unter-                       B) sowie Detailhandelsfachmann/frau abgeschlossen.                   Berufen mit den Fachfrauen Gesundheit und den Fach- ■ Manuel Aepli, MA, Junior Researcher Forschungsfeld Bildungswahl
                                                                                                                                                                                                                           und Lehrstellenmarkt, EHB ■ Dr. Andreas Kuhn, Senior Researcher
          scheidet sich markant, wie ein Blick in die Daten deutlich                Der Männeranteil liegt in diesen Berufen bei 38 bezie-               frauen Betreuung zwei Berufe mit einem hohen Frau- Forschungsfeld Bildungswahl und Lehrstellenmarkt, EHB ■ Prof. Dr.
          macht. Forscher des EHB analysierten sämtliche laufenden                  hungsweise 40 Prozent, ist also trotzdem unterdurch-                 enanteil von 88 beziehungsweise 83 Prozent. Bei den Kos- Jürg Schweri, Co-Leiter Forschungsschwerpunkt Steuerung der
          Lehrverträge des Ausbildungsjahrs 2016/2017. Dabei zeigt                  schnittlich.                                                         metikerinnen, Gewebegestalterinnen und fünf weiteren Berufsbildung, EHB
          sich: 65 Prozent aller Männer und 42 Prozent aller Frau-                                                                                       Berufen gab es 2016/17 nur weibliche Lernende.                    Literatur
          en wählen einen Beruf, der für ihr Geschlecht typisch ist.                Männer bleiben oft unter sich                                           Insgesamt werden bei den Frauen rund 42 Prozent al- Duncan, O. D. & Duncan, B. (1955). A Methodological Analysis of
                                                                                    Allerdings stellen solche gemischten Berufe nicht die Re-            ler Lehrverträge in Berufen abgeschlossen, in welchen Segregation Indexes. American Sociological Review, 20(2), 210–217.
          Die erstmalige Berufswahl ist nicht mehr so prägend wie                   gel dar. Vielmehr werden viele Berufe von einer deutli-              der Frauenanteil 80 Prozent oder mehr beträgt. Etwas Eine ausführlichere Grafik zu den Frauen- und Männeranteilen in
          einst, als das Bildungssystem noch wenig Durchlässigkeit                  chen Mehrheit eines Geschlechts geprägt. Unter den zehn              mehr als 85 Prozent der weiblichen Lernenden arbeiten Berufslehren (Ausbildungsjahr 2016/17) finden Sie unter:
          bot und die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt beschränkt                     meistgewählten Berufen stechen die Elektroinstallateu-               in einem Beruf mit einem Frauenanteil von mindestens ▶ www.ehb.swiss/skilled
          war. Die Berufswahl bleibt aber eine wichtige Weichen-                    re, Polymechaniker und Informatiker mit Männerantei-                 50 Prozent.
          stellung mit Folgen sowohl für weitere Bildungsentschei-                  len von 98, 97 und 93 Prozent hervor. Noch extremer sind                Berufe mit einem ausgewogenen Geschlechterverhält-
          dungen als auch für den späteren Arbeitsmarkterfolg, bei-                 einige Berufe mit Eidgenössischem Berufsattest wie Rei-              nis, also mit einem Männeranteil von ungefähr 58 Pro-
          spielsweise den Lohn. Es erstaunt daher, dass Lernende                    fenpraktiker oder Baupraktiker, aber auch die Lüftungs-              zent, sind eher selten. Beispiele für solche Berufe sind

          4                                                                                                                                                                                                                                                                            5
Skilled N 22019 - Eidgenössisches Hochschulinstitut für ...
skilled 2/19         Gender

Geschlechtersegregation in der Berufsbildung

Der Beruf stiftet Identität – auch
bezüglich des Geschlechts
Von Irene Kriesi und Miriam Grønning

Viele Jugendliche in der Schweiz absolvieren eine Ausbil-        ten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Frauendomäne
dung, die für ihr Geschlecht typisch ist. Auch später arbeiten   entwickelt.
Frauen und Männer mehrheitlich in unterschiedlichen                 Wie kommt die ausgeprägte Aufteilung der Berufe in
Berufen. Das wirkt sich auf ihre gesamte berufliche Lauf-        typische Frauen- und Männerdomänen – auch berufliche
bahn aus und hat Folgen für die Betriebe. Doch warum             Geschlechtersegregation genannt – zustande? In der so-
wählen die Jugendlichen so? In der Forschung gibt es dafür       zialwissenschaftlichen Forschung sind dafür verschiede-
unterschiedliche Erklärungsansätze.                              ne Erklärungsansätze zu finden, mit denen sich ein Arti-
                                                                 kel von Irene Kriesi und Christian Imdorf befasst, der kürz-
Im Jahr 2019 haben Berufe in der Schweiz noch ganz               lich in einem Forschungshandbuch für Bildungssoziologie
klar ein Geschlecht – und die Mehrheit der Jugendlichen          publiziert wurde.
orientiert sich daran. Die meisten jungen Frauen und
Männer wählen nach wie vor einen Beruf, der zahlen- Geschlechtstypische Berufswahl als
mässig vom eigenen Geschlecht dominiert wird, wie rationaler Entscheid
neue Studien von Melina Heiniger und Christian Imdorf Ein Ansatz sieht die Hauptursache darin, dass es für Mäd-
sowie Jürg Schweri und Andreas Kuhn zeigen. Dieses chen und Buben rational sei, geschlechtstypische Ausbil-
Verhalten lässt sich bei Jugendli-                                               dungen zu wählen, weil diese lang-
                                        Wir sind damit aufgewach-
chen in der Berufsbildung noch in                                                fristig punkto Erwerbschancen und
                                        sen, dass die Kranken-
deutlich stärkerem Ausmass beob-                                                 Einkommen den grössten Nutzen bie-
                                        schwester eine Frau und der
achten als bei Studierenden an den                                               ten würden. Frauendominierte Be-
                                        Schreiner ein Mann ist.
Universitäten. So absolvieren 65 Pro-                                            rufe bieten mehr Teilzeitmöglichkei-
zent der jungen Männer und 42 Prozent der jungen Frau- ten und bessere Chancen für den Wiedereinstieg nach ei-
en die Lehre in einem Beruf, der fast ausschliesslich nem Erwerbsunterbruch. Männerdominierte Berufe
vom eigenen Geschlecht erlernt wird (siehe S. 4–5 in die- hingegen zeichnen sich durch höhere Löhne aus. Für jun-
sem Heft).                                                   ge Frauen und Männer, die traditionelle Geschlechterrol-
    Für die meisten von uns liegt es auf der Hand, dass len antizipieren, ist die Wahl eines geschlechtstypischen
junge Frauen und Männer oft unterschiedliche Berufs- Berufs deshalb von Vorteil.
wünsche haben. Wir sind damit aufgewachsen, dass die            Dieser Erklärungsansatz betont auch Kompetenzun-
Krankenschwester eine Frau und der Schreiner ein Mann terschiede zwischen Frauen und Männern. Er postuliert,
ist. Dass solche Unterschiede nicht nur mit natürlichen dass sich die relativen durchschnittlichen Leistungen von
Geschlechterunterschieden zu tun haben, fällt erst auf, jungen Frauen und Männern sowohl bezüglich Sprache,
wenn die Geschlechterzusammensetzung der Berufe län- Kommunikation und der sozialen Fähigkeiten als auch
dervergleichend oder aus historischer Perspektive ange- bezüglich Mathematik und der technischen Fähigkeiten
schaut wird.                                                 unterscheiden. Da kommunikative und soziale Fähigkei-
    Obwohl in den meisten Ländern Männer häufiger tech- ten in vielen Frauenberufen und mathematisch-techni-
nische und Frauen soziale Berufe erlernen, sind die Un- sche Fähigkeiten in vielen Männerberufen erforderlich
terschiede nicht überall so ausgeprägt wie in der Schweiz. sind, lohne es sich für die Mehrheit der Frauen und Män-
Zudem zeigt eine Reihe von Beispielen, dass sich der Ge- ner, geschlechtstypische Berufe zu wählen.
schlechtstyp eines Berufs auch ändern kann. Zu denken           Die verfügbaren Studien können zeigen, dass vor al-
ist etwa an den Beruf des Primarlehrers, der bis Anfang lem der unterschiedlichen Arbeitszeitregelung Erklä-
des 20. Jahrhunderts eine Männerdomäne war. Auch die rungskraft zukommt: Frauen achten auf Teilzeitmöglich-
weiblich konnotierte Krankenpflege hat sich, wie Claudia keiten und die Gepflogenheiten in Bezug auf Überstun-
Bischoff in ihren Arbeiten aufgezeigt hat, erst in der zwei- den. Der Unterschied zwischen den Fähigkeiten von

6                                                                →	Illustration von Alessandra Sassi und Lara Müller, Abteilung für Druck-
                                                                    technik, Centro scolastico per le industrie artistiche (CSIA), Lugano
Skilled N 22019 - Eidgenössisches Hochschulinstitut für ...
skilled 2/19            Gender                                                                                                               skilled 2/19           XXX
                                                                                                                                                                             Gender

                                                                                                   Interessen entwickeln. Geschlechterstereotype      Verteilung von Frauen und Männern in der
                                                                                                   prägen aber auch die Wahrnehmung der eige-         Ausbildung und im Arbeitsmarkt problema-
                                                                                                   nen Kompetenzen. Mädchen nehmen ihre ma-           tisch sein.
                                                                                                   thematischen und technischen Fähigkeiten als          Neuere Studien, beispielsweise von Julia
                                                                                                   deutlich schlechter wahr als Buben mit ver-        B. Bear und Anita Williams Woolley, zeigen,
                                                                                                   gleichbaren Fähigkeiten. Folglich trauen sie       dass die Produktivität und der Erfolg von Ar-
                                                                                                   es sich weniger zu als Buben, einen Beruf zu       beitsgruppen mit der Geschlechterzusam-
                                                                                                   ergreifen, für den diese Fähigkeiten wichtig       mensetzung in einem Beruf in Verbindung
                                                                                                   sind.                                              stehen. Arbeitsteams in Berufen, die Frauen
                                                                                                      Zweitens beeinflussen Geschlechterstereo­       und Männer ungefähr zu gleichen Teilen aus-
                                                                                                   type die Fremdwahrnehmung von Eltern, Lehr-        üben, leisten bessere Arbeit. Das liegt zum
                                                                                                   personen, Berufsberater/innen sowie Berufs-        Teil daran, dass die Leistung von Frauen in
                                                                                                   bildungsverantwortlichen in den Betrieben.         gemischten Berufen besser anerkannt wird.
                                                                                                   Dies schlägt sich in geschlechtstypischen Rat-     Zusätzlich ist die Kommunikation in gemischt-
                                                                                                   schlägen zur Berufswahl nieder und lässt Be-       geschlechtlichen Gruppen besser. Das bedeu-
                                                                                                   triebe bei Ausbildungsberufen, die stark von ei-   tet beispielsweise, dass die Redezeiten ausge-
                                                                                                   nem Geschlecht dominiert sind, manchmal zö-        glichener sind und die Entscheidungsprozes-
                                                                                                   gern, Lernende mit dem «falschen» Geschlecht       se im Team demokratischer ablaufen. Die
                                                                                                   zu rekrutieren.                                    bessere Zusammenarbeit optimiert die Ergeb-
                                                                                                      Dem dritten Mechanismus schliesslich wird       nisse von Arbeitsgruppen und führt beispiels-
                                                                                                   in der Forschung grosses Gewicht beigemes-         weise zu einer besseren Qualität der Produk-
                                                                                                   sen. Er postuliert, dass die geschlechtstypi-      te, höheren finanziellen Erträgen oder auch
                                                                                                   sche Berufswahl in wohlhabenden und stark          zu einer besseren subjektiven Einschätzung
                                                                                                   individualisierten Ländern als Mittel dient,       des Erfolgs.
                                                                                                   um die eigene Geschlechtsidentität zu entwi-
                                                                                                   ckeln und zu stabilisieren. Die Berufswahl wird    Schlechtere Perspektiven
                                                                                                   demnach nicht in erster Linie von ökonomi-         Beschäftigte in typischen Frauenberufen ha-
                                                                                                   schen Überlegungen geleitet. Sie dient viel-       ben oft weniger Aufstiegsmöglichkeiten als
                                                                                                   mehr der Selbstverwirklichung und hilft den        Erwerbstätige in geschlechtsneutralen Beru-
                                                                                                   Jugendlichen, die eigene Geschlechtsidentität      fen oder typischen Männerberufen. Dies liegt
                                                                                                   auszudrücken.                                      einerseits an betrieblichen Strukturen, die sich
                                                                                                      Dies erklärt auch, warum die berufliche Ge-     teilweise unterscheiden. Eine Fachfrau Betreu- ↑	Illustration von Alison Antonioli, Abteilung für Drucktechnik, Centro scolastico per le
↑	Illustration von Lisa Marazzi, Abteilung für Drucktechnik, Centro scolastico per le industrie                                                                                                          industrie artistiche (CSIA), Lugano
                                                                                                   schlechtersegregation in Ländern mit einer         ung in einer Kindertagesstätte oder eine me-
   artistiche (CSIA), Lugano
                                                                                                   starken Berufsbildung besonders hoch ist. In       dizinische Praxisassistentin haben zum Beispiel weniger Als typische Frauenberufe gelten in der Studie Berufe, in
           Frauen und Männern jedoch ist zu gering, um die unter- diesen Ländern muss sich die Mehrheit der Jugendlichen                              Karrieremöglichkeiten als ein Multimediaelektroniker denen mindestens 70 Prozent der Beschäftigten Frauen
           schiedliche Berufswahl zu erklären.                                          im selben Alter für einen Erstberuf entscheiden, in dem       oder ein Informatiker, die oft auch in grösseren Betrieben sind, während typische Männerberufe maximal einen
                                                                                        auch die Geschlechtsidentität entwickelt wird. Da der Zu-     mit internen Aufstiegsmöglichkeiten arbeiten. Anderer- Anteil von 30 Prozent Frauen aufweisen.
           Stereotype als prägender Faktor                                              gang zu den meisten qualifizierten Berufen in der Schweiz     seits sind die Weiterbildungsmöglichkeiten in vielen frau-
           Ein anderer Erklärungsansatz stellt die kulturellen Vor- stärker an eine spezifische formale Berufsausbildung ge-                          entypischen Berufen schlechter als in Berufen mit einem Frauen verdienen generell weniger
           stellungen bezüglich der Eigenschaften von Frauen und knüpft ist, als dies beispielsweise in den angelsächsischen                          ausgeglichenen Geschlechterverhältnis oder einem ho- Diese grossen Unterschiede könnten im Prinzip auch da-
           Männern sowie von Berufen ins Zentrum. Frauen gelten Ländern der Fall ist, bleibt die starke Geschlechtersegre-                            hen Männeranteil. Dies wirkt sich auf die Berufsverläufe rauf zurückzuführen sein, dass sich die Erwerbstätigen
           demnach als besonders geeignet, um Frauenberufe aus- gation, die das Ausbildungssystem prägt, später auch im                               von Frauen und Männern aus, denn sich weiterzubilden, und die Betriebe in frauendominerten, männerdominier-
           zuüben, da ihnen soziale, emotionale und kommunika- Arbeitsmarkt bestehen.                                                                 ist oft eine wichtige Voraussetzung, um sich beruflich ent- ten und geschlechterintegrierten Berufen bezüglich wich-
           tive Kompetenzen zugeschrieben werden. Diese Attribu-                                                                                      wickeln zu können.                                              tiger Merkmale, wie etwa der Berufserfahrung oder der
           te sind auch in die Berufsbilder von Frauenberufen ein- Gemischte Teams arbeiten besser                                                        Die Forschung zeigt auch, dass der Geschlechtstyp ei- Betriebsgrösse, unterscheiden. Um solche Ursachen für
           gelagert. Umgekehrt gelten Männer als mathematisch Warum ist das Ausmass der geschlechtstypischen Be-                                      nes Berufs mit dem Lohn zusammenhängt. Diesen Zu- Lohnunterschiede auszuschliessen, wurde der Lohn in
           und technisch begabter als Frauen, wobei diese Eigen- rufswahl überhaupt wichtig? Auf den ersten Blick scheint                             sammenhang weist eine neue Studie von Irene Kriesi, den drei Berufstypen anhand von Regressionsanalysen
           schaften mit den Berufsbildern von vielen Männerberu- es wenig problematisch, dass junge Frauen und Männer                                 Miriam Grønning und Stefan Sacchi insbesondere auch untersucht. Die Ergebnisse sind in der Abbildung auf Sei-
           fen assoziiert werden. Solche Geschlechterstereotype verschiedene Interessen haben und unterschiedliche                                    für junge Berufstätige mit einer beruflichen Grundbil- te 10 dargestellt.
           verstärken die geschlechtstypische Berufswahl durch drei Berufe wählen. Die Forschung zeigt allerdings auf, dass                           dung nach. Die Ergebnisse machen deutlich, dass junge               Sie bestätigen erstens, dass Personen in frauentypi-
           Hauptmechanismen.                                                            eine starke Geschlechtersegregation sowohl individuel-        Erwerbstätige in frauentypischen Berufen pro Jahr im schen Berufen auch bei vergleichbarer Qualifikation ge-
               Erstens führen sie dazu, dass Mädchen und Buben un- le Bildungs- und Berufslaufbahnen als auch die Leistung                            Durchschnitt 5800 Franken weniger verdienen als Er- nerell weniger verdienen als Personen in männertypi-
           terschiedlich sozialisiert werden und unterschiedliche von Betrieben beeinflusst. Deshalb kann eine ungleiche                              werbstätige in Berufen, die vor allem Männer erlernen. schen Berufen. So werden beispielsweise Maurer besser

         8                                                                                                                                                                                                                                                                                9
Skilled N 22019 - Eidgenössisches Hochschulinstitut für ...
skilled 2/19             Gender                                                                                                                           skilled 2/19          Gender
                                                                                     Jährliches Bruttoerwerbs­einkommen in Franken

          entlohnt als Dentalassistentinnen. Zudem macht die Ab-                     56 000                                                                         ICT-Berufe bei Swisscom

                                                                                                                                                                   «Wir wollen das Interesse
          bildung deutlich, dass Frauen in männerdominierten und                     55 000                                                               Frauen
          geschlechterintegrierten Berufen signifikant weniger ver-
                                                                                     54 000                                                               Männer
          dienen als ihre gleich qualifizierten Kollegen. Das bedeu-

                                                                                                                                                                    junger Frauen stärken»
                                                                                     53 000
          tet beispielsweise, dass Malerinnen weniger verdienen als
                                                                                     52  000
          Maler. In typischen Frauenberufen ist der Einkommens-
                                                                                     51 000
          unterschied zwischen den Geschlechtern klein und sta-
                                                                                     50 000                                                                         Von Anna Keller und Antje Barabasch
          tistisch nicht signifikant.
                                                                                     49 000
                                                                                     48 000
          Warum diese Lohnunterschiede?
                                                                                     47 000
          In der Forschung werden verschiedene Ursachen für die-
                                                                                     46 000
          se Unterschiede diskutiert. Der generell tiefere Lohn in                                                                                                  Wie lassen sich junge Frauen für einen Berufsein-
          vielen frauentypischen Berufen wird oft damit erklärt,                     45 000                                                                         stieg im Bereich Informations- und Kommunika-
                                                                                               männerdominierte            gemischte          frauendominierte
          dass diese Berufe einen geringeren Status haben als män-                                 Berufe                    Berufe                Berufe           tionstechnologie begeistern? Im Rahmen einer
          nertypische oder integrierte Berufe. Den Eigenschaften,                                                                                                   Fallstudie zur Lernkultur in der Berufsbildung
                                                                                     Quelle: Daten der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung 2003–2016;
          die mit den Berufsbildern von typischen Frauenberufen                                                                                                     hat ein Team des EHB Berufsbildungsverantwort-
                                                                                     die Zahlen beruhen auf eigenen Regressionsanalysen mit
          assoziiert werden, wird ein geringerer Wert beigemes-                      erwerbstätigen Personen mit einer beruflichen Grundbildung und                 liche und Lernende bei Swisscom dazu befragt.
          sen, was sich auch im Lohn widerspiegelt. Dies erklärt                     maximal zehn Jahren Berufserfahrung. Grafik: EHB
          allerdings nicht, warum Frauen in männerdominierten                                                                                                       483 Lernende machten bei Swisscom im Jahr
          und integrierten Berufen weniger verdienen als ihre                      telt werden. Männertypische Ausbildungsberufe lehren                             2018 eine Lehre im Bereich Informations- und
          gleich qualifizierten Kollegen. Neuere Studien legen den                 mehr berufsspezifisches Fachwissen als Frauenberufe, die                         Kommunikationstechnologie (ICT), 112 davon
          Schluss nahe, dass der Arbeit von Frauen unabhängig                      mehr berufsübergreifendes Allgemeinwissen vermitteln.                            waren junge Frauen. Sie arbeiteten als Media-
          vom Berufstyp weniger Wert beigemessen wird als jener                    Der Lohnunterschied wird darauf zurückgeführt, dass Fach-                        matikerinnen, Informatikerinnen, ICT-Fachfrau-
          von Männern. Diese abwertende Haltung kann den Lohn­                     wissen in der frühen Berufslaufbahn höher entlohnt wird                          en oder Interactive Media Designerinnen. Swiss-
          unterschied zwischen frauentypischen und männertypi-                     als Allgemeinwissen. Obwohl frauentypische Berufsausbil-                         com will den Frauenanteil in ICT-Berufen erhö-
          schen Berufen wiederum verstärken.                                       dungen in der Schweiz im Schnitt tatsächlich weniger be-                         hen. Gerade ein Engagement in der Berufsbildung
             Als weitere mögliche Ursache für den Lohnunterschied                  rufsfachliche Kenntnisse vermitteln als männertypische                           kann dazu beitragen.
          wird die Art der Kenntnisse diskutiert, die in typischen frau-           Ausbildungen, kann dieser Unterschied gemäss unserer
          en- und männerdominierten Ausbildungsberufen vermit-                     Studie nur einen sehr kleinen Teil des Lohnunterschieds                          Das Bild der ICT-Berufe verändern
                                                                                   zwischen männer- und frauendominierten Berufen erklä-                            Obwohl die Anzahl junger Frauen in den ICT-Lehr- ↑	Illustration von Giorgia Bevilacqua und Lara Müller, Abteilung für Drucktechnik,
                                                                                                                                                                                                                          Centro scolastico per le industrie artistiche (CSIA), Lugano
                                                                                   ren. Vielmehr scheinen sich in diesem Unterschied kultu-                         berufen bei Swisscom in kleinen Schritten zu-
                                                                                   rell geprägte und historisch gewachsene Vorstellungen vom                        nimmt, bewerben sich weit mehr junge Männer als junge werfen können, um für sich herauszufinden, ob ein sol-
                                                                                   Wert «weiblicher» Arbeit und «männlicher» Arbeit zu spie-                        Frauen auf offene Lehrstellen. Wenn das Geschlecht bei cher Beruf zu ihnen passt. Speziell ist, dass die Events
                                                                                   geln, die sich auch heute noch hartnäckig halten.                                der Rekrutierung keine Rolle spielen soll, werden in der komplett von ICT-Lernenden geplant und durchgeführt
                                                                                                                                                                    Folge auch entsprechend mehr junge Männer angestellt. werden. Die Besucherinnen erfahren so, dass es nicht nur
                                                                                   ■ Prof. Dr. Irene Kriesi, Co-Leiterin Forschungsschwerpunkt Steuerung
                                                                                   der Berufsbildung, EHB ■ Miriam Grønning, MA, wissenschaftliche                  «Deshalb wollen wir das Interesse junger Frauen an den theoretisch möglich ist, Informatikerin zu werden, son-
                                                                                   Mitarbeiterin Forschungsfeld Institutionelle Bedingungen der                     ICT-Berufen stärken», sagt Willy Rösch, der bei Swisscom dern dass bei Swisscom wirklich Frauen aktiv in diesen
                                                                                   Berufsbildung, EHB                                                               für die Rekrutierung der Lernenden zuständig ist. Dazu Berufen arbeiten, was zur Identifikation mit dem Beruf
                                                                                   Literatur                                                                        wird beispielsweise in Inseraten – entgegen dem oftmals beitragen kann. Die diesjährigen «Digital Days for Girls»
                                                                                   ■ Grønning, M., Kriesi, I. & Sacchi, S. (in Vorbereitung). Skill specificity    sehr techniklastigen Bild der ICT-Berufe – hervorgehoben, plante eine Mediamatiklernende im dritten Lehrjahr. Ihr
                                                                                      of upper-secondary training occupations and the gender pay gap.               dass in diesen Berufen heute auch Kreativität und Team- ist es wichtig, dass die Leiterinnen vor Ort nicht einfach
                                                                                      Erscheint voraussichtlich 2020 in der Kölner Zeitschrift für Soziologie
                                                                                      und Sozialpsychologie; Sonderheft Berufe und soziale Ungleichheit.            fähigkeit gefragt sind und dass Informatiker/innen nicht vorne referieren, sondern dass die Besucherinnen mög-
                                                                                   ■ Heiniger, M. & Imdorf, C. (2018). The role of vocational education in         nur im stillen Kämmerchen arbeiten, sondern im Unter- lichst viel selbst ausprobieren können, wobei sie von den
                                                                                      the transmission of gender segregation from education to                      nehmen viel bewegen können. In der Werbung für die ver- Swisscom-Lernenden individuelle Unterstützung erhalten.
                                                                                      employment: Switzerland and Bulgaria compared, Journal for
                                                                                      Labour Market Research, 52(1).                                                schiedenen ICT-Ausbildungen werden Frauen und Män-
                                                                                                                                                                                                                                  ■ Anna Keller, MSc, Junior Researcher Forschungsfeld Lernkulturen
                                                                                   ■ Kriesi, I. & Imdorf, C. (2019). Gender Segregation in Education. Seiten       ner bewusst gleichermassen als Sujets gewählt, um dem und Didaktik, EHB ■ Prof. Dr. Antje Barabasch, Leiterin
                                                                                      193–212 in R. Becker (Ed.), Research Handbook of Sociology of                 Bild einer typischen Männerdomäne entgegenzuwirken. Forschungsschwerpunkt Lehren und Lernen in der Berufsbildung, EHB
                                                                                      Education. Cheltenham, UK and Northampton, MA, USA: Edward
                                                                                      Elgar Publishing.                                                                                                                               ▶ www.ehb.swiss/project/dimensionen-lernkulturen
                                                                                   ■ Bear, J. B. & Woolley, A. W. (2011). The role of gender in team               Identifikation mit Vorbildern                                     ▶ www.swisscom.ch/de/about/jobs/digital-days-for-girls.html
                                                                                      collaboration and performance. Interdisciplinary Science Reviews,             Swisscom bietet mit den «Digital Days for Girls» spezifi-
                                                                                      36(2), 146–153.
                                                                                                                                                                    sche Events für Schulabgängerinnen an. Gemäss Projekt-
↑	Illustration von Giulia Ferrario und Lara Müller, Abteilung für Drucktechnik,   ▶ www.ehb.swiss/forschungsfeld-32-projekte                                      leiter Urs Gloggner ist das Ziel dieser Spezialtage, dass die
   Centro scolastico per le industrie artistiche (CSIA), Lugano                    ▶ www.ehb.swiss/forschungsfeld-32-publikationen                                 Besucherinnen einen Blick hinter die Kulisse der ICT-Welt

          10                                                                                                                                                                                                                                                                                         11
Skilled N 22019 - Eidgenössisches Hochschulinstitut für ...
skilled 2/19        Gender                                                                                                                              skilled 2/19         Gender

      Nachgefragt                                                                                                                                                                    «Im Kanton Baselland bekommen al-          weisen wir während unseren Eltern-Schüler/innen-Ver-

      Was, wenn der Traumberuf das
                                                                                                                                                                                     le Schülerinnen und Schüler am Gen-        anstaltungen gezielt auf das Thema der offenen Berufs-
                                                                                                                                                                                     dertag-Zukunftstag im November je-         wahl hin und zeigen auf, dass die individuelle Wahl im

                                                                                                                               BIZ Liestal / ©Raisa Durandi
                                                                                                                                                                                     weils Einblicke in untypische Berufe       gesamten Berufswahlspektrum für alle ein Gewinn ist

      falsche Geschlecht hat?                                                                                                                                                        und setzen sich unabhängig vom Ge-
                                                                                                                                                                                     schlecht regelmässig mit dem The-
                                                                                                                                                                                     ma Arbeit auseinander.
                                                                                                                                                                                                                                und von allen gefördert werden soll.»

                                                                                                                                                                                                                                Nicole Fiechter, Leiterin Berufs-, Studien- und Lauf-
      Umfrage: Kommunikation EHB
                                                                                                                                                                                         In der Beratung ist es dann einfach,   bahnberatung BIZ Liestal sowie Mitglied der Fachgruppe
                                                                                                                                                                                     diese Erfahrungen aufzugreifen und         Gender und der Begleitgruppe Gendertag-Zukunftstag des
                                                                                                                                                              aufzuzeigen, wie breit die Berufswahl sein kann, wenn man         Kantons Baselland
                                                                                                                                                              sich nicht von stereotypen Vorstellungen leiten lässt. Wich-
                                                                                                                                                              tig ist, dass man auch die Eltern mit im Boot hat. Deswegen
      Wie animieren Sie Jugendliche dazu, sich in der Berufswahl nicht von stereotypen Vorstellungen über Frauen- und
      Männerberufe einschränken zu lassen? Sieben Berufsberater/innen erzählen, wie sie in ihrem Alltag mit dieser
      Herausforderung umgehen.                                                                                                                                                     «Der Meinung von andern wird in              kann Vorteile haben, weil sie genauer hinschaut. Umge-
                                                                                                                                                                                    der Pubertät viel Bedeutung beige-          kehrt kann ein junger Mann in der Pflege auf ältere Män-
                           «Die Geschlechterklischees sind tief Schwierigkeiten zu kämpfen: Da gibt es Anspielungen,                                                                messen. Wenn ich mit jungen Men-            ner eine beruhigende Ausstrahlung haben, weil sie sich
                           verwurzelt. Es ist illusorisch zu glau- herabsetzende Bemerkungen  ... Die Männer hingegen wer-                                                          schen rede, versuche ich, ihnen be-         vielleicht lieber von einem Mann als von einer Frau pfle-
                           ben, dass sie sich durch ein Gespräch den in sogenannt weiblichen Berufen eher gehätschelt.                                                              wusst zu machen, was bei der Be-            gen lassen. Wenn man in gemischten Teams arbeitet, er-
                           in der Berufsberatung ausräumen           Junge Frauen, die sich für einen atypischen Beruf ent-                                                         rufswahl wirklich zählt: die eigenen        gibt sich ausserdem meist eine angenehmere Arbeits­
                           lassen. Hier geht es vielmehr darum, scheiden, wissen meist sehr gut, dass sie dies wollen. Wir                                                         Wünsche und Fähigkeiten, die Per-            atmosphäre.»
                           die Vorstellungen zu erweitern, die versuchen, sie vorzubereiten, indem wir mit ihnen über                                                               sönlichkeit und die Kompetenzen.

                                                                                                                               zvg
                           sich die jungen Leute von der Berufs- mögliche Widerstände reden, die sie zu bewältigen haben.»                                                             Ich versuche, ihnen klarzumachen,        Kamylla Montandon, Berufsberaterin bei der
                           welt machen, und sie zu motivieren,                                                                                                dass es keine weiblichen oder männlichen Berufe gibt. Ei-         Berufsberatung in Sainte-Croix und Yverdon-les-Bains
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                           in Betrieben Praktika zu absolvieren Jean-Pierre Cattin, Leiter des Dienstes für Berufs-,                                          ne junge Frau, die in einem technischen Beruf arbeitet,
      oder an Unternehmenspräsentationen teilzunehmen. Die Studien- und Laufbahnberatung im Kanton Genf
      Frauen haben in der Regel in atypischen Berufen mit mehr
                                                                                                                                                                                     «In Schulklassen versuche ich, die         che Herausforderungen hin. Wenn von den Jugendlichen
                                                                                                                                                                                      Jugendlichen dafür zu sensibilisieren,    oder den Eltern grosse Vorbehalte kommen, versuche ich
                         «Auch bei der Berufswahl lässt sich        zu treffen. Wer einen Weg einschlägt, den er oder sie                                                             dass sie als Freund oder Freundin ei-     nicht, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Erfahrungsgemäss
                         die Gleichstellung der Geschlechter        wirklich einschlagen will, geht die Ausbildung und die                                                            nen Einfluss auf die Berufswahl ha-       führt das zu einer Rechtfertigungshaltung und Verhärtung
                         fördern: Die Berufsbilder werden           möglichen Hindernisse motiviert an. Solche Personen                                                               ben. Ich versuche nachvollziehbar zu      der Position.»
                         heute ohne weibliche und männli-           tragen letztlich dazu bei, dass unser Arbeitsmarkt jedem                                                          machen, dass die Reaktion ‹Was? Das
                         che Konnotationen vorgestellt. Man         und jeder ohne Geschlechterklischees offensteht.»                                                                 ist doch ein Beruf für Frauen/Män-        Tobias Roder, Berufs- und Laufbahnberater am
                         darf jedoch nicht vergessen, dass die                                                                                                                        ner› einen Berufswunsch zerstören         Berufsberatungs- und Informationszentrum in Burgdorf

                                                                                                                               zvg
                         geschlechtsspezifischen Stereotype         Matteo Crivelli, Berufsberater bei der Schul- und                                                                 kann – ein sorgfältiger Umgang da-
                         in unserer Gesellschaft mehr oder          Berufsberatung in Breganzona                                                              gegen vieles möglich macht. In der Einzelberatung versu-
zvg

                         weniger explizit immer noch vor-                                                                                                     che ich, die Vorteile aufzuzeigen, die sich aus einer solchen
      handen sind. In der Berufsberatung wollen wir junge                                                                                                     Berufswahl ergeben können, weise aber auch auf mögli-
      Menschen dabei unterstützen, eine bewusste eigene Wahl

                                                                                                                                                                                   «Wichtig ist zu vermitteln, dass alle Mann, der Kindergärtner ist? Frag sie, was gut läuft und
                            «Wir animieren Jugendliche mit dem      spät kommt, Meinungen und Prägungen werden vorher                                                              Ideen und Berufswünsche einen wo die effektiven Tücken sind. Denn: ‹Wählst du einen
                            Berufswahltheater ‹My Top Job› und      gebildet. Meine Erfahrung zeigt, dass das Umfeld mitent-                                                       Platz haben, auch wenn sie nicht in Beruf, den du liebst, brauchst du keinen Tag in deinem
                            dazugehörenden flippigen Plakaten       scheidend ist und sich Jugendliche im Berufswahlalter                                                          ein Schema passen. ‹Hör auf deine Leben mehr zu arbeiten› (Konfuzius).»
                            und Karten sowie mit ‹Rent-a-Stift›,    von ihrem familiären Umfeld und Peer-Gruppen leiten        zvg / @FLUSSREIF
                                                                                                                                                                                   innere Stimme›, ist die zentrale Bot-
                            einem Schulbesuch, bei dem Lernen-      lassen. Den eigenen untypischen Berufswunsch setzen                                                            schaft, ‹und verschaffe dir einen Ein- Martin Ziltener, Abteilungsleiter Berufs-, Studien- und
                            de aus geschlechtsuntypischen Be-       sie dann manchmal erst mit dem Zweitberuf um.»                                                                  blick in die Berufswelt!›              Laufbahnberatung und Mitglied der Geschäftsleitung,
                            rufen aus ihrem Alltag berichten.                                                                                                                          Konkret: Es ist wertvoll, eine oder ask! – Beratungsdienste für Ausbildung und Beruf Aarau
                               In der Beratung suche ich nach be-   Andrea Egli, Berufs- und Laufbahnberaterin, Leiterin                                                           mehrere Schnupperlehren im Wunsch-
zvg

                            kannten Vorbildern in ihrem nahen       Berufs- und Weiterbildungsberatung Obwalden                                               beruf zu machen oder in einem ähnlichen Beruf aus dem-
      Umfeld, die Jugendliche unterstützen können. Oftmals                                                                                                    selben Berufsfeld. Hilfreich ist zudem, ein Vorbild zu su-
      zeigt sich, dass diese Diskussion im Berufswahlalter zu                                                                                                 chen: Kennst du eine Frau, die auf dem Bau arbeitet? Einen

      12                                                                                                                                                                                                                                                                               13
Skilled N 22019 - Eidgenössisches Hochschulinstitut für ...
skilled 2/19          Gender                                                                                                              skilled 2/19             Gender

Berufslehre                                                                                                                                                                                                                          gen … Aber der Beruf als Technologe ist halt

Was hinter der beruflichen
                                                                                                                                                                                                                                     mehr etwas für Männer … […] Etwa wenn es
                                                                                                                                                                                                                                     darum geht, Paletten zu schleppen … »
                                                                                                                                                                                                                                        Hier wird Männlichkeit mit körperlicher

Sozialisation steckt                                                                                                                                                                                                                 Kraft assoziiert, obwohl sich die Arbeitsbedin-
                                                                                                                                                                                                                                     gungen in diesem Beruf mittlerweile verändert
                                                                                                                                                                                                                                     haben. Die Berufsbildner/innen geben also
Von Nadia Lamamra
                                                                                                                                                                                                                                     ebenfalls Normen weiter, vor allem, was die
                                                                                                                                                                                                                                     vermeintliche körperliche Eignung betrifft.
                                                                                                                                                                                                                                     Diese sozialen Normen werden von Caroline,
                                                                                                                                                                                                                                     Detailfachhändlerin und Ausbildnerin in einem
Viele Berufe und die Ausbildungen dazu sind nach wie vor           zweiten Phase aus der Geschlechterperspektive analy-                                                                                                              kleinen Laden, gar explizit genannt: «Vor vier
stark geschlechtsspezifisch geprägt. Obwohl sich verschie-         siert wurde. So müssen sich etwa männliche Lernende                                                                                                               Jahren habe ich ein Mädchen eingestellt, 16
dene Akteure ein ausgewogeneres Geschlechterverhältnis             in Berufen, die vorwiegend von Männern ausgeübt wer-                                                                                                              Jahre, richtig süss, […], aber das Problem war,
wünschen, ist ein guter Mix immer noch nicht vorhanden.            den, entsprechenden Männlichkeitsnormen und -stan-                                                                                                                dass es eine Art gibt, wie man sich kleiden
In zwei Studien hat das EHB untersucht, wie die duale Be-          dards unterwerfen.                                                                                                                                                sollte […] diese ordinäre Art, das passt nicht
rufsbildung geschlechtsspezifische Berufsbilder mitprägt               Théo, ein 16-jähriger Gärtnerlehrling, der seine Lehre                                                                                                        wirklich …»
und dazu beiträgt, Geschlechternormen zu verfestigen.              abgebrochen hat, erzählt dazu: «Das sind Körbe, die fas-                                                                                                             Dies ist eine sehr deutliche Zurechtweisung,
                                                                   sen, sagen wir, 70 Liter … Wenn das Gras also nass ist […]                                                                                                        und sie hat vor allem einen stark normativen
Die enge Verbindung mit dem Arbeitsmarkt macht die Be- Ja, dann ist das ziemlich harte Arbeit … Ja, das hat schon                                                                                                                    Charakter. Eine Frau muss also nicht nur fach-
rufsbildung zu einem idealen Gebiet, um die berufliche Spass gemacht.» Die jungen Männer lernen also, Anstren-                                                                                                                       lich gut sein, sondern sie muss auch vielen,
Sozialisation zu erforschen. Im Kontext von stark ge- gung als Spass zu sehen und zu verneinen, dass sie da­                                                                                                                         oft zweifelhaften gesellschaftlichen Erwartun-
schlechtsspezifisch geprägten Berufen                                                 runter leiden, wie die Sozialpsychologin                                                                                                       gen entsprechen.
(siehe S. 4–5 in diesem Heft) erfolgt auch                                            Pascale Molinier analysiert hat.                                                                                                                  In ein Berufsfeld einzutreten, bedeutet also
die Berufsbildung nicht geschlechtsneu-                                                   Bei Frauen hat die Anpassung oft stär-                                                                                                     oft, dass man sich an die dort herrschenden
tral. Es ist ein Teil der beruflichen So-                                             ker mit dem Aussehen zu tun. Yasmine                                                                                                           Normen von Männlichkeit oder Weiblichkeit
zialisation, die Lernenden mit den gän-                                               ist 16 Jahre alt und hat als Dentalassisten-                                                                                                   anzupassen hat. Diese Normen werden selten
gigen Geschlechterrollen eines Berufs-                                                tin gekündigt. Sie erzählt von den Erwar-                                                                                                      hinterfragt, obwohl sie meist sehr klischiert
felds vertraut zu machen.                                                             tungen an sie, den «richtigen Körper» ha-                                                                                                      sind. Sie verstärken die geschlechtsspezifische
   Der Arbeitsmarkt ist stark geschlechts-                                            ben zu müssen: «Einer [ein Arbeitgeber]                                                                                                        Arbeitsteilung und tragen dazu bei, die kaum
spezifisch strukturiert. Frauen und Män-                                              hat mir gesagt: ‹Ich weiss halt nicht, ob                                                                                                      bis gar nicht durchmischte Berufswelt aufrecht-
ner üben nicht dieselben Berufe aus, und                                              sie gut um den Zahnarztstuhl herum-                                                                                                            zuerhalten.
es gibt unter diesen Berufen eine Hier-                                               kommt.› Das ist diskriminierend, das
                                                                                                                                     ↑	Illustration von Nina Biaggio, Abteilung für Drucktechnik, Centro scolastico per le          ■ Prof. Dr. Nadia Lamamra, Leiterin Forschungsfeld
archie. Bereits Jugendliche werden in ih-                                             müsste verboten sein. Wenn man heut-                                                                                                              Integrations- und Ausschlussprozesse, EHB
                                                                                                                                        industrie artistiche (CSIA), Lugano
rer beruflichen Sozialisation mit diesen                                              zutage ein Mannequin sein muss, um ei-
Prinzipien der Trennung und Hierarchi-                                                ne Lehre machen zu können, dann frage               Sie sagten, […] das ist doch kein Beruf für Mädchen, ich                    ▶ www.ehb.swiss/project/betriebliche-berufsbildnerInnen-
                                                                                                                                                                                                                         schluesselrolle
sierung vertraut gemacht. Schliesslich                                                ich mich, wo das noch hinführt.»                    würde es sowieso nicht lange in der Autowerkstatt aus-                      ▶ www.ehb.swiss/project/berufsbildung-als-ort-der-
sind auch Unternehmenskulturen stark                                                      Wenn von jungen Frauen ein «pro-                halten.»                                                                       geschlechterkonstruktion
geschlechtsspezifisch geprägt, wie die                                                fessionelles Auftreten» erwartet wird,                 Mit diesen expliziten Äusserungen gab das Kollektiv
                                                                                                                                                                                                                      Literatur
Soziologin Catherine Marry in ihrer For- ↑	Illustration von Lea Bignotti, Abteilung heisst das in der Regel, dass sie sich pas-          der jungen Frau zu verstehen, dass sie in diesem Beruf                      ■ BFS (2013). Vers l’égalité? Neuchâtel: BFS.
                                             für Drucktechnik, Centro scolastico per
schung über Pionierinnen aufgezeigt hat.     le industrie artistiche (CSIA), Lugano   send kleiden. Sie müssen also nicht nur             keinen Platz hat.                                                           ■ Kergoat, D. (2000). Division sexuelle du travail et rapports sociaux de
   Diese geschlechtsspezifische Sozia-                                                die Codes des Berufs kennen, sondern                                                                                               sexe. In H. Hirata, F. Laborie, H. Le Doaré & D. Senotier (Hrsg.),
                                                                                                                                                                                                                         Dictionnaire critique du féminisme, 35–44. Paris: PUF.
lisation war auch Gegenstand von zwei Studien, die For- auch jene der Weiblichkeit einzusetzen wissen: Sie sollen                         Im Zentrum der Gender-Sozialisation                                         ■ Lamamra, N., Duc, B. & Besozzi, R. (2019). Au cœur du système dual:
schende des EHB durchgeführt haben. Die eine befasste attraktiv sein, aber nicht vulgär.                                                  Aus der Studie von 2019 geht deutlich hervor, dass die Be-                     les formateurs et formatrices en entreprise. Renens: IFFP.
sich mit Lernenden, die andere mit Berufsbildner/innen                 Arbeitskolleginnen und -kollegen spielen in diesem                 rufsbildner/innen in den Betrieben wichtige Referenzper-                    ■ Lamamra, N. (2016). Le genre de l'apprentissage, l'apprentissage du
                                                                                                                                                                                                                         genre. Quand les arrêts prématurés révèlent les logiques à l'oeuvre
in den Betrieben. Die nachfolgend präsentierten Auszü- Prozess eine wichtige Rolle. Wenn das Verhalten junger                             sonen sind, wenn es um die Wahrnehmung des Berufs-                             en formation professionnelle initiale. Zürich/Genf.
ge stammen aus diesen beiden Untersuchungen.                       Menschen als abweichend betrachtet wird, werden sie                    bildes geht. Ihre Ansichten sind für die Lernenden von                      ■ Marry, C. (2007). Celles qui dérogent… In C. Baudelot & R. Establet
                                                                   oft zurechtgewiesen, manchmal auch stigmatisiert. Agnès,               grosser Bedeutung. Einige Berufsbildner/innen reprodu-                         (Hrsg.), Quoi de neuf chez les filles? Entre stéréotypes et liberté,
                                                                                                                                                                                                                         123–128. Paris.
Lernende werden mit Geschlechterrollen konfrontiert                18 Jahre alt, betonte nach dem Abbruch ihrer Ausbildung                zieren dabei überholte Rollenbilder, obwohl sie sich ei-                    ■ Molinier, P. (2000). Virilité défensive, masculinité créatrice. In Travail,
Geschlechternormen werden im Alltag manchmal durch- zur Carrosserielackiererin, wie heftig ihr immer wieder                               gentlich für ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis                           genre et sociétés, 3, 25–43.
aus bewusst vermittelt, sie können aber auch durch vie- Vorwürfe gemacht wurden und wie sehr ihr Minderhei-                               aussprechen, wie etwa Benjamin, Lebensmitteltechnolo-
le kleine, fast unsichtbare Gesten weitergegeben werden. tenstatus als Frau die Situation noch verschärfte: «Am                           ge und Berufsbildner in einem Grossunternehmen: «Ich
Dies zeigt eine Studie über Lehrabbrüche, die in einer Anfang ging es gut, aber dann wurde ich heruntergemacht.                           mache keinen Unterschied zwischen Mädchen und Jun-

14                                                                                                                                                                                                                                                                                            15
Skilled N 22019 - Eidgenössisches Hochschulinstitut für ...
skilled 2/19            Gender

        Laufbahnstudie im Sozialbereich

        Eine Lehre in einem typischen
        Frauenberuf – und dann?
        Von Belinda Aeschlimann und Ines Trede

        In den Sozialberufen ist die Abwanderungsquote von qua-                stellen, die ihre Lehre in einem typischen Frauenberuf
        lifizierten Berufsleuten überdurchschnittlich. In der Kin-             machen? Diese Frage haben Forschende des EHB bei an-
        derbetreuung fehlen insbesondere Männer. Ob angehende                  gehenden Fachfrauen und Fachmännern Betreuung
        Fachfrauen und Fachmänner Betreuung dem Sozialbereich                  (FABE) untersucht. 86 Prozent von ihnen sind Frauen.
        nach ihrem Abschluss erhalten bleiben, untersuchten das
        EHB und SAVOIRSOCIAL in einer Laufbahnstudie.             Männernische im Frauenberuf
                                                                  Die Lernenden FABE werden am häufigsten in den Fach-
        Dass Frauen und Männer weltweit verschiedene Berufe richtungen Behinderten- und Kinderbetreuung ausge-
        wählen, ist bekannt. In der Schweiz zeigt sich dies deut- bildet. Die Behindertenbetreuung (BEH) findet oft in
        lich bei der ersten Berufswahl. Frauen bevorzugen Beru- geschützten Werkstätten statt und ist von handwerkli-
        fe aus den Bereichen Soziales und Ge-                                        chen und industriellen Arbeiten ge-
                                                 Frauen bevorzugen Berufe
        sundheit, während Männer vor allem                                           prägt – Tätigkeiten, die als typisch
                                                 aus den Bereichen Soziales
        in handwerklich-technischen Ausbil-                                          männlich angesehen werden. Die
                                                 und Gesundheit, während
        dungen vertreten sind (siehe S. 4–5 in                                       Kinderbetreuung (KIBE) wiederum
                                                 Männer vor allem in
        diesem Heft). Eine geschlechtstypi-                                          ist aufgrund ihrer vor allem fürsorg-
                                                 handwerklich-technischen
        sche Berufswahl ist insbesondere für                                         lichen Tätigkeiten als Frauendomä-
                                                 Ausbildungen vertreten
        Frauen problematisch, da sie – auch                                          ne einzuordnen. Dass die BEH eine
                                                 sind.
        auf höheren Bildungsstufen – oft mit                                         Männernische in einem Frauenbe-
        tieferem Lohn und geringeren Karrierechancen verbun- ruf ist, zeigt sich in der Ausbildungsstatistik: Der Män-
                                                                                                                                           ↑	Illustration von Lara Müller, Abteilung für Drucktechnik, Centro scolastico per le industrie artistiche (CSIA), Lugano
        den ist (siehe S. 6–10 in diesem Heft). Lassen sich diese neranteil unter den Lernenden ist dort mit 30 Prozent
        Tendenzen auch bei jungen Frauen und Männern fest- fast viermal höher als in der Kinderbetreuung, wo es 8 Pro-                          Männer revidieren ihre erste Wahl                                            tere Anstellungsbedingungen einher. Die Tendenz der
                                                                  zent sind.                                                                    Die Analysen dieser vier Gruppen zeigen, dass die Be-                        Männer, aus dem Sozialbereich auszusteigen oder eine
Laufbahnstudie im Sozialbereich                                                                                                                 rufs- und Bildungsabsichten stark divergieren. Weibliche                     höhere Berufsbildung im Bereich Soziales zu absolvie-
Im Auftrag von SAVOIRSOCIAL hat das Schweizerische Observatorium für die       Vier Gruppen untersucht                                          Lernende der Fachrichtung KIBE möchten am häufigs-                           ren, spricht eher für eine Korrektur der geschlechtsun-
Berufsbildung des EHB eine dreiteilige Laufbahnstudie zu Ausbildungs-          Dies bedeutet, dass Lernende FABE mit ihrer Berufswahl           ten im Beruf und in der Kinderbetreuung bleiben. Gleich-                     typischen Berufswahl. Damit verbunden ist die Aussicht
und Erwerbsverläufen im Sozialbereich durchgeführt. Die hier präsentierten     punkto Geschlechtstypik eine doppelte Entscheidung ge-           zeitig streben sie seltener eine Tertiärbildung oder eine                    auf bessere Karrierechancen und mehr Lohn. Diese Ten-
                                    Ergebnisse stammen aus der ersten          troffen haben: Erstens für das frauentypische Berufspro-         Tätigkeit ausserhalb des Sozialbereiches an. Weibliche                       denz unterläuft die Absichten der Branche, die Berufs-
                                    Befragung von 2160 lernenden               fil FABE und zweitens für eine mehr oder weniger frau-           Lernende der Fachrichtung BEH sind hingegen mobiler.                         ausstiege zu reduzieren und den Anteil an qualifiziertem
                                    Fachfrauen und Fachmännern
                                                                               entypische Fachrichtung. Basierend darauf untersuchte            Sie planen insbesondere, eine höhere Fachschule zu be-                       Personal zu erhöhen.
                                    Betreuung im Jahr 2016.
                                                                               die Studie vier Gruppen von angehenden Betreuungsfach-           suchen. Die männlichen Lernenden tendieren insgesamt                            Warum Kinderbetreuerinnen kaum Tertiärbildungen
                                      Eine zweite Befragung derselben
                                                                               kräften: 1. Frauen im KIBE-Bereich und 2. Frauen im we-          stärker dazu, den Beruf zu wechseln, sei dies über ein Stu-                  anstreben und männliche FABE häufiger den Beruf wech-
                                    Personen fand im Frühling 2019 statt.
                                    Ergebnisse, die beide Befragungs­
                                                                               niger geschlechtstypischen Arbeitsbereich BEH, 3. Män-           dium an einer höheren Fachschule oder Fachhochschule                         seln möchten, wird derzeit vertieft analysiert. Die Gründe
                                    zeitpunkte einbeziehen, werden diesen      ner im für sie geschlechtstypischen BEH-Bereich und 4.           oder mit einer Tätigkeit ausserhalb des Sozialbereichs –                     dafür dürften sowohl im Bildungsangebot Soziales als
                                    Spätherbst publiziert. Ein ausführlicher   Männer im KIBE-Bereich. Unbekannt war bisher, welche             wobei es sie bevorzugt in potenziell prestigeträchtigere                     auch in individuellen Präferenzen zu finden sein.
                                    Beitrag zur Bedeutung des Geschlechts      Berufs- und Bildungsentscheidungen diese vier Gruppen            Tertiärberufe wie beispielsweise in pädagogische Berufe
                                                                                                                                                                                                                             ■ Dr. Belinda Aeschlimann, Senior Researcher Schweizerisches
                                    beim Übergang in die berufliche            nach Lehrabschluss treffen und ob sie ihre geschlechtsty-        im Bildungswesen zieht.                                                      Observatorium für die Berufsbildung, EHB ■ Prof. Dr. Ines Trede,
                                    Tertiärbildung im Sozialbereich wird im    pische oder -untypische Erstwahl beibehalten, verstärken                                                                                      Leiterin Schweizerisches Observatorium für die Berufsbildung, EHB
                                    Buch «Gendersensible Berufs­               oder revidieren. Dies analysierten die Forschenden nun           Bessere Karrierechancen mit einem Ausstieg?
                                    orientierung und Berufswahl» zu finden                                                                                                                                                   ▶ www.ehb.swiss/obs/fachkraftemangel-im-sozialbereich
                                                                               anhand der Absichten der Lernenden, nach ihrem Ab-               Aus sozialpolitischer Sicht sind die ausgeprägten Absich-
                                    sein, das im November im hep-Verlag        schluss im Arbeitsbereich zu bleiben oder ihn zu wech-           ten der Kinderbetreuerinnen, im Beruf und im Arbeits-
                                    erscheint.
                                                                               seln, ein Hochschulstudium oder eine höhere Berufsbil-           bereich KIBE zu verbleiben, als problematisch zu bewer-
                                                                               dung zu beginnen oder den Sozialbereich zu verlassen.            ten, denn damit gehen ein schlechterer Lohn und schlech-

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