Sofía Sofía Segovia Familienroman Simonopio - ULLSTEIN Buchverlage
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sofía Das Magazin zum Buch Exklusive Leseprobe Sofía Sofía Segovia Was mich zum Schreiben bewegt hat Familienroman – unterhaltsam, tiefsinnig und so kostbar Simonopio – diesen wilden stummen Jungen muss man ins Herz schließen
6 3 4 t i g m a c h t so einzigar Wie alles Liebe BUCHHÄNDLERIN, lieber BUCHHÄNDLER, begann 8 Das Dorf am Das Flüstern der Bienen lässt uns eintau- Voller Wärme wird von den kleineren und Fuße der Berge chen in eine Welt fern unseres Alltags, in größeren Erfolgen der Figuren erzählt: 10 der der Honig fließt, die Luft vom Summen schwirrt, und eine sanfte Brise vom Fuße des Gebirges den Duft saftiger Orangen Vom auferstandenen Lázaro, der sich beim Sterben langweilte und vom Fried- hof ins Leben zurückkehrt, von Beatriz, Eine ungewöhnliche über das Land weht. Mitten in diese Idyl- die ohne das Rattern ihrer Nähmaschine26.714 Familie Leserstimmen le auf der Hacienda der Familie Morales keine Quarantäne überleben würde, von Francisco senior, der gutherzig für seinauf Pa- INHALT platzt zunächst der mexikanische Bürger- krieg und 1918 dann die große Epidemie. tenkind eintritt und ihm mit Senfwickeln So gutherzig und fleißig die Familie auch das Leben zu retten glaubt, vongoodreads Francisco 12 Der historische ist, der Krankheit, der Zerstörung und den Kugeln sind sie ausgeliefert. Doch dann ist da dieser kleine Junge, stumm, entstellt junior, der sich voller Liebe an seinen gro- ßen Bruder und noch größeren Helden Simonopio erinnert und als alter Mann mit Hintergrund und immer umgeben von seinen Bienen. kindlicher Vorfreude zurück in seine Ver- 14 Die Spanische Simonopio ist der Einzige, der sich in dem Trubel Zeit nimmt, der dem Flüstern der Bienen lauscht, der wirklich sieht, der die gangenheit reist. Es sind dunkle Zeiten, in denen diese Ge- schichte spielt, aber auch in denen gibt Natur versteht und so seine Familie vor es einen Lichtblick, ein Kind, das uns den Grippe dem größten Unglück bewahren kann. Zauber der Natur vor Augen führt. Das 16 Exklusive Das stumme Kind ist der laute Held der Geschichte, aber nicht der Einzige, der das Herz berührt. ist es, was mich an dieser Geschichte am meisten beeindruckt und nachhaltig be- wegt hat. Leseprobe Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit mit Dem Flüstern der Bienen! 98 Was diesen Mit herzlichen Grüßen Roman so einzigartig macht Tabea Horst, Lektorin Belletristik © vectorstate
4 5 A ls ich 2010 anfing zu schrei- Mann erhebt sich von seinem Sessel im heu- ben, war meine für ge- tigen Monterrey und macht sich auf den Weg wöhnlich friedliche Hei- nach Linares, ohne dabei zu bemerken, dass mat Linares gerade zum sein eigentliches Ziel seine verlorenen Erinne- Schlachtfeld eines Dro- rungen sind. genkrieges geworden. Vie- Umgeben von dem Flüstern der Bienen und le sagten, dass wir zuvor noch nie attackiert dem Duft der Orangenblüten, lernen wir dann worden seien oder gar um unser Leben hätten Francisco und Beatriz Morales kennen, wie sie fürchten müssen. Doch das ist falsch: Nur zwei um ihr Erbe und das Erbe ihrer Kinder ringen. Generationen zuvor, 1910, steckten wir mitten An ihrer Seite durchleben wir die Ereignisse in den Auswüchsen eines Bürgerkrieges. Ich des Krieges und der Spanischen Grippe, und habe mich mit dieser kollektiven Angst be- wie sie die Tür für die alte Nana Reja und den s schäftigt und sie in verräterischen Espiricue- e mein Schreiben und ta, den Kojoten, öffnen. In a ll in meine Figuren ein- dieser Fiktion wird Lazarus fließen lassen. Doch lebendig und – wie durch auch wenn Das Flüs- Magie – wird ein ausge- ie tern der Bienen auf setztes Baby umgeben eine Weise ein verlo- von einem schützenden W nn renes Puzzlestück der Teppich aus Bienen real. Geschichte aufzeigt, Das Gesicht entstellt, ist es kein historisches ein Kind ‚vom Teufel ge- a Dokument. Es ist eine küsst‘, ist Simonopio aus e g fiktive Geschichte über meinem Wunsch heraus b die menschliche Erfah- geboren, jemand Be- » rung angesichts eines sonderen zu haben, der schrecklichen Krieges; Francisco junior, uns, von Sofía es erzählt von der Lie- be für das Land, das mich, die anderen Fi- guren begleitet. Simo- Segovia Leben, die Familie und von einem Verrat, der alles enden lassen kann. Es ist eine Einladung nopio ist stumm, aber er spricht lauter als die anderen. Er hört seinen summenden Lehre- sich zu erinnern, gut zuzuhören, einzutauchen rinnen zu – und er versteht. Gemeinsam mit und der Fantasie freien Lauf zu lassen. Nana Reja und den Bienen bildet er den Kern Als ich Das Flüstern der Bienen schrieb, wuss- der Geschichte. Sie sind der Ursprung alles Das Flüstern der Bienen speist sich aus vielen Anekdoten te ich, dass ich die Vergangenheit ein wenig Magischen in dem Roman. Es ist die Magie meines Großvaters über sein frühes Leben in Linares durcheinanderwirbelte, aber ich wollte zei- der Natur, des Lebens. Es war nicht geplant, © unsplash/anj belcina gen, dass es mehr als nur eine Wahrheit gibt, sondern ist einfach so passiert. Und ich habe und hat daher schon lange nach mir gerufen. © Juan R Llaguno mehr als nur die eine Geschichte. Am Anfang es geschehen lassen, in dem Wunsch zu se- der Geschichte steht eine Reise: Ein alter hen, wo es uns hinführt.
6 7 Wie gut kennen Sie Simonopios summenden Begleiterinnen? Hören Sie manchmal ihr Flüstern? Bevor ich das Buch geschrieben habe, habe ich Bienen eher aus der Ferne bewundert (als Kind bin ich einmal gestochen worden). Aber ich habe schnell begriffen, dass Simonopio sie braucht, um zu überleben. Und dann sind sie einfach geblieben und haben Simonopio in ihren Schwarm aufgenommen. Die Bienen haben © unsplash: Filip Gielda, Greta Scholderle, Pablo Rebolledo ihn unterrichtet und ihre Fähigkeiten an ihn weitergegeben, das machte sie für mich so magisch. Ich bin nicht Simonopio, aber auch wenn ich ihre Sprache nicht spreche, profitiere ich doch von Simonopio als Übersetzer, und so versuche ich dem Flüstern der Bienen, der Natur zu lauschen und darauf zu hören, was das Leben mir erzählt. Wie haben Sie den Erfolg von Das Flüstern der Bienen erlebt? Hätten Sie damit gerechnet, dass Hundert- e w tausende von Menschen auf der ganzen Welt die i Geschichte dieses kleinen besonderen r v Jungen lesen? t e Es ist nicht allein die Zahl der Leser*innen, die mich erstaunt, son- InInterview dern wie weit das Flüstern des kleinen stummen Jungen reicht, wie gut es sich übersetzen lässt. Als ich 2014 den Vertrag unter- zeichnet habe, hat meine Lektorin mir wenig Hoffnung gemacht: Sie meinte, die Geschichte sei doch sehr ungewöhnlich für mexi- kanische Leser*innen und fürs Ausland zu regional. Ich wusste, dass ich einige Normen brach, doch trotzdem war ich überrascht: Wenn ich als Leserin durch die Zeit und bis in die letzte Ecke der Welt gereist bin, warum sollten andere Leser*innen ausgerechnet meine Einladung nach Linares ausschlagen? Literatur kann Gren- mit der Autorin zen öffnen, daran glaube ich wirklich. Gibt es noch etwas, das Sie mit den deutschen Buchhändler*innen teilen möchten? Wir haben in Mexiko ein Sprichwort: Durch Sprechen verstehen Was hat der Roman mit Ihrer eigenen Familiengeschichte zu tun? Menschen einander. Ich würde gerne ergänzen: Durch Lesen Mein Vater wurde in Linares geboren, aber als die Agrarrevolution kam, musste er die Gegend fühlen sie einander. Als ich die Geschichte schrieb, wusste ich, mit seiner Familie verlassen und nach Monterrey ziehen. Das Flüstern der Bienen ist nicht dass sich Erfahrungen ein wenig ändern können, und auch die meine Familiengeschichte, aber sie kommt darin vor. Ich wollte an das erinnern, worüber mein Umstände, die Zeiten, die Landschaften, die Sprachen, doch was Großvater und seine Generation nicht sprechen konnten: die Unsicherheit des Krieges, die sich niemals ändert, ist, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Ob Angst, alles zu verlieren, den Schmerz, alles hinter sich lassen zu müssen. Die Anekdoten über in Deutschland oder Mexiko oder wo auch immer wir sonst sind: die Gegend, seine Bewohner und sein Leben, die mein Großvater mit viel Wärme und Humor Wir sind alle nur Menschen und wir hoffen, fürchten, träumen seinen Kindern und Enkeln erzählt hat, haben der Geschichte ihre Farbe verliehen. und wünschen uns das Gleiche, wir lachen und weinen gleich.
e r B e r g e 8 9 o r f a m F u ß e d Da s D © unsplash: Pablo Rebolledo, Brienne Hong, Rd McLenagan, Zach Smith, Cesira Alvarado, Eduardo liceaga © istock: Campwillowlake Die Villa de San Felipe de Linares wurde am 2. April 1712 von Sebastián Villegas Cumplido gegründet und zu Ehren des spanischen Königs Felipe V. und des Vizekönigs von Neuspanien LINARES Fernando de Alencastre, Graf von Linares, benannt. Heute ist Linares mit mehr als 50.000 Einwohnern die größte Stadt des „Orangengürtels” in Nuevo León und damit auch das administrative Zentrum der umliegenden Ortschaften. Linares liegt im südöstlichen Teil des Landes und grenzt an den Bundesstaat Tamaulipas.
Eine ungewö h n l i c h e F a m i l i e 10 11 FRANCISCO JUNIOR der Rotzbengel SIMONOPIO »Immer war ich zu laut, immer zu schrill. der Bienenjunge Mein Körper bot sämtlichen heimatlosen Zecken, Flöhen oder Läusen Obdach und Nahrung, » Simonopio war ein Kind der Na- weshalb alle Versuche meiner Mutter, meine tur, ein Kind der Berge. Er musste Locken wachsen zu lassen, zum Scheitern im Leben lesen, nicht in Büchern.« verurteilt waren.« Unter einer Brücke ausgesetzt, wird Simonopio als Baby von Nana Reja gefunden und von den Francisco junior ist der Wildfang der Familie, Morales adoptiert. Böse Zungen behaupten, er © istock: marioaguilar / dimitris_k / duncan1890 der seiner Mutter mit 39 Jahren unerwartet sei vom Teufel geküsst, weil er eine Gaumen- geschenkt wird. Er wächst unter der liebevollen spalte anstelle eines Mundes hat. Er kann nicht Aufsicht von Simonopio auf und lernt durch sprechen, aber umso besser dem Flüstern der seine Augen die Natur zu verstehen. Bienen lauschen und prägt damit das Schicksal seiner Familie. NANA REJA die Amme »Die meisten Leute glaubten, dass Reja mit ihrem Schaukelstuhl verwachsen war, so sehr, dass man nicht wusste, wo das Holz des einen endete und das der BEATRIZ & FRANCISCO anderen begann. Schon vor Sonnenaufgang sah man MORALES sie dort sitzen, gemächlich hin und her schaukelnd, das Ehepaar angetrieben mehr vom Wind als von ihren eigenen Füßen, und am Abend war sie noch dort, wenn alle anderen längst zu Hause ihren »Beatriz war immer beschäftigt und immer in Eile: Feierabend genossen.« Wenn sie nicht das Haus oder ihre Töchter beaufsichtigte, organisierte sie die Veranstaltungen des Damenzirkels. […] Seit dem Verlust ihres eigenen Schwarzen Francisco Morales war der Mann, den das Leben Babys ist die Nana Reja bei der Familie ihr versprochen hatte, derjenige, den sie sich als Morales und hat als Amme mehreren Generationen und Scharen von Kindern Kind und als junges Mädchen die Brust gegeben. Sie ist inzwischen © unsplash: Niklas Hamann/Yanapi Senaud erträumt hatte.« so alt, dass sie weder spricht noch isst Das Ehepaar Morales hat die Hacienda samt den noch schläft, sondern tagein ,tagaus nur Ländereien von den Vorfahren geerbt und arbei- auf ihrem Schaukelstuhl sitzt – bis das tet hart, um die Felder zu bewirtschaften und die Schreien eines Babys sie aus ihrer Starre Familie zu ernähren. Doch sosehr sie sich auch erweckt. bemühen, gegen die Willkür des Bürgerkrieges sind sie machtlos.
12 13 Der historische Hintergrund – n , d i e e s z u G e f a h r e überwin d e n g i l t Die vier P hasen der Revolution 1910 Präsidentschaft Maderos VORAUSSETZUNGEN: Das Díaz-Regime („Porfiriat“) bewirkte zunächst 1913 Beginn der Revolutionsbewegung durch Verhaftung von Francisco Madero große Fortschritte in der Wirtschaft, wovon aber Das Díaz-Regime wird gestürzt und 1911 Madero nur wenige Großgrundbesitzer profitierten. Die zum Präsidenten gewählt Unzufriedenheit in der Bevölkerung wuchs auf- grund des autokratischen politischen Systems, 1913 Präsidentschaft Huertas der anhaltenden Wirtschaftskrise (1907) und dem Wandel der Agrarwirtschaft: Durch die 1914 Sturz des Madero-Regimes durch Victoriano Huerta Im Norden und im Süden agieren verschiedene © Museo Soumaya, G.A. Martin, US Army / US Army Military History Institute / Photo Courtesy of U.S. Army Mechanisierung verloren Kleinbauern ihr Land Revolutionsbewegungen gegen das Huerta-Regime und gerieten in Schuldknechtschaft. Um dem 1914 gibt sich Huerta geschlagen Unmut der Bevölkerung entgegenzuwirken, er- laubte Díaz die Aufstellung eines Oppositions- kandidaten: Francisco Madeoro. Dessen Verhaf- 1915 Konstitutionalisten vs. Konventionisten tung nach der nach der (fingierten) Wiederwahl von Díaz markierte den Beginn der Formierung 1916 Die Anti-Huerta-Koalition zerbricht in zwei neue Lager: Konventionisten (Francisco Villa und Emiliano Zapata) gegen Konstitutionalisten (Venustiano Carranza und Alvaró Obregón) eines revolutionären Widerstands. Carranza und Obregón setzen sich militärisch durch 1916 Präsidentschaft Carranzas 1920 Carranza wird 1917 zum Präsidenten gewählt © unsplash: Luis Vidal/wikipedia Neue Verfassung: Die Schuldknechtschaft wurde aufgehoben, der Einfluss der Kirche beschränkt und Großgrundbesitz reduziert 1920 wird Carranza ermordet und Obregón zum Präsidenten gewählt, der das Land politisch stabilisiert
Die Spanische Wer war betroffen? 14 15 Wie war der Krankheitsverlauf? Grippe Bei einer damaligen Weltbevölkerung von etwa 0 1,8 Milliarden gab es laut WHO zwischen 20 - 2 Der Ausbruch und Verlauf der Krankheit verlief 9 Millionen und 50 Millionen Tote, Vermutungen 1 reichen bis zu 100 Millionen Toten bei ca. 500 bei der zweiten Welle sehr schnell, häufig star- 8 Millionen Infizierten. Mehr als die Hälfte der Op- ben die Infizierten schon nach wenigen Stunden. 1 Die Todesursache war meist akutes Lungenver- 19 fer starb in Asien. Im Gegensatz zu den meisten Influenza-Pandemien waren vor allem 20 bis sagen, weswegen anfangs eine sogenannte Lun- 40-Jährige betroffen. genpest vermutet wurde. Die hohe Todesrate In Amerika waren insbesondere indigene Men- bei 20 bis 40-Jährigen lag wohl an einer Über- schen von dem Virus betroffen. reaktion des bei jungen Menschen besonders In Mexiko, wo die Pandemie vermutlich Mitte aktiven Immunsystems in Form eines Zytotkins- 1918 eintraf, sollen knapp 440.000 Menschen, turms (Abwehrzellen greifen das Lungengewebe der Großteil davon aus der indigenen Bevölke- an). Es herrschte jedoch nur geringes Wissen rung, gestorben sein. Bei einer Gesamtbevöl- über die Krankheit, erst 1933 wurde herausge- kerung von 14 Millionen Menschen macht das funden, dass es sich bei dem Erreger um ein In- einen Anteil von 14 Prozent aus. fluenza-Virus handelte. Die Spanische Grippe war eine Influenza-Pandemie, die zum Ende des Ersten Weltkrieges ausbrach und Wo war der Ursprung der Pandemie? sich weltweit in Der erste offiziell registrierte Erkrankungsfall drei Wellen verbreitete. war Albert Gitchell, am 04.03.1918 in einem Mi- Mit vermuteten litärlager in Kansas, USA. Die Bezeichnung „Spa- nische Grippe“ ist also irreführend. Tatsächlich 20-100 Millionen Toten war Spanien lediglich das erste Land, das über wird sie als größte die Pandemie berichtete, da es während der Kriegsgeschehnisse neutral war und die Pres- Vernichtungswelle seit se keiner Zensur unterlag. Der wahre Ursprung der Pest im Mittelalter wird aber in den USA vermutet. Insgesamt wur- de in der Weltöffentlichkeit wenig über die Spa- bezeichnet. nische Grippe berichtet, da die Aufmerksamkeit auf dem Ersten Weltkrieg lag. © shutterstock: Everett Collection Vermutlich wurde das Virus ursprünglich von Vögeln auf Menschen übertragen. Dann verbrei- tete es sich weltweit, nur kleine isolierte Inseln wie St. Helena oder die Antarktis entgingen der Pandemie komplett.
Sofía Segovia 1 D a s F l ü er n d er B ie n en Blaues Kind, weißes Kind An jenem Morgen im Oktober mischte sich das Weinen eines Babys unter das Rauschen der frischen Brise in den Bäumen, das Zwitschern der Vö- gel und das Zirpen, mit dem die Insekten die Nacht verabschiedeten. Es Aus dem Spanischen drang aus dem Dickicht am Berghang, war aber schon wenige Meter von von Kirsten Brandt seinem Ausgangspunkt entfernt nicht mehr zu hören, wie durch Hexerei daran gehindert, an ein menschliches Ohr zu dringen. Noch Jahre später würden die Leute darüber reden, wie Don Teodosio auf dem Weg zur Arbeit dicht an dem armen ausgesetzten Baby vorbei- gegangen sein musste, ohne einen Laut zu vernehmen, und wie Lupita, Exklusive Leseprobe die Wäscherin der Morales, auf dem Weg nach La Petaca, wo sie sich einen Liebestrank brauen lassen wollte, die Brücke überquerte, ohne das Ge- ringste zu bemerken; denn natürlich hätte sie den Jungen an sich genom- men, wenn sie ihn denn gehört hätte. Ich verstehe nicht – so erzählte sie später jedem, der es hören wollte –, wer so grausam sein kann, ein neu- geborenes Kind auszusetzen und es einsam und allein sterben zu lassen. Das war in der Tat ein Rätsel. Welche Frau hier in der Gegend hatte in den letzten Monaten Anzeichen einer ungebührlichen Schwangerschaft gezeigt? Zu wem gehörte dieses unglückselige Kind? Nachrichten über ei- nen möglichen Fehltritt verbreiteten sich im Ort schneller als die Masern, und wenn einer etwas wusste, wussten es bald alle. In diesem Fall aber wusste keiner etwas. © 2015 by Sofía Segovia Die populärste unter den zahllosen Theorien, die über die Jahre wei- © der deutschsprachigen Ausgabe tergegeben wurde, besagte, dass eine der Hexen von La Petaca, die – wie Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021 ja allgemein bekannt – mit ihren Liebesdiensten sehr freizügig waren, das Alle Rechte vorbehalten. Kind geboren und es dann, als sie sah, wie seltsam und missgestaltet es 17
war – eine Strafe des Allmächtigen oder des Teufels? –, unter der Brücke Wenn die Leute vorübergingen, grüßten sie sie ebenso wenig, wie man abgelegt und seinem Schicksal überlassen hatte. einen Baum grüßt. Manchmal kamen ein paar Kinder aus dem nahe ge- Niemand hätte sagen können, wie lange das Baby mutterseelenallein legenen Ort herauf, um einen verstohlenen Blick auf diese Legende zu dort gelegen hatte, hungrig und nackt. Niemand verstand, wie es unter erhaschen, aber wenn sich eines näher an sie heranwagte, um sich zu ver- freiem Himmel hatte überleben können, ohne durch die offene Nabel- gewissern, dass es wirklich eine Frau aus Fleisch und Blut und nicht etwa schnur zu verbluten oder zum Fraß von Ratten, Raubvögeln, Bären oder eine Holzfigur war, dann verpasste Reja dem Naseweis, ohne die Augen Pumas zu werden, von denen es in der Gegend nur so wimmelte. zu öffnen, einen ordentlichen Hieb mit ihrem Krückstock. Und alle fragten sich, wieso ausgerechnet die alte Nana Reja den Jun- Sie wollte nicht angegafft werden, also tat sie, als wäre sie aus Holz, und gen unter einem Teppich aus wimmelnden Bienen gefunden hatte. hoffte, dass man sie übersah. In ihrem langen Leben hatten ihre Augen Vor vielen Jahren hatte die alte Amme beschlossen, sich auf der Hazien- zu viel gesehen und ihre Ohren zu viel gehört, ihr Mund hatte zu viel da La Amistad einen Ort zu suchen, an dem sie den Rest ihrer scheinbar geredet, und zu vieles hatte ihre Haut berührt und ihr Herz zerrissen. Sie endlosen Tage verbringen konnte. Ihre Wahl war auf einen Schuppen konnte nicht sagen, wofür sie noch lebte oder worauf sie noch wartete, gefallen, einen schlichten, fensterlosen Bau, der als Lagerraum diente. bevor sie sich endgültig verabschiedete. Schon lange war sie niemandem Wie die anderen Wirtschaftsgebäude stand er hinter dem Haupthaus, den mehr eine Hilfe. Blicken der vornehmen Gäste verborgen, und unterschied sich von den Aber obwohl ihr Körper verdorrt und ihre Sinne abgestumpft waren, anderen Lagerschuppen nur dadurch, dass er ein schützendes Vordach be- waren ihre Gefühle noch nicht ganz erloschen, und ein paar wenige Men- saß, sodass die alte Frau sommers wie winters draußen sitzen konnte. Das schen durften sich ihr noch nähern: Pola, die andere alte Nana der Familie, war allerdings reiner Zufall, denn Reja hatte den Platz nicht etwa deshalb die wie sie ihre besten Tage schon lange hinter sich hatte, oder Francisco, gewählt, sondern weil er eine wunderbare Aussicht bot und der Wind ihr der Junge, den sie vor langer Zeit, als sie sich noch gestattete, zu fühlen, hier nach seinem verschlungenen Weg durchs Gebirge ins Gesicht wehte. von ganzem Herzen geliebt hatte. Franciscos Frau Beatriz hingegen er- Nun saß sie schon seit so vielen Jahren hier, dass keiner der Bewohner trug sie nur mit Mühe; sie war zu müde, um noch jemanden in ihr Leben sich daran erinnern konnte, wie sie und ihr Schaukelstuhl hierhergekom- zu lassen, und seine Töchter fand sie unausstehlich. men waren. Sie brauchten sie nicht, und die alte Nana hatte ihnen nichts zu geben, Die meisten Leute glaubten, dass Reja ihren Schaukelstuhl nie verließ, denn mit zunehmendem Alter war sie von ihren Pflichten entbunden wor- weil sie so alt war – auch wenn niemand ihr genaues Alter kannte –, dass den und nach und nach mit ihrem Schaukelstuhl verwachsen, so sehr, dass ihre Knochen sie nicht mehr trugen und ihre Muskeln ihr nicht mehr ge- man nicht wusste, wo das Holz des einen endete und das der anderen horchten. Schon vor Sonnenaufgang sah man sie dort sitzen, gemächlich begann. hin und her schaukelnd, angetrieben mehr vom Wind als von ihren ei- Noch vor Tagesanbruch kam sie aus ihrem Zimmer geschlurft, ließ sich genen Füßen, und am Abend war sie noch dort, wenn alle anderen längst unter dem Vordach in ihrem Schaukelstuhl nieder und schloss Augen und zu Hause ihren Feierabend genossen. Ohren, um nichts zu sehen und nichts zu hören. Pola brachte ihr Früh- So viele Jahre saß sie schon da, dass die Bewohner der Hazienda ihre stück, Mittagessen und Abendessen, die sie jedoch kaum anrührte. Erst Geschichte und sogar sie selbst vergessen hatten: Sie war Teil der Land- viele Stunden später, wenn ihr die Lichter der Glühwürmchen hinter ihren schaft geworden, mit dem Boden verwurzelt, auf dem sie vor und zurück geschlossenen Lidern anzeigten, dass es Nacht war, und ihr Schaukelstuhl wippte. Ihr Fleisch war zu Holz verdorrt, ihre Haut zu dunkler, harter, sie zu zwicken und zu zwacken begann, weil er ihrer Gesellschaft über- gefurchter Rinde getrocknet. drüssig war, stand sie wieder auf. 18 19
Manchmal öffnete sie auf dem Weg zu ihrem Bett die Augen, auch Platz überquert. Sie hatte sich auch noch nie auf eine Parkbank gesetzt. wenn sie sie nicht brauchte, um zu sehen. Dann legte sie sich in ihrem Aber jetzt, als ihr die Beine in der Kälte den Dienst versagten, tat sie Bett auf die Decke, weil die Kälte schon lange nicht mehr durch ihre Haut es. drang. Aber sie schlief nicht. Sie brauchte keinen Schlaf mehr und hatte Sie wusste, dass sie jemanden um Hilfe bitten musste, aber sie wusste vor langer Zeit aufgehört, darüber nachzudenken, ob es daran lag, dass nicht, wie, und hätte es auch für sich selbst nicht getan. Doch sie würde es sie genug für ein ganzes Leben geschlafen hatte, oder ob ihr Körper sich für das Baby in ihren Armen tun, das vor zwei Tagen aufgehört hatte zu gegen das Einschlafen sträubte, um nicht in den Großen Schlaf zu ver- trinken und zu weinen. Nur deshalb war sie hinunter ins Dorf gekommen, sinken. Nach ein paar Stunden begann ihr weiches Bett, sie wiederum zu das sie manchmal von ihrer Hütte in den Bergen aus in der Ferne be- zwicken und zu zwacken, um sie daran zu erinnern, dass es Zeit war, ihren trachtet hatte. treuen Freund, den Schaukelstuhl, aufzusuchen. Reja war sich sicher, dass sie noch nie so sehr gefroren hatte. Und den Nana Reja hätte nicht sagen können, wie viele Jahre sie nun schon Einwohnern dieses Ortes schien es genauso zu gehen, denn in den Straßen lebte. Sie hatte den Tag ihrer Geburt und ihren vollständigen Namen ver- war niemand zu sehen, der wie sie der Kälte trotzte. Die Häuser waren wie gessen – wenn sich überhaupt jemand jemals die Mühe gemacht hatte, Festungen, Fenster und Türen vergittert, die Läden hinter den Gittern ihr einen richtigen Namen zu geben. Zwar nahm sie an, dass sie einen geschlossen. Also blieb sie einfach auf der Bank sitzen, ratlos, zitternd vor Namen hatte, aber sie erinnerte sich weder an ihre Kindheit noch an ihre Kälte und von wachsender Angst um ihr Baby erfüllt. Eltern, ja, sie war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt Eltern gehabt Sie konnte nicht sagen, wie lange sie so dagesessen hatte. Vielleicht hatte. Hätte man ihr gesagt, dass sie der Erde entsprossen war wie ein wäre sie einfach sitzen geblieben, bis sie zur Statue erstarrt war, hätte sich Nussbaum, so hätte sie es geglaubt. Auch das Gesicht des Mannes, der nicht der gutherzige Dorfarzt, entsetzt über den Anblick der völlig zer- ihr das Kind gemacht hatte, hatte sie vergessen, nicht aber seinen Rücken, lumpten Frau, ihrer erbarmt. den er ihr zuwandte, als er ging und sie in der Lehmhütte allein ihrem Doktor Doria hatte sich trotz der Kälte auf den Weg gemacht, um nach Schicksal überließ. Señora Morales zu sehen. Die Frau lag im Sterben. Zwei Tage zuvor hatte Sie wusste noch, wie sich das Strampeln in ihrem Bauch angefühlt hat- sie mithilfe einer Hebamme ihr erstes Kind geboren, aber nun hatte sie te, wie ihre Brüste geschmerzt und noch vor der Geburt des Jungen, der Fieber, und der besorgte Ehemann hatte frühmorgens nach dem Arzt ge- ihr einziges Kind bleiben sollte, eine gelblich weiße, süße Flüssigkeit abge- schickt. Erst nach langem Zureden konnte der Doktor der Patientin entlo- sondert hatten. Sie war sich nicht sicher, ob das Gesicht, das sie in ihrer cken, wo das Problem lag: Ihre Brüste waren entzündet und schmerzten Erinnerung vor sich sah, das ihres Jungen war oder ob ihr nicht vielmehr beim Stillen beinahe unerträglich. ihre Fantasie einen Streich spielte und sich in ihm die Züge sämtlicher Eine Mastitis. Kinder vermischten, die sie in ihrem Leben gesäugt hatte, der weißen wie »Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt, Señora?« der schwarzen. »Weil es mir peinlich war, Herr Doktor.« An den Tag, an dem sie nach Linares gekommen war, halb tot vor Hun- Mittlerweile war die Entzündung weit fortgeschritten. Das Baby schrie ger und Kälte, erinnerte sie sich aber ganz genau, und noch immer spürte unablässig; es hatte seit mehr als zwölf Stunden nicht getrunken, weil sie, wie sie das Baby in ihren Armen hielt und es fest an ihre Brust drückte, seine Mutter ihm nicht die Brust geben konnte. Der Arzt hatte noch nie um es vor der eisigen Januarluft zu schützen. Nie zuvor hatte sie die Ber- gehört, dass eine Frau an Brustdrüsenentzündung gestorben wäre; Seño- ge verlassen, und darum hatte sie nie zuvor so viele Häuser beieinander- ra Morales aber lag im Sterben, daran bestand angesichts der aschfahlen stehen sehen, war noch nie durch eine Straße gegangen oder hatte einen Haut und der fiebrig glänzenden Augen der jungen Mutter kein Zweifel. 20 21
Doktor Doria war mit seiner Weisheit am Ende. Er bat Señor Morales Der Mann sprach so schnell, dass Reja seine Worte nicht verstand; aber hinaus auf den Flur. der Blick seiner Augen flößte ihr genug Vertrauen ein, dass sie mit ihm »Sie müssen mir gestatten, Ihre Frau zu untersuchen.« ging. In der Wärme seines Hauses angekommen, wagte sie es endlich, »Nein, Doktor. Geben Sie ihr einfach Medizin.« das Gesicht des Babys aufzudecken. Es war blau und reglos. Reja schrie. »Und was für eine Medizin sollte das sein? Ihre Frau stirbt, Señor Mo- Der Arzt nahm das Kind und versuchte, es wiederzubeleben. Wäre Reja rales. Lassen Sie mich wenigstens herausfinden, woran.« nicht vor Kälte völlig betäubt gewesen, hätte sie ihn gefragt: »Warum tun »Es muss an der Milch liegen.« Sie das?« Aber so brachte sie, überwältigt von dem Anblick ihres blau »Nein, es ist irgendetwas anderes.« gefrorenen Sohnes, nur wortloses Schluchzen hervor. Um ihn umzustimmen, musste der Arzt dem Ehemann versprechen, Sie bemerkte kaum, wie der Arzt sie auszog, und dachte auch nicht dar- dass er die Patientin entweder berühren, dabei aber nicht ansehen, oder über nach, dass er der erste Mann war, der das tat, ohne anschließend über sie ansehen, sie währenddessen aber nicht berühren werde. Schließlich sie herzufallen. Wie eine Stoffpuppe ließ sie sich untersuchen und zuckte gab Señor Morales nach und überzeugte auch die Kranke, den Arzt ihre erst zusammen, als der Arzt ihre großen, heißen Brüste berührte, die von Brüste abtasten und – schlimmer noch – ihren Bauch und ihre Schenkel der angestauten Milch hart und schmerzempfindlich waren. Dann ließ sie ansehen oder berühren zu lassen. Doch Doktor Doria musste gar nichts sich in wärmere, saubere Kleidung packen, ohne sich auch nur zu fragen, anfassen: Die entsetzlichen Unterleibsschmerzen und der übel riechende wem sie gehörte. Ausfluss der Patientin verrieten ihm, dass sie unrettbar verloren war. Als der Arzt sie vor sich her auf die Straße schob, dachte sie nur, dass Eines Tages würde man die Ursache für das Kindbettfieber erkennen sie jetzt wenigstens nicht mehr so frieren würde, wenn er sie wieder zu und wissen, wie man es verhinderte, aber für Señora Morales kam dieser der Bank brachte, und war überrascht, als sie den Kirchplatz hinter sich Tag zu spät. Für sie konnte man nichts weiter tun, als ihr die Zeit, bis Gott ließen und die Straße hinunter bis zu dem prächtigsten Haus von allen sie zu sich rief, so angenehm wie möglich zu machen. liefen. Um wenigstens das Kind zu retten, wies der Arzt den Dienstboten der Im Inneren des Hauses war es so dunkel wie in ihrer Seele. Reja hatte Morales an, eine Milchziege herbeizuschaffen. Doch als die Ziege kam, noch nie zuvor so weiße Menschen gesehen wie die, die sie jetzt in Emp- stellte sich heraus, dass der Junge ihre Milch nicht vertrug. Somit stand fang nahmen. Man führte sie in die Küche, wo sie mit gesenktem Kopf ihm ein langsamer, qualvoller Hungertod bevor. Platz nahm, weil sie weder ihre Gesichter noch ihre Blicke sehen wollte. Doktor Doria verabschiedete sich; er konnte nichts mehr tun. Zu dem Sie wollte allein sein, zurück in ihrer Lehmhütte, selbst wenn sie dort Gatten und Vater sagte er: »Seien Sie stark, Señor Morales. Gottes Wege erfrieren würde, allein mit ihrem Kummer, denn sie ertrug den Kummer sind unergründlich.« der anderen nicht. »Danke, Herr Doktor.« Dann vernahm sie das Weinen eines Babys, und ihre Brustwarzen re- Auf dem Nachhauseweg war der Arzt zu müde und niedergeschlagen, agierten noch vor ihren Ohren, genau wie es immer gewesen war, wenn um den Kopf zu heben, und so erschien es ihm wie ein Wunder, dass er der Kleine vor Hunger weinte und sie zu weit weg war, um ihn zu hören. die zu einem schwarzen Eisblock erstarrte Frau auf dem Platz überhaupt Aber war ihr Baby nicht steif und blau? Hatte der Arzt es etwa doch retten bemerkte. Sie saß direkt vor der Bronzeplakette, auf der zu lesen stand, können? dass diese Bank von der Familie Morales gestiftet worden war. Sein Mitleid Ihre Brustwarzen schmerzten immer stärker. Sie musste sich Erleichte- siegte, und so trat er auf die Frau zu und fragte sie, wer sie sei und ob sie rung verschaffen. Sie brauchte das Baby. Hilfe benötige. »Mir fehlt mein Kleines«, sagte sie leise, aber niemand der Anwesenden 22 23
schien sie zu hören, und so nahm sie all ihren Mut zusammen und wieder- die Hausangestellten ihn bemerkten, wichen sie zur Seite und ließen ihn holte lauter: »Mir fehlt mein Kleines.« durch, damit Señor Morales seinem Sohn dabei zusehen konnte, wie er an »Was sagt sie?« der dunkelsten Brust trank, die er je gesehen hatte. »Ihr fehlt ihr Kleines.« »Wir haben eine Amme für Ihren Sohn gefunden.« »Und was soll das heißen?« »Sie ist sehr schwarz.« »Dass sie ihr Kind will.« Der Arzt kam herein, ein Bündel im Arm, »Aber ihre Milch ist weiß, wie es sich gehört.« das er ihr überreichte. »Er ist sehr schwach. Vielleicht schafft er es nicht, »Das stimmt. Wird der Junge es schaffen?« richtig zu trinken.« »Ja, das wird er. Er hatte bloß Hunger. Sehen Sie ihn sich an.« »Ist das mein Kleiner?« »Herr Doktor«, sagte Señor Morales, »als ich aufgewacht bin, war mei- »Nein, aber er braucht Sie genauso dringend.« ne Frau ganz still.« Sie brauchten einander. Und das war das Ende von Señora Morales. Reja knöpfte ihre Bluse auf, legte das Kind an ihre Brust, und das Wei- Sie wurde betrauert und beweint, doch die Trauer und die Tränen, nen verstummte. Während sie voller Erleichterung spürte, wie ihre Brüste die Totenwache und die Beerdigung gingen an Reja vorbei. Für sie hatte sich langsam leerten, betrachtete sie das Baby. Es war nicht ihr Junge, das Señora Morales nie existiert, und manchmal, wenn der Junge ihr Zeit ließ, hatte sie gleich gemerkt. Sein Weinen klang anders, und auch die Geräu- dem stummen Ruf der Berge zu lauschen, schien ihr, als wäre er nicht von sche, die er machte, wenn er trank oder zwischendurch Luft holte, waren einer Frau geboren, sondern der Erde entsprungen, so wie sie, die nichts anders. Und er roch nicht wie ihr Kind. Aber das war Reja egal: Sie sehnte als die Sierra kannte. sich danach, sich zu ihm hinunterzubeugen und an seiner Halsbeuge zu Etwas anderes, stärker noch als der Mutterinstinkt, hatte von ihr Besitz schnuppern, fürchtete aber, man werde ihr das nicht gestatten. Denn das ergriffen, und für die nächsten Jahre gab es für Reja nichts auf der Welt Fremdartigste an dem Kind war seine Farbe. Während ihr Sohn dunkel- außer dem Jungen. Sie stellte sich vor, dass sie ihn am Leben hielt für die braun und zuletzt dunkelblau gewesen war, war dieser Junge anfangs Erde, seine Mutter, die ihn nicht hatte nähren können, und so kam es ihr krebsrot und wurde nun allmählich weiß. nicht in den Sinn, ihm die Brust zu verweigern, als er seinen ersten Zahn Die Umstehenden beobachteten sie schweigend. Der einzige Laut, der bekam, und auch nicht, als alle anderen Zähne folgten. Sie bat ihn nur: in der Küche zu vernehmen war, war das Schmatzen und Schlucken des Bitte beiß mich nicht. Ihre Milch war dem Jungen Nahrung, Trost und Kindes. Wiegenlied. Wenn er weinte, bekam er die Brust, wenn er wütend, laut, Alberto Morales hatte bei seiner sterbenden Frau gewacht, bis ihn zu- eifersüchtig, traurig oder trotzig war, wenn er jammerte oder nicht ein- letzt der Schlaf übermannte. Nachdem er tagelang ihr Stöhnen und das schlafen konnte: Immer gab es die Brust. unablässige Weinen des Neugeborenen gehört hatte, hatte er sich zuletzt Sechs Jahre lang hing der kleine Guillermo Morales genussvoll an der mit dem Gedanken getröstet, dass sie, solange sie noch Geräusche von Brust seiner Nana Reja. Niemand hatte vergessen, dass der arme Junge bei- sich gaben, wenigstens am Leben waren. Nun weckte ihn die dröhnende nahe verhungert wäre, und so wagte niemand, ihm etwas zu verweigern. Stille: Das Stöhnen seiner Frau war verstummt, und auch das Baby weinte Eines Tages aber statteten die beiden Tanten Benítez dem armen Witwer nicht mehr. In seiner Angst wagte er nicht, seine Frau zu berühren, und einen Besuch ab und waren schockiert vom Anblick des Jungen, der – ob- machte sich stattdessen auf die Suche nach seinem Sohn. wohl fast schon ein Schulkind – an der schwarzen Brust der Amme hing, In der Küche angekommen, sah er die Dienstboten und Doktor Doria und verlangten von Señor Morales, den Jungen zu entwöhnen. im Kreis um etwas herumstehen – ob es die Leiche seines Kindes war? Als »Es ist ja nicht so, dass er sonst verhungern müsste«, sagte die eine. 24 25
»Es ist eine Schande, Alberto, und äußerst ungehörig«, sagte die andere. wollte seine Frau nichts davon hören: Wer gab bessere Milch als die Nana? Und so nahmen die beiden alten Jungfern Guillermo bei ihrer Abreise Niemand. Also gab Guillermo klein bei und versuchte, nicht weiter dar- mit nach Monterrey. Der Junge sollte eine Weile bei ihnen bleiben, denn über nachzudenken und so zu tun, als erinnerte er sich nicht daran, wie das war ihrer Überzeugung nach die einzige Möglichkeit, wie er zur Ver- lange er selbst an dieser Brust gehangen hatte. nunft kommen und lernen würde, ohne die Brust seiner Nana Reja ein- Auf der Hazienda war Reja alt geworden und mit ihr Guillermo. Und zuschlafen. als er schließlich einer Epidemie zum Opfer fiel, vererbte auch er seinem Reja blieb mit leeren Armen und Brüsten zurück, die so voll waren, Sohn Francisco, dem einzigen seiner Kinder, das Ruhr und Gelbfieber dass sie eine tropfende Milchspur hinterließ, wo sie ging und stand. überlebt hatte, nach seinem Tod nicht nur die Hazienda, sondern auch die »Was machen wir bloß mit dir, Reja?«, fragten die anderen Dienstmäd- alte Nana Reja samt ihrem Schaukelstuhl. chen, die es satthatten, hinter ihr aufzuwischen. Reja wusste nicht, was sie Die Töchter von Francisco und seiner Frau Beatriz stillte Reja nicht entgegnen sollte. Sie wusste nur, dass sie ihren Jungen vermisste. mehr. Die Zeit hatte die alte Frau, die nicht mehr wusste, wie viele Kinder »Ach, Reja, wenn das so weitergeht, sollte man wenigstens die gute aus der Umgebung dank ihrer Fülle überlebt hatten, austrocknen lassen. Milch nicht vergeuden.« Sie erinnerte sich nicht einmal mehr an den letzten weißen Tropfen, der Und so brachten sie ihr unterernährte oder verwaiste Babys zum Säu- aus ihren Brüsten gequollen war, und hatte vergessen, wie es sich anfühlte, gen und Milchfläschchen zum Füllen, denn je mehr sie stillte, desto üppi- wenn diese sich füllten, noch bevor sie das Weinen eines hungrigen Kindes ger floss die Milch. Dann heiratete der Witwer ein zweites Mal, María, die vernahm. jüngere Schwester seiner verstorbenen Frau, und gemeinsam schenkten sie An diesem Oktobermorgen des Jahres 1910 erwachten die Bewohner der Nana zweiundzwanzig weitere Kinder, um sie zu nähren. der Hazienda wie an jedem Tag in der Frühe und schickten sich an, ihr In den folgenden Jahren sah man Reja nie ohne ein Kind an der Brust. Tagewerk zu beginnen. Pola schlug die Augen auf, ohne sich umzudrehen Ihre besondere Liebe aber galt Guillermo Morales, dem ersten Kind, dem und einen Blick auf das Bett ihrer Zimmergenossin zu werfen. Sie schlie- sie als Amme gedient hatte, dem Jungen, der sie aus tiefster Einsamkeit fen nun schon seit so vielen Jahrzehnten Seite an Seite, dass sie Rejas Rou- gerettet und ihr eine Aufgabe geschenkt hatte, die sie auf Jahre erfüllen tine kannte und wusste, dass die Nana in aller Stille kam und ging, ohne sollte. dass es jemand bemerkte. Schon waren die ersten Geräusche der Hazienda Guillermo kehrte bald zurück. In der Zwischenzeit hatte Alberto Mo- zu hören: Die Tagelöhner holten sich ihre Geräte für die Arbeit auf den rales, des Trubels im Zentrum von Linares überdrüssig, zum allgemeinen Zuckerrohrfeldern, und die Hausangestellten erwachten. Pola wusch sich Erstaunen beschlossen, das alte Stadthaus im Zentrum zu verlassen und und zog sich an, dann ging sie in die Küche, um einen Kaffee zu trinken, auf die Hazienda La Amistad zu ziehen, die etwa einen Kilometer au- bevor sie sich auf den Weg in den Ort machte und in der Bäckerei am ßerhalb des Ortes lag. Dort wurde Guillermo erwachsen und gründete Kirchplatz frisches Brot holte. bald eine eigene Familie. Nach dem Tod seines Vaters, der nach einem Zwar versprach es, ein sonniger Tag zu werden, doch um diese Jahres- erfüllten Leben an Altersschwäche starb, erbte er zusammen mit der Ha- zeit war es frühmorgens noch kühl, und so hüllte sich Pola in ihr Schul- zienda auch seine Nana, und als er selbst Kinder bekam, stillte Reja auch tertuch. Wie immer nahm sie den kürzesten Weg von der Hazienda in den diese. Ort. Dass ein Vater an derselben Brust gesäugt wird wie seine Kinder, war »Schon so früh unterwegs, Doña Pola?«, fragte der Gärtner Martín, wie eher befremdlich. Als aber Guillermo vorschlug, doch lieber eine andere ebenfalls jeden Morgen. Amme zu suchen und Reja in den wohlverdienten Ruhestand zu schicken, »Ja, Martín, ich bin bald zurück.« 26 27
Pola gefiel diese Routine. Sie liebte es, jeden Tag Brot holen zu gehen, zuzuhören, sich dann aufzusetzen und, in ihr Laken gehüllt, in aller Ruhe denn so erfuhr sie, was es Neues in Linares gab, und konnte einen Blick den Rosenkranz zu beten. auf den Jungen erhaschen, der ihr als junges Mädchen so gut gefallen Doch an diesem Tag würde es im Hause Morales Cortés weder Mor- hatte und der inzwischen ein alter Mann war. Sie ging im Rhythmus des gentoilette noch Rosenkranz geben – und schon gar keine Ruhe. Quietschens von Rejas Schaukelstuhl den von großen Bäumen flankierten Weg hinunter, der von der Hazienda nach Linares führte. Als Reja noch gesprochen hatte, hatte sie ihr einmal erzählt, wie der verwitwete Alberto Morales die Bäume hatte pflanzen lassen, als sie kaum 2 Der K lang von Honig mehr als Reiser gewesen waren. Bei ihrer Rückkehr würde sie Reja wie immer das Frühstück bringen. Plötzlich blieb Nana Pola stehen und versuchte, sich zu erinnern. Was war mit Reja? Wie jeden Tag war Pola an dem schwarzen Schaukelstuhl vorbeigegangen. Schon vor Jahren hatte sie es aufgegeben, ein Gespräch mit der alten Frau anfangen zu wollen, aber die Vorstellung, dass Nana Reja genau wie die alten Bäume da war und für alle Zeiten da sein würde, Vor langer Zeit kam ich in diesem gewaltigen Klotz aus Mauerwerk, Putz hatte etwas Tröstliches. und Farbe zur Welt. Wie lange das her ist, tut nichts zur Sache, wichtig Und heute? Hatte sie sie im Vorübergehen gesehen? Pola drehte sich ist, dass das Erste, was ich spürte, als ich aus dem Bauch meiner Mutter um. Beatriz Cortés de Morales kam, die frisch gewaschenen Laken ihres Bettes »Haben Sie etwas vergessen, Doña Pola?« waren. Ich hatte das Glück, an einem Dienstagabend geboren zu werden »Haben Sie Nana Reja gesehen, Martín?« und nicht gar an einem Montag. Da die Frauen ihrer Familie seit jeher »Ja natürlich, sie saß in ihrem Schaukelstuhl.« dienstags die Betten frisch bezogen, dufteten am Tag meiner Geburt die »Sind Sie sicher?« Laken nach Lavendel und nach Sonne. Ob ich mich daran erinnere? Nein, »Wo sollte sie denn sonst sein?«, fragte Martín und folgte Nana Pola, aber ich stelle es mir vor. In all den Jahren, in denen ich mit meiner Mutter die eilig zurücklief. unter einem Dach lebte, habe ich nie gesehen, dass sie ihren Gewohn- Beim Schaukelstuhl angekommen, sahen sie, dass er vor und zurück heiten untreu geworden wäre oder vergessen hätte, was sich schickte: Und schwang – doch Nana Reja saß nicht darin. Beunruhigt suchten sie in dem dienstags wurden nun einmal die leinenen Laken gewechselt, nachdem Zimmer, das die beiden alten Frauen teilten. Aber dort war sie auch nicht. sie tags zuvor mit Bleiche gewaschen, mit Lavendelwasser benetzt, in der »Martín, laufen Sie los, und fragen Sie die Arbeiter, ob sie Nana Reja Sonne getrocknet und zuletzt gebügelt worden waren. gesehen haben. Halten Sie unterwegs nach ihr Ausschau. Ich sage Señora So war es an jedem Dienstag ihres Lebens – bis auf eine schmerzliche Beatriz Bescheid.« Ausnahme. Aber das lag noch in ferner Zukunft. Der Dienstag meiner Der Tag von Doña Beatriz begann für gewöhnlich später und mit der Geburt war ein Dienstag wie jeder andere, und darum weiß ich, wie die beruhigenden Gewissheit, dass alle Vorbereitungen für den Morgen ge- Laken an jenem Abend dufteten und wie sie sich auf der Haut anfühl- troffen waren, dass das Frühstück auf dem Tisch stand, dass der Garten ten. bewässert und die frisch gewaschene Wäsche gebügelt wurde. Sie liebte es, Auch wenn ich mich nicht daran erinnere, muss das Haus am Tag mei- beim Aufwachen noch im Halbschlaf ihrem Mann bei der Morgentoilette ner Geburt so gerochen haben, wie es immer roch. Seine porösen Mauer- 28 29
steine hatten die köstlichen Aromen der Seifen und Öle aufgesaugt, mit bist schlimmer als die Zikaden –, hat es auch in mir sein eigenes Echo denen drei Generationen fleißiger Männer und beflissener Frauen geputzt hinterlassen. Ich trage es in mir. Und ich weiß, dass in meinen Zellen nicht und gescheuert hatten; wie Schwämme waren sie getränkt vom Geruch nur mein Vater und meine Mutter fortleben, sondern auch der Duft nach der Familienrezepte und der mit Kernseife gewaschenen Wäsche. Die Luft Lavendel, Orangenblüten und den frischen Laken, die bedächtigen Schrit- war erfüllt vom Duft nach Nusskaramell, das meine Großmutter zuberei- te meiner Großmutter, die gerösteten Nüsse, das verräterische Klicken der tete, nach ihren Konserven und Marmeladen, nach Thymian und Gänse- Fliesen, der karamellisierende Zucker, die verbrannte Milch, die zirpen- fuß, die in Töpfen im Garten wuchsen, und später im Jahr vom Duft nach den Zikaden, der Geruch nach altem Holz und geölten Lehmböden. Die Orangen, Zitrusblüten und Honig. grünen, reifen und faulenden Orangen, der Orangenblütenhonig und das Auch die Geräusche des Hauses, die vergangenen wie die gegenwär- Gelee royale sind mir in Fleisch und Blut übergegangen, wie alles, was tigen, waren Teil seiner Seele: das Lachen und Spielen der Kinder, das meine Sinne berührt und sich mir ins Gedächtnis gebrannt hat. Fluchen und Türenknallen. Über den Lehmziegelboden meiner Kindheit Hätte ich allein hierherkommen können, um das Haus noch einmal zu waren schon mein Großvater und seine zweiundzwanzig Geschwister und sehen, es mit allen Sinnen wahrzunehmen, so hätte ich das getan. Aber ich nach ihnen mein Vater in ihrer Kindheit mit nackten Füßen gelaufen, bin alt. Diejenigen meiner Kinder, die noch am Leben sind, ja selbst meine und das verräterische Klicken seiner losen Fliesen rief unweigerlich unsere Enkel treffen mittlerweile für mich die Entscheidungen. Seit Jahren erlau- Mutter auf den Plan und vereitelte so manche nächtlichen Streiche. Die ben sie mir nicht mehr, Auto zu fahren oder einen Scheck auszustellen. Sie Deckenbalken knarzten ohne ersichtlichen Grund, die Türen quietsch- reden mit mir, als würde ich sie nicht hören oder nicht verstehen. Ehrlich ten, die Läden schlugen auch ohne Wind rhythmisch gegen die Wand. gesagt funktioniert mein Gehör noch bestens; ich habe bloß keine Lust Draußen summten die Bienen, und im Sommer, wenn gegen Abend ein zuzuhören. Es stimmt schon: Meine Augen haben nachgelassen, meine Tag voller kindlicher Abenteuer zu Ende ging, wurde man von dem aber- Hände zittern, die Beine versagen mir den Dienst, und meine Geduld ist witzigen Gesang der Zikaden umfangen. Bei Sonnenuntergang setzte die schnell erschöpft, wenn meine Enkel und Urenkel mich besuchen. Aber erste ein, gefolgt von den anderen, bis wie auf ein Signal alle verstummten, auch wenn ich alt bin, bin ich noch lange nicht verkalkt. Ich weiß, welchen aus Angst vor der drohenden Dunkelheit, vermute ich. Tag wir haben und wie unverschämt teuer alles geworden ist. Es mag mir Das Haus, in dem ich geboren wurde, war ein lebendiges Wesen. vielleicht nicht gefallen, doch ich weiß es. Niemand erschrak, wenn es im Winter einen Hauch von Orangenblüten Ich weiß ganz genau, wie viel mich diese Reise kosten wird. verströmte oder wenn mitten in der Nacht ein leises, herrenloses Lachen Und obwohl ich ein alter Mann bin, führe ich keine Selbstgespräche erklang. In diesem Haus gibt es keine Geister, erklärte mir mein Vater. oder sehe Dinge, die nicht da sind. Noch nicht. Ich kann sehr wohl zwi- Was du hörst, ist der Nachhall der Menschen, die hier gelebt haben und schen Erinnerung und Wirklichkeit unterscheiden, auch wenn die Er- den das Haus bewahrt, damit wir uns an sie erinnern. Ich verstand, was innerung mir zunehmend verlockender erscheint als die Wirklichkeit. Im er meinte. Ich dachte an die zweiundzwanzig Geschwister meines Groß- Geiste ordne ich, wer was gesagt hat, wer wen geheiratet hat und wann vaters, die hier ein und aus gegangen waren, und es erschien mir nur was geschehen ist. Wieder und wieder durchlebe ich das königliche Ge- logisch, dass auch Jahre später ihr Lachen in den Winkeln des Hauses fühl, im obersten Wipfel des Nussbaums zu sitzen, die Hand nach einer widerhallte. Nuss auszustrecken und sie mit dem besten Nussknacker aufzubrechen, So wie all die Jahre, die ich in diesem Haus verbracht habe, vermut- den ich je hatte: den eigenen Zähnen. Aus den Tiefen meiner Erinnerung lich den einen oder anderen Nachhall hinterlassen haben – nicht umsonst dringt alles, was ich gehört, gesehen und gerochen habe, so intensiv her- sagte meine Mutter immer: Kannst du nicht endlich still sein, Junge? Du vor, als wäre es heute gewesen. Wenn jemand neben mir eine Orange 30 31
zerteilt, trägt mich der Duft zurück in die Küche meiner Mutter oder den Sicher lag sie tot irgendwo in der Wildnis. Beatriz kannte Nana Reja Obstgarten meines Vaters. Die Dosen mit Kondensmilch, die man kaufen schon ihr ganzes Leben, denn die Morales und die Cortés waren seit Ge- kann, erinnern mich an die unermüdlichen Hände meiner Großmutter, nerationen Nachbarn und besuchten einander regelmäßig. Und obwohl die stundenlang am Herd stand und die Milch umrührte, damit sie beim sie auch Francisco Morales seit frühester Kindheit gekannt hatte, hatte sie Karamellisieren nicht anbrannte. sich mit sechzehn in ihn verliebt, als er sie – frisch vom Ingenieurstudium Das Zirpen der Grillen und das Summen der Bienen, das man heut- an der Universität von Notre-Dame zurück – beim Ostersamstagsball auf- zutage in der Stadt nur noch selten hört, bringt mich unwillkürlich zurück gefordert und eine ganze romantische Nacht lang mit ihr getanzt hatte. in meine Kindheit. Immer noch schnuppere ich nach einem Hauch von Seit dem Tod ihres Schwiegervaters teilte Beatriz mit ihrem Mann die Lavendel, und manchmal erhasche ich ihn, auch wenn ich weiß, dass er Verantwortung für die Ländereien, die er geerbt hatte, mit allem, was da- nicht wirklich ist. Wenn ich nachts die Augen schließe, höre ich das Klicken zugehörte. So fühlte sie sich auch für die alte Frau verantwortlich, die jetzt der Fliesen, das Knarren der Balken und das Schlagen der Fensterläden, verschwunden war. obwohl es in meinem Haus in der Stadt weder lose Fliesen noch Balken Alle Angestellten der Hazienda wurden losgeschickt, die einen in den oder Fensterläden gibt. Ich fühle mich, als wäre ich zu Hause, in dem Ort, um herumzufragen, die anderen auf die Suche in die Berge. Haus, das ich in meiner Kindheit viel zu früh verließ. Das Haus ist bei mir, »Und wenn ein Bär sie verschleppt hat?« und das gefällt mir. »Dann hätten wir Spuren gefunden.« »Aber wo kann sie denn hingegangen sein, wo sie sich doch seit mehr als dreißig Jahren nicht von der Stelle gerührt hat?« Das war die große Frage. Sie mussten sie finden, tot oder lebendig. 3 Während Francisco einen berittenen Suchtrupp zusammenstellte, nahm Der verlassene Beatriz in dem leeren Schaukelstuhl der alten Frau Platz, der unter ih- rem Gewicht knarzte. Anfangs dachte sie, dies sei ein guter Ort, um auf Nachrichten zu warten, aber bald bat sie die Wäscherin Lupita, ihr einen Schaukeluhl anderen Stuhl zu bringen, denn sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte das Schaukeln des Stuhls nicht unter Kontrolle bringen. So saß sie endlose Stunden auf ihrem eigenen Stuhl, während Nana Rejas Schaukelstuhl neben ihr hin und her schwang, vielleicht nur aus alter Gewohnheit, vielleicht bewegt vom Wind aus den Bergen. Mati, die Diesen Oktobermorgen des Jahres 1910 würde Beatriz Cortés de Morales Köchin, brachte ihr das Frühstück, aber Beatriz hatte keinen Appetit. Sie zeit ihres Lebens nicht vergessen. konnte nichts weiter tun, als in die Ferne zu starren in der Hoffnung, dort Als jemand wie wild an ihre Zimmertür hämmerte, sprang sie aus dem irgendeine Bewegung auszumachen, die die Eintönigkeit der Felder oder warmen Bett und öffnete mit dem Gedanken, dass wohl eines der Zucker- die raue und vollkommene Schönheit des Gebirges durchbrach. rohrfelder brennen musste. Vor ihr stand Pola und weinte: Nana Reja war Einen hübschen Blick auf die Berge und auf die Zuckerrohrfelder hatte spurlos verschwunden. Lag sie denn nicht in ihrem Bett? Nein. Und in man von hier. Beatriz hatte die Umgebung noch nie aus dieser Perspek- ihrem Schaukelstuhl? Da saß sie auch nicht. Wo konnte die alte Frau nur tive betrachtet und verstand nun, was Nana Reja an diesem Ort fasziniert sein? hatte. Aber warum schien sie hinter ihren geschlossenen Lidern immer auf 32 33
diese endlosen, gleichgültigen Berge zu starren? Warum waren ihre blick- einschlief. Und nicht so, mitten in der Wildnis, vielleicht zerrissen von losen Augen unentwegt auf den Pfad gerichtet, der sich zu ihnen hinauf- einem wilden Tier, verängstigt und einsam. wand? Wonach hielt sie Ausschau? Dass ein so langes Leben so enden musste … Während sie auf Neuigkeiten wartete, kam Beatriz zu dem Schluss, dass Beatriz schüttelte die Trauer ab: Es gab viel zu tun, bevor sie den Leich- kaum Hoffnung bestand, die Nana lebend zu finden. Da sie eine praktisch nam brachten. veranlagte Frau war, ging sie bald dazu über, die Trauerfeier zu planen: Sie Als aber die Männer mit dem beladenen Karren eintrafen, musste sie würden sie in ein weißes Leinentuch hüllen und in einem Sarg aus feinem erkennen, dass alle ihre Vorbereitungen und Planungen umsonst gewe- Holz begraben, nach dem sie schon geschickt hatte. Pater Pedro würde sen waren: Entgegen aller Voraussicht war die alte Nana noch sehr leben- die Messe halten, und ganz Linares würde zur Beerdigung der ältesten dig. Frau der Gegend eingeladen werden. Aber ohne Leiche gab es natürlich keine Totenwache. Und konnte man eine Totenmesse ohne Toten lesen lassen? Was den Schaukelstuhl betraf, war Beatriz noch unschlüssig, was mit ihm geschehen sollte. Man könnte ihn verbrennen und die Asche im Garten 4 Im Schatten des verstreuen oder ihn zu Kleinholz verarbeiten und der Toten so mit in den Sarg geben. Oder man ließ ihn einfach an seinem Platz, zur Erinnerung an Anacahuitabaums den Körper, der so viele Jahre in ihm gesessen hatte. Es wäre ein Sakrileg gewesen, ihn, der so fest mit Nana Reja verwachsen war, irgendjemand anderem zur Nutzung zu überlassen, so viel stand fest. Nachdenklich betrachtete sie den alten Schaukelstuhl: Sie hatte ihn noch nie leer gesehen. Noch nie hatte sie ihn reparieren lassen oder etwas zu seiner Instandhaltung unternommen – und doch war er völlig intakt. Francisco würde ihr später erzählen, wie ein paar Erntehelfer sie etwa an- Beim Schaukeln knarzte er leise, aber ansonsten schienen ihm Zeit und derthalb Meilen vom Haus entfernt gefunden hatten. Anschließend waren Witterung ebenso wenig anhaben zu können wie seiner Besitzerin. Sie sie aufgebracht zu ihm gekommen, weil sich die alte Frau weigerte, mit waren eins, und Beatriz dachte: Solange der eine lebt, lebt auch die an- ihnen zu reden oder sich von der Stelle zu rühren. Also hatte Francisco dere. nach dem Karren geschickt und war dann selbst dorthin geritten, wo Nana Plötzlich bemerkte sie alarmiert, wie jemand auf dem Pfad durch die Reja mit geschlossenen Augen im Schatten eines Anacahuitabaums auf Zuckerrohrfelder auf sie zugelaufen kam. einem Stein saß und sich vor und zurück wiegte. Auf ihrem Schoß lagen »Was gibt es, Martín? Habt ihr sie gefunden?« zwei Bündel, eines in ihre Schürze gehüllt, das andere in ihr Schultertuch. »Ja, Señora. Señor Francisco schickt nach dem Karren.« Vorsichtig trat er an sie heran, um sie nicht zu erschrecken. Beatriz sah ihm nach, als er eilig weiterlief, um das Gefährt zu holen. Er sagte: »Nana Reja, ich bin’s, Francisco«, und schrak seinerseits zu- Sie haben die Leiche gefunden, dachte sie, und obwohl sie pragmatisch sammen, als sie die Augen öffnete. »Was machst du denn hier, so weit weg veranlagt war, erfüllte sie tiefe Trauer. Nana Reja war steinalt, ihr baldiger von zu Hause?«, fragte er, ohne wirklich auf eine Antwort zu hoffen. Tod war zu erwarten gewesen, aber sie hätte ihr einen anderen Abgang »Ich bin gekommen, um ihn zu holen«, antwortete sie mit einer Stim- gewünscht: dass sie in ihrem Bett oder in ihrem Schaukelstuhl friedlich me, die rau war von Alter und mangelndem Gebrauch. 34 35
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