Arbeit, Glück und Nachhaltigkeit - Publication Server of the ...
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Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH Impulse zur WachstumsWende Arbeit, Glück und Nachhaltigkeit Warum kürzere Arbeitszeiten Wohlbefinden, Gesundheit, Klimaschutz und Ressourcengerechtigkeit fördern Von Michael Kopatz Impulse für die politische Debatte 12 3 Alit inciliquat nostrud Etdelendiat dolorem atiscidunt Enullumcommy nos Faciliquisi bla San velent lut atiscidunt Amcorpero do eu feuisi tatum do Umquo bla sin nonseque poribus Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH Wuppertal, Februar 2012
Herausgeber: Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH Döppersberg 19 42103 Wuppertal www.wupperinst.org Autor: Michael Kopatz Forschungsgruppe 2 – Energie-, Verkehrs- und Klimapolitik Mitarbeit: Dr. André Holtrup, Jörg Melz Kontakt: E-Mail: michael.kopatz@wupperinst.org E-Mail: alexandra.palzkill@wupperinst.org Disclaimer: Unter dem gemeinsamen Obertitel „Impulse zur WachstumsWende“ ver- öffentlicht das Wuppertal Institut Thesen und Forschungsergebnisse mit Bezug zur aktuellen Wachstumsdebatte. Wuppertal, im Februar 2012
Inhalt Zusammenfassung 5 Einführung 6 Arbeit 7 Vollbeschäftigung und Wirtschaftswunder 7 Arbeitsvolumen und Erwerbspersonenpotenzial 8 Die Kurze Vollzeit 9 Löst die demographische Entwicklung das Problem von allein? 11 Strategien und Maßnahmen 13 Widerstände und Mythen 18 Die ganze Arbeit 27 Glück 32 Leben und Arbeiten in Balance 32 Vom Glück des Nichtstuns 35 Vom Glück der Freiwilligkeit 36 Wirtschaftswachstum und Glück 37 Gesundheitsförderung 39 Partnerschaftliche Teilung der Arbeit 40 Offene Türen 42 Ermächtigung der Arbeitnehmer 44 Nachhaltigkeit 44 Klimachaos 44 Ressourcenkrise 46 Ausblick: Stagnationsprävention 51 Literatur 54
Stichworte: Arbeitszeit, Arbeitszeitverkürzung, Arbeit fairteilen, Zeitwohlstand, Teilzeit, Teilzeit- arbeit, Erwerbsarbeit, Eigenarbeit, Muße, Halbtagsgesellschaft, 30-Stunden-Gesell- schaft, Gelassenheit, Entspannung, Zufriedenheit, Subjektives Wohlbefinden. Gesundheitsförderung, Kurze Vollzeit für alle, Glückspolitik, Glück, Umweltschutz, Umweltpolitik, Work life Balance, Teilhabegerechtigkeit, Klimawandel, Mindest- lohn, Wachstum, Wirtschaftswachstum, Wachstumsdogma, Stagnationsprävention, Resilienz, Eigenarbeit, Ehrenamtliches Engagement Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
5 Michael Kopatz Arbeit, Glück und Nachhaltigkeit Warum kürzere Arbeitszeiten Wohlbefinden, Gesundheit, Klimaschutz und Ressourcengerechtigkeit fördern Zusammenfassung „Ohne Wachstum ist alles nichts“ heißt es im die dürftige Resonanz in Politik und Gesellschaft Grundsatzprogramm einer Bundespartei. Quer wundert. Daher werden im Kapitel »Arbeit« durch alle Parteien wird Deutschlands Wachs- nicht nur die Strategien und Maßnahmen vorge- tum postuliert. Warum eigentlich? Einer der wohl stellt, um das Konzept auf den Weg zu bringen, wichtigsten Gründe: Ohne Wachstum nimmt sondern auch neben den Vorzügen der »Kurzen die Zahl der Arbeitslosen rasant zu. Es gibt zwei Vollzeit« auch die Widerstände besprochen. Auswege. A: Unternehmen unterlassen jegliche Innovation zur Steigerung der Arbeitsproduk- Im anschließenden Kapitel wird nachvollzieh- tivität. B: Kürzere Arbeitszeiten. Der zweite bar, dass Arbeit eng mit dem persönlichen Glück Lösungsvorschlag wird hier diskutiert. verbunden ist. Stress, Hektik und Überstunden machen unzufrieden und gefährden zuneh- Umwelt- und Wirtschaftspolitik, so schien es mend die Gesundheit; unglücklich sind hin- Jahrzehnte lang, stehen im Widerspruch. Was gegen die Arbeitslosen. Der Zustand der Arbeits- hilft der gesunde Wald, wenn Millionen keine losigkeit reduziert das Wohlbefinden stärker als Arbeit haben? Zwar gehen mit Arbeitslosigkeit Scheidung und Trennung. Wenn die Vielarbeit seit Einführung der sozialen Sicherungssysteme zum Vorteil der Arbeitslosen verringert würde, nicht länger Not, Leid und Elend einher. Aber profitierten alle. Eine bessere Balance zwischen das Stigma bedrückt die Betroffenen und ist für Arbeit und Freizeit fördert zudem die Gesund- die Gesellschaft eine Last. Und so ist die Schaf- heit, schafft Raum für Muße und Kreativität. fung von Arbeitsplätzen das Kernziel aller Politik. Auch wird die partnerschaftliche Teilung von Allzu oft werden dabei allerdings die Interessen Sorge- und Erwerbsarbeit erleichtert. der zukünftigen Generationen vernachlässigt. Neue Straßen und Flughäfen oder deren Ausbau Im nächsten Kapitel wird schließlich die Ver- wie auch Gewerbeparks im Grünen werden mit bindung zwischen Arbeit und Nachhaltigkeit dem Arbeitsplatzargument legitimiert. erörtert. Zweifellos zählen globale Erwärmung und Ressourcenknappheit zu den größten Her- Dabei gibt es zur Bekämpfung von Arbeitslosig- ausforderungen für die Menschheit. Zur Bewäl- keit ein sozial und ökologisch wesentlich ver- tigung auch dieser Krisenphänomene kann träglicheres Konzept: die gerechtere Verteilung Arbeitszeitpolitik beitragen. Gerade deswegen der zur Verfügung stehenden Erwerbsarbeits- wurde diese Abhandlung verfasst, denn die zeit. Wie im Kapitel »Arbeit« darzulegen sein fairteilte Arbeit ist ein bislang vernachlässigtes wird, ließe sich die Arbeitslosigkeit zumindest Thema in der umweltpolitischen Forschung und rechnerisch abschaffen, wenn die Menschen im Beratung. Gut möglich, dass kürzere Arbeitszei- Schnitt 30 Stunden in der Woche für Lohn arbei- ten die Voraussetzung für eine zukunftsfähige teten. Dieser als »Kurze Vollzeit für alle« bezeich- Entwicklung sind. nete Ansatz ist so plausibel, dass man sich über Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
6 I m p u l s e z u r Wa c h s t u m sWe n d e Einführung Seit die Menschen vom Land in die Städte zogen Wer 40, 50 oder gar 60 Stunden in der Woche und ihre Höfe verließen, um für Lohn in Fabriken der Erwerbsarbeit nachgeht, hat kaum noch zu arbeiten, ist Arbeitslosigkeit eine ebenso exis- Zeit für Familie und Freunde. Doch das ist es, tenzielle Bedrohung wie schlechtes Wetter für worauf es im Leben ankommt, wenn die mate- die Ernte. Die Solidargemeinschaft sorgt zwar riellen Grundbedürfnisse befriedigt sind.4 Durch dafür, dass Arbeitslose eine Grundsicherung kürze Arbeitszeiten könnten hingegen Millionen erhalten, mit der das notwendigste besorgt wer- neuer Arbeitsplätze entstehen, womit das Wohl- den kann. Doch wer für längere Zeit auf die Hilfe befinden unserer Gesellschaft deutlich ange- seiner Mitmenschen angewiesen ist, obgleich hoben würde. im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte, fühlt sich rasch ausgegrenzt, hoffnungs- Nun stellt sich die Frage, wer so gelassen ist los und resigniert. Da nimmt es kaum Wunder, und »seine« Arbeitszeiten reduziert. Die männ- wenn sich die meisten Schlagzeilen der Tages- liche Form ist hier sehr zutreffend. Denn es sind zeitungen im Kern um das Thema Erwerbsarbeit vor allem Männer, die kürzere Arbeitszeiten drehen: Aufstieg und Fall von Unternehmen, scheuen. Geld gegen Zeit eintauschen, das ist Innovationen, Kündigungen, Wirtschaftswachs- leichter gesagt als getan in einer Gesellschaft, tum, Finanzmärkte etc. die nur Vollzeitbeschäftigte als vollwertiges Mit- glied der Gesellschaft anerkennt. Die Vision der Im krassen Gegensatz zu den Nöten der Arbeit »Kurzen Vollzeit«, also Vollzeitstellen mit rund Suchenden stehen Hektik und Stress der Be- 30 Stunden in der Woche oder gar die »Halb- schäftigten. Jeder zehnte Erwerbstätige arbeitet tagsgesellschaft« mit 20 Stunden5, wird nur gewöhnlich mehr als 48 Stunden pro Woche.1 mithilfe eines politischen Konzeptes realisierbar Zweieinhalb Milliarden Überstunden im Jahr2 sein. Dieses wird eine Mischung aus finanziellen sind kaum noch Zeugnis von Strebsamkeit und Anreizen, gesetzlichen Verpflichtungen, Kam- Fleiß. Sie schaden der physischen und psychi- pagnen, Bildungsinitiativen und vieles mehr schen Gesundheit. Eine Trendumkehr ist nicht in beinhalten. Doch die Anstrengungen sind der Sicht. Ganz im Gegenteil nimmt die Vielarbeit zu. Mühe wert. Wie später zu zeigen sein wird, profi- Die Zahl der Workaholics nahm seit 1995 um ein tieren nicht nur die Beschäftigten, sondern auch Prozent zu. Währenddessen hat sich diese Zahl Unternehmen, Gesellschaft und Umwelt von in Dänemark mehr als halbiert. Beeindruckend verkürzten Arbeitszeiten. ist auch der Vergleich mit einem weiteren Nach- barland: Hierzulande arbeiten achtmal so viele Angestellte über 50 Stunden in der Woche wie in den Niederlanden. Es geht auch anders.3 1 Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 347 4 tns emnid 07/2010; Bertelsmann Stiftung vom 28.09.2010 5 Stahmer, C. (2006) 2 Spiegel (14.2.2011) unter Berufung auf IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) 3 OECD (2011), S. 133 Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
A r b e i t , G l ü c k u n d N a c h h a l t i g ke i t 7 Arbeit Die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 bis 2010 Mit anderen Worten: Ohne Verkürzung der tarif- schien schnell überwunden. Die Zahl der Arbeits- lichen Wochenarbeitszeit hätte es in Deutsch- losen geht seither beständig zurück. Manche land keine Vollbeschäftigungsphase gegeben. sprechen schon von einem Beschäftigungswun- der. Zwar waren im Mai 2011 noch rund 5,4 Mil- Sie währte nur kurz. In den 80er Jahren kämpften lionen erwerbsfähige Menschen auf staatliche die Gewerkschaften dann für die 35-Stunden- Unterstützung angewiesen6, doch scheint es so, Woche. Wie zuvor sollten nicht allein die Arbeit- die Wirtschaft müsse nur weiter tüchtig wachsen geber vom Produktivitätsfortschritt profitieren, und das Problem der Arbeitslosigkeit löse sich in sondern auch die Arbeitnehmer an freier Zeit Wohlgefallen auf. Doch ganz so einfach ist es gewinnen. Die 35-Stunden-Woche wurde zwar nicht. teilweise realisiert und gilt in der Metallbranche bis heute. Ansonsten wurden Arbeitszeiten aber wieder verlängert, häufig bei gleichem Lohn. Die Vollbeschäftigung und Wirtschafts- Gewerkschaften verwenden sich in den Tarifaus- wunder einandersetzungen seit nunmehr drei Jahr- zehnten für höhere Einkommen und haben sich Von 1960 bis 1973 gab es in Deutschland mit dadurch schicksalhaft mit der Idee permanenten kurzer Unterbrechung (1967/68) Vollbeschäf- Wachstums vermählt.9 Die höhere Produktivität tigung.7 Bis heute hält sich der Mythos, dass und das gewachsene Erwerbspersonenpoten- diese Vollbeschäftigung durch das »Deutsche zial blieben seit 1974 arbeitszeitpolitisch nahezu Wirtschaftswunder« mit Wachstumsraten von unberücksichtigt, sodass heute die tarifliche bis zu 7,5 Prozent verursacht wurde. Tatsäch- Wochenarbeitszeit in Vollzeit mit 39 Stunden lich stieg die Zahl der Erwerbstätigen damals lediglich etwas mehr als eine Stunde unter der um über eine Million – allerdings ohne direkten Vollzeit von 1974 liegt.10 Zusammenhang mit dem Wirtschaftswachstum. Dem Mythos nach hat das Wachstum zu einem Für die Wiederherstellung von echter Vollbe- sprunghaften Anstieg des Arbeitsvolumens und schäftigung, d.h. von einer relativen Gleichver- damit auch der Beschäftigung geführt. In Wahr- teilung des Arbeitsvolumens über das Erwerbs- heit sank jedoch das Arbeitsvolumen zwischen personenpotenzial, wäre heute eine deutlich 1960 und 1973 um 5,6 Milliarden Stunden (vgl. kürzere tarifliche Vollzeit von 28–30 Wochen- Abb. 1), was einem rechnerischen Verlust von stunden erforderlich. Dieser extreme Wert rund drei Millionen Arbeitsplätzen entspricht.8 ergibt sich daraus, dass bei der Ermittlung des Diese Tatsache wird in der öffentlichen Wahr- Umverteilungsbedarfs nicht nur die hohe Zahl nehmung kaum bedacht, da in der gleichen Zeit von Arbeitslosen zu berücksichtigen ist, sondern durch die Reduzierung der tariflichen Arbeitszeit auch die Tatsache, dass inzwischen zwölf Millio- auf 40 Wochenstunden ein zusätzlicher Arbeits- nen Personen in Teilzeit arbeiten (1974 nur zwei kräftebedarf von knapp 4,3 Millionen Personen Millionen) – viele davon unfreiwillig. geschaffen wurde. 6 Monatsbericht der Bundesagentur für Arbeit (5/2011) 9 Loske, R. (2010), S. 27 7 Das entsprach einer Arbeitslosenquote von maximal 10 Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit aller Beschäf- 1,5 Prozent bzw. 275 000 Arbeitslosen (Stat. Bundes- tigten (in Voll- und Teilzeit) liegt heute schon unter 30 amt) Stunden und damit 8 Stunden unter dem Durchschnitt 8 Berechnung auf Basis der Jahresarbeitszeit der Er- von 1974 (Institut für Arbeitsmarkt u. Berufsforschung). werbstätigen von 1973 (Stat. Bundesamt) Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
8 I m p u l s e z u r Wa c h s t u m sWe n d e 6 5,2 Dekadenvergleich Veränderungen in % 5 4,4 3,8 4 2,9 3 2,3 2,3 1,9 2 1,6 0,9 0,9 1 0 0 0 60er 70er 80er 90er 00er -0,3 -1 -0,8 -0,9 BIP AP AV Quelle: Statistisches Bundesamt -2 Abbildung 1: Der Rückgang des Arbeitsvolumens (AV) hängt stark von der Entwicklung der Arbeitsproduk- tivität (AP) ab. Arbeitszeitverkürzungen verhinderten bis in die 70er Jahre einen Anstieg der Arbeitslosigkeit. [Die Ergebnisse von 1950 bis 1969 (Früheres Bundesgebiet) sind wegen konzeptioneller und definitorischer Unterschiede nicht voll mit den Ergebnissen von 1970 bis 1991 (früheres Bundesgebiet) und den Angaben ab 1991 (Deutschland) vergleichbar. Die preis- bereinigten Ergebnisse von 1950 bis 1969 (früheres Bundesgebiet) sind in Preisen von 1991 berechnet. Die Ergebnisse von 1970 bis 1991 (früheres Bundesgebiet) sowie die Angaben ab 1991 (Deutschland) werden in Preisen des jeweiligen Vorjahres als Kettenindex nachgewiesen.] Arbeitsvolumen und Seit zwei Jahrzehnten wird behauptet, dass den Erwerbspersonenpotenzial Industriestaaten die Arbeit ausgeht. Demnach Grundsätzlich lässt sich der Arbeitsmarkt durch würden durch Produktivitätssteigerungen und Angebot und Nachfrage beschreiben. Dabei Standortverlagerungen zunehmend Jobs ver- handelt es sich um die verteilbare Erwerbs- loren gehen. Buchtitel verkündeten sogar „Das arbeitszeit (Arbeitsvolumen) und die Zahl der Ende der Arbeit“.11 Das ist wohl mehr als eine Personen, die sich darum bewerben (Erwerbs- leichte Übertreibung. personenpotenzial). Wie die Abbildung 2 verdeutlicht, ging das Arbeitsvolumen bis Mitte der 70er Jahre drama- tisch zurück. Seither ist noch ein leichter Rück- Vom »Ende der Arbeit« kann keine gang erkennbar. Eher könnte man von Stagna- Rede sein. Die Zahl der geleisteten tion sprechen. Hätte sich diese Tendenz bis heute fortentwickelt, die Rede vom „Ende der Arbeit“ Arbeitsstunden eines Jahres bewegen wäre berechtigt. Doch seit Mitte der 70er Jahre sich seit Jahrzehnten auf stabilem ist das Arbeitsvolumen mit einigen Schwankun- gen recht stabil und nur ein vergleichsweise Niveau. geringer Rückgang vernehmbar. 11 Rifkin, J. (1995) Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
A r b e i t , G l ü c k u n d N a c h h a l t i g ke i t 9 70 60 Arbeitsstunden in Millionen 50 40 30 20 10 0 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 Erwerbspersonenpotential Arbeitsvolumen Abbildung 2: Das Erwerbspersonenpotenzial nahm über Jahrzehnte beständig zu. Insbesondere Frauen wollten zunehmend einer Lohnarbeit nachgehen. Weil das Arbeitsvolumen – hier in Milliarden Stunden (hellrote Linie) dargestellt – nicht wuchs, sondern eher zurückging, nahm die Arbeitslosigkeit zu (ab 1990 inkl. Ost-D). Quelle: Bundesamt für Statistik und Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung Wie kam es dann zum drastischen Anstieg der Die Kurze Vollzeit Arbeitslosigkeit? Die Antwort ist erstaunlich Die Zahl der Beschäftigten könnte also erheb- einfach: Das Erwerbspersonenpotenzial ist in lich wachsen, wenn insbesondere die Herren Deutschland nahezu permanent gestiegen. In Stunden abgäben. Wenn alle Arbeitnehmer der Geschichte der Bundesrepublik bewarben in Deutschland und Umgebung durchschnitt- sich immer mehr Personen um eine schrump- lich 30 Stunden in der Woche arbeiten, ließe fende beziehungsweise gleichbleibende Menge sich die Arbeitslosigkeit zumindest rechnerisch an Erwerbsarbeit. Und das waren erfreulicher- abschaffen. Das nennt sich die »Die Kurze Voll- weise Frauen. Statt ausschließlich unbezahlt den zeit für alle«.12 Mit der Kurzen Vollzeit wird das Haushalt zu verrichten, entschlossen sich Frauen Ziel verfolgt, Männern und Frauen in einem zunehmend, mit ihrer Hände Arbeit Geld zu ver- verallgemeinerungsfähigen Umfang erwerb- dienen. Damit wuchsen Selbstständigkeit und liches Arbeiten zu ermöglichen. Eine durch- Haushaltseinkommen. Letzteres war vor allem schnittliche Jahresarbeitszeit von etwa 1300 dann erforderlich, wenn die Einkünfte kaum Stunden – vergleichbar einer 30-Stunden-Woche ausreichten, um das zum Leben notwendigste – für alle stellt daher eine ungefähre Zielmarke zu gewährleisten. Weil indessen die Männerwelt dar, an der sich Politik, Tarifparteien, Unterneh- es nicht für nötig befand, im gleichen Zuge die men und Personen orientieren können. Würden eigene Arbeitszeit zu reduzieren und sich ver- vier Menschen ihre Arbeitszeit um sieben Stun- stärkt Haushalt und Kindern zuzuwenden, stieg den reduzieren, schaffen sie eine neue Stelle. die Arbeitslosenquote. Eine solche »Kurze Vollzeit für alle« ist eine Per- spektive für eine neue realistische Form der Voll- beschäftigung.13 12 Diese Formulierung sowie zahlreiche Thesen dieses Kapitels stammen von Helmut Spitzley, der inzwischen verstorbenen ist. 13 vgl. Spitzley, H. (2006) Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
10 Impu l se z u r Wac hst u msWe n de Vier Menschen reduzieren ihre Arbeitszeit um sieben Stunden und schaffen damit eine neue Stelle. Wür- den alle Arbeitnehmer in Deutsch- land durchschnittlich 30 Stunden in der Woche arbeiten, ließe sich die Arbeitslosigkeit zumindest rechne- risch abschaffen. Das nennt sich „die kurze Vollzeit für alle“. Natürlich gibt es Menschen mit so niedrigem Verdienst, dass weniger arbeiten nicht in Frage kommt. Auch viele Alleinlebende und Alleiner- ziehende haben geringe Spielräume, auf Geld zu verzichten, weil sie sich nicht auf einen zwei- Die vermeintlich radikale Forderung der Gewerk- ten Verdiener stützen können. Deshalb sollen schaften zur Verkürzung der Arbeitszeit ist heute kürzere Erwerbsarbeitszeiten auch nicht vorge- selbstverständlich. Heute müsste der Slogan lauten „Am Freitag hat mein Papi frei!“. schrieben werden. Die »Kurze Vollzeit für alle« Foto/Grafik: Deutscher Gewerkschaftsbund, Berlin; Foto: Stiftung wäre keine starre Norm, sondern eine Art Durch- HaPatrus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Axel schnittswert, der je nach persönlichen Wün- Thünker / Patrick Marc Schwarz schen, biografischer Situation und wirtschaft- lichen Verhältnissen flexibel gewählt werden der Arbeitszeiten kaum mehr vorstellbar. Der kann. Ziel sind kürzere Lebensarbeitszeiten in Trend weist wieder zu längeren Arbeitszeiten. abhängiger Beschäftigung. Verantwortlich zeichnen nicht nur Unterneh- men, sondern auch die öffentliche Verwaltung. Die faire Teilung von Lohnarbeit ist freilich Manche forderten gar, die Arbeitszeiten auf das keine Erfindung von heute. Schon vor 50 Jahren Niveau vergangener Zeiten zurückzuführen, um kämpften die Gewerkschaften mit dem Slogan den »Standort Deutschland« konkurrenzfähig „Am Samstag gehört der Vati mir“ um den freien zu halten. Die Folgen wären katastrophal, die Samstag. Die Forderung schien radikal. Noch bis Arbeitslosigkeit stiege auf 18 Millionen.15 zur Mitte der 50er Jahre lag die wöchentliche Arbeitszeit in Westdeutschland bei 49 Stunden Löst die demographische Entwicklung und wurde dann schrittweise auf 40 Stunden das Problem von allein? reduziert – bei gleichzeitiger Einführung der Fünf-Tage-Woche. Bis dahin wurden die großen Bei dem Konzept der Kurzen Vollzeit wird von Streiks meist um Lohnerhöhungen geführt.14 dem zum jeweiligen Zeitpunkt tatsächlich vor- Heute scheint eine so dramatische Veränderung handenen Erwerbspersonenpotenzial ausge- 14 Scharf , G. (1987) 15 Vorausgesetzt, es gäbe es nur Vollzeitstellen; vgl.: Bontrup/Niggemeyer/Melz (2007), S. 47 Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
A r b e i t , G l ü c k u n d N a c h h a l t i g ke i t 11 Nur 48-h-Stellen 18,5 ohne Teilzeit 13,5 Gegenwart 3,5 ca. 30 h Abbildung 3: Würden wir zum Arbeitszeitmodell der 50er Jahre zurückkehren, wären über 18 Millionen Menschen arbeitslos. Quelle: Bontrup, H. J./Niggemeyer, J./Melz, L. (2007), S. 47 gangen. Wenn mit Daten und Annahmen des Denn selbst bei einer angenommenen Stei- Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gerung des BIP zwischen 2000 und 2025 um gerechnet wird16, bleiben wichtige Trends der 41 Prozent erhöht sich die erforderliche durch- Vergangenheit bestehen: Arbeitsproduktivität schnittliche Arbeitszeit eines Erwerbstätigen in und Wirtschaftsleistung werden weiter wach- den kommenden Jahrzehnten nur wenig. Wenn sen. Die insgesamt benötigten Arbeitsstunden die beiden in ihrer Wirkung auf den Arbeits- werden leicht ansteigen. Es gibt jedoch einen markt gegensätzlichen Entwicklungen, das Sin- wesentlichen Unterschied zwischen den zurück- ken des Erwerbspotenzials und die Steigerung liegenden und den vorausliegenden Jahrzehn- der Arbeitsproduktivität, berücksichtigt und ten. Während sich die Zahl der für Erwerbs- eingerechnet werden, steigt – bei einer gleichen arbeit zur Verfügung stehenden Männer und Verteilung des Arbeitsvolumens auf alle Arbeit Frauen in den letzten Jahrzehnten stetig erhöht suchenden Männer und Frauen – die durch- hat, wird das Erwerbspersonenpotenzial aus schnittliche Arbeitszeit von 1300 Stunden (2000) demographischen Gründen in Zukunft deut- nur auf 1420 im Jahre 2025 (vergleichbar einer lich sinken. Anders als in der Vergangenheit 32,6-Stundenwoche). wird das Arbeitsvolumen also nicht mehr auf eine steigende, sondern eine sinkende Zahl von Doch gibt es nicht jetzt schon einen erheb- Erwerbspersonen aufzuteilen sein. Es ist aber lichen Fachkräftemangel, der sich demogra- vorschnell, hieraus den Schluss zu ziehen, dass phisch bedingt noch verschärft? Das ist zumin- nun ein Zwang zu Arbeitszeitverlängerungen dest seit Jahren in der Presse zu lesen und entstünde und in Zukunft jeder 40 Stunden oder werden die Wirtschaftsverbände nicht müde mehr in der Woche erwerbstätig sein müsste zu behaupten.17 Demgegenüber wird verkün- oder könnte. det, zumindest kurzfristig sei kein Fachkräfte- 16 Datengrundlage: Destatis, Fuchs, J./Dörfler, K. (2005); 17 Bundesverband Deutscher Arbeitgeber, Arbeitgeber- Fuchs, J./Zika, G. (2010) präsident Dieter Hundt: Brauchen schlüssiges Gesamt- konzept zur Fachkräftesicherung. Presseerklärung vom 31. August 2010. Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
12 I m p u l s e z u r Wa c h s t u m sWe n d e 170 160 150 140 130 120 110 100 90 80 91 96 01 06 11 16 21 20 19 19 20 20 20 20 BIP Produktivität Arbeitsvolumen Erwerbs- durchschnittliche Index pro Stunde Index personen- Jahresarbeitszeit 1991=100% Index 1991=100% potential bei Umverteilung 1991=100% Index Index Abbildung 4: Das Erwerbspersonenpotenzial wird aus demographischen Gründen sinken. Doch selbst, wenn das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bis 2025 um 41 Prozent steigt, verändert sich die erforderliche durch- schnittliche Arbeitszeit bei der »Kurzen Vollzeit« in den kommenden Jahrzehnten nur wenig. Denn gleichzei- tig steigt die Arbeitsproduktivität. Bei fairteilter Erwerbsarbeit stiege die wöchentliche Arbeitszeit lediglich von 30 auf 32,6 Stunden. Darstellung von Andre Holtrup, Datengrundlage s.o. mangel in Sicht,18 es handele sich vielmehr um Freilich ist es gleichwohl denkbar, dass der Alte- ein Märchen.19 In Anbetracht des komplexen rungsprozess unserer Gesellschaft irgendwann Arbeitsmarktgeschehens sind zuverlässige Aus- zu Knappheitsphänomenen führt. Doch auch sagen kaum zu treffen. Gesichert ist nur, dass in dieser Situation werden kürzere – und damit Unternehmen sich für ihre Stellenausschreibun- generationengerechte – Arbeitszeiten ein Teil gen etwas einfallen lassen müssen, wenn die der Problemlösung sein. Schließlich wird es Interessenten zwischen verschiedenen Ange- die Lage erfordern, dass die Menschen länger boten wählen können. Insofern sind manche arbeiten und auch mehr Frauen einer Erwerbs- Darstellungen der Arbeitgeberverbände zum tätigkeit nachgehen.20 Bei letzteren können die Fachkräftemangel oder gar die Forderung nach Arbeitgeber aus dem Vollen schöpfen, wenn Sie mehr Arbeitskräften aus dem Ausland dramati- gute zeitliche und infrastrukturelle Arbeitsbe- sierend zu verstehen. dingungen anbieten. 18 Brenke, K. (2010) 20 vgl.: ABC der Arbeitszeitverkürzung, 19 Heckmair, M.: Das Märchen vom Fachkräftemangel, www.bremer-arbeitszeitinitiative.de FOCUS-Online (29.07.2010) Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
A r b e i t , G l ü c k u n d N a c h h a l t i g ke i t 13 ThyssenKrupp Steel AG – Programm Zukunft Inwiefern man auf die demographische Entwicklung mit Arbeitszeitverkürzungen reagieren kann, hat das Stahlunternehmen ThyssenKrupp gezeigt. Dort lag in 2009 das Durchschnittsalter bei 44 Jahren und es war davon auszugehen, dass der Wert im Jahr 2020 bei 55 liegen würde. Dazu beigetragen hat auch, das jungen Menschen während des Beschäftigungsabbaus in der gesamten Branche im Rahmen von Sozialplänen eher gekündigt wurde als den älteren. Das »Programm Zukunft« sieht vor, dass erstens zwischen 2006 und 2013 die regelmäßige Wochen- arbeitszeit von 35 auf 34 Stunden verkürzt wird. Dies wird mit sechs freien Tagen und durch eine entsprechende Entgeltkürzung erreicht. Zweitens werden 500 zusätzliche Altersteilzeitverträge geschaffen, um den Know-how-Transfer zwischen den Generationen durch die Übernahme von Auszubildenden zu sichern. Und drittens werden für die gesamte Dauer der Vereinbarung zusätz- lich zu den bisherigen Kapazitäten 1000 Ausgebildete unbefristet übernommen. Die kürze Arbeitszeit ist der Kern des Programms. Sie trägt zur langfristigen Sicherung der Beschäf- tigung bei – vor allem für die Mitarbeiter, die vom drohenden Wegfall ihres Arbeitsplatzes betrof- fen sind. Ein Stunde Arbeitszeitverkürzung pro Mitarbeiter und Woche schafft 500 neue Stellen.* * Arbeitnehmerkammer Bremen (Hrsg.) (2008), S. 41 ff. Strategien und Maßnahmen der traditionelle Verteilungskonflikt zwischen Unternehmen und Arbeitern ausgehebelt. Gute Argumente sprechen also für eine Politik der »fairteilten« Erwerbsarbeit. Die geeigneten Nun wird sich die Revolution der Arbeitswelt Strategien und Maßnahmen werden im Folgen- nicht von selbst ins Werk setzen. Auch werden den zu erörtern sein. einige Arbeitskreise, Tagungen u.ä. kaum aus- reichen, um eine gesellschaftliche Debatte zu Der Anstoß zur gesellschaftlichen Debatte entfachen. Dafür braucht es mehr, nämlich eine Die Vision der kurzen Vollzeit löst zunächst Ver- medial sichtbare Auseinandersetzung zwischen wunderung aus. Könnte die Lösung der allgegen- den politischen und gesellschaftlichen Ent- wärtigen Arbeitslosenproblematik tatsächlich scheidungsträgern. Zunächst wäre viel gewon- so erschreckend einfach sein? Und warum ist nen, würden Deutschlands Spitzenfunktionäre davon nichts in der öffentliche Debatte zu ver- das Konzept erwähnen. Die Chefs der großen nehmen, auch kaum von den Gewerkschaften, Gewerkschaften oder auch die Bundeskanzlerin welche doch wohl die Speerspitze der Bewe- könnten beispielsweise bekennen: „Wenn wir gung sein müssten? Der Verwunderung folgt mal ganz ehrlich sind, konnte alle Wachstums-, bald die Skepsis, denn freilich gibt es zahlrei- Wirtschafts- und Sozialpolitik das Problem der che Einwände. Sie werden hier zu prüfen sein. Arbeitslosigkeit nicht lösen. Im Gegenteil. Wir Auch ist es wahr, dass Arbeitszeitverkürzung sollten fortan darüber nachdenken, wie die zur schon seit Jahrzehnten eine etablierte Strategie Verfügung stehende Lohnarbeit besser verteilt zur Reduzierung von Erwerbslosigkeit ist. Doch werden kann.“ Würden sich dem auch noch die stand sie stets in Verbindung mit der Forderung Arbeitsministerin oder der Wirtschaftsminister nach vollem Lohnausgleich. Gerade hier liegt der anschließen, ließe sich die Wirkung vermut- Hund begraben, weil die »Kurze Vollzeit für alle« lich schon nach wenigen Wochen in den ers- auf den Lohnausgleich verzichtet. Mithin wird ten Betrieben feststellen. Arbeitnehmer, die für Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
14 I m p u l s e z u r Wa c h s t u m sWe n d e Beschluss des DGB-Bundes- kongresses zur Arbeitszeit- verkürzung: 1. Arbeitszeitverkürzung (AZV) als das entscheidende gewerkschaftliche Ins- trument gegen Arbeitslosigkeit ist unverzichtbar. Allein Wachstum wird, wenn überhaupt sinnvoll, nie mehr so viel Arbeit schaffen können, wie durch die ständig steigende Produktivität überflüssig gemacht wird. Dass Arbeits- zeitverkürzung eine beschäftigungs- sichernde Wirkung hat, zeigt derzeit die allseits gelobte Kurzarbeit. Gerade in der Krise ist Arbeitszeitver- kürzung („Stunden abbauen statt Men- Die Betreuung von Kindern bereitet nicht erst im schen“) der große Gegenentwurf der Rentenalter Freude. Die Kurze Vollzeit schafft Frei- Gewerkschaften zum kapitalistischen raum für Lebensglück mit Kindern. Katastrophenkurs, bei dem Überkapa- Foto: www.pixelio.de, Detlev Beutler zitäten über wildwüchsigen und rück- sichtslosen Stellenabbau, Werksschlie- ßungen und Massenarbeitslosigkeit ab- sich bereits seit Jahren eine kürzere Arbeitszeit gebaut werden. in Erwägung gezogen haben, würden sich nun trauen ihren Chef danach zu fragen; und einige 2. Da AZV mit Lohnausgleich viele ums Arbeitgeber würden womöglich erstmals nicht Überleben kämpfende Firmen über- über derartige Anfragen lachen. fordern würde, müssen staatliche För- der- und Rahmenbedingungen die AZV Vermutlich wird sich die »Kurze Vollzeit« nicht unterstützen (wie derzeit auch bei der einfach verordnen lassen. Doch was die Umwelt- Kurzarbeit) und sollten ggf. branchen- debatte über Jahrzehnte nicht vermochte, näm- bezogene arbeitgeberfinanzierte Fonds lich Verhaltensänderungen in unangenehmen gebildet werden, aus denen die AZV Bereichen wie der Pkw-Nutzung zu bewirken, zum Beispiel bei ökonomisch schwachen könnte einem Gesellschaftsdiskurs über die Unternehmen flankiert werden kann. »Kurze Vollzeit« gelingen. Denn die Erkenntnis Um entsprechende gesetzliche Rahmen- wächst rasch: Ein »Verzicht« auf Arbeitszeit – und bedingungen dem Gesetzgeber gegen- seien es auch nur Überstunden – schafft einen über durchzusetzen, müssen Gewerk- Gewinn an frei verfügbarer Zeit. Ein freier Frei- schaften sich dafür einsetzen, dass das tag ist ein Gewinn an Lebensqualität. Während- politische Streikrecht wieder als legitime dessen lässt die Abschaffung des eigenen Autos Kampfform anerkannt wird, und es wirk- zunächst kaum Vorteile erkennen und scheint sam einsetzen. der Nutzen bestenfalls indirekt erfahrbar. 3. Ziel bleibt der volle Lohnausgleich. Ist Freilich werden Appelle von wichtigen Personen er auch bei engagiertem Kampf nicht des öffentlichen Lebens nicht genügen. Ent- durchsetzbar, darf tarifliche Arbeitszeit- scheidend ist die Entwicklung von Konzepten verkürzung nicht – wie bisher – völlig und Umsetzung von Maßnahmen. Sie werden unterbleiben. Denn das führt zu Massen im Folgenden diskutiert. Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
A r b e i t , G l ü c k u n d N a c h h a l t i g ke i t 15 Tarifvereinbarungen und Wahlarbeitsgesetz arbeitslosigkeit, die die Gewerkschaf- In Deutschland wird die Länge der Arbeitszeit ten erst recht schwächt und am Ende wesentlich durch Tarifverträge bestimmt, die zu viel größeren Einkommenseinbußen zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerk- führt. Ein Aufgeben der Arbeitszeitver- schaften abgeschlossen werden. Letztere sind kürzungspolitik ist auch gegenüber sich durchaus bewusst, dass mit Arbeitszeitver- unseren erwerbslosen KollegInnen nicht kürzungen für mehr Beschäftigung gesorgt wer- zu rechtfertigen. Deswegen: Arbeitszeit- den kann. Warum sich Gewerkschaften dennoch verkürzung muss sein – bei größtmög- kaum dazu äußern, ist durchaus verständlich. Sie lichem Lohnausgleich! befürchten vor allem, dass sich die Mitglieder nach jahrelangen Reallohneinbußen kaum für 4. Die Ausgestaltung der Arbeitszeitverkür- eine Arbeitszeit von 30 Stunden gewinnen lassen. zung muss einen persönlichen Zeitvorteil Wichtiger scheint es, Einkommenserhöhungen und einen nachvollziehbaren Beschäf- durchzusetzen. Es ist nun soweit, diese Scheu zu tigungseffekt gewährleisten. Dies wird überwinden und betriebs- und branchenüber- unter den Bedingungen der kaum noch greifende politische Forderungen zu entwickeln. regulierten Arbeitszeit eher über zusätz- liche freie Tage pro Jahr erreichbar sein, Eine Politik der Arbeitszeitverkürzung wird dann die jeweils individuell einsetzbar und in in Gewerkschaften, Unternehmen und poli- der Personalplanung zu berücksichti- tisch breit unterstützt werden, wenn ihre posi- gen sind, als über eine Forderung nach tiven Wirkungen deutlich gemacht und konkret Tages- oder Wochenarbeitszeitverkür- erfahren werden können. Dies ist unmittelbar zung. Der Beschäftigungseffekt kann in auch dann der Fall, wenn durch die Absenkung der Schaffung neuer Stellen oder, beson- von Arbeitszeiten der eigene Arbeitsplatz oder ders in Krisenzeiten, im Verzicht auf Ent- der von KollegInnen gesichert und ansonsten lassungen und Personalabbau bestehen. drohende Entlassungen abgewendet werden können. So etwa, wenn vier Beschäftigte jeweils 5. Arbeitszeitverkürzung ist immer auch ein Fünftel ihrer Arbeitszeit abgeben und eine ein gesellschaftspolitisches Thema. Es fünfte, bislang arbeitslose Person, das frei wer- geht um Zeit für das Leben, für Familien- dende Arbeitsvolumen übernimmt. 21 aufgaben, für Bildung, fürs Gesundblei- ben oder für den früheren Ausstieg aus Um diese positiven Potenziale der Arbeitsum- dem Arbeitsleben. Kürzere Arbeitszeiten verteilung zu nutzen, kämen beispielsweise schaffen auch Spielräume, sich mehr auch gesetzliche Arbeitszeitverkürzungen und gesellschaftlich zu engagieren – im Höchstarbeitszeiten (wie etwa die 35-Stunden- Ehrenamt, in der Politik, bei den Gewerk- Woche in Frankreich) in Frage. Eine wichtige Stell- schaften. Arbeitszeitverkürzung ist ein schraube kann hierbei das Teilzeitgesetz sein. Seit Stück Gesellschaftsveränderung. Deshalb 2001 in Kraft, sieht es einen individuellen Rechts- ist sie nur durchsetzbar, wenn es gelingt, anspruch vor, die Arbeitszeiten mit entsprechen- Arbeitszeitverkürzung zum Thema einer den Einkommensminderungen in einem selbst breiten gesellschaftlichen Debatte zu gewählten Umfang auf zum Beispiel 32, 28 oder machen und starke zivilgesellschaftliche auch weniger Stunden pro Woche – oder eine Bündnisse zu schließen. * entsprechende Jahresarbeitszeit – abzusenken. * 19. DGB-Bundeskongress Beschluss G 012: Stunden Die Umsetzung dieses Gesetzes hat sich auf der abbauen statt Menschen: Beschäftigungswirksa- me Arbeitszeitverkürzung in: DGB-Bundeskongress 21 Aktuelle Modelle gelungener Arbeitszeitverkürzung (2010.G): Beschlossene Anträge, Sachgebiet G: Gute Arbeit, Berlin 2010, 2 S. AntragstellerInnen: DGB- finden sich in Arbeitnehmerkammer Bremen. Es gab Bezirksvorstand Baden-Württemberg Beschluss des einen Tarifvertrag zur Beschäftigungsförderung zwi- DGB-Kongresses: Angenommen als Material an den schen der IG Metall und dem Arbeitgeberverband Bundesvorstand. Gesamtmetall, der genau diesen Gedanken aufge- griffen und Umsetzungsmöglichkeiten gefördert hat – vgl. Mehlis / Voss (2003) Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
16 I m p u l s e z u r Wa c h s t u m sWe n d e einen Seite als praktikabel erwiesen.22 Auf der sich der Vorteil, dass Fach- und Firmenwissen anderen Seite stellte sich eine umfangreiche Nut- und eine geschätzte Arbeitskraft erhalten blei- zung dieser gesetzlich gesicherten Wahlmög- ben. Nur gelegentlich sind Präsenzzeiten in der lichkeit nicht ein. Denn die Regelung verhindert, Firma erforderlich. Die Arbeit fern vom Firmen- dass eine Verkürzung ohne die Zustimmung des sitz ermöglicht es beispielsweise auch, dass sich Arbeitgebers rückgängig gemacht werden kann. zwei Angestellte mit einer Arbeitszeit von je Es ist möglich, das gegenwärtige Teilzeitgesetz 30 Stunden einen Arbeitsplatz teilen, wenn sie zu einem wirkungsvollen Wahlarbeitszeitgesetz jeweils zehn Stunden im Heimbüro arbeiten. weiterzuentwickeln, indem die Entscheidungs- Auch Pendler freuen sich, wenn sie am Freitag möglichkeiten jedes einzelnen über die Dauer nicht in die City fahren müssen und diversen der für Erwerbsarbeit aufgewendeten Zeit weiter Schreibkram daheim erledigen können. Zu ver- gestärkt werden. In dem Maße, in dem es Unter- meiden ist allerdings, dass Berufs- und Privat- nehmen und betrieblichen Interessenvertretun- leben zu sehr ineinanderfließen und Telearbei- gen gelingt, negative Folgen einer Inanspruch- ter durch Allverfügbarkeit im Endeffekt mehr nahme des Teilzeitgesetzes auszuschließen, wird arbeiten. es an Attraktivität gewinnen und stärker genutzt werden. Das scheint angesichts der gegenwärtigen Situa- tion und anzunehmenden Entwicklung leichter gesagt als getan. Denn in der Tendenz stehen Mitarbeiter ihrem Unternehmen via Mail und Besser heute als morgen engagieren Handy auch abends, am Wochenende und gar sich Gewerkschaften, Betriebs- und im Urlaub zur Verfügung. Insbesondere Single- Haushalte – in Köln sind es zum Beispiel über Personalräte für das Konzept der 50 Prozent23 – sind gefährdet, zwischen Arbeit Kurzen Vollzeit. Sie verleiht dem und Freizeit immer weniger zu unterscheiden. Arbeitskampf einen idealistischen Hier sind insbesondere die Unternehmen in der Pflicht, für eine ausgewogene »Work life Balance« Kern*, indem das rein materielle ihrer Mitarbeiter zu sorgen. Solches gereichte Streben nach Einkommensmehrung allen Beteiligten zum Vorteil (siehe S. 31). durch immaterielle Werte erweitert wird. Lebensarbeitszeitkonten Kurze Vollzeit für alle zielt darauf, das nicht belie- * vgl.: Loske, R. (2010), S. 27 big erweiterbare Volumen an Erwerbsarbeit und Arbeitseinkommen möglichst gerecht zu ver- teilen.24 Dabei kann diese Verteilung über eine Art Kontoführung sehr beweglich erfolgen. Wenn Heimbüro etwa Unternehmen bei Wirtschaftsaufschwün- Durch den Siegeszug der Personalcomputer eta- gen zeitweilig die Arbeitszeiten über diese neue blierte sich mit dem Heimbüro eine neue und Normalarbeitszeit anheben, kann diese Mehr- flexible Arbeitsform. In Deutschland wird ein arbeit in Zeitkonten angelegt werden, die sich großer Teil der Arbeitszeit vor dem Computer in Phasen einer geringeren Nachfrage mit freier verbracht. Insbesondere junge Eltern nutzen Zeit ausgleichen lassen. Auch wird es möglich die neuen Arbeitsformen gern für den Wieder- sein, individuelle Zeitwünsche besser als bislang einstieg in das Berufsleben oder forthin zur zu berücksichtigen. Wenn Kinder klein oder Alte Betreuung der Kinder. Die Arbeitsleistung kann pflegebedürftig sind, kann zeitweilig weniger, in verteilt erbracht und Kinder können trotzdem anderen Lebensphasen dafür mehr gearbeitet versorgt werden. Für den Arbeitgeber ergibt werden. Wenn eine längere Auszeit gewünscht 22 Wanger, S. (2004) 23 www.koeln.de (3.11.2011) 24 vgl. auch Bontrup, H.J./Niggemeyer, L./Melz, J. (2007) Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
A r b e i t , G l ü c k u n d N a c h h a l t i g ke i t 17 Abbildung 5: Der Mindestlohn liegt in der Luft. Inzwischen plädierten auch CDU und CSU für einen Mindest- lohn. In Anbetracht der überwältigenden Zustimmung in der Bevölkerung ist das kaum noch verwunderlich. ist, um zu regenerieren, neue Orientierungen zu nen, die 40 Stunden in der Woche arbeiten, die finden oder zeitintensive persönliche Projekte Sozialbehörden um Unterstützung bitten. Um zu realisieren, können »Sabbatzeiten«25 aus dem auch Beschäftigten im Niedriglohnsektor den persönlichen Zeitkonto entnommen werden. Weg in die kurze Vollzeit zu ermöglichen, sind Die Entscheidung über die »Einzahlungen« und daher verschiedene finanzielle Förderungen »Auszahlungen« vom Arbeitszeitkonto sollte und Mindeststandards sinnvoll. Erstens ist es an allerdings beim Arbeitnehmer liegen. Sie hät- der Zeit die sektoralen Mindestlohnregelungen ten weniger von einem Arbeitszeitkonto, wenn zu überwinden und einen einheitlichen Min- allein der Chef über die Verwendung der ange- destlohn für Alle einzuführen. sparten Zeit verfügt. Deutschland folgt damit zahlreichen weiteren Zuschüsse und Mindestlohn EU-Mitgliedstaaten, die seit langem erfolg- Nicht alle in Deutschland gegenwärtig gezahl- reich Mindestlöhne eingeführt haben. Sinnvoll ten Löhne sind existenzsichernd. Denn selbst erscheint ein nomineller, gesetzlicher Mindest- innerhalb tariflicher Vergütungsstrukturen gibt lohn. Dieser hat keinen Branchenbezug und es Bereiche, in denen die Löhne so niedrig sind, ergibt sich unabhängig von Tarifverträgen und dass sie zum Leben nicht ausreichen. In vielen nicht aus der Verallgemeinerung eines beste- Fällen müssen sogar Friseurinnen, Floristen, henden Tarifvertrages. Ein Mindestlohnrat Arzthelferinnen, Wachmänner oder Verkäuferin- könnte wesentlichen Einfluss auf die Mindest- lohngestaltung ausüben; er wäre unabhängig 25 Siemers, B. (2005) und wie in Großbritannien aus je drei Vertre- tern der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
18 I m p u l s e z u r Wa c h s t u m sWe n d e Gewerkschaften zusammengesetzt. Bei den Schlaglicht: Mindestlohn entlastet Britten wurde der flächendeckende Mindest- öffentliche Kassen lohn auf niedrigem Niveau eingeführt und dann schrittweise erhöht. Derzeit liegt der Satz bei Durch einen gesetzlichen Mindestlohn von 6,91 Euro die Stunde. Damit rangiert das Verei- 8,50 Euro erhielten fünf Millionen Beschäf- nigte Königreich im europäischen Spitzenfeld.26 tigte höhere Löhne. In den Staatshaus- Grundsätzlich wird ein Mindestlohn allein – so halt würden so knapp 2,7 Milliarden Euro er notwendigerweise moderat festgelegt wird – zusätzliche Einkommenssteuerbeiträge nicht zur Armutsbekämpfung ausreichen. Doch eingezahlt und ebenso viel in Renten-, zumindest werden entwürdigende Dumping- Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenver- löhne vermieden und die Sozialkassen entlastet sicherung. Überdies muss die Gemein- (siehe Kasten). schaft weniger Sozialtransfers überweisen. Prognos geht davon aus, dass verringerte Den Entscheidungsträgern sollte die Einführung Ausgaben für ALG II, Wohngeld, Sozialhilfe von Mindestlöhnen nicht schwer fallen, betrach- und Kindergeldzuschlag die Staatskasse tet man die letzten Meinungsumfragen. Danach um rund 1,7 Milliarden Euro entlasten. Und sprechen sich 70 Prozent der Bevölkerung für da schließlich die Erwerbseinkommen um einen gesetzlichen Mindestlohn aus. Sogar ca. 14,5 Milliarden Euro wachsen, dürfte unter Besserverdienenden und Selbstständigen die Binnennachfrage ansteigen, wodurch sind die Befürworter in der Mehrheit. zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Die Prognos-Expertise erwartet, dass 78 000 Zweitens ist den unteren Einkommensgruppen neue Arbeitsplätze entstehen.* eine Ausgleichskomponente für die Arbeits- zeitverkürzung anzubieten, finanziert aus den * Dube, A./Lester, T. W. / Reich, M. (2010): Minimum Wage eingesparten Kosten der Erwerbslosigkeit. So Effects Across State Borders: Estimates Using Contiguous könnte z.B. einer Steuergutschrift oder nega- Counties, in: The Review of Economics and Statistics, (No- vember 2010); Ehren-traut, O. u.a. (2011): Fiskalische Effek- tive Einkommensteuer dafür sorgen, dass die te eines gesetzlichen Mindestlohns, Bericht im Auftrag der Lohneinbußen bei kürzeren Arbeitszeiten ver- Friedrich- Ebert-Stiftung, (April 2011) gleichsweise gering ausfallen. das wäre evtl. der Fall, wenn eine Arbeitszeitverkürzumg von 20 Prozent nur 10 Prozent Gehaltseinbuße mit sich Widerstände und Mythen bringt. Gewiss ist die Revolution der Arbeitswelt kein leichtes Unterfangen. Doch wer hätte gedacht, Nicht alle, die sich eine Verkürzung dass massive Arbeitszeitverkürzungen quasi ihrer Arbeitszeiten wünschen, können über Nacht für Millionen Realität werden wür- den? Mit der Kurzarbeit haben Unternehmen sich das derzeit auch leisten. im großen Stil auf eine Krise – statt mit Entlas- Um diesen Beschäftigten den Weg sungen – mit einer solidarischen Verteilung der in die kurze Vollzeit zu ermöglichen, verringerten Arbeitszeiten reagiert. Würden die Beschäftigten noch heute so viel und intensiv sind verschiedene finanzielle Förde- arbeiten wie vor der Krise, dann wäre die Zahl der rungen und Mindeststandards sinn- Arbeitslosenquote um gut zwei möglicherweise voll. gar um knapp drei Millionen gestiegen.27 Die- ses »Beschäftigungswunder« belegt anschau- lich das immense Lösungspotenzial der Kurzen Vollzeit. Sie ist allerdings viel mehr als ein kurz- 26 DIE ZEIT, 3.11.2011 Nr. 45 27 Herzog-Stein, A./Seifert, H. (2010) Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
A r b e i t , G l ü c k u n d N a c h h a l t i g ke i t 19 Schlaglicht: Beschäftigungssicherung „Verzicht für Kollegen oder Verzicht durch Arbeitszeitverkürzung auf Kollegen – das ist die Frage“ Mit einer neunprozentigen Arbeitszeit- Bernd Ulrich, Die Zeit 12.2.09 verkürzung konnte ein ebenso großer Anteil der Beschäftigten der ThyssenKrupp Fahrtreppen GmbH in Hamburg vor einer betriebsbedingten Kündigung bewahrt fristiger Reaktionsmechanismus auf Wirtschafts- werden. krisen. Auch die Zahl der Arbeitslosen kann durch eine gerechte Verteilung der Lohnarbeit ThyssenKrupp Fahrtreppenwerk in Ham- tragfähig und verlässlich reduziert werden. burg war in den letzten Jahren in eine wirt- schaftlich kritische Lage geraten. Da die Nun darf man sich nichts vormachen. Die Kurze Marktanalysen eine kurz- bis mittelfristige Vollzeit stellt persönliche Gewohnheiten und Änderung nicht erkennen ließen, wurden gesellschaftliche Konventionen in Frage. Es wird auch Kapazitätsanpassungen zur wirt- viele Einwände geben. Was hilft es beispiels- schaftlichen Stabilisierung des Fahrtrep- weise, wenn vier Bauingenieure ihre Arbeitszeit penwerkes unumgänglich. Es drohten Ent- reduzieren und damit eine neue Stelle schaf- lassungen. fen, deren qualifizierte Besetzung aus dem Heer der Arbeitslosen jedoch kaum möglich ist. Zunächst wurden zur Vermeidung betriebs- Schlimmstenfalls führt die faire Teilung zu einem bedingter Kündigungen Versetzungen verstärkten Fachkräftemangel. Dieses Problem innerhalb des Unternehmens, Angebot stellt sich allerdings erst, wenn tatsächliche alle von Teilzeitarbeitsverträgen nach betrieb- Bauingenieure auc hüber 50 eine Stelle haben. lichen Erfordernissen unter Beachtung der Arbeitnehmerwünsche und unbezahlte Gleichwohl kann es keinen Zweifel geben, dass Freistellung für Urlaub oder Pflege bis zum die Kurze Vollzeit mit einem umfangreichen 31.7.2010 individuell vereinbart. Zur Redu- Qualifizierungsprogramm verbunden sein wird, zierung weiterer Kapazitätsanpassung das bereits in der Grundschule und besser noch wurde darüber hinaus vereinbart, dass in den Kindergärten seinen Anfang nimmt. Men- sich die tarifliche Wochenarbeitszeit für die schen sind lernfähig. Eine Bildungsoffensive wird Beschäftigten der ThyssenKrupp Fahrtrep- schon heute von allen gesellschaftlichen Kräften pen GmbH am Standort Hamburg unter beschworen und als Schlüssel zur Überwindung Anpassung der Entgelte (ohne Lohnaus- der Arbeitslosigkeit gesehen. Bisher fehlen aber gleich) auf 32 Wochenstunden verringert. die Arbeitsplätze für die Teilnehmer an Qualifizie- Zur Minderung der entstehenden monatli- rungsmaßnahmen, die sich daher oftmals sinn- chen Entgelteinbußen, können individuell los »geparkt« fühlen. Erst wenn die vorhandene Ausgleichszahlungen vereinbart werden, Arbeit durch die 30-Stunden-Woche auf alle ver- die mit den tariflichen Jahresleistungen teilt wird, kann sich auch Qualifizierung für alle (Urlaubs und Weihnachtsgeld) verrechnet auszahlen. Der Bund, die Länder, Kommunen, werden. Unternehmen und Gewerkschaften werden hier Zeichen setzen und die Möglichkeiten für Durch diese Arbeitszeitverkürzung werden »Lebenslanges Lernen« verbessern. Bei vielen 33 von insgesamt 371 Kolleginnen und Kol- sind der Wille und die Bereitschaft vorhanden, legen vor einer betriebsbedingten Kündi- sich bei der eigenen Weiterbildung zu engagie- gung bewahrt. ren; oft fehlt es an den finanziellen Möglichkei- ten. Eine zukunftsgerichtete Arbeitspolitik wird sie schaffen. Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
20 I m p u l s e z u r Wa c h s t u m sWe n d e Führungskräfte müssen Vollzeit arbeiten Ein weiteres Gegenargument zum Konzept der Kurzen Vollzeit lautet: „Das geht aber nicht für Führungskräfte“. Dieser Einwand mag früher ein- mal seine Berechtigung gehabt haben. Heute wird jedoch in hoch arbeitsteiligen Organisati- onen gearbeitet. Jede Stelle lässt sich prinzipi- ell für die Kurze Vollzeit zuschneiden. Deutsche Unternehmen wie auch die öffentliche Verwal- tung belegen mit eindrucksvoller Regelmäßig- keit, dass Verantwortungsbereiche innerhalb von Wochen neu zugeschnitten werden können. Es wird Outgesourced, Eingesourced, Abteilun- gen werden zusammengelegt oder aufgelöst Hektik und Stress im Arbeitsalltag ruinieren die und aufgeteilt. Stets werden Führungskräfte körperliche und seelische Gesundheit. Arbeitszeit- mit neuen Verantwortlichkeiten und Heraus- verkürzungen schaffen einen Gewinn an Lebens- forderungen konfrontiert. Auch die Repräsen- qualität. Foto: www.fotolia.com, fotodesign-jegg.de tationsaufgaben in Politik und Verwaltung sind arbeitsteilig organisiert. Nicht überall tritt etwa ein Oberbürgermeister selbst in Erscheinung, sondern wird von der 2. Bürgermeisterin vertre- banker – kultivieren ein Arbeitsethos, in dem ten. Die Kurze Vollzeit hört nicht bei Führungs- freie Tage und früher Feierabend nicht vorgese- kräften auf, sondern sollte dort ihren Anfang hen sind. nehmen. Sie scheitert allenfalls an der kulturel- len Borniertheit der Männerwelt. Vier Jahre lang experimentierte die Boston Con- sulting Group mit „geplanten Auszeiten“. Damit sind Zeitspannen gemeint, die sich die Berater freinehmen mussten und zwar nicht in Phasen Die Kurze Vollzeit hört nicht bei mit geringem Arbeitsanfall, sondern zusätzlich. Führungskräften auf, sondern sollte Zu Beginn von Projekten wurden die Auszei- ten – freie Tage oder Abende – festgelegt. Diese dort ihren Anfang nehmen. Sie schei- sollten sich die Mitarbeiter vollkommen arbeits- tert allenfalls an der kulturellen frei halten – sie durften also weder ihre E-Mails Borniertheit der Männerwelt. abrufen noch ihren Anrufbeantworter abhören. Das Konzept war vielen Beratern so fremd, dass sie regelrecht zu den Auszeiten »gezwungen« werden mussten. Notwendig war dafür die volle Dass die Kurze Vollzeit eine realisierbare Vision Unterstützung des Unternehmenschefs. ist, haben ausgerechnet Unternehmensberater in einem mehrjährigen Modellprojekt bewiesen. Kaum war die kollektive Überzeugung, dass alle Gerade Berater sind Sklaven ihres Blackberrys. Mitarbeiter ständig verfügbar sein müssen, ein- Sie schuften häufig 60 Stunden und mehr in mal infrage gestellt, zeigte sich sehr rasch, dass der Woche und sind 24/7 erreichbar. Wer Black- die Berater sich nicht nur regelmäßig freineh- berry-Sklaven zum Abendessen einlädt sollte men können, sondern dass auch die Qualität sich das gut überlegen. Die permanente Ablen- ihrer Arbeit davon profitiert. Die Experimente kung durch die innovative Gerätschaft in Form mit geplanten Auszeiten stießen einen offene- von Simsen, Mailen und Telefonieren kann die ren Dialog unter den Teamkollegen an, was an gesamte Tischgesellschaft aufreiben und den sich schon ein Vorteil ist. Aber nicht nur das: Die Abend verderben. Unternehmensberater – wie verbesserte Kommunikation setzte auch effizi- auch etwa Wirtschaftsprüfer und Investment- entere und effektivere Arbeitsprozesse in Gang. Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
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