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Wuppertal Institut
                                                                                        für Klima, Umwelt, Energie
                                                                                        GmbH

    Impulse zur WachstumsWende

                                 Arbeit, Glück und Nachhaltigkeit
                                 Warum kürzere Arbeitszeiten Wohlbefinden, Gesundheit, Klimaschutz
                                 und Ressourcengerechtigkeit fördern
                                 Von Michael Kopatz

                                 Impulse für die politische Debatte               12

                                                                                       3
                                 Alit inciliquat nostrud
                                 Etdelendiat dolorem atiscidunt
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Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
                                                                                           Wuppertal, Februar 2012
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Herausgeber:
Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
Döppersberg 19
42103 Wuppertal
www.wupperinst.org

Autor:
Michael Kopatz
Forschungsgruppe 2 – Energie-, Verkehrs- und Klimapolitik

Mitarbeit:
Dr. André Holtrup, Jörg Melz

Kontakt:
E-Mail: michael.kopatz@wupperinst.org
E-Mail: alexandra.palzkill@wupperinst.org

Disclaimer:
Unter dem gemeinsamen Obertitel „Impulse zur WachstumsWende“ ver-
öffentlicht das Wuppertal Institut Thesen und Forschungsergebnisse mit
Bezug zur aktuellen Wachstumsdebatte.

Wuppertal, im Februar 2012
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Inhalt

Zusammenfassung                                                5

Einführung                                                     6

Arbeit                                                         7
Vollbeschäftigung und Wirtschaftswunder                        7
Arbeitsvolumen und
Erwerbspersonenpotenzial                                       8
Die Kurze Vollzeit                                             9
Löst die demographische Entwicklung das Problem von allein?   11
Strategien und Maßnahmen                                      13
Widerstände und Mythen                                        18
Die ganze Arbeit                                              27

Glück                                                         32
Leben und Arbeiten in Balance                                 32
Vom Glück des Nichtstuns                                      35
Vom Glück der Freiwilligkeit                                  36
Wirtschaftswachstum und Glück                                 37
Gesundheitsförderung                                          39
Partnerschaftliche Teilung der Arbeit                         40
Offene Türen                                                  42
Ermächtigung der Arbeitnehmer                                 44

Nachhaltigkeit                                                44
Klimachaos                                                    44
Ressourcenkrise                                               46

Ausblick: Stagnationsprävention                               51

Literatur                                                     54
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Stichworte:

Arbeitszeit, Arbeitszeitverkürzung, Arbeit fairteilen, Zeitwohlstand, Teilzeit, Teilzeit-
arbeit, Erwerbsarbeit, Eigenarbeit, Muße, Halbtagsgesellschaft, 30-Stunden-Gesell-
schaft, Gelassenheit, Entspannung, Zufriedenheit, Subjektives Wohlbefinden.
Gesundheitsförderung, Kurze Vollzeit für alle, Glückspolitik, Glück, Umweltschutz,
Umweltpolitik, Work life Balance, Teilhabegerechtigkeit, Klimawandel, Mindest-
lohn, Wachstum, Wirtschaftswachstum, Wachstumsdogma, Stagnationsprävention,
Resilienz, Eigenarbeit, Ehrenamtliches Engagement

                                                            Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
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Michael Kopatz

Arbeit, Glück und Nachhaltigkeit
Warum kürzere Arbeitszeiten Wohlbefinden, Gesundheit, Klimaschutz
und Ressourcengerechtigkeit fördern

Zusammenfassung
„Ohne Wachstum ist alles nichts“ heißt es im           die dürftige Resonanz in Politik und Gesellschaft
Grundsatzprogramm einer Bundespartei. Quer             wundert. Daher werden im Kapitel »Arbeit«
durch alle Parteien wird Deutschlands Wachs-           nicht nur die Strategien und Maßnahmen vorge-
tum postuliert. Warum eigentlich? Einer der wohl       stellt, um das Konzept auf den Weg zu bringen,
wichtigsten Gründe: Ohne Wachstum nimmt                sondern auch neben den Vorzügen der »Kurzen
die Zahl der Arbeitslosen rasant zu. Es gibt zwei      Vollzeit« auch die Widerstände besprochen.
Auswege. A: Unternehmen unterlassen jegliche
Innovation zur Steigerung der Arbeitsproduk-           Im anschließenden Kapitel wird nachvollzieh-
tivität. B: Kürzere Arbeitszeiten. Der zweite          bar, dass Arbeit eng mit dem persönlichen Glück
Lösungsvorschlag wird hier diskutiert.                 verbunden ist. Stress, Hektik und Überstunden
                                                       machen unzufrieden und gefährden zuneh-
Umwelt- und Wirtschaftspolitik, so schien es           mend die Gesundheit; unglücklich sind hin-
Jahrzehnte lang, stehen im Widerspruch. Was            gegen die Arbeitslosen. Der Zustand der Arbeits-
hilft der gesunde Wald, wenn Millionen keine           losigkeit reduziert das Wohlbefinden stärker als
Arbeit haben? Zwar gehen mit Arbeitslosigkeit          Scheidung und Trennung. Wenn die Vielarbeit
seit Einführung der sozialen Sicherungssysteme         zum Vorteil der Arbeitslosen verringert würde,
nicht länger Not, Leid und Elend einher. Aber          profitierten alle. Eine bessere Balance zwischen
das Stigma bedrückt die Betroffenen und ist für        Arbeit und Freizeit fördert zudem die Gesund-
die Gesellschaft eine Last. Und so ist die Schaf-      heit, schafft Raum für Muße und Kreativität.
fung von Arbeitsplätzen das Kernziel aller Politik.    Auch wird die partnerschaftliche Teilung von
Allzu oft werden dabei allerdings die Interessen       Sorge- und Erwerbsarbeit erleichtert.
der zukünftigen Generationen vernachlässigt.
Neue Straßen und Flughäfen oder deren Ausbau           Im nächsten Kapitel wird schließlich die Ver-
wie auch Gewerbeparks im Grünen werden mit             bindung zwischen Arbeit und Nachhaltigkeit
dem Arbeitsplatzargument legitimiert.                  erörtert. Zweifellos zählen globale Erwärmung
                                                       und Ressourcenknappheit zu den größten Her-
Dabei gibt es zur Bekämpfung von Arbeitslosig-         ausforderungen für die Menschheit. Zur Bewäl-
keit ein sozial und ökologisch wesentlich ver-         tigung auch dieser Krisenphänomene kann
träglicheres Konzept: die gerechtere Verteilung        Arbeitszeitpolitik beitragen. Gerade deswegen
der zur Verfügung stehenden Erwerbsarbeits-            wurde diese Abhandlung verfasst, denn die
zeit. Wie im Kapitel »Arbeit« darzulegen sein          fairteilte Arbeit ist ein bislang vernachlässigtes
wird, ließe sich die Arbeitslosigkeit zumindest        Thema in der umweltpolitischen Forschung und
rechnerisch abschaffen, wenn die Menschen im           Beratung. Gut möglich, dass kürzere Arbeitszei-
Schnitt 30 Stunden in der Woche für Lohn arbei-        ten die Voraussetzung für eine zukunftsfähige
teten. Dieser als »Kurze Vollzeit für alle« bezeich-   Entwicklung sind.
nete Ansatz ist so plausibel, dass man sich über

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6                                                                                    I m p u l s e z u r Wa c h s t u m sWe n d e

Einführung

Seit die Menschen vom Land in die Städte zogen            Wer 40, 50 oder gar 60 Stunden in der Woche
und ihre Höfe verließen, um für Lohn in Fabriken          der Erwerbsarbeit nachgeht, hat kaum noch
zu arbeiten, ist Arbeitslosigkeit eine ebenso exis-       Zeit für Familie und Freunde. Doch das ist es,
tenzielle Bedrohung wie schlechtes Wetter für             worauf es im Leben ankommt, wenn die mate-
die Ernte. Die Solidargemeinschaft sorgt zwar             riellen Grundbedürfnisse befriedigt sind.4 Durch
dafür, dass Arbeitslose eine Grundsicherung               kürze Arbeitszeiten könnten hingegen Millionen
erhalten, mit der das notwendigste besorgt wer-           neuer Arbeitsplätze entstehen, womit das Wohl-
den kann. Doch wer für längere Zeit auf die Hilfe         befinden unserer Gesellschaft deutlich ange-
seiner Mitmenschen angewiesen ist, obgleich               hoben würde.
im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen
Kräfte, fühlt sich rasch ausgegrenzt, hoffnungs-          Nun stellt sich die Frage, wer so gelassen ist
los und resigniert. Da nimmt es kaum Wunder,              und »seine« Arbeitszeiten reduziert. Die männ-
wenn sich die meisten Schlagzeilen der Tages-             liche Form ist hier sehr zutreffend. Denn es sind
zeitungen im Kern um das Thema Erwerbsarbeit              vor allem Männer, die kürzere Arbeitszeiten
drehen: Aufstieg und Fall von Unternehmen,                scheuen. Geld gegen Zeit eintauschen, das ist
Innovationen, Kündigungen, Wirtschaftswachs-              leichter gesagt als getan in einer Gesellschaft,
tum, Finanzmärkte etc.                                    die nur Vollzeitbeschäftigte als vollwertiges Mit-
                                                          glied der Gesellschaft anerkennt. Die Vision der
Im krassen Gegensatz zu den Nöten der Arbeit              »Kurzen Vollzeit«, also Vollzeitstellen mit rund
Suchenden stehen Hektik und Stress der Be-                30 Stunden in der Woche oder gar die »Halb-
schäftigten. Jeder zehnte Erwerbstätige arbeitet          tagsgesellschaft« mit 20 Stunden5, wird nur
gewöhnlich mehr als 48 Stunden pro Woche.1                mithilfe eines politischen Konzeptes realisierbar
Zweieinhalb Milliarden Überstunden im Jahr2               sein. Dieses wird eine Mischung aus finanziellen
sind kaum noch Zeugnis von Strebsamkeit und               Anreizen, gesetzlichen Verpflichtungen, Kam-
Fleiß. Sie schaden der physischen und psychi-             pagnen, Bildungsinitiativen und vieles mehr
schen Gesundheit. Eine Trendumkehr ist nicht in           beinhalten. Doch die Anstrengungen sind der
Sicht. Ganz im Gegenteil nimmt die Vielarbeit zu.         Mühe wert. Wie später zu zeigen sein wird, profi-
Die Zahl der Workaholics nahm seit 1995 um ein            tieren nicht nur die Beschäftigten, sondern auch
Prozent zu. Währenddessen hat sich diese Zahl             Unternehmen, Gesellschaft und Umwelt von
in Dänemark mehr als halbiert. Beeindruckend              verkürzten Arbeitszeiten.
ist auch der Vergleich mit einem weiteren Nach-
barland: Hierzulande arbeiten achtmal so viele
Angestellte über 50 Stunden in der Woche wie
in den Niederlanden. Es geht auch anders.3

 1 Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 347       4 tns emnid 07/2010; Bertelsmann Stiftung
   vom 28.09.2010                                          5 Stahmer, C. (2006)
 2 Spiegel (14.2.2011) unter Berufung auf IAB (Institut
   für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung)
 3 OECD (2011), S. 133

                                                                         Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
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A r b e i t , G l ü c k u n d N a c h h a l t i g ke i t                                                             7

Arbeit

Die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 bis 2010             Mit anderen Worten: Ohne Verkürzung der tarif-
schien schnell überwunden. Die Zahl der Arbeits-           lichen Wochenarbeitszeit hätte es in Deutsch-
losen geht seither beständig zurück. Manche                land keine Vollbeschäftigungsphase gegeben.
sprechen schon von einem Beschäftigungswun-
der. Zwar waren im Mai 2011 noch rund 5,4 Mil-             Sie währte nur kurz. In den 80er Jahren kämpften
lionen erwerbsfähige Menschen auf staatliche               die Gewerkschaften dann für die 35-Stunden-
Unterstützung angewiesen6, doch scheint es so,             Woche. Wie zuvor sollten nicht allein die Arbeit-
die Wirtschaft müsse nur weiter tüchtig wachsen            geber vom Produktivitätsfortschritt profitieren,
und das Problem der Arbeitslosigkeit löse sich in          sondern auch die Arbeitnehmer an freier Zeit
Wohlgefallen auf. Doch ganz so einfach ist es              gewinnen. Die 35-Stunden-Woche wurde zwar
nicht.                                                     teilweise realisiert und gilt in der Metallbranche
                                                           bis heute. Ansonsten wurden Arbeitszeiten aber
                                                           wieder verlängert, häufig bei gleichem Lohn. Die
Vollbeschäftigung und Wirtschafts-                         Gewerkschaften verwenden sich in den Tarifaus-
wunder                                                     einandersetzungen seit nunmehr drei Jahr-
                                                           zehnten für höhere Einkommen und haben sich
Von 1960 bis 1973 gab es in Deutschland mit
                                                           dadurch schicksalhaft mit der Idee permanenten
kurzer Unterbrechung (1967/68) Vollbeschäf-
                                                           Wachstums vermählt.9 Die höhere Produktivität
tigung.7 Bis heute hält sich der Mythos, dass
                                                           und das gewachsene Erwerbspersonenpoten-
diese Vollbeschäftigung durch das »Deutsche
                                                           zial blieben seit 1974 arbeitszeitpolitisch nahezu
Wirtschaftswunder« mit Wachstumsraten von
                                                           unberücksichtigt, sodass heute die tarifliche
bis zu 7,5 Prozent verursacht wurde. Tatsäch-
                                                           Wochenarbeitszeit in Vollzeit mit 39 Stunden
lich stieg die Zahl der Erwerbstätigen damals
                                                           lediglich etwas mehr als eine Stunde unter der
um über eine Million – allerdings ohne direkten
                                                           Vollzeit von 1974 liegt.10
Zusammenhang mit dem Wirtschaftswachstum.
Dem Mythos nach hat das Wachstum zu einem                  Für die Wiederherstellung von echter Vollbe-
sprunghaften Anstieg des Arbeitsvolumens und               schäftigung, d.h. von einer relativen Gleichver-
damit auch der Beschäftigung geführt. In Wahr-             teilung des Arbeitsvolumens über das Erwerbs-
heit sank jedoch das Arbeitsvolumen zwischen               personenpotenzial, wäre heute eine deutlich
1960 und 1973 um 5,6 Milliarden Stunden (vgl.              kürzere tarifliche Vollzeit von 28–30 Wochen-
Abb. 1), was einem rechnerischen Verlust von               stunden erforderlich. Dieser extreme Wert
rund drei Millionen Arbeitsplätzen entspricht.8            ergibt sich daraus, dass bei der Ermittlung des
Diese Tatsache wird in der öffentlichen Wahr-              Umverteilungsbedarfs nicht nur die hohe Zahl
nehmung kaum bedacht, da in der gleichen Zeit              von Arbeitslosen zu berücksichtigen ist, sondern
durch die Reduzierung der tariflichen Arbeitszeit          auch die Tatsache, dass inzwischen zwölf Millio-
auf 40 Wochenstunden ein zusätzlicher Arbeits-             nen Personen in Teilzeit arbeiten (1974 nur zwei
kräftebedarf von knapp 4,3 Millionen Personen              Millionen) – viele davon unfreiwillig.
geschaffen wurde.

  6 Monatsbericht der Bundesagentur für Arbeit (5/2011)     9 Loske, R. (2010), S. 27
  7 Das entsprach einer Arbeitslosenquote von maximal      10 Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit aller Beschäf-
    1,5 Prozent bzw. 275 000 Arbeitslosen (Stat. Bundes-      tigten (in Voll- und Teilzeit) liegt heute schon unter 30
    amt)                                                      Stunden und damit 8 Stunden unter dem Durchschnitt
  8 Berechnung auf Basis der Jahresarbeitszeit der Er-        von 1974 (Institut für Arbeitsmarkt u. Berufsforschung).
    werbstätigen von 1973 (Stat. Bundesamt)

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8                                                                                                I m p u l s e z u r Wa c h s t u m sWe n d e

        6
                      5,2                         Dekadenvergleich
                                                 Veränderungen in %
        5
                4,4
                                           3,8
        4

                                     2,9
        3
                                                           2,3 2,3
                                                                                       1,9
        2                                                                        1,6
                                                                                                          0,9 0,9
        1

                                                                      0                                                  0
        0
                   60er                 70er                   80er                    90er                     00er
                                                                                          -0,3
       -1
                        -0,8                     -0,9
                                                         BIP       AP       AV     Quelle: Statistisches Bundesamt
       -2

Abbildung 1: Der Rückgang des Arbeitsvolumens (AV) hängt stark von der Entwicklung der Arbeitsproduk-
tivität (AP) ab. Arbeitszeitverkürzungen verhinderten bis in die 70er Jahre einen Anstieg der Arbeitslosigkeit.
[Die Ergebnisse von 1950 bis 1969 (Früheres Bundesgebiet) sind wegen konzeptioneller und definitorischer Unterschiede nicht voll
mit den Ergebnissen von 1970 bis 1991 (früheres Bundesgebiet) und den Angaben ab 1991 (Deutschland) vergleichbar. Die preis-
bereinigten Ergebnisse von 1950 bis 1969 (früheres Bundesgebiet) sind in Preisen von 1991 berechnet. Die Ergebnisse von 1970 bis
1991 (früheres Bundesgebiet) sowie die Angaben ab 1991 (Deutschland) werden in Preisen des jeweiligen Vorjahres als Kettenindex
nachgewiesen.]

Arbeitsvolumen und
                                                                  Seit zwei Jahrzehnten wird behauptet, dass den
Erwerbspersonenpotenzial
                                                                  Industriestaaten die Arbeit ausgeht. Demnach
Grundsätzlich lässt sich der Arbeitsmarkt durch                   würden durch Produktivitätssteigerungen und
Angebot und Nachfrage beschreiben. Dabei                          Standortverlagerungen zunehmend Jobs ver-
handelt es sich um die verteilbare Erwerbs-                       loren gehen. Buchtitel verkündeten sogar „Das
arbeitszeit (Arbeitsvolumen) und die Zahl der                     Ende der Arbeit“.11 Das ist wohl mehr als eine
Personen, die sich darum bewerben (Erwerbs-                       leichte Übertreibung.
personenpotenzial).
                                                                  Wie die Abbildung 2 verdeutlicht, ging das
                                                                  Arbeitsvolumen bis Mitte der 70er Jahre drama-
                                                                  tisch zurück. Seither ist noch ein leichter Rück-
Vom »Ende der Arbeit« kann keine                                  gang erkennbar. Eher könnte man von Stagna-
Rede sein. Die Zahl der geleisteten                               tion sprechen. Hätte sich diese Tendenz bis heute
                                                                  fortentwickelt, die Rede vom „Ende der Arbeit“
Arbeitsstunden eines Jahres bewegen                               wäre berechtigt. Doch seit Mitte der 70er Jahre
sich seit Jahrzehnten auf stabilem                                ist das Arbeitsvolumen mit einigen Schwankun-
                                                                  gen recht stabil und nur ein vergleichsweise
Niveau.                                                           geringer Rückgang vernehmbar.

                                                                  11 Rifkin, J. (1995)

                                                                                   Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
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A r b e i t , G l ü c k u n d N a c h h a l t i g ke i t                                                                                 9

                                           70

                                           60
             Arbeitsstunden in Millionen

                                           50

                                           40

                                           30

                                           20

                                           10

                                            0
                                                1960   1965   1970   1975   1980   1985    1990     1995     2000     2005

                                                              Erwerbspersonenpotential         Arbeitsvolumen

Abbildung 2: Das Erwerbspersonenpotenzial nahm über Jahrzehnte beständig zu. Insbesondere Frauen
wollten zunehmend einer Lohnarbeit nachgehen. Weil das Arbeitsvolumen – hier in Milliarden Stunden
(hellrote Linie) dargestellt – nicht wuchs, sondern eher zurückging, nahm die Arbeitslosigkeit zu (ab 1990
inkl. Ost-D). Quelle: Bundesamt für Statistik und Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung

Wie kam es dann zum drastischen Anstieg der                                         Die Kurze Vollzeit
Arbeitslosigkeit? Die Antwort ist erstaunlich
                                                                                    Die Zahl der Beschäftigten könnte also erheb-
einfach: Das Erwerbspersonenpotenzial ist in
                                                                                    lich wachsen, wenn insbesondere die Herren
Deutschland nahezu permanent gestiegen. In
                                                                                    Stunden abgäben. Wenn alle Arbeitnehmer
der Geschichte der Bundesrepublik bewarben
                                                                                    in Deutschland und Umgebung durchschnitt-
sich immer mehr Personen um eine schrump-
                                                                                    lich 30 Stunden in der Woche arbeiten, ließe
fende beziehungsweise gleichbleibende Menge
                                                                                    sich die Arbeitslosigkeit zumindest rechnerisch
an Erwerbsarbeit. Und das waren erfreulicher-
                                                                                    abschaffen. Das nennt sich die »Die Kurze Voll-
weise Frauen. Statt ausschließlich unbezahlt den
                                                                                    zeit für alle«.12 Mit der Kurzen Vollzeit wird das
Haushalt zu verrichten, entschlossen sich Frauen
                                                                                    Ziel verfolgt, Männern und Frauen in einem
zunehmend, mit ihrer Hände Arbeit Geld zu ver-
                                                                                    verallgemeinerungsfähigen Umfang erwerb-
dienen. Damit wuchsen Selbstständigkeit und
                                                                                    liches Arbeiten zu ermöglichen. Eine durch-
Haushaltseinkommen. Letzteres war vor allem
                                                                                    schnittliche Jahresarbeitszeit von etwa 1300
dann erforderlich, wenn die Einkünfte kaum
                                                                                    Stunden – vergleichbar einer 30-Stunden-Woche
ausreichten, um das zum Leben notwendigste
                                                                                    – für alle stellt daher eine ungefähre Zielmarke
zu gewährleisten. Weil indessen die Männerwelt
                                                                                    dar, an der sich Politik, Tarifparteien, Unterneh-
es nicht für nötig befand, im gleichen Zuge die
                                                                                    men und Personen orientieren können. Würden
eigene Arbeitszeit zu reduzieren und sich ver-
                                                                                    vier Menschen ihre Arbeitszeit um sieben Stun-
stärkt Haushalt und Kindern zuzuwenden, stieg
                                                                                    den reduzieren, schaffen sie eine neue Stelle.
die Arbeitslosenquote.
                                                                                    Eine solche »Kurze Vollzeit für alle« ist eine Per-
                                                                                    spektive für eine neue realistische Form der Voll-
                                                                                    beschäftigung.13

                                                                                    12 Diese Formulierung sowie zahlreiche Thesen dieses
                                                                                       Kapitels stammen von Helmut Spitzley, der inzwischen
                                                                                       verstorbenen ist.
                                                                                    13 vgl. Spitzley, H. (2006)

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10                                                                                  Impu l se z u r Wac hst u msWe n de

Vier Menschen reduzieren ihre
Arbeitszeit um sieben Stunden und
schaffen damit eine neue Stelle. Wür-
den alle Arbeitnehmer in Deutsch-
land durchschnittlich 30 Stunden in
der Woche arbeiten, ließe sich die
Arbeitslosigkeit zumindest rechne-
risch abschaffen. Das nennt sich
„die kurze Vollzeit für alle“.

Natürlich gibt es Menschen mit so niedrigem
Verdienst, dass weniger arbeiten nicht in Frage
kommt. Auch viele Alleinlebende und Alleiner-
ziehende haben geringe Spielräume, auf Geld
zu verzichten, weil sie sich nicht auf einen zwei-   Die vermeintlich radikale Forderung der Gewerk-
ten Verdiener stützen können. Deshalb sollen         schaften zur Verkürzung der Arbeitszeit ist heute
kürzere Erwerbsarbeitszeiten auch nicht vorge-       selbstverständlich. Heute müsste der Slogan lauten
                                                     „Am Freitag hat mein Papi frei!“.
schrieben werden. Die »Kurze Vollzeit für alle«
                                                     Foto/Grafik: Deutscher Gewerkschaftsbund, Berlin; Foto: Stiftung
wäre keine starre Norm, sondern eine Art Durch-      HaPatrus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Axel
schnittswert, der je nach persönlichen Wün-          Thünker / Patrick Marc Schwarz
schen, biografischer Situation und wirtschaft-
lichen Verhältnissen flexibel gewählt werden         der Arbeitszeiten kaum mehr vorstellbar. Der
kann. Ziel sind kürzere Lebensarbeitszeiten in       Trend weist wieder zu längeren Arbeitszeiten.
abhängiger Beschäftigung.                            Verantwortlich zeichnen nicht nur Unterneh-
                                                     men, sondern auch die öffentliche Verwaltung.
Die faire Teilung von Lohnarbeit ist freilich        Manche forderten gar, die Arbeitszeiten auf das
keine Erfindung von heute. Schon vor 50 Jahren       Niveau vergangener Zeiten zurückzuführen, um
kämpften die Gewerkschaften mit dem Slogan           den »Standort Deutschland« konkurrenzfähig
„Am Samstag gehört der Vati mir“ um den freien       zu halten. Die Folgen wären katastrophal, die
Samstag. Die Forderung schien radikal. Noch bis      Arbeitslosigkeit stiege auf 18 Millionen.15
zur Mitte der 50er Jahre lag die wöchentliche
Arbeitszeit in Westdeutschland bei 49 Stunden
                                                     Löst die demographische Entwicklung
und wurde dann schrittweise auf 40 Stunden
                                                     das Problem von allein?
reduziert – bei gleichzeitiger Einführung der
Fünf-Tage-Woche. Bis dahin wurden die großen         Bei dem Konzept der Kurzen Vollzeit wird von
Streiks meist um Lohnerhöhungen geführt.14           dem zum jeweiligen Zeitpunkt tatsächlich vor-
Heute scheint eine so dramatische Veränderung        handenen Erwerbspersonenpotenzial ausge-

14 Scharf , G. (1987)                                15 Vorausgesetzt, es gäbe es nur Vollzeitstellen; vgl.:
                                                        Bontrup/Niggemeyer/Melz (2007), S. 47

                                                                       Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
A r b e i t , G l ü c k u n d N a c h h a l t i g ke i t                                                             11

              Nur 48-h-Stellen                                                                  18,5

                       ohne Teilzeit                                          13,5

                          Gegenwart                        3,5

                                 ca. 30 h

Abbildung 3: Würden wir zum Arbeitszeitmodell der 50er Jahre zurückkehren, wären über 18 Millionen
Menschen arbeitslos. Quelle: Bontrup, H. J./Niggemeyer, J./Melz, L. (2007), S. 47

gangen. Wenn mit Daten und Annahmen des                          Denn selbst bei einer angenommenen Stei-
Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung                  gerung des BIP zwischen 2000 und 2025 um
gerechnet wird16, bleiben wichtige Trends der                    41 Prozent erhöht sich die erforderliche durch-
Vergangenheit bestehen: Arbeitsproduktivität                     schnittliche Arbeitszeit eines Erwerbstätigen in
und Wirtschaftsleistung werden weiter wach-                      den kommenden Jahrzehnten nur wenig. Wenn
sen. Die insgesamt benötigten Arbeitsstunden                     die beiden in ihrer Wirkung auf den Arbeits-
werden leicht ansteigen. Es gibt jedoch einen                    markt gegensätzlichen Entwicklungen, das Sin-
wesentlichen Unterschied zwischen den zurück-                    ken des Erwerbspotenzials und die Steigerung
liegenden und den vorausliegenden Jahrzehn-                      der Arbeitsproduktivität, berücksichtigt und
ten. Während sich die Zahl der für Erwerbs-                      eingerechnet werden, steigt – bei einer gleichen
arbeit zur Verfügung stehenden Männer und                        Verteilung des Arbeitsvolumens auf alle Arbeit
Frauen in den letzten Jahrzehnten stetig erhöht                  suchenden Männer und Frauen – die durch-
hat, wird das Erwerbspersonenpotenzial aus                       schnittliche Arbeitszeit von 1300 Stunden (2000)
demographischen Gründen in Zukunft deut-                         nur auf 1420 im Jahre 2025 (vergleichbar einer
lich sinken. Anders als in der Vergangenheit                     32,6-Stundenwoche).
wird das Arbeitsvolumen also nicht mehr auf
eine steigende, sondern eine sinkende Zahl von                   Doch gibt es nicht jetzt schon einen erheb-
Erwerbspersonen aufzuteilen sein. Es ist aber                    lichen Fachkräftemangel, der sich demogra-
vorschnell, hieraus den Schluss zu ziehen, dass                  phisch bedingt noch verschärft? Das ist zumin-
nun ein Zwang zu Arbeitszeitverlängerungen                       dest seit Jahren in der Presse zu lesen und
entstünde und in Zukunft jeder 40 Stunden oder                   werden die Wirtschaftsverbände nicht müde
mehr in der Woche erwerbstätig sein müsste                       zu behaupten.17 Demgegenüber wird verkün-
oder könnte.                                                     det, zumindest kurzfristig sei kein Fachkräfte-

16 Datengrundlage: Destatis, Fuchs, J./Dörfler, K. (2005);       17 Bundesverband Deutscher Arbeitgeber, Arbeitgeber-
   Fuchs, J./Zika, G. (2010)                                        präsident Dieter Hundt: Brauchen schlüssiges Gesamt-
                                                                    konzept zur Fachkräftesicherung. Presseerklärung vom
                                                                    31. August 2010.

Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
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            BIP               Produktivität          Arbeitsvolumen          Erwerbs-                    durchschnittliche
            Index             pro Stunde             Index                   personen-                   Jahresarbeitszeit
            1991=100%         Index                  1991=100%               potential                   bei Umverteilung
                              1991=100%                                      Index                       Index

Abbildung 4: Das Erwerbspersonenpotenzial wird aus demographischen Gründen sinken. Doch selbst,
wenn das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bis 2025 um 41 Prozent steigt, verändert sich die erforderliche durch-
schnittliche Arbeitszeit bei der »Kurzen Vollzeit« in den kommenden Jahrzehnten nur wenig. Denn gleichzei-
tig steigt die Arbeitsproduktivität. Bei fairteilter Erwerbsarbeit stiege die wöchentliche Arbeitszeit lediglich
von 30 auf 32,6 Stunden. Darstellung von Andre Holtrup, Datengrundlage s.o.

mangel in Sicht,18 es handele sich vielmehr um               Freilich ist es gleichwohl denkbar, dass der Alte-
ein Märchen.19 In Anbetracht des komplexen                   rungsprozess unserer Gesellschaft irgendwann
Arbeitsmarktgeschehens sind zuverlässige Aus-                zu Knappheitsphänomenen führt. Doch auch
sagen kaum zu treffen. Gesichert ist nur, dass               in dieser Situation werden kürzere – und damit
Unternehmen sich für ihre Stellenausschreibun-               generationengerechte – Arbeitszeiten ein Teil
gen etwas einfallen lassen müssen, wenn die                  der Problemlösung sein. Schließlich wird es
Interessenten zwischen verschiedenen Ange-                   die Lage erfordern, dass die Menschen länger
boten wählen können. Insofern sind manche                    arbeiten und auch mehr Frauen einer Erwerbs-
Darstellungen der Arbeitgeberverbände zum                    tätigkeit nachgehen.20 Bei letzteren können die
Fachkräftemangel oder gar die Forderung nach                 Arbeitgeber aus dem Vollen schöpfen, wenn Sie
mehr Arbeitskräften aus dem Ausland dramati-                 gute zeitliche und infrastrukturelle Arbeitsbe-
sierend zu verstehen.                                        dingungen anbieten.

18 Brenke, K. (2010)                                         20 vgl.: ABC der Arbeitszeitverkürzung,
19 Heckmair, M.: Das Märchen vom Fachkräftemangel,              www.bremer-arbeitszeitinitiative.de
   FOCUS-Online (29.07.2010)

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A r b e i t , G l ü c k u n d N a c h h a l t i g ke i t                                                   13

    ThyssenKrupp Steel AG – Programm Zukunft

    Inwiefern man auf die demographische Entwicklung mit Arbeitszeitverkürzungen reagieren
    kann, hat das Stahlunternehmen ThyssenKrupp gezeigt. Dort lag in 2009 das Durchschnittsalter
    bei 44 Jahren und es war davon auszugehen, dass der Wert im Jahr 2020 bei 55 liegen würde.
    Dazu beigetragen hat auch, das jungen Menschen während des Beschäftigungsabbaus in der
    gesamten Branche im Rahmen von Sozialplänen eher gekündigt wurde als den älteren. Das
    »Programm Zukunft« sieht vor, dass erstens zwischen 2006 und 2013 die regelmäßige Wochen-
    arbeitszeit von 35 auf 34 Stunden verkürzt wird. Dies wird mit sechs freien Tagen und durch eine
    entsprechende Entgeltkürzung erreicht. Zweitens werden 500 zusätzliche Altersteilzeitverträge
    geschaffen, um den Know-how-Transfer zwischen den Generationen durch die Übernahme von
    Auszubildenden zu sichern. Und drittens werden für die gesamte Dauer der Vereinbarung zusätz-
    lich zu den bisherigen Kapazitäten 1000 Ausgebildete unbefristet übernommen.

    Die kürze Arbeitszeit ist der Kern des Programms. Sie trägt zur langfristigen Sicherung der Beschäf-
    tigung bei – vor allem für die Mitarbeiter, die vom drohenden Wegfall ihres Arbeitsplatzes betrof-
    fen sind. Ein Stunde Arbeitszeitverkürzung pro Mitarbeiter und Woche schafft 500 neue Stellen.*

    * Arbeitnehmerkammer Bremen (Hrsg.) (2008), S. 41 ff.

Strategien und Maßnahmen                                    der traditionelle Verteilungskonflikt zwischen
                                                            Unternehmen und Arbeitern ausgehebelt.
Gute Argumente sprechen also für eine Politik
der »fairteilten« Erwerbsarbeit. Die geeigneten             Nun wird sich die Revolution der Arbeitswelt
Strategien und Maßnahmen werden im Folgen-                  nicht von selbst ins Werk setzen. Auch werden
den zu erörtern sein.                                       einige Arbeitskreise, Tagungen u.ä. kaum aus-
                                                            reichen, um eine gesellschaftliche Debatte zu
Der Anstoß zur gesellschaftlichen Debatte                   entfachen. Dafür braucht es mehr, nämlich eine
Die Vision der kurzen Vollzeit löst zunächst Ver-           medial sichtbare Auseinandersetzung zwischen
wunderung aus. Könnte die Lösung der allgegen-              den politischen und gesellschaftlichen Ent-
wärtigen Arbeitslosenproblematik tatsächlich                scheidungsträgern. Zunächst wäre viel gewon-
so erschreckend einfach sein? Und warum ist                 nen, würden Deutschlands Spitzenfunktionäre
davon nichts in der öffentliche Debatte zu ver-             das Konzept erwähnen. Die Chefs der großen
nehmen, auch kaum von den Gewerkschaften,                   Gewerkschaften oder auch die Bundeskanzlerin
welche doch wohl die Speerspitze der Bewe-                  könnten beispielsweise bekennen: „Wenn wir
gung sein müssten? Der Verwunderung folgt                   mal ganz ehrlich sind, konnte alle Wachstums-,
bald die Skepsis, denn freilich gibt es zahlrei-            Wirtschafts- und Sozialpolitik das Problem der
che Einwände. Sie werden hier zu prüfen sein.               Arbeitslosigkeit nicht lösen. Im Gegenteil. Wir
Auch ist es wahr, dass Arbeitszeitverkürzung                sollten fortan darüber nachdenken, wie die zur
schon seit Jahrzehnten eine etablierte Strategie            Verfügung stehende Lohnarbeit besser verteilt
zur Reduzierung von Erwerbslosigkeit ist. Doch              werden kann.“ Würden sich dem auch noch die
stand sie stets in Verbindung mit der Forderung             Arbeitsministerin oder der Wirtschaftsminister
nach vollem Lohnausgleich. Gerade hier liegt der            anschließen, ließe sich die Wirkung vermut-
Hund begraben, weil die »Kurze Vollzeit für alle«           lich schon nach wenigen Wochen in den ers-
auf den Lohnausgleich verzichtet. Mithin wird               ten Betrieben feststellen. Arbeitnehmer, die für

Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
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                                                          Beschluss des DGB-Bundes-
                                                          kongresses zur Arbeitszeit-
                                                          verkürzung:

                                                       1. Arbeitszeitverkürzung (AZV) als das
                                                          entscheidende gewerkschaftliche Ins-
                                                          trument gegen Arbeitslosigkeit ist
                                                          unverzichtbar. Allein Wachstum wird,
                                                          wenn überhaupt sinnvoll, nie mehr so
                                                          viel Arbeit schaffen können, wie durch
                                                          die ständig steigende Produktivität
                                                          überflüssig gemacht wird. Dass Arbeits-
                                                          zeitverkürzung eine beschäftigungs-
                                                          sichernde Wirkung hat, zeigt derzeit die
                                                          allseits gelobte Kurzarbeit.
                                                          Gerade in der Krise ist Arbeitszeitver-
                                                          kürzung („Stunden abbauen statt Men-
Die Betreuung von Kindern bereitet nicht erst im          schen“) der große Gegenentwurf der
Rentenalter Freude. Die Kurze Vollzeit schafft Frei-      Gewerkschaften zum kapitalistischen
raum für Lebensglück mit Kindern.                         Katastrophenkurs, bei dem Überkapa-
Foto: www.pixelio.de, Detlev Beutler                      zitäten über wildwüchsigen und rück-
                                                          sichtslosen Stellenabbau, Werksschlie-
                                                          ßungen und Massenarbeitslosigkeit ab-
sich bereits seit Jahren eine kürzere Arbeitszeit         gebaut werden.
in Erwägung gezogen haben, würden sich nun
trauen ihren Chef danach zu fragen; und einige         2. Da AZV mit Lohnausgleich viele ums
Arbeitgeber würden womöglich erstmals nicht               Überleben kämpfende Firmen über-
über derartige Anfragen lachen.                           fordern würde, müssen staatliche För-
                                                          der- und Rahmenbedingungen die AZV
Vermutlich wird sich die »Kurze Vollzeit« nicht           unterstützen (wie derzeit auch bei der
einfach verordnen lassen. Doch was die Umwelt-            Kurzarbeit) und sollten ggf. branchen-
debatte über Jahrzehnte nicht vermochte, näm-             bezogene arbeitgeberfinanzierte Fonds
lich Verhaltensänderungen in unangenehmen                 gebildet werden, aus denen die AZV
Bereichen wie der Pkw-Nutzung zu bewirken,                zum Beispiel bei ökonomisch schwachen
könnte einem Gesellschaftsdiskurs über die                Unternehmen flankiert werden kann.
»Kurze Vollzeit« gelingen. Denn die Erkenntnis            Um entsprechende gesetzliche Rahmen-
wächst rasch: Ein »Verzicht« auf Arbeitszeit – und        bedingungen dem Gesetzgeber gegen-
seien es auch nur Überstunden – schafft einen             über durchzusetzen, müssen Gewerk-
Gewinn an frei verfügbarer Zeit. Ein freier Frei-         schaften sich dafür einsetzen, dass das
tag ist ein Gewinn an Lebensqualität. Während-            politische Streikrecht wieder als legitime
dessen lässt die Abschaffung des eigenen Autos            Kampfform anerkannt wird, und es wirk-
zunächst kaum Vorteile erkennen und scheint               sam einsetzen.
der Nutzen bestenfalls indirekt erfahrbar.
                                                       3. Ziel bleibt der volle Lohnausgleich. Ist
Freilich werden Appelle von wichtigen Personen            er auch bei engagiertem Kampf nicht
des öffentlichen Lebens nicht genügen. Ent-               durchsetzbar, darf tarifliche Arbeitszeit-
scheidend ist die Entwicklung von Konzepten               verkürzung nicht – wie bisher – völlig
und Umsetzung von Maßnahmen. Sie werden                   unterbleiben. Denn das führt zu Massen
im Folgenden diskutiert.

                                                                  Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
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                                                              Tarifvereinbarungen und Wahlarbeitsgesetz
          arbeitslosigkeit, die die Gewerkschaf-
                                                              In Deutschland wird die Länge der Arbeitszeit
          ten erst recht schwächt und am Ende
                                                              wesentlich durch Tarifverträge bestimmt, die
          zu viel größeren Einkommenseinbußen
                                                              zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerk-
          führt. Ein Aufgeben der Arbeitszeitver-
                                                              schaften abgeschlossen werden. Letztere sind
          kürzungspolitik ist auch gegenüber
                                                              sich durchaus bewusst, dass mit Arbeitszeitver-
          unseren erwerbslosen KollegInnen nicht
                                                              kürzungen für mehr Beschäftigung gesorgt wer-
          zu rechtfertigen. Deswegen: Arbeitszeit-
                                                              den kann. Warum sich Gewerkschaften dennoch
          verkürzung muss sein – bei größtmög-
                                                              kaum dazu äußern, ist durchaus verständlich. Sie
          lichem Lohnausgleich!
                                                              befürchten vor allem, dass sich die Mitglieder
                                                              nach jahrelangen Reallohneinbußen kaum für
   4. Die Ausgestaltung der Arbeitszeitverkür-
                                                              eine Arbeitszeit von 30 Stunden gewinnen lassen.
      zung muss einen persönlichen Zeitvorteil
                                                              Wichtiger scheint es, Einkommenserhöhungen
      und einen nachvollziehbaren Beschäf-
                                                              durchzusetzen. Es ist nun soweit, diese Scheu zu
      tigungseffekt gewährleisten. Dies wird
                                                              überwinden und betriebs- und branchenüber-
      unter den Bedingungen der kaum noch
                                                              greifende politische Forderungen zu entwickeln.
      regulierten Arbeitszeit eher über zusätz-
      liche freie Tage pro Jahr erreichbar sein,
                                                              Eine Politik der Arbeitszeitverkürzung wird dann
      die jeweils individuell einsetzbar und in
                                                              in Gewerkschaften, Unternehmen und poli-
      der Personalplanung zu berücksichti-
                                                              tisch breit unterstützt werden, wenn ihre posi-
      gen sind, als über eine Forderung nach
                                                              tiven Wirkungen deutlich gemacht und konkret
      Tages- oder Wochenarbeitszeitverkür-
                                                              erfahren werden können. Dies ist unmittelbar
      zung. Der Beschäftigungseffekt kann in
                                                              auch dann der Fall, wenn durch die Absenkung
      der Schaffung neuer Stellen oder, beson-
                                                              von Arbeitszeiten der eigene Arbeitsplatz oder
      ders in Krisenzeiten, im Verzicht auf Ent-
                                                              der von KollegInnen gesichert und ansonsten
      lassungen und Personalabbau bestehen.
                                                              drohende Entlassungen abgewendet werden
                                                              können. So etwa, wenn vier Beschäftigte jeweils
   5. Arbeitszeitverkürzung ist immer auch
                                                              ein Fünftel ihrer Arbeitszeit abgeben und eine
      ein gesellschaftspolitisches Thema. Es
                                                              fünfte, bislang arbeitslose Person, das frei wer-
      geht um Zeit für das Leben, für Familien-
                                                              dende Arbeitsvolumen übernimmt. 21
      aufgaben, für Bildung, fürs Gesundblei-
      ben oder für den früheren Ausstieg aus
                                                              Um diese positiven Potenziale der Arbeitsum-
      dem Arbeitsleben. Kürzere Arbeitszeiten
                                                              verteilung zu nutzen, kämen beispielsweise
      schaffen auch Spielräume, sich mehr
                                                              auch gesetzliche Arbeitszeitverkürzungen und
      gesellschaftlich zu engagieren – im
                                                              Höchstarbeitszeiten (wie etwa die 35-Stunden-
      Ehrenamt, in der Politik, bei den Gewerk-
                                                              Woche in Frankreich) in Frage. Eine wichtige Stell-
      schaften. Arbeitszeitverkürzung ist ein
                                                              schraube kann hierbei das Teilzeitgesetz sein. Seit
      Stück Gesellschaftsveränderung. Deshalb
                                                              2001 in Kraft, sieht es einen individuellen Rechts-
      ist sie nur durchsetzbar, wenn es gelingt,
                                                              anspruch vor, die Arbeitszeiten mit entsprechen-
      Arbeitszeitverkürzung zum Thema einer
                                                              den Einkommensminderungen in einem selbst
      breiten gesellschaftlichen Debatte zu
                                                              gewählten Umfang auf zum Beispiel 32, 28 oder
      machen und starke zivilgesellschaftliche
                                                              auch weniger Stunden pro Woche – oder eine
      Bündnisse zu schließen. *
                                                              entsprechende Jahresarbeitszeit – abzusenken.
   *     19. DGB-Bundeskongress Beschluss G 012: Stunden
                                                              Die Umsetzung dieses Gesetzes hat sich auf der
         abbauen statt Menschen: Beschäftigungswirksa-
         me Arbeitszeitverkürzung in: DGB-Bundeskongress
                                                              21 Aktuelle Modelle gelungener Arbeitszeitverkürzung
         (2010.G): Beschlossene Anträge, Sachgebiet G: Gute
         Arbeit, Berlin 2010, 2 S. AntragstellerInnen: DGB-      finden sich in Arbeitnehmerkammer Bremen. Es gab
         Bezirksvorstand Baden-Württemberg Beschluss des         einen Tarifvertrag zur Beschäftigungsförderung zwi-
         DGB-Kongresses: Angenommen als Material an den          schen der IG Metall und dem Arbeitgeberverband
         Bundesvorstand.                                         Gesamtmetall, der genau diesen Gedanken aufge-
                                                                 griffen und Umsetzungsmöglichkeiten gefördert hat –
                                                                 vgl. Mehlis / Voss (2003)
Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
16                                                                              I m p u l s e z u r Wa c h s t u m sWe n d e

einen Seite als praktikabel erwiesen.22 Auf der     sich der Vorteil, dass Fach- und Firmenwissen
anderen Seite stellte sich eine umfangreiche Nut-   und eine geschätzte Arbeitskraft erhalten blei-
zung dieser gesetzlich gesicherten Wahlmög-         ben. Nur gelegentlich sind Präsenzzeiten in der
lichkeit nicht ein. Denn die Regelung verhindert,   Firma erforderlich. Die Arbeit fern vom Firmen-
dass eine Verkürzung ohne die Zustimmung des        sitz ermöglicht es beispielsweise auch, dass sich
Arbeitgebers rückgängig gemacht werden kann.        zwei Angestellte mit einer Arbeitszeit von je
Es ist möglich, das gegenwärtige Teilzeitgesetz     30 Stunden einen Arbeitsplatz teilen, wenn sie
zu einem wirkungsvollen Wahlarbeitszeitgesetz       jeweils zehn Stunden im Heimbüro arbeiten.
weiterzuentwickeln, indem die Entscheidungs-        Auch Pendler freuen sich, wenn sie am Freitag
möglichkeiten jedes einzelnen über die Dauer        nicht in die City fahren müssen und diversen
der für Erwerbsarbeit aufgewendeten Zeit weiter     Schreibkram daheim erledigen können. Zu ver-
gestärkt werden. In dem Maße, in dem es Unter-      meiden ist allerdings, dass Berufs- und Privat-
nehmen und betrieblichen Interessenvertretun-       leben zu sehr ineinanderfließen und Telearbei-
gen gelingt, negative Folgen einer Inanspruch-      ter durch Allverfügbarkeit im Endeffekt mehr
nahme des Teilzeitgesetzes auszuschließen, wird     arbeiten.
es an Attraktivität gewinnen und stärker genutzt
werden.                                             Das scheint angesichts der gegenwärtigen Situa-
                                                    tion und anzunehmenden Entwicklung leichter
                                                    gesagt als getan. Denn in der Tendenz stehen
                                                    Mitarbeiter ihrem Unternehmen via Mail und
Besser heute als morgen engagieren                  Handy auch abends, am Wochenende und gar
sich Gewerkschaften, Betriebs- und                  im Urlaub zur Verfügung. Insbesondere Single-
                                                    Haushalte – in Köln sind es zum Beispiel über
Personalräte für das Konzept der
                                                    50 Prozent23 – sind gefährdet, zwischen Arbeit
Kurzen Vollzeit. Sie verleiht dem                   und Freizeit immer weniger zu unterscheiden.
Arbeitskampf einen idealistischen                   Hier sind insbesondere die Unternehmen in der
                                                    Pflicht, für eine ausgewogene »Work life Balance«
Kern*, indem das rein materielle
                                                    ihrer Mitarbeiter zu sorgen. Solches gereichte
Streben nach Einkommensmehrung                      allen Beteiligten zum Vorteil (siehe S. 31).
durch immaterielle Werte erweitert
wird.                                               Lebensarbeitszeitkonten
                                                    Kurze Vollzeit für alle zielt darauf, das nicht belie-
* vgl.: Loske, R. (2010), S. 27                     big erweiterbare Volumen an Erwerbsarbeit und
                                                    Arbeitseinkommen möglichst gerecht zu ver-
                                                    teilen.24 Dabei kann diese Verteilung über eine
                                                    Art Kontoführung sehr beweglich erfolgen. Wenn
Heimbüro                                            etwa Unternehmen bei Wirtschaftsaufschwün-
Durch den Siegeszug der Personalcomputer eta-       gen zeitweilig die Arbeitszeiten über diese neue
blierte sich mit dem Heimbüro eine neue und         Normalarbeitszeit anheben, kann diese Mehr-
flexible Arbeitsform. In Deutschland wird ein       arbeit in Zeitkonten angelegt werden, die sich
großer Teil der Arbeitszeit vor dem Computer        in Phasen einer geringeren Nachfrage mit freier
verbracht. Insbesondere junge Eltern nutzen         Zeit ausgleichen lassen. Auch wird es möglich
die neuen Arbeitsformen gern für den Wieder-        sein, individuelle Zeitwünsche besser als bislang
einstieg in das Berufsleben oder forthin zur        zu berücksichtigen. Wenn Kinder klein oder Alte
Betreuung der Kinder. Die Arbeitsleistung kann      pflegebedürftig sind, kann zeitweilig weniger, in
verteilt erbracht und Kinder können trotzdem        anderen Lebensphasen dafür mehr gearbeitet
versorgt werden. Für den Arbeitgeber ergibt         werden. Wenn eine längere Auszeit gewünscht

22 Wanger, S. (2004)                                23 www.koeln.de (3.11.2011)
                                                    24 vgl. auch Bontrup, H.J./Niggemeyer, L./Melz, J. (2007)

                                                                    Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
A r b e i t , G l ü c k u n d N a c h h a l t i g ke i t                                                17

Abbildung 5: Der Mindestlohn liegt in der Luft. Inzwischen plädierten auch CDU und CSU für einen Mindest-
lohn. In Anbetracht der überwältigenden Zustimmung in der Bevölkerung ist das kaum noch verwunderlich.

ist, um zu regenerieren, neue Orientierungen zu            nen, die 40 Stunden in der Woche arbeiten, die
finden oder zeitintensive persönliche Projekte             Sozialbehörden um Unterstützung bitten. Um
zu realisieren, können »Sabbatzeiten«25 aus dem            auch Beschäftigten im Niedriglohnsektor den
persönlichen Zeitkonto entnommen werden.                   Weg in die kurze Vollzeit zu ermöglichen, sind
Die Entscheidung über die »Einzahlungen« und               daher verschiedene finanzielle Förderungen
»Auszahlungen« vom Arbeitszeitkonto sollte                 und Mindeststandards sinnvoll. Erstens ist es an
allerdings beim Arbeitnehmer liegen. Sie hät-              der Zeit die sektoralen Mindestlohnregelungen
ten weniger von einem Arbeitszeitkonto, wenn               zu überwinden und einen einheitlichen Min-
allein der Chef über die Verwendung der ange-              destlohn für Alle einzuführen.
sparten Zeit verfügt.
                                                           Deutschland folgt damit zahlreichen weiteren
Zuschüsse und Mindestlohn                                  EU-Mitgliedstaaten, die seit langem erfolg-
Nicht alle in Deutschland gegenwärtig gezahl-              reich Mindestlöhne eingeführt haben. Sinnvoll
ten Löhne sind existenzsichernd. Denn selbst               erscheint ein nomineller, gesetzlicher Mindest-
innerhalb tariflicher Vergütungsstrukturen gibt            lohn. Dieser hat keinen Branchenbezug und
es Bereiche, in denen die Löhne so niedrig sind,           ergibt sich unabhängig von Tarifverträgen und
dass sie zum Leben nicht ausreichen. In vielen             nicht aus der Verallgemeinerung eines beste-
Fällen müssen sogar Friseurinnen, Floristen,               henden Tarifvertrages. Ein Mindestlohnrat
Arzthelferinnen, Wachmänner oder Verkäuferin-              könnte wesentlichen Einfluss auf die Mindest-
                                                           lohngestaltung ausüben; er wäre unabhängig
25 Siemers, B. (2005)                                      und wie in Großbritannien aus je drei Vertre-
                                                           tern der Wirtschaft, der Wissenschaft und der

Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
18                                                                                I m p u l s e z u r Wa c h s t u m sWe n d e

Gewerkschaften zusammengesetzt. Bei den
                                                       Schlaglicht: Mindestlohn entlastet
Britten wurde der flächendeckende Mindest-
                                                       öffentliche Kassen
lohn auf niedrigem Niveau eingeführt und dann
schrittweise erhöht. Derzeit liegt der Satz bei
                                                       Durch einen gesetzlichen Mindestlohn von
6,91 Euro die Stunde. Damit rangiert das Verei-
                                                       8,50 Euro erhielten fünf Millionen Beschäf-
nigte Königreich im europäischen Spitzenfeld.26
                                                       tigte höhere Löhne. In den Staatshaus-
Grundsätzlich wird ein Mindestlohn allein – so
                                                       halt würden so knapp 2,7 Milliarden Euro
er notwendigerweise moderat festgelegt wird –
                                                       zusätzliche     Einkommenssteuerbeiträge
nicht zur Armutsbekämpfung ausreichen. Doch
                                                       eingezahlt und ebenso viel in Renten-,
zumindest werden entwürdigende Dumping-
                                                       Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenver-
löhne vermieden und die Sozialkassen entlastet
                                                       sicherung. Überdies muss die Gemein-
(siehe Kasten).
                                                       schaft weniger Sozialtransfers überweisen.
                                                       Prognos geht davon aus, dass verringerte
Den Entscheidungsträgern sollte die Einführung
                                                       Ausgaben für ALG II, Wohngeld, Sozialhilfe
von Mindestlöhnen nicht schwer fallen, betrach-
                                                       und Kindergeldzuschlag die Staatskasse
tet man die letzten Meinungsumfragen. Danach
                                                       um rund 1,7 Milliarden Euro entlasten. Und
sprechen sich 70 Prozent der Bevölkerung für
                                                       da schließlich die Erwerbseinkommen um
einen gesetzlichen Mindestlohn aus. Sogar
                                                       ca. 14,5 Milliarden Euro wachsen, dürfte
unter Besserverdienenden und Selbstständigen
                                                       die Binnennachfrage ansteigen, wodurch
sind die Befürworter in der Mehrheit.
                                                       zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Die
                                                       Prognos-Expertise erwartet, dass 78 000
Zweitens ist den unteren Einkommensgruppen
                                                       neue Arbeitsplätze entstehen.*
eine Ausgleichskomponente für die Arbeits-
zeitverkürzung anzubieten, finanziert aus den          * Dube, A./Lester, T. W. / Reich, M. (2010): Minimum Wage
eingesparten Kosten der Erwerbslosigkeit. So           Effects Across State Borders: Estimates Using Contiguous
könnte z.B. einer Steuergutschrift oder nega-          Counties, in: The Review of Economics and Statistics, (No-
                                                       vember 2010); Ehren-traut, O. u.a. (2011): Fiskalische Effek-
tive Einkommensteuer dafür sorgen, dass die            te eines gesetzlichen Mindestlohns, Bericht im Auftrag der
Lohneinbußen bei kürzeren Arbeitszeiten ver-           Friedrich- Ebert-Stiftung, (April 2011)
gleichsweise gering ausfallen. das wäre evtl. der
Fall, wenn eine Arbeitszeitverkürzumg von 20
Prozent nur 10 Prozent Gehaltseinbuße mit sich
                                                    Widerstände und Mythen
bringt.
                                                    Gewiss ist die Revolution der Arbeitswelt kein
                                                    leichtes Unterfangen. Doch wer hätte gedacht,
Nicht alle, die sich eine Verkürzung                dass massive Arbeitszeitverkürzungen quasi
ihrer Arbeitszeiten wünschen, können                über Nacht für Millionen Realität werden wür-
                                                    den? Mit der Kurzarbeit haben Unternehmen
sich das derzeit auch leisten.
                                                    im großen Stil auf eine Krise – statt mit Entlas-
Um diesen Beschäftigten den Weg                     sungen – mit einer solidarischen Verteilung der
in die kurze Vollzeit zu ermöglichen,               verringerten Arbeitszeiten reagiert. Würden die
                                                    Beschäftigten noch heute so viel und intensiv
sind verschiedene finanzielle Förde-
                                                    arbeiten wie vor der Krise, dann wäre die Zahl der
rungen und Mindeststandards sinn-                   Arbeitslosenquote um gut zwei möglicherweise
voll.                                               gar um knapp drei Millionen gestiegen.27 Die-
                                                    ses »Beschäftigungswunder« belegt anschau-
                                                    lich das immense Lösungspotenzial der Kurzen
                                                    Vollzeit. Sie ist allerdings viel mehr als ein kurz-

26 DIE ZEIT, 3.11.2011 Nr. 45                       27 Herzog-Stein, A./Seifert, H. (2010)

                                                                      Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
A r b e i t , G l ü c k u n d N a c h h a l t i g ke i t                                                   19

                                                           Schlaglicht: Beschäftigungssicherung
„Verzicht für Kollegen oder Verzicht                       durch Arbeitszeitverkürzung
auf Kollegen – das ist die Frage“
                                                           Mit einer neunprozentigen Arbeitszeit-
Bernd Ulrich, Die Zeit 12.2.09
                                                           verkürzung konnte ein ebenso großer
                                                           Anteil der Beschäftigten der ThyssenKrupp
                                                           Fahrtreppen GmbH in Hamburg vor einer
                                                           betriebsbedingten Kündigung bewahrt
fristiger Reaktionsmechanismus auf Wirtschafts-            werden.
krisen. Auch die Zahl der Arbeitslosen kann
durch eine gerechte Verteilung der Lohnarbeit              ThyssenKrupp Fahrtreppenwerk in Ham-
tragfähig und verlässlich reduziert werden.                burg war in den letzten Jahren in eine wirt-
                                                           schaftlich kritische Lage geraten. Da die
Nun darf man sich nichts vormachen. Die Kurze              Marktanalysen eine kurz- bis mittelfristige
Vollzeit stellt persönliche Gewohnheiten und               Änderung nicht erkennen ließen, wurden
gesellschaftliche Konventionen in Frage. Es wird           auch Kapazitätsanpassungen zur wirt-
viele Einwände geben. Was hilft es beispiels-              schaftlichen Stabilisierung des Fahrtrep-
weise, wenn vier Bauingenieure ihre Arbeitszeit            penwerkes unumgänglich. Es drohten Ent-
reduzieren und damit eine neue Stelle schaf-               lassungen.
fen, deren qualifizierte Besetzung aus dem
Heer der Arbeitslosen jedoch kaum möglich ist.             Zunächst wurden zur Vermeidung betriebs-
Schlimmstenfalls führt die faire Teilung zu einem          bedingter Kündigungen Versetzungen
verstärkten Fachkräftemangel. Dieses Problem               innerhalb des Unternehmens, Angebot
stellt sich allerdings erst, wenn tatsächliche alle        von Teilzeitarbeitsverträgen nach betrieb-
Bauingenieure auc hüber 50 eine Stelle haben.              lichen Erfordernissen unter Beachtung der
                                                           Arbeitnehmerwünsche und unbezahlte
Gleichwohl kann es keinen Zweifel geben, dass              Freistellung für Urlaub oder Pflege bis zum
die Kurze Vollzeit mit einem umfangreichen                 31.7.2010 individuell vereinbart. Zur Redu-
Qualifizierungsprogramm verbunden sein wird,               zierung weiterer Kapazitätsanpassung
das bereits in der Grundschule und besser noch             wurde darüber hinaus vereinbart, dass
in den Kindergärten seinen Anfang nimmt. Men-              sich die tarifliche Wochenarbeitszeit für die
schen sind lernfähig. Eine Bildungsoffensive wird          Beschäftigten der ThyssenKrupp Fahrtrep-
schon heute von allen gesellschaftlichen Kräften           pen GmbH am Standort Hamburg unter
beschworen und als Schlüssel zur Überwindung               Anpassung der Entgelte (ohne Lohnaus-
der Arbeitslosigkeit gesehen. Bisher fehlen aber           gleich) auf 32 Wochenstunden verringert.
die Arbeitsplätze für die Teilnehmer an Qualifizie-        Zur Minderung der entstehenden monatli-
rungsmaßnahmen, die sich daher oftmals sinn-               chen Entgelteinbußen, können individuell
los »geparkt« fühlen. Erst wenn die vorhandene             Ausgleichszahlungen vereinbart werden,
Arbeit durch die 30-Stunden-Woche auf alle ver-            die mit den tariflichen Jahresleistungen
teilt wird, kann sich auch Qualifizierung für alle         (Urlaubs und Weihnachtsgeld) verrechnet
auszahlen. Der Bund, die Länder, Kommunen,                 werden.
Unternehmen und Gewerkschaften werden
hier Zeichen setzen und die Möglichkeiten für              Durch diese Arbeitszeitverkürzung werden
»Lebenslanges Lernen« verbessern. Bei vielen               33 von insgesamt 371 Kolleginnen und Kol-
sind der Wille und die Bereitschaft vorhanden,             legen vor einer betriebsbedingten Kündi-
sich bei der eigenen Weiterbildung zu engagie-             gung bewahrt.
ren; oft fehlt es an den finanziellen Möglichkei-
ten. Eine zukunftsgerichtete Arbeitspolitik wird
sie schaffen.

Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
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Führungskräfte müssen Vollzeit arbeiten
Ein weiteres Gegenargument zum Konzept der
Kurzen Vollzeit lautet: „Das geht aber nicht für
Führungskräfte“. Dieser Einwand mag früher ein-
mal seine Berechtigung gehabt haben. Heute
wird jedoch in hoch arbeitsteiligen Organisati-
onen gearbeitet. Jede Stelle lässt sich prinzipi-
ell für die Kurze Vollzeit zuschneiden. Deutsche
Unternehmen wie auch die öffentliche Verwal-
tung belegen mit eindrucksvoller Regelmäßig-
keit, dass Verantwortungsbereiche innerhalb
von Wochen neu zugeschnitten werden können.
Es wird Outgesourced, Eingesourced, Abteilun-
gen werden zusammengelegt oder aufgelöst
                                                      Hektik und Stress im Arbeitsalltag ruinieren die
und aufgeteilt. Stets werden Führungskräfte           körperliche und seelische Gesundheit. Arbeitszeit-
mit neuen Verantwortlichkeiten und Heraus-            verkürzungen schaffen einen Gewinn an Lebens-
forderungen konfrontiert. Auch die Repräsen-          qualität.        Foto: www.fotolia.com, fotodesign-jegg.de
tationsaufgaben in Politik und Verwaltung sind
arbeitsteilig organisiert. Nicht überall tritt etwa
ein Oberbürgermeister selbst in Erscheinung,
sondern wird von der 2. Bürgermeisterin vertre-       banker – kultivieren ein Arbeitsethos, in dem
ten. Die Kurze Vollzeit hört nicht bei Führungs-      freie Tage und früher Feierabend nicht vorgese-
kräften auf, sondern sollte dort ihren Anfang         hen sind.
nehmen. Sie scheitert allenfalls an der kulturel-
len Borniertheit der Männerwelt.                      Vier Jahre lang experimentierte die Boston Con-
                                                      sulting Group mit „geplanten Auszeiten“. Damit
                                                      sind Zeitspannen gemeint, die sich die Berater
                                                      freinehmen mussten und zwar nicht in Phasen
Die Kurze Vollzeit hört nicht bei                     mit geringem Arbeitsanfall, sondern zusätzlich.
Führungskräften auf, sondern sollte                   Zu Beginn von Projekten wurden die Auszei-
                                                      ten – freie Tage oder Abende – festgelegt. Diese
dort ihren Anfang nehmen. Sie schei-
                                                      sollten sich die Mitarbeiter vollkommen arbeits-
tert allenfalls an der kulturellen                    frei halten – sie durften also weder ihre E-Mails
Borniertheit der Männerwelt.                          abrufen noch ihren Anrufbeantworter abhören.
                                                      Das Konzept war vielen Beratern so fremd, dass
                                                      sie regelrecht zu den Auszeiten »gezwungen«
                                                      werden mussten. Notwendig war dafür die volle
Dass die Kurze Vollzeit eine realisierbare Vision     Unterstützung des Unternehmenschefs.
ist, haben ausgerechnet Unternehmensberater
in einem mehrjährigen Modellprojekt bewiesen.         Kaum war die kollektive Überzeugung, dass alle
Gerade Berater sind Sklaven ihres Blackberrys.        Mitarbeiter ständig verfügbar sein müssen, ein-
Sie schuften häufig 60 Stunden und mehr in            mal infrage gestellt, zeigte sich sehr rasch, dass
der Woche und sind 24/7 erreichbar. Wer Black-        die Berater sich nicht nur regelmäßig freineh-
berry-Sklaven zum Abendessen einlädt sollte           men können, sondern dass auch die Qualität
sich das gut überlegen. Die permanente Ablen-         ihrer Arbeit davon profitiert. Die Experimente
kung durch die innovative Gerätschaft in Form         mit geplanten Auszeiten stießen einen offene-
von Simsen, Mailen und Telefonieren kann die          ren Dialog unter den Teamkollegen an, was an
gesamte Tischgesellschaft aufreiben und den           sich schon ein Vorteil ist. Aber nicht nur das: Die
Abend verderben. Unternehmensberater – wie            verbesserte Kommunikation setzte auch effizi-
auch etwa Wirtschaftsprüfer und Investment-           entere und effektivere Arbeitsprozesse in Gang.

                                                                     Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH
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