Sonnweid das Heft Nr. 13 - Zu früh!

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Sonnweid das Heft Nr. 13 - Zu früh!
Zeitschrif t der Sonnweid AG
w w w. sonnweid .ch
April 2020

Sonnweid
das Heft
Nr. 13

Zu früh!
Sonnweid das Heft Nr. 13 - Zu früh!
2

IMPRESSUM
H E R AU SG E B E R
S o n nwe i d AG
AU FL AG E
10 2 0 0 E xe m p l a re
E r s c h e i nt z we i m a l j ä h rl i c h
E I NZE LVE R K AU F
2 . – CH F
KO NTAK T
S o n nwe i d,
Re d a k ti o n D a s H ef t
B a c hte l s tra s s e 6 8
8 6 2 0 Wetzi ko n
w w w. s o n nwe i d . c h
d a s h ef t @ s o n nwe i d . c h
AD R ES SÄN D E RU N G E N
d a s h ef t @ s o n nwe i d . c h
R E DAK TI O N
M i c h a e l S c h m i e d e r (m s)
M a r ti n M ü h l e g g (m m)
Petra K n e c htl i ( p k )
G e rd Ke h re i n ( g k )
G ESTALT U N G
B o n b o n ( b o n b o n . l i)
D RU CK
D r u c k-Te a m AG
(d r u c k te a m . c h)
FOTOGR AFI E
Vé r o n i q u e H o e g g e r
(v e r. c h )
I L LU S T R AT I O N
Julia Marti
(juliamarti.com)
Sonnweid das Heft Nr. 13 - Zu früh!
3       Sonnweid, das Heft
        Nr. 13

EDITORIAL                                                                          INHALT
                                                                                   4

Mitten im L
          ­ eben                                                                   LEITARTIKEL
                                                                                   «Wer in keine
                                                                                   Schublade
    Liebe      Leserin,                    In der Sonnweid sind wir uns bewusst,
    ­­­
        lieber Leser                       dass die Angehörigen von jungen         passt, braucht
                                           Menschen mit Demenz eine spezielle      eine Schicksals­
Fabienne Basig erhielt mit 44 die          Begleitung brauchen. Wir vermitteln     gemeinschaft»
Diagnose Demenz. Ihre Tochter war          ihnen Angebote wie psychologische       Petra Rösler
damals fünf Jahre alt. Auf Fabiennes       Begleitung, Selbsthilfegruppen und
                                                                                   7
Ehemann Stefan warteten n   ­ eben der     Finanzberatungen. Doch hier sind uns
                                                                                   MIT 42 DEMENT
Betreuung und der Arbeit als Produkt-      Grenzen gesetzt, weil es nicht genug
manager viele Aufgaben: ­Anträge auf       spezifische Angebote gibt. Es braucht   Da stand
Unterstützung stellen, eine Einzelfir-     mehr Räume, wo sich die Betroffenen     ­Fabienne einfach
ma gründen (nur so konnte er eine          und/oder ihre Angehörigen austau-
Betreuerin anstellen), Entlastungen        schen können. Es braucht Arbeits-
                                                                                    auf und ging…
                                                                                   Mar tin Mühlegg
ausfindig machen (die es für junge         stellen für Menschen mit kognitiven
Menschen kaum gibt) usw.                   Defiziten. Und vor allem braucht es     10
    Beat Karstein (61) lebt seit drei      eine bessere Koordination. Der Fall     UMFR AGE
Jahren mit der Diagnose Demenz.            von Fabienne und Stefan Basig zeigt     11
Ausser seinen engsten Familienmit-         auf, wie verzettelt und unübersicht-    DAS RICHTIGE TUN
gliedern und Freunden erzählt er nie-      lich das «Demenz-System» ist.           «Ich habe
mandem von seiner Krankheit. Wer es            Ich wünsche mir mehr und bes-
wisse, rede nicht mehr mit ihm, sagt       ser koordinierte Angebote für junge     mich nie hilflos
er. Er habe ein verfrühtes Todesurteil     Menschen mit Demenz und ihre An-        gefühlt»
erhalten und werde jetzt für unmün-        gehörigen. Und Ihnen wünsche ich        Michael Schmieder
dig gehalten.                              eine gute und inspirierende Lektüre     14
    Jürgen Ehlers verlor mit 55 sei-       unseres neuen Heftes!                   TR AUER
nen geliebten Job, weil er vergesslich
wurde und sich merkwürdig verhielt.           Petra Knechtli
                                                                                   «Ich werde
Mit der Arbeit kam ihm ein wichtiges          Leiterin Sonnweid das Heim           für ­unmündig
Stück seiner Identität abhanden,                                                   gehalten»
und er fiel in eine Depression. Ehlers                                             Uschi Entenmann
konnte sich nicht mehr nützlich ma-
                                                                                   16
chen, und das Gefüge seiner Vorzei-                                                YOUNG CARERS
gefamilie mit zwei Töchtern brach
auseinander.                                                                       Kleine Menschen
    Die Fallbeispiele im neuen Heft                                                mit (zu) grossen
zeigen auf, wie tragisch es ist, wenn                                              Aufgaben
jemand «zu früh» an einer Demenz er-                                               Mar tin Mühlegg
krankt. Mich machen diese Schick-
sale sehr betroffen. Ich stelle mir vor,                                           18
                                                                                   HER AUSFORDERUNG ALLTAG
was das für meine Familie bedeuten
würde. Menschen werden aus ihrem                                                   «Früher waren
Leben gerissen, sie «funktionieren»                                                wir eine lustige
nicht mehr in der Familie, im Beruf
und im sozialen Umfeld.
                                                                                   Familie»
                                                                                   Franziska Wolffheim
                                                                                   21
                                                                                   ALZEIHMER .CH
                                                                                   22
                                                                                   KULTURTIPP
                                                                                   23
                                                                                   SONNWEID AK TUELL
                                                                                   24
                                                                                   EPILOG
                                                                                   CAMPUS AK TUELL
Sonnweid das Heft Nr. 13 - Zu früh!
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LEITARTIKEL

Wer in keine
Schu­blade passt,
braucht eine
Schicksals­
gemeinschaft
Menschen mit Demenz fallen oft aus                                   die richtige Diagnose gestellt wird.
ihren Rollen und sozialen Zusammen-                                  Der Weg dahin ist von Zufällen und
hängen. Jüngere Betroffene passen                                    dem Zugang zu Experten (Stichwort
zusätzlich nicht in die Schubladen,                                  «Stadt/Land-Gefälle») geprägt.
die für Alzheimer und Co. eingerich-                                     Die «Alters-Schublade» gibt es
tet worden sind. Die Einzelschicksale                                auch bei vielen Leistungen in Betreu-
werden durch das Fehlen passender                                    ung und Versorgung. Die Alters­gren­ze
Angebote noch härter. Neue Allian-                                   dafür liegt oft bei 65 Jahren. In den
zen können stärken und entlasten.                                    meisten europäischen Ländern gilt
Von Petra Rösler                                                     das als Beginn des ­Renten­alters – ­
                                                                     sozusagen das «vorgesehene» Start-
Demenz, so die gängige Ansicht, ist                                  Datum für Alterserkrankungen. In
ein Phänomen des hohen Alters. Für                                   Schottland etwa wurde erst durch
etwa fünf Prozent der Demenzbetrof-                                  eine jahrelange Kampagne von
fenen stimmt das nicht: Sie sind un-                                 Amanda Kopel, der Ehefrau eines
ter 65 und haben eine «Alzheimer-                                    Betroffenen von Frühdemenz, die-
Erkrankung mit frühem Beginn», eine                                  ses K
                                                                         ­ riterium für kostenlose Betreu-
Lewy-Body- oder einer Frontotem-                                     ungsleistungen abgeschafft und der
porale Demenz. Gemeinsam ist die-                                    ­Zugang nach Bedarf geregelt.
sen an sich recht unterschiedlichen
                                                                        Schublade «Arbeit»
Formen, dass der Weg zur D ­ iagnose
lang ist. «Gerade bei gestressten                                    Mit der Demenzdiagnose geht für
Menschen im mittleren Lebensalter                                    junge Betroffene fast automatisch
maskiert sich die Demenz oft», be-                                   die Kündigung ihres Arbeitsverhält-
richtet ein Neurologe. Meist wird in                                 nisses einher. Wer «dement» ist, so
Richtung Burnout untersucht und be-                                  die Logik dahinter, vergisst ja immer
handelt. «Wenn beispielsweise räum-                                  mehr und kann nicht mehr arbeiten.
liche Desorientierung auftritt, haben                                Diese Argumentation ist vordergrün-
wir einen ersten Hinweis, dass etwas                                 dig richtig: «Erst war ich richtig froh
anderes dahintersteckt.»                                             aufzuhören», so ein rund 40-Jähriger,
                                                                     der in einem technischen Beruf tätig
      Schublade «Alter»
                                                                     war. «Es hat mich ja gestresst, dass
Junge Menschen beginnen früher                                       ich komplexe Aufgaben nicht mehr
mit dem Diagnoseprozess, weil zum                                    erledigen konnte.»
Beispiel bei der Arbeit sehr klar                                        Auf die erste Erleichterung folgt
wird, dass «etwas nicht stimmt».                                     oft ein trauriges Erwachen. Durch
Aber es dauert bis zu vier Jahren, bis                               Behandlung und Begleitung wird
                                                                     wieder Energie frei und es zeigt sich,
Petra Rö s l e r (M ö d l i n g ) i s t B i l d u n g s m a ­n a ­
g e ri n m it d e n S c hwe rp u n k te n D e m e nz u n d           dass noch viele Ressourcen vorhan-
Palliative G eriatrie . Sie koordinier t ein en                      den sind. Wer aber erstmal im Ruhe-
d e m e nz fre u n d l i c h e n B ezi rk i n Wi e n , i s t
E x p e r ti n f ü r Fre iwi l l i g e n a rb e it u n d fre i e
                                                                     stand gelandet ist, findet nicht mehr
M ita rb e ite ri n d e r Pl at t fo rm a lzh e i m e r. c h .       zurück – bestenfalls, wie im Beispiel
Sonnweid das Heft Nr. 13 - Zu früh!
5   Sonnweid, das Heft
    Nr. 13

                         des jungen Mannes, in den zweiten –
                         geschützten – Arbeitsmarkt. Die bis-
                         her wichtigen Fachkompetenzen las-
                         sen sich in der Regel nicht mehr ein-
                         bringen. Das erleben Betroffene als
                         Kränkung. Dazu kommen die finan-
                         ziellen Verluste, die existenzgefähr-
                         dend werden können – vor allem,
                         wenn die Betreuung auch die Berufs-
                         tätigkeit der Partnerin oder des Part-
                         ners einschränkt.
                            Schublade «Familie»
                         Die Familiensituation von jungen
                         Menschen mit Demenz unterschei-
                         det sich von älteren Betroffenen in
                         mehreren Aspekten. Ihre Partner
                         sind meist berufstätig, die Kinder
                         klein oder jung, eventuell leben auch
                         noch Eltern. Zu den erwähnten finan-
                         ziellen Problemen kommen psychi-
                         sche B­ elastungen, für die herkömm-
                         liche Beratungssettings und Ratgeber
                         wenig anzubieten haben. So gibt es
                         kaum strukturierte Hilfestellung für
                         Kinder, mit den Veränderungen des
                         Elternteils umzugehen. Bisweilen lässt
                         sich die Situation auch gar nicht mehr
                         im Familiensetting bewältigen. Ein
                         Psychologe erzählt etwa von einem
                         Vater, der in ein Pflegeheim ziehen
                         musste, weil sein Verhalten bei der
                         sehr jungen Tochter zu grosse Angst
                         auslöste.
                            Schublade «betreuen
                            und wohnen»
                         Wohin können sich junge Betroffene
                         wenden, um eine Tagesstruktur oder
                         gar betreute Wohnmöglichkeiten zu
                         finden? Hier ist die Luft dünn, die An-
                         gebote sind fast ausschliesslich auf
                         sehr alte Menschen mit hohem Pflege-
                         bedarf ausgerichtet. Sowohl bei den
                         Menschen mit Demenz selbst als
                         auch bei ihren Angehörigen ist die Ak-
                         zeptanz für solche Einrichtungen ver-
                         ständlicherweise gering. «Dort gehört
                         mein Mann noch nicht hin», heisst es
                         dann treffend.
                             Spezielle Tageszentren und Wohn­­
                         möglichkeiten sind aber rar. In Tirol
                         entsteht derzeit ein Tageszentrum,
                         dessen Angebote für und vor allem
                         zusammen mit Menschen mit ­Demenz
                         entwickelt werden, die noch ­viele Res-
                         sourcen haben und körperlich aktiv
                         sind. Werkstätten für Handwerk und
                         Kunst soll es dort ebenso geben wie
                         Gartenarbeit und Beschäftigung mit
                         modernen Medien. Auch in Zürich
Sonnweid das Heft Nr. 13 - Zu früh!
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existiert ein solches Angebot. In Bel-    zu schaffen ist, wie kann es also gelin-   wenn es um das Thema Arbeit geht,
gien wiederum wird seit Kurzem das        gen? Am besten in Schicksalsgemein-        könnten Menschen mit Frühdemenz
Wohnen im stationären Bereich auch        schaften mit anderen in der gleichen       vom Behindertenstatus gut profitie-
vor dem 65. Lebensjahr durch eine         oder einer ähnlichen Situation.            ren. Auch in anderen Lebensberei-
Förderung erleichtert. Das Problem            Die ermutigendsten Beispiele für       chen und bei Finanzierungsthemen
der so unterschiedlichen Bedürfnis­       solche Gemeinschaft sind Selbst­           liessen sich Allianzen denken. Ganz
lagen im Heim über mehr als eine          hilfe­gruppen für Menschen mit Früh-       sicherlich gibt es hier noch einiges un-
­Generation hinweg ist mit der Finan-     demenz und/oder in frühen Phasen.          genutztes Potenzial, auch in den gut
 zierung allein aber noch nicht gelöst.   «Das Gefühl ‚Ich bin der Einzige mit       entwickelten Ansätzen des Behin-
                                          so etwas‘ ist weggefallen», sagt etwa      dertenbereichs für persönliche As-
   Schublade «Lebensende»
                                          ein Nutzer der Wiener PROMENZ-             sistenz, Ressourcenorientierung und
Eine Demenzdiagnose, so sagt man          Gruppe. Und eine weitere Nutzerin          Alltagsgestaltung. Die Berührungs-
gern, ist wichtig, damit man für die      geniesst die Gruppe als «eine ­Stelle,     ängste scheinen aber noch gross.
verbleibende und vermutlich kurze         wo es sozusagen normal ist». In Öster-     Vielleicht nicht verwunderlich, wenn
Zeit gut vorsorgen kann. «Vor fast        reich gibt es solche und ähnliche An-      zwei stigmatisierte Bereiche aufein-
15 Jahren hat man meiner Mutter           gebote derzeit an drei Orten – jeweils     andertreffen – die Angst vor einer Po-
nach der Diagnose gesagt, sie solle       im Nahbereich von Grossstädten.            tenzierung lässt sich nachvollziehen.
rasch noch ihre Angelegenheiten re-                                                  Der Gesetzgeber und die Verwaltung
                                             Inseln der Gemeinsamkeit
geln», erzählt die Tochter von A­ gnes                                               wiederum fürchten sich vor unabseh-
­Houston aus Schottland. Agnes ist        In der Schweiz bietet Mosaik Selbst-       baren Mehrkosten.
 heute nach wie vor in der Selbstver-     hilfe an, in Deutschland gibt es meh-          Andere Bereiche, an denen man
 tretung aktiv, hält in ganz Europa       rere Gruppen mit und ohne Einbin-          andocken könnte, sind Angebote für
 Vorträge und schreibt Ratgeber. Für      dung der Partnerinnen und Partner.         Menschen mit psychischen Erkran-
 den Alltag mit ihrer Demenz hat man      Bei der Finanzierung zeigt sich in         kungen – etwa bei Unterstützungs-
 ihr wenig Konkretes angeboten, sagt      Österreich doch rasch wieder eine          und Ferienangeboten für Kinder (die
 sie. Obwohl es heute in Schottland       Schublade: Unterstützte Gruppen            es in Belgien bereits im Kontext Früh-
 für junge Menschen mit Demenz eine       gelten nicht als Selbsthilfe und sind      demenz gibt) oder bei der Wieder-
 persönliche Beratung durch «Link         von Unterstützungen abgeschnitten.         eingliederung in den Arbeitsprozess.
 Worker» gibt, ist auch ihre ­Tätigkeit   Bewährt hat sich auch Peer-to-Peer-        Auch im Hospizbereich lässt sich
 theoretisch mit dem Erreichen des        Beratung im 1:1-Setting. Nicht nur         Wertvolles für junge Familien ­finden,
 65. Lebensjahrs zu Ende (­praktisch      die innerliche Bewältigung der neu-        zum Beispiel bei der Unterstützung in
 bleiben sie mit ihren Klienten in        en Lebenssituation, sondern auch           finanziellen Belangen durch die So­
 Kontakt).                                ganz konkrete Strategien und Tipps         zialarbeit und bei der Begleitung von
     In den meisten anderen Ländern       für den Alltag werden hier auf Augen-      Kindern und Jugendlichen in Trauer­-
 fehlen solche speziellen Begleitan-      höhe vermittelt.                           prozessen.
 gebote. Dass Personen mit Demenz             Von der Selbsthilfe führt der Weg
                                                                                        Ziel Schicksals­-
 noch arbeiten, reisen, Sport trei-       manchmal auch zur Selbstvertretung.
                                                                                        gemeinschaft aller
 ben, kurz: aktiv und produktiv sein      In Grossbritannien werden Menschen
 wollen, ist sozusagen nicht «vor-        auf diesem Weg unterstützt, etwa           Es gibt noch viel zu tun – aber doch
 gesehen». Schulungen für Pflege-         durch Seminare und Assistenz für           nur wenige Betroffene mit Frühde-
 und Betreuungspersonen legen den         Reisen. Wenn Menschen mit Demenz           menz. Zahlt sich das überhaupt aus?
 Schwerpunkt auf späte Stadien der        über ihr Leben sprechen, fördert das       Die Gegenfrage macht die Antwort
 Demenz, auf Abschiednehmen und           nicht nur ihr Selbstwertgefühl – sie       eindeutig: Macht es Sinn, am Arbeits-
 Palliativversorgung.                     geben wichtige Impulse und Einbli-         platz auf Wissen und Erfahrung ganz
                                          cke zur Entwicklung neuer Angebote,        zu verzichten, statt eine flexible Lö-
   Schicksalsgemeinschaften
                                          durchaus auch für ältere Menschen          sung zu finden? Macht es Sinn, auf die
   jenseits des Gewohnten
                                          mit Demenz, wie etwa Agnes Houston         kreativen Beiträge aus Selbsthilfe­
Wer Lösungen ausserhalb dieser            mit ihren Ratgebern. Auch die For-         gruppen für das gesamte Demenzfeld
Schubladen braucht, muss für sich         schung – in Wien zuletzt zu öffentli-      zu verzichten? Akzeptieren wir, dass
selbst oder seine Angehörigen ak-         chem Verkehr und Mobilität – braucht       ganze Familien ohne Verschulden
tiv werden. Um Einzellösungen für         die Stimme der Betroffenen, um den         in finanziell ausweglose Situationen
die jeweiligen Bedürfnisse zu finden,     Kontakt zur Realität zu halten.            geraten? Passt es zu einer modernen
braucht es aber Kraft, Mut und gute                                                  Gesellschaft, junge Menschen in Be-
                                             Neue Allianzen
Informationen. Wenige bringen wie                                                    treuungseinrichtungen für hochaltri-
Amanda Kopel die Energie für einen        «Nichts über uns ohne uns» – diesen        ge, multimorbide Menschen zu ste-
jahrelangen Kampf gegen das System        Slogan von Menschen mit Behinde-           cken? Oder verstehen wir jede Person
auf. Die Zuschreibungen und die Stig-     rung haben Menschen mit Demenz,            mit früher Demenz als Aufruf, immer
matisierung sind mächtig und erzeu-       etwa Helga Rohra, bereits für sich         weiter an einer solidarischen Gesell-
gen Ohnmacht. «Du kommst in die           reklamiert. Damit ist aber auch eine       schaft zu arbeiten und für einen gros-
Alzheimer-Kiste und aus ist es», sagt     Schicksalsgemeinschaft benannt,            sen Gewinn an Menschlichkeit kleine
ein Betroffener. Wenn es allein nicht     die noch wenig gepflegt wird. Gerade       finanzielle Beträge zu investieren?
Sonnweid das Heft Nr. 13 - Zu früh!
7      Sonnweid, das Heft
       Nr. 13

JUNGE FAMILIE

Da stand ­Fabienne
­einfach auf und ging…
Stefan und Fabienne schrieben eine          Freund, der im Hotel «Julier ­Palace»      nicht. Er schlug ein MRI und eine Un-
schöne Liebesgeschichte – mit ro-           in Silvaplana arbeitete. An der Re-        tersuchung in der Memory-Klinik
mantischen Treffen im Engadin, einem        zeption stand eine junge Frau in           Chur vor. Demenz Typ Alzheimer,
Traumurlaub auf Bali, einer gesunden      ­einem Mickey-Mouse-T-Shirt. ­Stefan         kombiniert mit einer Frontotempo-
Tochter und einem eigenen Haus. Das         war Single und dachte: «Die ist es!».      ralen Demenz, lautete die Diagnose
Glück war ihnen wohlgesinnt – bis           Doch Fabienne ging auf seine Avan-         im Januar 2014. An so etwas hatte bis
Fabienne ein Durcheinander mit dem          cen nicht ein und beachtete ihn kaum.      da niemand gedacht. Fabienne war
Kalender bekam und beim Küchen-             Ein Jahr später besuchte Stefan ein-       ja erst 44.
einrichter einfach davonlief.               mal mehr seinen Freund in Silva­               «Es war ein riesen Hammer», sagt
Von Martin Mühlegg                          plana. Fabienne schickte ihm eine          Stefan Basig. «Die Gedanken kamen
                                            SMS und schlug vor, er solle doch zu       von oben und unten. Es war ein Wech-
Stefan hatte gerade eine Stelle als         ihr kommen.                                selbad der Gefühle, weil es auch eine
Produktmanager in der Industrie an-              Stefan ging hin. Die beiden setz-     gewisse Erleichterung brachte. Wir
getreten. Fabienne hatte schon frü-         ten sich auf die Terrasse, tranken zwei    wussten jetzt, was los war, es gab kei-
her ihren Job als Geschäftsführerin         Flaschen Wein und redeten bis in den       nen Stress mehr um das Verstecken
eines Gastro- und Kulturbetriebes zu-       Morgen hinein. Bald fand F    ­ abienne    der Symptome.»
gunsten der Betreuung der vierjähri-        am Walensee eine Arbeit und zog                Stefan hat einen Abschluss als In-
gen Tochter aufgegeben. Die Familie         ­hinunter nach Chur zu Stefan. 2009,       genieur in Systemtechnik. Er hat diese
plante den Bau eines eigenen Hau-            nach einem Traumurlaub auf Bali,          Widerstandskraft gegen Schicksals-
ses in Stefans Heimatdorf Zizers. Das        kam die Tochter zur Welt. Alles bes-      schläge, die man Resilienz nennt.
Glück war der Familie Basig wohlge-          tens, die Mutter würde ein paar Jahre     Wie die meisten Ingenieure ist er ein
sinnt – bis während eines Termins            zu Hause nach dem Rechten schauen         Pragmatiker: Kurz nach der Diagnose
beim Kücheneinrichter dunkle Wol-            und dann in Teilzeit arbeiten.            recherchierte, organisierte und dis-
ken aufzogen.                                    Im Alter von 42 Jahren zeigte         kutierte er viel. Er erhielt wertvolle
    Das Paar besichtigte in der Aus-       ­Fabienne erste Symptome. Sie ver-          Unterstützung von der Demenz-Fach-
stellung allerlei Küchen. Diskutierte        gass Termine, beim Einkaufen offen-       frau Margrit Dobler. Zudem suchte er
über Kochherde, Spülbecken und Ab-           barten sich ungewohnte Schwächen          die Unterstützung eines Psychologen.
waschmaschinen, über Armaturen,              im Kopfrechnen. Sie vergass die Sit-      Etliche Fragen waren zu klären: Wie
Schubladen und Farben. Anschlies-            zung beim Bodenleger in Ems oder          sollen wir damit umgehen? Was müs-
send besprachen sie mit der Archi-           Dinge, die besprochen worden waren.       sen wir für die Tochter tun, wie sol-
tektin und dem Kücheneinrichter ihre         Sagte: «Ihr könnt am 18. kommen»,         len wir es ihr sagen? Wem sollen wir
Eindrücke und Wünsche.                       wenn schon der 23. war. Beim Umzug        es sonst noch sagen? Wie verläuft so
    Da stand Fabienne einfach auf            ins neue Haus merkten auch ­Freunde       eine Krankheit?
und ging weg. Ohne etwas zu sagen.           und Verwandte, dass mit Fabienne
                                                                                          «Nicht verrückt,
Das war im Jahr 2013.                        etwas nicht stimmte. «Du, was ist mit
                                                                                          sondern krank»
    Nach einigen Minuten machte              ihr los?», fragten sie Stefan. «Sie ist
sich Stefan auf die Suche nach seiner        so anders, so langsam, so merkwür-        Stefan und Fabienne entschieden
Frau. Er fand sie in einer Küche mit         dig…» Das war im Herbst 2013.             sich für einen offenen Umgang. Sie
Rüstinsel und olivbraunen Schränken.                                                   informierten Familie, Freunde, und
                                             «Jetzt gehst du hin!»
«Die nehmen wir», sagte sie. Stefan                                                    Nachbarn. Er schrieb einen Brief und
war einverstanden – und irritiert, weil   Die ersten Wochen im neuen Haus              schickte ihn an die Eltern der ­Kinder,
sie ursprünglich andere Vorstellungen     waren noch schön, doch Fabienne              die mit seiner Tochter den Kinder-
gehabt hatten. «Wir entschieden im-       hatte zunehmend ein Durcheinander            garten besuchten. «Verheim­lichen
mer gemeinsam», wird er sieben Jahre      mit ihren Terminen und verhielt sich         kommt nicht gut an – die Leute r­ eden
später sagen. «Manchmal diskutier-        nicht mehr so, wie Stefan sie k­ annte.      so oder so darüber», sagt Stefan.
ten wir bei einer Flasche Wein, bis wir   Die Defizite zeigten sich in immer           «Die Leute in unserem Umfeld sollten
zu einer Lösung kamen, die für beide      kürzeren Abständen. «So jetzt gehst          wissen, dass Fabienne nicht verrückt,
stimmte.»                                 du hin», sagte Stefan, als die Ausre-        sondern krank ist.»
                                          den nicht mehr funktionierten, und              Die Menschen reagierten ohne
    «Die ist es!»
                                          schickte sie zum Psychologen. Nach           Ausnahme positiv: Eltern boten an,
Rückblick: Im Sommer 2004 besuch-         dem zweiten Treffen sagte der Psy-           die Tochter zu hüten. Nachbarn ka-
te Stefan – er war damals 28 – einen      chologe, Fabiennes Zeitraster stimme         men zum Kaffee und fragten, auf
Sonnweid das Heft Nr. 13 - Zu früh!
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Sonnweid das Heft Nr. 13 - Zu früh!
9     Sonnweid, das Heft
      Nr. 13

welche Art sie helfen könnten. Stefans    zuliebe tat: «Es ist wie beim Bank­         einem Lächeln. Ihre Finger sind steif
beste Freunde sorgten dafür, dass er      konto: Du kannst nur abheben, wenn          geworden. Stefan wünscht sich eine
auch mal auf andere Gedanken kam.         du genug einzahlst.»                        neue Beziehung, aber nicht um jeden
Sein Chef bot flexiblere Arbeitszeiten        Beim Outing der Krankheit sei-          Preis. Er fragte seine Familie – ­unter
und ein reduziertes Pensum an.            ner Frau ging Stefan noch weiter als        anderem Fabiennes Eltern – wie sie
    Vom Psychologen wollte Stefan         andere. Er berichtete im Schweizer          dazu stünden. Sie alle fanden, er habe
zum Beispiel wissen, wie er es der        Fernsehen von seinen Erfahrungen            so viel für Fabienne getan, er s­ olle jetzt
damals fünfjährigen Tochter erklären      und trat am Zürcher Demenz Meet             das Leben wieder g­ eniessen dürfen.
sollte. «Mama tut es nicht weh. Sie       auf. «Es gibt nicht viele, die öffentlich       Das Hotel «Julier Palace», in dem
spürt es nicht, und wir können nichts     darüber reden wollen», sagt Stefan.         die Geschichte von Fabienne und Ste-
dafür»: Diese Erklärung hallt bis heu-    «Du bist an allen Ecken gefordert           fan ihren Anfang nahm, gibt es nicht
te nach. Stefan sagte sich: «Was man      und wirst zu einem Experten – ob du         mehr. An seiner Stelle ist ein Neubau
einem Kind erzählt, kann auch mir gut     es willst oder nicht. Die Rückmeldun-       mit Ferienwohnungen entstanden.
tun. Ich kann nichts dafür, aber ich      gen haben mir gezeigt, dass ich mit             Wenn Stefan heute die Küche be-
kann eine Umgebung schaffen, in der       meinen Erfahrungen dem einen oder           tritt, die Fabienne 2013 ausgesucht
sie sich wohlfühlt.»                      anderen helfen konnte.»                     hat, spürt er nur positive Gefühle:
    Die Hilfsbereitschaft der Men-            Besonders freute es ihn, als ihm        «Sie ist richtig cool und schön! Hin-
schen hat Stefan positiv überrascht.      eine Frau schrieb, sie habe es sich         ten an der Wand kochst du, und auf
Weniger erfreulich war die Erkennt-       endlich erlaubt, ihren demenzkran-          der Insel, die ein Lavabo hat, rüstest
nis, dass das «Demenzsystem» der          ken Mann für ein paar Stunden abzu-         du. Du kannst die Gäste früher ein-
Schweiz verzettelt und kaum zu über-      geben. Stefan: «Meine Botschaft ist,        laden, sie können mithelfen oder an
schauen ist. Den Angehörigen wird         dass man sich nicht komplett aufgibt        der Insel sitzen und mit dir reden. Die
viel abverlangt, ob es um das Her-        für den anderen – der andere wünscht        Küche erzählt eine schöne ­Story. Sie
ausfinden von Entlastungsangeboten        sich dies sicher nicht. Ein gesunder        erinnert mich daran, dass ­Fa­bienne
oder die Beantragung finanzieller Un-     Egoismus kann sehr sozial sein.»            sehr viel Gutes gemacht hat.»
terstützung geht. Es fehlen zentrale
                                             Stefans Tipps für
Anlaufstellen, die in allen Fragen wei-
                                             pflegende Angehörige:
terhelfen können. Ausserdem gibt es
kaum Angebote für junge Menschen          • Man darf Hilfe annehmen,
mit Demenz.                                 und man muss Hilfe holen
    «Nur abheben,                         • Man darf Menschen mit Demenz
    wenn du einzahlst»                      an andere abgeben, manchmal
                                            muss man es tun
Fabienne baute rasch ab. Kaum hat-
te Stefan das Leben der Familie sta-      • Man ist nicht allein mit solchen
bilisiert, tauchten neue Probleme auf.      Themen und Belastungen
Etwas mehr als ein Jahr nach der Dia-
gnose konnte Fabienne nicht mehr al-      Zwei neue Probleme sorgten dafür,
lein zu Hause sein. Stefan übernahm       dass Fabienne nicht mehr zu ­Hause
zwei Tage die Woche, sein Vater und       bleiben konnte. Einerseits wurde sie
Fabiennes Mutter je einen. Für ein bis    – besonders gegenüber Frauen – oft
zwei Tage stellte Stefan eine ausge-      laut und wehrte sich gegen Betreu-
bildete Betreuerin an.                    ung und Pflege. Andererseits wurde
                                                                                         Gesprächsgruppen für Angehörige
    Diese Anstellung brachte Entlas-      sie inkontinent. Ein Jahr nach ­Stefans
                                                                                         Das Leben mit an Frontotemporaler
tung, bürdete Stefan aber viel Arbeit     Auftritt im Schweizer Fernsehen trat           Demenz (FTD) erkrankten Menschen
auf. Er musste zu diesem Zweck eine       Fabienne in das Altersheim einer               fordert Angehörige und ­B etreuende
Einzelfirma gründen, die Versiche-        Nachbargemeinde ein. Stefan fragte             oft bis aufs Äusserste. Verständnis-
rungen und Altersvorsorge der An-         sich, ob er es nicht hätte besser ma-          losigkeit der Umgebung, Scham,
                                                                                         Isolation, Umgang mit herausfordern­
gestellten organisieren und Buchhal-      chen können. Die negativen Gefühle
                                                                                         dem Verhalten des ­B etroffenen
tung führen. Zudem beantragte er          nahmen ab, als er sah, wie liebevoll           sind nur einige der ­T hemen, welche
für seine Fabienne Ergänzungsleis-        Fabienne betreut wird. Dass sie dort           die Angehörigen belasten.
tungen, Hilflosenentschädigung und        neue Kontakte knüpfen konnte.                      Alzheimer Schweiz und die De-
eine IV-Rente.                                                                           menzfachfrau Margrit Dobler bieten
                                             «Die Küche ist richtig cool!»               Angehörigen von Menschen mit FTD
    Stefan ist ein Mensch, der seinen                                                    die Möglichkeit eines Austausches
Mitmenschen gerne etwas gibt. Doch        Fabienne lebt jetzt seit drei Jahren           in geschütztem Rahmen. Hier können
die vielen Aufgaben erschöpften ihn:      im Heim. Stefan und die Tochter be-            die Angehörigen eigene Grenzen ken-
«Ich wurde am Abend nicht mehr ru-        suchen sie wöchentlich. «Viele Trepp-          nenlernen und über den Umgang mit
hig, ging mit vielen Fragen ins Bett.»    chen geht es nicht mehr hinunter»,             den eigenen Gefühlen reden. Solche
                                                                                         Gesprächsgruppen gibt es in Zürich,
Er erkannte, dass er seiner Frau und      sagt Stefan zu ihrem Zustand. Sie re-          Basel, Chur und Olten. Weitere Infor-
seiner Tochter nur ein guter Begleiter    det nicht mehr und reagiert nur selten         mationen und Anmeldung unter:
sein konnte, wenn er auch sich etwas      auf ihn und die Tochter, dann aber mit         ftd-margrit.dobler@hotmail.com
Sonnweid das Heft Nr. 13 - Zu früh!
10

                                              UMFR AGE

                                              Auf unserer Station haben wir einen
                                              Bewohner mit Jahrgang 1958 . Dieser
                                              Mann ist nun seit fast zehn Jahren
                                              in der Sonnweid und nicht viel älter als
                                              mein Papa. Ich finde dies sehr prägend.
                                              Vom Alter her könnten es meine Eltern
                                              sein, deshalb stelle ich mir die Frage,
                                              wie ich mit ihnen umgehen würde.
                                              ­W elche Sprache würde ich sprechen?
                                               Welche Aktivitäten machen?
                                              Welche Musik wollen sie hören?
                                              Andrina Parigger (18)
                                              Fachfrau Gesundheit (FaGe)
                                               in Ausbildung

Egal, welches Alter der Betroffene hat,                                                   Eine junge Bewohnerin hat sich sehr
eine individuelle Pflege und Betreuung                                                    geschämt für die Pants, die sie wegen
sind zentral. Jüngere Betroffene bringen                                                  ihrer Inkontinenz tragen musste. Als
oftmals andere Bedürfnisse, ­Ressourcen                                                   sie mit ihrem Freund spazieren ging,
und Stärken mit sich, die es zu b
                                ­ e­a chten                                               hat sie so gelitten, weil sie Angst davor
gilt. Der Einbezug von Familie, sozialen                                                  hatte, dass er es merken würde. Bei
Kontakten, Beruf oder Hobbys sind von                                                     einem Menschen mit Demenz, der keine
grosser Bedeutung, weil junge Men-                                                        ­F alten im Gesicht hat und sportlich
schen durch die Erkrankung aus ihrem                                                       aussieht, ist die Begegnung für mich
Alltag herausgerissen worden sind.                                                         ganz anders. Ich empfinde viel Mit­
Vera Berisha (29)                                                                          gefühl und erlebe grosse Momente der
Pflegefachfrau HF                                                                          Traurigkeit.
                                                                                           Amparo Oviedo (60)
                                                                                           Pflegehelferin SRK
                                                                                           ( gk/mm)

                                              Auf unserer Abteilung lebt ein Bewohner
                                              mit dem gleichen Jahrgang wie ich.
                                              Für mich macht das keinen grossen Unter­
                                              schied. Ob jünger oder älter: Das Wich-
                                              tigste ist, dem Bewohner das zu geben,
                                              was er im Moment braucht, und ihn
                                              dort abzuholen, wo er gerade steht. Die
                                              Begleitung eines ­j ungen Bewohners
                                              unterscheidet sich aber darin, dass wir
                                              die gleiche Sprache sprechen und teil-
                                              weise auch die gleichen Ansichten teilen.
                                              Susanna Müller (57)
                                              Fachfrau Gesundheit (FaGe)
11     Sonnweid, das Heft
       Nr. 13

DAS RICHTIGE TUN                                                                      Krügel informierte die Kinder- und
                                                                                      Erwachsenenschutzbehörde (KESB)

«Ich habe mich nie                                                                    von sich aus. Er sagt es deutlich: Die
                                                                                      KESB habe ihn unterstützt, nicht ent-
                                                                                      mündigt, wie viele immer wieder kla-

­hilflos gefühlt»                                                                     gen. Gemeinsam mit seiner Familie,
                                                                                      seinem Netzwerk und der Behörde
                                                                                      hat er sich der Aufgabe gestellt: Wie
Martin Krügel stellte sich der Demenz­     Im Mai 2015 Anmeldung bei Irene            können wir entlasten, damit es alle
seiner jung erkrankten Frau. Er gab        Bopp in der Memory Clinic Waid. Ab-        Beteiligten besser haben?
einer möglichen Zukunft ein Gesicht,       klärung, Diagnose, Klarheit. Entstres-
                                                                                         Das Loslassen-Müssen
nutzte frühzeitig die Netzwerke und        sung, wenn das Kind einen Namen be-
vertraute den Mitmenschen.                 kommt – und ja, natürlich, der Vater!      Frau Krügel lebt heute in der Sonn-
Von Michael Schmieder                      Jetzt wird vieles klar und die Frage       weid. Den Heimeintritt bezeichnet
                                           bleibt, warum man nicht selbst auf         Martin Krügel als einschneidendes,
Martin Krügel lief mir in der Sonn-        den Gedanken gekommen ist. Wer             zuerst niederschmetterndes Erleb-
weid über den Weg, als ich den Auf-        übernimmt wann was, wer schaut im          nis. Dieses Loslassen-Müssen. Das
trag hatte, für dieses Heft mit dem        Restaurant, dass sie keinen Stress         Anerkennen, dass es zu Hause nicht
Schwerpunkt «Zu früh!» Interviews          hat? Wohin platziert man sie, was be-      mehr geht, bezeichnet er als grösste
zu führen und einen Beitrag zu             stellt man, und: Wie geht man damit        Krisensituation. Die Besuche, sagt er,
schreiben. Seine Frau (Jahrgang 1965)      um, wenn es dennoch zu Situationen         mache er mehr für sich, sie tun ihm
lebt bei uns, und er war bereit zu ei-     kommt, die man im Vorfeld nicht ab-        gut. Wie seine Frau die Besuche wahr-
nem Gespräch mit mir. Nach einer           fangen kann?                               nimmt, weiss er nicht. Er geht aber
Stunde verspürte ich seit langer Zeit                                                 davon aus, dass auch sie die gemein-
                                              Dramatische Auswirkungen
wieder einmal das Gefühl, wie es ist,                                                 sam verbrachte Zeit geniessen kann.
wenn einer alles richtig gemacht hat.      Wie geht man als Familie die Her-
                                                                                         «Ich habe keine Freunde
Scheinbar ist es möglich, es als Ange-     ausforderungen aktiv an? Was kön-
                                                                                         verloren in dieser Zeit.»
höriger richtig zu machen. Aber schön      nen wir im Vorfeld tun, was könnte als
der Reihe nach:                            nächstes kommen, welche Strategie             «Stress wurde mir genommen
    Zirka ein Jahr vor der ­Diagnose be-   fahren wir? Was ist, wenn sie selber          von Menschen, die ich gar nicht
gannen bei Krügels Frau Einschrän-         Auto fahren will? Wenn sie im Internet        gekannt habe.»
kungen, die man nicht einordnen            Dinge bestellt, die niemand braucht?
                                                                                         «Die Kinder haben ja
konnte: gestörtes Sozialverhalten, all-    Wie begegnen wir dem Kaufzwang in
                                                                                         vermutlich die Gene auch in
tägliche Fähigkeiten eingeschränkt,        der Migros? Was ist, wenn sie 50 Mal
                                                                                         sich, aber die lassen sich nicht
früh ins Bett gehen. Sie war distanz-      telefoniert und im sozialen Umgang
                                                                                         verrückt machen, sie wollen
los im Sozialverhalten, aber körper-       distanzlos ist? Das sind alles bekann-
                                                                                         einfach leben.»
lich sehr distanziert. Niemand dach-       te Anzeichen und Verhaltensauffällig-
te daran, dass ihr Vater eine Demenz       keiten von Menschen mit einer Fron-        Das sind nur drei wörtliche Zitate
gehabt hatte und daran gestorben           totemporalen Demenz. Im Alltag sind        von dem Mann, der mich sehr be-
war. Es gab in der Familie offenbar        die Auswirkungen dramatisch. Da            eindruckt hat. Wie kann man so viel
einen blinden Fleck. Es konnte nicht       helfen die mit wohlmeinender, em-          richtig machen – wo doch oft so vie-
sein, was nicht sein darf.                 pathischer Weichspülerstimme vor-          les falsch läuft?
                                           gebrachten Rat-Schläge nicht weiter.           Martin Krügel stellte sich dem
     Sich rar machen
                                               «Ich habe mich nie hilflos gefühlt»,   Menschen mit seiner Krankheit. Er
Was ist in einer solchen Situation         sagt Krügel heute. «Ich habe immer         gab einer möglichen Zukunft ein Ge-
zu tun? Vielleicht: die gemeinsame         Unterstützung bekommen. Ich habe           sicht, nutzte frühzeitig die Netzwerke
Zeit reduzieren, sich rar machen           immer nach Lösungen gesucht und            und vertraute den Mitmenschen. Dies
und die Kinder (13 und 15 Jahre alt)       diese auch gefunden.» Zum Beispiel         tat er im Wissen, dass Abschied neh-
ebenfalls zu distanzierterem Verhal-       an der Theaterkasse, wenn sie sich         men zum Leben gehört, und nicht nur
ten anhalten. Distanz schaffen kann        wieder vordrängte und andere verär-        zum Tod. Er stand zu den Gefühlen,
stressreduzierend wirken, wenigs-          gerte: Dann verteilte er Kärtchen mit      die in solch schwierigen Situationen
tens eine Zeit lang. Der erste Arzt di-    einer kurzen Information zur Krank-        hochkommen. Er erkannte, dass der
agnostizierte eine Unterfunktion der       heit seiner Frau. Er tat es auch im        familiäre Rahmen nicht die allein se-
Schild­drüse und Eisenmangel. We-          Kaufhaus an der Kasse – immer dann,        lig machende Struktur im Krankheits-
der die Diagnose noch die Behand-          wenn die Fehlleistungen so gravierend      verlauf sein kann.
lung brachten eine Besserung. Wie          waren, dass die Mitmenschen das Ver-           Abschied führt immer auch zu
auch? Der Streit nahm zu, die Kon-         halten unwissend und verständnislos        Neuem, zu neuen Menschen, zu neu-
flikte auch. Und dann ist Mann halt        missbilligten. Damit entlastete er sich    en Dingen. Dies geschieht dann wie
viel weg, mehr als beruflich notwendig     auch selbst, denn eine soziale Miss-       von selbst.
gewesen wäre. Auch eine Strategie.         achtung fällt auch auf die Begleiter
                                           zurück. Mitgefangen, mitgehangen!
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13   Sonnweid, das Heft
     Nr. 13
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TR AUER

«Ich werde für unmündig
gehalten»
Beat Karstein* (61) lebt mit seiner Frau   erlebt, dass Kunden so frech mir ge-      immer wieder. Manchmal bin ich ext-
Eveline in Winterthur. Mit 58 Jahren       genüber waren. Am Schluss haben wir       rem traurig und möchte nur noch wei-
wurde bei ihm Demenz diagnostiziert.       eine friedliche Lösung gefunden. Aber     nen. Zu begreifen, dass der geliebte
Darüber redet er bis heute nur mit         das hat mich sehr irritiert.              Mensch so hilflos wird, ist wahnsinnig
wenigen. Wenn ihm Fragen danach zu         Eveline Beat hatte immer höchste          schwierig. Ich arbeite seit dreissig Jah-
schwierig sind, antwortet seine Frau.      Ansprüche an seine Präzision, und         ren als Heilpraktikerin und habe vie-
Von Uschi Entenmann                        nun auf einmal Mühe mit simplem           le demenzkranke Menschen in mei-
                                           Kopfrechnen. Er musste das Projekt        ner Praxis gehabt. Zudem hatte mein
   Herr Karstein, wie hat Ihr Leben
                                           schliesslich abgeben.                     Vater zehn Jahre Alzheimer, ich weiss
   vor der Diagnose ausgeschaut?
                                                                                     viel darüber.
                                              Wann spürten Sie, dass es
Schön! Unser Sohn studierte Archi-
                                              Ihrem Mann schwerfiel, sich               Beat, wenn wir miteinander
tektur in Genf und Santiago. Alles
                                              zurechtzufinden?                          sprechen, machen Ihnen die
war gut. Ich war Installateur für Ge-
                                                                                        Fragen Mühe?
bäudetechnik und hatte einen klei-         Eveline Im Winter 2016 lag sein Va-
nen Betrieb. Aber mit dem Herzen           ter im Sterben. Beat konnte nichts        Ich merke, dass mir Worte fehlen.
war ich Künstler.                          anderes mehr denken, er drehte sich       Alles geschieht jetzt viel langsamer.
                                           elend im Kreis, das ging monatelang       Ich vergesse schnell. Wenn ich ei-
   Welche Kunst war es denn, die
                                           über die normale Belastung hinaus.        nen Rucksack packe, brauche ich
   Ihnen am Herzen lag?
                                           Ich dachte: Was ist bloss los mit ihm?    eine Liste und kontrolliere x-mal,
Schon als Kind habe ich geschnitzt.        Beat Ich dachte, ich bin nur übermü-      ob ich alles habe. Orange, Messer,
Auch später arbeitete ich mit Holz,        det. Ging zu meinem Hausarzt, der         Regenschutz…
ebenso mit Metall und Wachs. Als ich       Mangel an Vitamin B12 diagnostizier-
                                                                                        Wem haben Sie von der
42 wurde, dachte ich: jetzt oder nie.      te. Er sagte: Wir spritzen das, in drei
                                                                                        Diagnose erzählt?
Wenn ich noch ernsthaft als Künstler       Monaten bist du wieder fit.
wirken möchte, sollte ich nicht länger     Eveline Das muss man sich mal vor-        Beat Nicht vielen. Unserem Sohn, we-
warten.                                    stellen. Nach drei Monaten war es         nigen guten Freunden und den engs-
                                           noch schlimmer. Der hatte eine Fehl-      ten Familienmitgliedern. Die behalten
   Klingt mutig. Sie sind offenbar
                                           diagnose gestellt!                        das alle für sich.
   ein unternehmungslustiger Typ?
                                           Beat Hinzu kam, ich hatte im selben
                                                                                        Warum dürfen die es nicht
Ja, eigentlich ja, fröhlich auch. Aber     Winter eine aggressive Grippe, mir
                                                                                        weitererzählen?
manchmal auch tiefgründig. Das ist         gings so schlecht, dass wir ins Spital
normal, oder? Jedenfalls: Holzskulp-       mussten. Dort fragte mich ein Arzt        Beat Das ist eine bilaterale Sache.
turen faszinierten mich.                   hektisch aus: Name, Geburtsdatum,         Wer mir nicht nah´ steht, dem möch-
                                           Geburtsort. Der bellte mich so zackig     te ich das nicht erzählen. Ich bin dann
   Und Ihre Frau, teilt sie Ihre
                                           an. Ich dachte, fuck you! Und wusste      Müll. Man nimmt mich nicht mehr
   Leidenschaft für die Kunst?
                                           keine Antworten mehr.                     ernst, das ist weit verbreitet. Wer es
Sie unterstützt mich. Aber sonst ar-       Eveline Im Sommer 2017 gingen wir         weiss, redet nicht mehr mit mir. Ich
beitet sie als Heilpraktikerin.            deshalb zur Abklärung in die Memory       werde für unmündig gehalten. Das ist
                                           Klinik nach Zürich. Zwei Monate spä-      zwar kein Unfall, was ich habe, aber
   Wann merkten Sie zum ersten
                                           ter hatten wir Gewissheit: Beat hat       ein verfrühtes Todesurteil.
   Mal, dass Sie nicht mehr
                                           Alzheimer.
   so perfekt funktionierten wie                                                        Merken es die Leute nicht
   früher?                                    Wie ging es Ihnen danach?                 ohnehin, zum Beispiel die
                                                                                        Kassiererin beim Einkaufen?
Erste Anzeichen? Da gabs ein schwie-       Beat Ganz übel. Die teilten uns das
riges Projekt. Neue Sanitärtechnik         so unsensibel mit, als wäre es die nor-   Beat Ich glaube nicht. Gibt ja immer
in einem Mehrfamilienhaus. Dann            malste Sache der Welt. Ein Husten         wieder Leute, die die Geldbörse hin-
schimpfte eine Kundin, wie langsam         oder so. Ich war im Schockzustand.        strecken, damit ihnen geholfen wird.
ich sei. Und die Rechnung stimme           Hab viel geweint.                         Und dabei sagen, «Ich hab meine
nicht. Ja, ich hätte besser rechnen        Eveline Zuerst habe ich das akzeptie-     Brille vergessen».
müssen. Aber die hätte das doch gar        ren können. Endlich wussten wir we-       Eveline Mein Mann hat Angst, als
nicht verstanden, die war doch selber      nigstens Bescheid. Bei mir kam der        Depp abgestempelt zu werden. Einem
saftig dement. Ich hatte bis dahin nie     Zusammenbruch später. Und seither         Nachbarn habe ich es jetzt erzählt,
15      Sonnweid, das Heft
        Nr. 13

mit Beats Einverständnis. Das brauch-      wie ich, die oft mit etwas rausplatzt,         Wissen Sie, was Sie gefrühstückt
te echt Überzeugungsarbeit. Erst sag-      impulsiv ist und versehentlich Gläser          haben?
te Beat rigoros nein!, später lenkte er    umkippt oder mal einen Teller runter-
                                                                                     Ja! (Lacht). Haferflocken mit Birne.
ein. Weil er merkte, dass es mir wichtig   schmeisst. Jetzt kippt er Gläser um.
                                                                                     Ich frühstücke immer das gleiche.
ist. Ich finde es besser, wenn Offenheit
                                              Ziehen Sie beide sich wegen der
herrscht.                                                                                 Haben Sie noch Pläne für dieses
                                              Krankheit zurück?
                                                                                          Jahr?
     Wie reagieren die, die es wissen?
                                           Beat Vielleicht ja, da müssen wir auf-
                                                                                     Ich merke, die Demenz schreitet lang-
Das sind die ganz nahen Freunde mei-       passen. Ich bin von Eveline mehr als
                                                                                     sam voran. Ich schiebe die Dinge ­lieber
nes Mannes, die reagieren sehr po-         früher abhängig. Sie liest gern, taucht
                                                                                     nicht mehr auf. Besuchte ­grade einen
sitiv und warmherzig. Nur einer kann       ein in eine andere Welt. Lesen geht
                                                                                     Freund in Berlin. Und gehe bald mit
es nicht nachvollziehen und zieht sich     bei mir nur noch sehr langsam.
                                                                                     meiner Frau nach Afrika auf Safari.
zurück.                                    Eveline Wir sind beide gern zu Hau-
                                                                                     Eveline Mein Kindheitstraum war eine
                                           se und hatten nie viel Besuch. Das
     Hat die Diagnose Ihre Beziehung                                                 Safari in Tansania. Beat wollte das
                                           ist jetzt noch weniger geworden. Un-
     verändert?                                                                      nie. Jetzt sagt er aber doch, er kommt
                                           ser Sohn sagt, das sei ein Fehler. Wir
                                                                                     mit. Aber ich kann nicht mit ihm allein
Beat Ja schon. Wir sind enger gewor-       müssten mehr Menschen zu Hause
                                                                                     reisen, das würde mich psychisch völ-
den. Ich bin mehr von Eveline abhän-       um uns haben. Ich bin aber geprägt
                                                                                     lig überfordern, ich wär’ nur Organi-
gig, ich brauche sie.                      von meiner Kindheit: Wenn Besuch
                                                                                     sator und Therapeutin.
                                           kommt, muss das Haus geputzt und
     Wobei zum Beispiel?
                                           das Drei-Gänge-Menü zubereitet                 Wovor haben Sie beide am
(Beat überlegt…)                           sein. Da kann ich nicht aus meiner             meisten Angst?
Eveline Bei allem. Wenn er einkauft,       Haut. Die Arbeit hängt jetzt allein an
                                                                                     Beat Angst habe ich nicht so sehr.
muss ich eine Liste schreiben, er          mir, das wird mir zu viel.
                                                                                     Bin nur traurig. Es ist so schade um
geht immer in denselben kleinen La-
                                              Ist es ein Problem, dass Sie zur       die Zeit. Meine Frau sagt, wenn ich
den und kauft die gleichen Produk-
                                              Arbeit gehen, aber Beat immer          inkontinent werde, geht es nicht mehr
te. Das geht. Ein grosser Laden oder
                                              allein zu Hause ist?                   zu Hause.
neue Produkte, das wäre schwierig.
Zu Hause räume ich die Sachen weg.         Seine Freunde arbeiten alle noch und           Sie reden sehr offen miteinander!
Ich bitte ihn, den Tisch zu decken, er     haben wenig Zeit. Beat verliert sich
                                                                                     Eveline Inkontinenz ist ein No go. Urin
braucht für alles Aufforderung und         dann manchmal in seiner Traurig-
                                                                                     ist okay, aber Stuhlgang schaffe ich
Anleitung. Manchmal denke ich, dann        keit. Wenn ich um fünf von der Arbeit
                                                                                     nicht.
kann ich es gleich selbst machen.          komme, sitzt er total traurig in sei-
                                           nem Büro. Vor sich geöffnete Briefe,           Haben Sie Sorge, dass Sie Ihre
     Sind Sie genervt, gibt es Streit?
                                           die er nicht versteht. Meist gelingt es        Frau irgendwann nicht mehr
Eveline Nein, das ist es nicht. Wir ha-    mir, ihn da rauszuholen, zum Beispiel,         erkennen?
ben eine nahe, liebevolle Beziehung.       wenn wir laufen gehen.
                                                                                     Der Gedanke tut weh. Aber ich tu’s
Darauf achten wir beide. Er ist zum        Beat Es war schön, als der Nebel end-
                                                                                     ja nicht mit böser Absicht. Der Ver-
Glück ein offener Typ und verleugnet       lich weg ging und die Sonne rauskam.
                                                                                     lauf ist bisher langsam. Würde mich
die Krankheit nicht vor sich und mir.
                                              Arbeiten Sie noch, Beat?               freuen, wenn es so weitergeht und ich
Das hilft mir. Manchmal haben wir viel
                                                                                     bei guter Verfassung noch zehn Jah-
Nähe, dann wieder viel Distanz. Oft        Nicht als Installateur. Ich r­ epariere
                                                                                     re lebe.
verstehe ich nicht, was er sagen möch-     nicht mal einen Wasserhahn im Haus.
                                                                                     Eveline Ich bin erst 57, also doch noch
te, manchmal versteht er mich nicht.       Nachher richte ich eine grosse Zer-
                                                                                     relativ jung. Wenn er vor mir stirbt,
Dann müssen wir uns wieder finden.         störung an (lacht). Ich brauch viel
                                                                                     möchte ich nicht auch gleich sterben
                                           mehr Schlaf und es dauert lang, bis
     Zum Beispiel?                                                                   vor Erschöpfung und Überforderung.
                                           ich morgens fertig bin, diese Lang-
                                                                                     Ich möchte ihm aber ermöglichen, zu
Heute Morgen hatte er Rücken-              samkeit nervt. Ich muss viele Tablet-
                                                                                     Hause zu bleiben, so lange es für uns
schmerzen, ich sagte, geh in den           ten schlucken, um zehn geh ich los,
                                                                                     beide schön ist.
Vierfüsslerstand, das verstand er          mach mir mein Futter, kontrollier alles
nicht. Ich machte es vor. Dann sollte      x-mal und fahr mit dem Rad durch die
er Katzenbuckel und Hohlrücken ma-         Stadt in die Werkstatt. Dort arbeite
chen, das verstand er auch nicht. Ich      ich mit Holz.
wiederholte es, sagte es mit anderen
                                              Die Orientierung ist noch gut?
Worten und dann ging es.
                                           Ja. Nur daheim bin ich oft am Suchen.
     Dennoch, wer es nicht weiss,
                                           Gestern wieder. Irgendwann fand           U s c h i E nte n m a n n (Stut t g a r t ) i s t Auto ri n
     merkt es ihm nicht gleich an…                                                   b e i Ze ite n s p i e g e l Re p o r ta g e n u n d Ch ef­­
                                           ich es.                                   re d a k ­t o ri n d e s M U T M a g azi n s . S i e h at m it
Doch wer ihn kennt, spürt, dass er sich                                              Michael Schmieder den Bestseller « Dement,
                                              Was war das?                           a b e r n i c ht b e s c h e u e r t » g e s c h ri e b e n .
verändert hat. Er war immer beson-
nen, überlegte, bevor er sprach. Nicht     … (überlegt). Das weiss ich nicht mehr.   (*) N a m e u n d Wo h n o r t g e ä n d e r t .
16

YOUNG CARERS

Kleine Menschen mit
(zu) grossen Auf­gaben
In jeder Schulklasse gibt es ein bis                      Nordrhein-Westfalen ergab einen             Ein sechsjähriges Mädchen, das der
zwei Kinder oder Jugendliche, die zu                      Anteil von 6,1 Prozent Young Carers.        kranken Mutter eine Salbe bringt,
Hause für ein krankes Familienmit-                        Das heisst, dass es in jeder Schul-         ­erlebt sich als nützlich. Wenn aber
glied sorgen. In einem nicht geeigne-                     klasse ein bis zwei pflegende Kinder/        dieses Mädchen der am Boden lie-
ten Umfeld werden diese jungen Hel-                       Jugendliche gibt.                            genden Mutter ein überlebenswich­
fer schnell überfordert.                                      Dass sich junge Menschen um              tiges Medikament geben muss, wird
Von Martin Mühlegg                                        Kranke kümmern, muss nicht schlecht          die Nützlichkeit zur Überforderung.
                                                          sein. Da ist zum Beispiel der 15-jäh-        Die chronische Erkrankung eines El-
Die 50-jährige Regula* hat ihre S­ telle                  rige Jan, der in seiner Freizeit oft sei-    ternteils ist auch für ein Kind ohne
verloren, weil sie nicht mehr zuver-                      nen an Trisomie 21 erkrankten Bru-           pflegerische Verantwortung eine Be-
lässig arbeitete. Ihre Demenz schrei-                     der betreut und unterstützt. Er macht        lastung. Wenn das Kind auch noch
tet rasch voran, die kleine Familie – ­                   das gerne und tauscht sich mit sei-          hauptverantwortlich ist für das Wohl-
Regula hat eine Tochter und ist allein­-                  nen Eltern und seinem weiteren Um-           befinden und Überleben des Eltern-
erziehend – gerät in soziale und finan­-                  feld darüber aus. Ähnliches gilt für         teils, ist dies traumatisierend. Die
zielle Not. Regula geht kaum mehr aus                     die 14-jährige Jasmin, die für ihre an       Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass
dem Haus und trinkt viel. Die Ange-                       MS erkrankte Mutter sorgt. Auch              sich solche Kinder und Jugendliche
hörigen, die untereinander zerstritten                    sie reflektiert ihre Rolle und sagt ih-      psychisch ungünstig entwickeln. Un-
sind, haben der zwölfjährigen Toch-                       ren Mitmenschen, wenn sie das Pfle-          günstig ist auch, wenn ein krankes
ter Anna gesagt, es sei kein Geld für                     gen, Kochen, Einkaufen und Waschen           Geschwister oder ein kranker Eltern-
Pflege da, sie müsse zu ihrer Mutter                      überlasten oder wenn sie negative            teil die ganze Aufmerksamkeit der
schauen. Jetzt pflegt, wäscht und                         Gefühle hat. In solchen Zeiten be-           restlichen Familie auf sich zieht.
kocht Anna. Ihre Leistungen in der                        kommt sie mehr Unterstützung von
                                                                                                         Konzentrationsschwächen,
Schule sind schlecht. Sie hat kaum                        ihrer Grossmutter oder ihrem Vater.
                                                                                                         Rückzug und Schlafmanko
mehr Kontakt zu Gleichaltrigen und
                                                             Kind und Mutter in einem
traut sich nicht, mit Aussenstehenden                                                                 Studien haben aufgezeigt, dass psy-
über ihre Not zu sprechen.                                Weniger positiv hat die heute erwach-       chische Überlastungssymptome bei
                                                          sene Esther ihre Rolle als Young Carer      Young Carers doppelt so häufig auf-
      Erst seit wenigen Jahren
                                                          erlebt: Sie pflegte ihre an Hepatitis       treten wie bei anderen Kindern und
      auf dem Radar
                                                          erkrankte, depressive und trinkende         Jugendlichen. Häufige Symptome sind
Anna ist nicht allein. Sie gehört zu                      Mutter. Dazu sorgte sie für ihre jünge-     nachlassende Leistungen in Schule
einer Gruppe von Jugendlichen und                         re Schwester und pflegte den krebs-         oder Lehre, Konzentrationsschwä-
Kindern, von denen man bei uns bis                        kranken, von der Mutter geschiede-          chen, Rückzug und Schlafmanko.
vor Kurzem nicht viel mehr wusste, als                    nen Vater. Erst nach dem Tod ihres              Eine Gruppe von Fachleuten um
dass es sie gibt. Erst seit wenigen Jah-                  Vaters erkannte sie, dass sie Unter-        die Careum-Professorin Agnes Leu
ren ist das Thema der sogenannten                         stützung brauchte. Die war nicht ein-       arbeitet nun an der Sensibilisierung
Young Carers im deutschsprachigen                         fach zu bekommen: Als Esther eine           von Privatpersonen und Institutio-
Raum auf dem Radar von Forschern                          psychiatrische Klinik um Hilfe bat,         nen (Schulen, Spitex, Sozialdienste,
und Fachleuten.                                           sagte man ihr, sie solle einfach die        Interessenverbände, Beratungsstel-
    Forschungen der Careum Hoch-                          Polizei rufen, wenn es mit der Mutter       len etc.). Sie hat Gruppen ins Leben
schule in Zürich ergaben überra-                          nicht mehr gehe.                            gerufen, in denen sich Young Carers
schende Resultate: In der Schweiz                             Es fällt vielen Young Carers            in ungezwungenem Rahmen austau-
pflegen fast 8 Prozent aller 10- bis                      schwer, Unterstützung und Hilfe an-         schen können.
15-Jährigen zu Hause ein krankes                          zufordern. Einerseits finden es vie-            Auch auf politischer Ebene tut
Familienmitglied. Das sind 51 000                         le normal und verpflichtend, ihren          sich etwas: In der Schweiz will der
Kinder und Jugendliche. Meist sor-                        Eltern beizustehen. Andererseits            Bund pflegende Angehörige mit ver-
gen diese jungen Menschen für einen                       fürchten sie sich davor, ihre Familie       schiedenen Massnahmen unterstüt-
Elternteil, manchmal auch für Gross­                      «zu verraten». Aussenstehende (Mit-         zen (unter anderem durch bessere
eltern oder Geschwister. Eine Unter-                      glieder der erweiterten Familie oder        Entlastungsangebote und ­bezahlte
suchung im deutschen Bundesland                           Behörden) könnten die Familie aus-          Pflegeurlaube). Auf Drängen von Inte­­
                                                          einanderreissen. Zudem fehlen geeig-        ressenverbänden sind auch Jugend-
* D i e N a m e n d e r B etrof fe n e n
                                                          nete niederschwellige Beratungs- und        liche und Kinder in diesen Aktions-
w u rd e n vo n d e r Re d a k ti o n g e ä n d e r t .   Unterstützungsangebote.                     plan aufgenommen worden. Im neuen
17   Sonnweid, das Heft
     Nr. 13
18

Regierungsplan Österreichs ist eine       HER AUSFORDERUNG ALLTAG
«präventive Entlastung für pflegende
Angehörige, insbesondere der Young
Carers» vorgesehen.
   Netzwerk und Anlaufstellen
                                          «Früher waren
Careum fördert nun den Aufbau ei-
nes Netzwerkes mit Anlaufstellen,
Entlastungsdiensten und Plattfor-
                                          wir eine lustige
men zum Austausch. Dieses Netzwerk
soll auch bestehende Strukturen nut-
zen – wie zum Beispiel jene von Alz-
                                          Familie»
heimer Schweiz.                           Jürgen Ehlers bekam mit 55 die Di-                                   Therapien schlugen nicht an. Nach di-
    Die Datenlage zu Young Carers,        agnose Frontotemporale Demenz.                                       versen weiteren Untersuchungen kam
die in der Schweiz Menschen mit De-       Seit er krank ist, hat er diverse Ticks                              die endgültige Diagnose. Inzwischen
menz betreuen, ist allerdings sehr        entwickelt. Für die Familie ist das                                  hatte Ehlers seinen Job verloren. 25
knapp. Aus einer Angehörigenbefra-        Zusammenleben jeden Tag eine                                         Jahre war er bei derselben Firma ge-
gung von Alzheimer Schweiz (2012)         Herausforderung.                                                     wesen, mit der er sich sehr verbun-
geht hervor, dass nur sieben Prozent      Von Franziska Wolffheim                                              den gefühlt hatte. «Er war total de-
der betreuenden Angehörigen unter                                                                              primiert», erinnert seine Frau. Der
30 Jahre alt sind. «Es könnte gut sein,         –     Es ist 18.53 Uhr                                         Verlust seiner Arbeit bedeutete für
dass es heute mehr sind», sagt Karine           –     Es ist 18.54 Uhr                                         ihn auch einen Verlust von Identität.
Begey, stellvertretende Geschäftslei-           –     Es ist 18.56 Uhr
                                                                                                                  Nach der Diagnose
terin von Alzheimer Schweiz. «Unser             –     Es ist 18.58 Uhr
                                                                                                                  wie in Trance
nationales Alzheimer-Telefon be-                –     Ich gucke Fernsehen
kommt regelmässig Anrufe von Young              –     Es ist 18.59 Uhr                                         Für die Familie brach mit der Diagno-
Carers. Sie haben ähnliche Fragen               –     Die Katze liegt auf dem Bett                             se ein festes Gefüge ein, das über Jah-
wie andere betreuende Angehörige.               –     Es ist 19.03 Uhr                                         re verlässlich gewesen war. Eine har-
Es sind in der R­ egel Enkel von Men-                                                                          monische Familie, die am Hamburger
schen mit Demenz, die nicht unbe-         Seit er krank ist, setzt Jürgen Ehlers                               Stadtrand lebt, zwei Töchter, heute
dingt unter dem Rentenalter sind.» In     zahlreiche WhatsApps ab. Um Kon-                                     20 und 23 Jahre alt, freundliche Nach-
den Sektionen Zürich (www.alz-zue-        takt zu seiner Frau zu halten, wenn                                  barn. «Wie in Trance habe ich bei ei-
rich.ch) und Waadt (www.alzheimer-        sie nicht da ist. Oft stellt sie ihr H
                                                                               ­ andy                          nem Pflegestützpunkt Informationen
vaud.ch) gibt es b ­ ereits Gesprächs-    stumm, wenn er immer wieder ver-                                     eingeholt und alle nötigen Schritte
gruppen für junge ­Angehörige. Weil       sucht, sie anzurufen. Selbstschutz,                                  eingeleitet», sagt Petra Ehlers. Be-
Alzheimer Schweiz immer mehr An-          das hat Petra Ehlers gelernt, ist eine                               rufsunfähigkeitsrente, Vollmachten.
fragen in diese Richtung bekommt,         unerlässliche Strategie, wenn man                                    Wochenlang hat sie alles im Internet
sind nun Überlegungen zu noch mehr        mit jemandem zusammenlebt, der                                       gelesen, was sie über die Krankheit
spezifischen Angeboten im Gang.           andauernd dieselben Fragen stellt,                                   finden konnte. «Ich wusste, was auf
                                          der ständig mitteilt, was er gerade                                  uns zukommt.» Dass die Berufsunfä-
                                          macht. Auch jetzt stellt sie ihr Handy                               higkeitsrente relativ hoch ist, dass ihr
                                          stumm, damit wir in Ruhe reden kön-                                  Mann darüber hinaus für die Familie
                                          nen. Dass das Gespräch mit ihr und                                   finanziell vorgesorgt hat, schafft zu-
                                          der jüngeren Tochter Sabrina nicht zu                                mindest materiell Entlastung. Für ihre
                                          Hause, sondern an einem neutralen,                                   Psyche muss sie selbst sorgen.
                                          ungestörten Ort stattfinden kann,                                        Die Krankheit ist nach der Diagno-
                                          war ihr wichtig.                                                     se schnell fortgeschritten. Zunächst
                                              Wann fing das alles an? Im August                                war Jürgen Ehlers noch in seinem
                                          2018 bekam Jürgen Ehlers die Diag-                                   Handball-Verein aktiv, hat Trompete
                                          nose Frontotemporale Demenz. Eine                                    gespielt und ist regelmässig schwim-
                                          eher seltene Form der Demenz, von                                    men gegangen. Heute ist das alles
                                          der häufig auch jüngere Menschen                                     Vergangenheit. Der 56-Jährige leidet
                                          betroffen sind. Zwei Jahre zuvor hatte                               unter Sprachstörungen, spricht kaum
                                          Ehlers, der als Unternehmensberater                                  noch zusammenhängende Sätze.
                                          viel unterwegs war, bei der Arbeit eine                              Sein Motorrad ist verkauft, auch die
                                          Angstattacke bekommen. Er wur-                                       anderen Hobbys pflegt er nicht mehr.
                                          de auf Burnout behandelt, aber die                                   Nachdem er einen Autounfall gebaut
                                                                                                               hat, setzt er sich nicht mehr ans Steu-
                                          Fra nzi s ka Wo lf fh e i m (H a m b u r g ) i s t fre i e           er. Sein Tag ist klar strukturiert, feste
                                          J o u rn a l i s ti n u n d B u c h a uto ri n . S i e a rb e itet
                                          u nte r a n d e re m f ü r S p i e g e l o n l i n e, STE R N ,
                                                                                                               Essens- und Schlafzeiten, Rituale, die
                                          c h ri s m o n , B ri g it te u n d a lzh e i m e r. c h .           zu Ticks geworden sind.
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