Sonnweid das Heft Nr. 13 - Zu früh!
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2 IMPRESSUM H E R AU SG E B E R S o n nwe i d AG AU FL AG E 10 2 0 0 E xe m p l a re E r s c h e i nt z we i m a l j ä h rl i c h E I NZE LVE R K AU F 2 . – CH F KO NTAK T S o n nwe i d, Re d a k ti o n D a s H ef t B a c hte l s tra s s e 6 8 8 6 2 0 Wetzi ko n w w w. s o n nwe i d . c h d a s h ef t @ s o n nwe i d . c h AD R ES SÄN D E RU N G E N d a s h ef t @ s o n nwe i d . c h R E DAK TI O N M i c h a e l S c h m i e d e r (m s) M a r ti n M ü h l e g g (m m) Petra K n e c htl i ( p k ) G e rd Ke h re i n ( g k ) G ESTALT U N G B o n b o n ( b o n b o n . l i) D RU CK D r u c k-Te a m AG (d r u c k te a m . c h) FOTOGR AFI E Vé r o n i q u e H o e g g e r (v e r. c h ) I L LU S T R AT I O N Julia Marti (juliamarti.com)
3 Sonnweid, das Heft Nr. 13 EDITORIAL INHALT 4 Mitten im L eben LEITARTIKEL «Wer in keine Schublade Liebe Leserin, In der Sonnweid sind wir uns bewusst, lieber Leser dass die Angehörigen von jungen passt, braucht Menschen mit Demenz eine spezielle eine Schicksals Fabienne Basig erhielt mit 44 die Begleitung brauchen. Wir vermitteln gemeinschaft» Diagnose Demenz. Ihre Tochter war ihnen Angebote wie psychologische Petra Rösler damals fünf Jahre alt. Auf Fabiennes Begleitung, Selbsthilfegruppen und 7 Ehemann Stefan warteten n eben der Finanzberatungen. Doch hier sind uns MIT 42 DEMENT Betreuung und der Arbeit als Produkt- Grenzen gesetzt, weil es nicht genug manager viele Aufgaben: Anträge auf spezifische Angebote gibt. Es braucht Da stand Unterstützung stellen, eine Einzelfir- mehr Räume, wo sich die Betroffenen Fabienne einfach ma gründen (nur so konnte er eine und/oder ihre Angehörigen austau- Betreuerin anstellen), Entlastungen schen können. Es braucht Arbeits- auf und ging… Mar tin Mühlegg ausfindig machen (die es für junge stellen für Menschen mit kognitiven Menschen kaum gibt) usw. Defiziten. Und vor allem braucht es 10 Beat Karstein (61) lebt seit drei eine bessere Koordination. Der Fall UMFR AGE Jahren mit der Diagnose Demenz. von Fabienne und Stefan Basig zeigt 11 Ausser seinen engsten Familienmit- auf, wie verzettelt und unübersicht- DAS RICHTIGE TUN gliedern und Freunden erzählt er nie- lich das «Demenz-System» ist. «Ich habe mandem von seiner Krankheit. Wer es Ich wünsche mir mehr und bes- wisse, rede nicht mehr mit ihm, sagt ser koordinierte Angebote für junge mich nie hilflos er. Er habe ein verfrühtes Todesurteil Menschen mit Demenz und ihre An- gefühlt» erhalten und werde jetzt für unmün- gehörigen. Und Ihnen wünsche ich Michael Schmieder dig gehalten. eine gute und inspirierende Lektüre 14 Jürgen Ehlers verlor mit 55 sei- unseres neuen Heftes! TR AUER nen geliebten Job, weil er vergesslich wurde und sich merkwürdig verhielt. Petra Knechtli «Ich werde Mit der Arbeit kam ihm ein wichtiges Leiterin Sonnweid das Heim für unmündig Stück seiner Identität abhanden, gehalten» und er fiel in eine Depression. Ehlers Uschi Entenmann konnte sich nicht mehr nützlich ma- 16 chen, und das Gefüge seiner Vorzei- YOUNG CARERS gefamilie mit zwei Töchtern brach auseinander. Kleine Menschen Die Fallbeispiele im neuen Heft mit (zu) grossen zeigen auf, wie tragisch es ist, wenn Aufgaben jemand «zu früh» an einer Demenz er- Mar tin Mühlegg krankt. Mich machen diese Schick- sale sehr betroffen. Ich stelle mir vor, 18 HER AUSFORDERUNG ALLTAG was das für meine Familie bedeuten würde. Menschen werden aus ihrem «Früher waren Leben gerissen, sie «funktionieren» wir eine lustige nicht mehr in der Familie, im Beruf und im sozialen Umfeld. Familie» Franziska Wolffheim 21 ALZEIHMER .CH 22 KULTURTIPP 23 SONNWEID AK TUELL 24 EPILOG CAMPUS AK TUELL
4 LEITARTIKEL Wer in keine Schublade passt, braucht eine Schicksals gemeinschaft Menschen mit Demenz fallen oft aus die richtige Diagnose gestellt wird. ihren Rollen und sozialen Zusammen- Der Weg dahin ist von Zufällen und hängen. Jüngere Betroffene passen dem Zugang zu Experten (Stichwort zusätzlich nicht in die Schubladen, «Stadt/Land-Gefälle») geprägt. die für Alzheimer und Co. eingerich- Die «Alters-Schublade» gibt es tet worden sind. Die Einzelschicksale auch bei vielen Leistungen in Betreu- werden durch das Fehlen passender ung und Versorgung. Die Altersgrenze Angebote noch härter. Neue Allian- dafür liegt oft bei 65 Jahren. In den zen können stärken und entlasten. meisten europäischen Ländern gilt Von Petra Rösler das als Beginn des Rentenalters – sozusagen das «vorgesehene» Start- Demenz, so die gängige Ansicht, ist Datum für Alterserkrankungen. In ein Phänomen des hohen Alters. Für Schottland etwa wurde erst durch etwa fünf Prozent der Demenzbetrof- eine jahrelange Kampagne von fenen stimmt das nicht: Sie sind un- Amanda Kopel, der Ehefrau eines ter 65 und haben eine «Alzheimer- Betroffenen von Frühdemenz, die- Erkrankung mit frühem Beginn», eine ses K riterium für kostenlose Betreu- Lewy-Body- oder einer Frontotem- ungsleistungen abgeschafft und der porale Demenz. Gemeinsam ist die- Zugang nach Bedarf geregelt. sen an sich recht unterschiedlichen Schublade «Arbeit» Formen, dass der Weg zur D iagnose lang ist. «Gerade bei gestressten Mit der Demenzdiagnose geht für Menschen im mittleren Lebensalter junge Betroffene fast automatisch maskiert sich die Demenz oft», be- die Kündigung ihres Arbeitsverhält- richtet ein Neurologe. Meist wird in nisses einher. Wer «dement» ist, so Richtung Burnout untersucht und be- die Logik dahinter, vergisst ja immer handelt. «Wenn beispielsweise räum- mehr und kann nicht mehr arbeiten. liche Desorientierung auftritt, haben Diese Argumentation ist vordergrün- wir einen ersten Hinweis, dass etwas dig richtig: «Erst war ich richtig froh anderes dahintersteckt.» aufzuhören», so ein rund 40-Jähriger, der in einem technischen Beruf tätig Schublade «Alter» war. «Es hat mich ja gestresst, dass Junge Menschen beginnen früher ich komplexe Aufgaben nicht mehr mit dem Diagnoseprozess, weil zum erledigen konnte.» Beispiel bei der Arbeit sehr klar Auf die erste Erleichterung folgt wird, dass «etwas nicht stimmt». oft ein trauriges Erwachen. Durch Aber es dauert bis zu vier Jahren, bis Behandlung und Begleitung wird wieder Energie frei und es zeigt sich, Petra Rö s l e r (M ö d l i n g ) i s t B i l d u n g s m a n a g e ri n m it d e n S c hwe rp u n k te n D e m e nz u n d dass noch viele Ressourcen vorhan- Palliative G eriatrie . Sie koordinier t ein en den sind. Wer aber erstmal im Ruhe- d e m e nz fre u n d l i c h e n B ezi rk i n Wi e n , i s t E x p e r ti n f ü r Fre iwi l l i g e n a rb e it u n d fre i e stand gelandet ist, findet nicht mehr M ita rb e ite ri n d e r Pl at t fo rm a lzh e i m e r. c h . zurück – bestenfalls, wie im Beispiel
5 Sonnweid, das Heft Nr. 13 des jungen Mannes, in den zweiten – geschützten – Arbeitsmarkt. Die bis- her wichtigen Fachkompetenzen las- sen sich in der Regel nicht mehr ein- bringen. Das erleben Betroffene als Kränkung. Dazu kommen die finan- ziellen Verluste, die existenzgefähr- dend werden können – vor allem, wenn die Betreuung auch die Berufs- tätigkeit der Partnerin oder des Part- ners einschränkt. Schublade «Familie» Die Familiensituation von jungen Menschen mit Demenz unterschei- det sich von älteren Betroffenen in mehreren Aspekten. Ihre Partner sind meist berufstätig, die Kinder klein oder jung, eventuell leben auch noch Eltern. Zu den erwähnten finan- ziellen Problemen kommen psychi- sche B elastungen, für die herkömm- liche Beratungssettings und Ratgeber wenig anzubieten haben. So gibt es kaum strukturierte Hilfestellung für Kinder, mit den Veränderungen des Elternteils umzugehen. Bisweilen lässt sich die Situation auch gar nicht mehr im Familiensetting bewältigen. Ein Psychologe erzählt etwa von einem Vater, der in ein Pflegeheim ziehen musste, weil sein Verhalten bei der sehr jungen Tochter zu grosse Angst auslöste. Schublade «betreuen und wohnen» Wohin können sich junge Betroffene wenden, um eine Tagesstruktur oder gar betreute Wohnmöglichkeiten zu finden? Hier ist die Luft dünn, die An- gebote sind fast ausschliesslich auf sehr alte Menschen mit hohem Pflege- bedarf ausgerichtet. Sowohl bei den Menschen mit Demenz selbst als auch bei ihren Angehörigen ist die Ak- zeptanz für solche Einrichtungen ver- ständlicherweise gering. «Dort gehört mein Mann noch nicht hin», heisst es dann treffend. Spezielle Tageszentren und Wohn möglichkeiten sind aber rar. In Tirol entsteht derzeit ein Tageszentrum, dessen Angebote für und vor allem zusammen mit Menschen mit Demenz entwickelt werden, die noch viele Res- sourcen haben und körperlich aktiv sind. Werkstätten für Handwerk und Kunst soll es dort ebenso geben wie Gartenarbeit und Beschäftigung mit modernen Medien. Auch in Zürich
6 existiert ein solches Angebot. In Bel- zu schaffen ist, wie kann es also gelin- wenn es um das Thema Arbeit geht, gien wiederum wird seit Kurzem das gen? Am besten in Schicksalsgemein- könnten Menschen mit Frühdemenz Wohnen im stationären Bereich auch schaften mit anderen in der gleichen vom Behindertenstatus gut profitie- vor dem 65. Lebensjahr durch eine oder einer ähnlichen Situation. ren. Auch in anderen Lebensberei- Förderung erleichtert. Das Problem Die ermutigendsten Beispiele für chen und bei Finanzierungsthemen der so unterschiedlichen Bedürfnis solche Gemeinschaft sind Selbst liessen sich Allianzen denken. Ganz lagen im Heim über mehr als eine hilfegruppen für Menschen mit Früh- sicherlich gibt es hier noch einiges un- Generation hinweg ist mit der Finan- demenz und/oder in frühen Phasen. genutztes Potenzial, auch in den gut zierung allein aber noch nicht gelöst. «Das Gefühl ‚Ich bin der Einzige mit entwickelten Ansätzen des Behin- so etwas‘ ist weggefallen», sagt etwa dertenbereichs für persönliche As- Schublade «Lebensende» ein Nutzer der Wiener PROMENZ- sistenz, Ressourcenorientierung und Eine Demenzdiagnose, so sagt man Gruppe. Und eine weitere Nutzerin Alltagsgestaltung. Die Berührungs- gern, ist wichtig, damit man für die geniesst die Gruppe als «eine Stelle, ängste scheinen aber noch gross. verbleibende und vermutlich kurze wo es sozusagen normal ist». In Öster- Vielleicht nicht verwunderlich, wenn Zeit gut vorsorgen kann. «Vor fast reich gibt es solche und ähnliche An- zwei stigmatisierte Bereiche aufein- 15 Jahren hat man meiner Mutter gebote derzeit an drei Orten – jeweils andertreffen – die Angst vor einer Po- nach der Diagnose gesagt, sie solle im Nahbereich von Grossstädten. tenzierung lässt sich nachvollziehen. rasch noch ihre Angelegenheiten re- Der Gesetzgeber und die Verwaltung Inseln der Gemeinsamkeit geln», erzählt die Tochter von A gnes wiederum fürchten sich vor unabseh- Houston aus Schottland. Agnes ist In der Schweiz bietet Mosaik Selbst- baren Mehrkosten. heute nach wie vor in der Selbstver- hilfe an, in Deutschland gibt es meh- Andere Bereiche, an denen man tretung aktiv, hält in ganz Europa rere Gruppen mit und ohne Einbin- andocken könnte, sind Angebote für Vorträge und schreibt Ratgeber. Für dung der Partnerinnen und Partner. Menschen mit psychischen Erkran- den Alltag mit ihrer Demenz hat man Bei der Finanzierung zeigt sich in kungen – etwa bei Unterstützungs- ihr wenig Konkretes angeboten, sagt Österreich doch rasch wieder eine und Ferienangeboten für Kinder (die sie. Obwohl es heute in Schottland Schublade: Unterstützte Gruppen es in Belgien bereits im Kontext Früh- für junge Menschen mit Demenz eine gelten nicht als Selbsthilfe und sind demenz gibt) oder bei der Wieder- persönliche Beratung durch «Link von Unterstützungen abgeschnitten. eingliederung in den Arbeitsprozess. Worker» gibt, ist auch ihre Tätigkeit Bewährt hat sich auch Peer-to-Peer- Auch im Hospizbereich lässt sich theoretisch mit dem Erreichen des Beratung im 1:1-Setting. Nicht nur Wertvolles für junge Familien finden, 65. Lebensjahrs zu Ende (praktisch die innerliche Bewältigung der neu- zum Beispiel bei der Unterstützung in bleiben sie mit ihren Klienten in en Lebenssituation, sondern auch finanziellen Belangen durch die So Kontakt). ganz konkrete Strategien und Tipps zialarbeit und bei der Begleitung von In den meisten anderen Ländern für den Alltag werden hier auf Augen- Kindern und Jugendlichen in Trauer- fehlen solche speziellen Begleitan- höhe vermittelt. prozessen. gebote. Dass Personen mit Demenz Von der Selbsthilfe führt der Weg Ziel Schicksals- noch arbeiten, reisen, Sport trei- manchmal auch zur Selbstvertretung. gemeinschaft aller ben, kurz: aktiv und produktiv sein In Grossbritannien werden Menschen wollen, ist sozusagen nicht «vor- auf diesem Weg unterstützt, etwa Es gibt noch viel zu tun – aber doch gesehen». Schulungen für Pflege- durch Seminare und Assistenz für nur wenige Betroffene mit Frühde- und Betreuungspersonen legen den Reisen. Wenn Menschen mit Demenz menz. Zahlt sich das überhaupt aus? Schwerpunkt auf späte Stadien der über ihr Leben sprechen, fördert das Die Gegenfrage macht die Antwort Demenz, auf Abschiednehmen und nicht nur ihr Selbstwertgefühl – sie eindeutig: Macht es Sinn, am Arbeits- Palliativversorgung. geben wichtige Impulse und Einbli- platz auf Wissen und Erfahrung ganz cke zur Entwicklung neuer Angebote, zu verzichten, statt eine flexible Lö- Schicksalsgemeinschaften durchaus auch für ältere Menschen sung zu finden? Macht es Sinn, auf die jenseits des Gewohnten mit Demenz, wie etwa Agnes Houston kreativen Beiträge aus Selbsthilfe Wer Lösungen ausserhalb dieser mit ihren Ratgebern. Auch die For- gruppen für das gesamte Demenzfeld Schubladen braucht, muss für sich schung – in Wien zuletzt zu öffentli- zu verzichten? Akzeptieren wir, dass selbst oder seine Angehörigen ak- chem Verkehr und Mobilität – braucht ganze Familien ohne Verschulden tiv werden. Um Einzellösungen für die Stimme der Betroffenen, um den in finanziell ausweglose Situationen die jeweiligen Bedürfnisse zu finden, Kontakt zur Realität zu halten. geraten? Passt es zu einer modernen braucht es aber Kraft, Mut und gute Gesellschaft, junge Menschen in Be- Neue Allianzen Informationen. Wenige bringen wie treuungseinrichtungen für hochaltri- Amanda Kopel die Energie für einen «Nichts über uns ohne uns» – diesen ge, multimorbide Menschen zu ste- jahrelangen Kampf gegen das System Slogan von Menschen mit Behinde- cken? Oder verstehen wir jede Person auf. Die Zuschreibungen und die Stig- rung haben Menschen mit Demenz, mit früher Demenz als Aufruf, immer matisierung sind mächtig und erzeu- etwa Helga Rohra, bereits für sich weiter an einer solidarischen Gesell- gen Ohnmacht. «Du kommst in die reklamiert. Damit ist aber auch eine schaft zu arbeiten und für einen gros- Alzheimer-Kiste und aus ist es», sagt Schicksalsgemeinschaft benannt, sen Gewinn an Menschlichkeit kleine ein Betroffener. Wenn es allein nicht die noch wenig gepflegt wird. Gerade finanzielle Beträge zu investieren?
7 Sonnweid, das Heft Nr. 13 JUNGE FAMILIE Da stand Fabienne einfach auf und ging… Stefan und Fabienne schrieben eine Freund, der im Hotel «Julier Palace» nicht. Er schlug ein MRI und eine Un- schöne Liebesgeschichte – mit ro- in Silvaplana arbeitete. An der Re- tersuchung in der Memory-Klinik mantischen Treffen im Engadin, einem zeption stand eine junge Frau in Chur vor. Demenz Typ Alzheimer, Traumurlaub auf Bali, einer gesunden einem Mickey-Mouse-T-Shirt. Stefan kombiniert mit einer Frontotempo- Tochter und einem eigenen Haus. Das war Single und dachte: «Die ist es!». ralen Demenz, lautete die Diagnose Glück war ihnen wohlgesinnt – bis Doch Fabienne ging auf seine Avan- im Januar 2014. An so etwas hatte bis Fabienne ein Durcheinander mit dem cen nicht ein und beachtete ihn kaum. da niemand gedacht. Fabienne war Kalender bekam und beim Küchen- Ein Jahr später besuchte Stefan ein- ja erst 44. einrichter einfach davonlief. mal mehr seinen Freund in Silva «Es war ein riesen Hammer», sagt Von Martin Mühlegg plana. Fabienne schickte ihm eine Stefan Basig. «Die Gedanken kamen SMS und schlug vor, er solle doch zu von oben und unten. Es war ein Wech- Stefan hatte gerade eine Stelle als ihr kommen. selbad der Gefühle, weil es auch eine Produktmanager in der Industrie an- Stefan ging hin. Die beiden setz- gewisse Erleichterung brachte. Wir getreten. Fabienne hatte schon frü- ten sich auf die Terrasse, tranken zwei wussten jetzt, was los war, es gab kei- her ihren Job als Geschäftsführerin Flaschen Wein und redeten bis in den nen Stress mehr um das Verstecken eines Gastro- und Kulturbetriebes zu- Morgen hinein. Bald fand F abienne der Symptome.» gunsten der Betreuung der vierjähri- am Walensee eine Arbeit und zog Stefan hat einen Abschluss als In- gen Tochter aufgegeben. Die Familie hinunter nach Chur zu Stefan. 2009, genieur in Systemtechnik. Er hat diese plante den Bau eines eigenen Hau- nach einem Traumurlaub auf Bali, Widerstandskraft gegen Schicksals- ses in Stefans Heimatdorf Zizers. Das kam die Tochter zur Welt. Alles bes- schläge, die man Resilienz nennt. Glück war der Familie Basig wohlge- tens, die Mutter würde ein paar Jahre Wie die meisten Ingenieure ist er ein sinnt – bis während eines Termins zu Hause nach dem Rechten schauen Pragmatiker: Kurz nach der Diagnose beim Kücheneinrichter dunkle Wol- und dann in Teilzeit arbeiten. recherchierte, organisierte und dis- ken aufzogen. Im Alter von 42 Jahren zeigte kutierte er viel. Er erhielt wertvolle Das Paar besichtigte in der Aus- Fabienne erste Symptome. Sie ver- Unterstützung von der Demenz-Fach- stellung allerlei Küchen. Diskutierte gass Termine, beim Einkaufen offen- frau Margrit Dobler. Zudem suchte er über Kochherde, Spülbecken und Ab- barten sich ungewohnte Schwächen die Unterstützung eines Psychologen. waschmaschinen, über Armaturen, im Kopfrechnen. Sie vergass die Sit- Etliche Fragen waren zu klären: Wie Schubladen und Farben. Anschlies- zung beim Bodenleger in Ems oder sollen wir damit umgehen? Was müs- send besprachen sie mit der Archi- Dinge, die besprochen worden waren. sen wir für die Tochter tun, wie sol- tektin und dem Kücheneinrichter ihre Sagte: «Ihr könnt am 18. kommen», len wir es ihr sagen? Wem sollen wir Eindrücke und Wünsche. wenn schon der 23. war. Beim Umzug es sonst noch sagen? Wie verläuft so Da stand Fabienne einfach auf ins neue Haus merkten auch Freunde eine Krankheit? und ging weg. Ohne etwas zu sagen. und Verwandte, dass mit Fabienne «Nicht verrückt, Das war im Jahr 2013. etwas nicht stimmte. «Du, was ist mit sondern krank» Nach einigen Minuten machte ihr los?», fragten sie Stefan. «Sie ist sich Stefan auf die Suche nach seiner so anders, so langsam, so merkwür- Stefan und Fabienne entschieden Frau. Er fand sie in einer Küche mit dig…» Das war im Herbst 2013. sich für einen offenen Umgang. Sie Rüstinsel und olivbraunen Schränken. informierten Familie, Freunde, und «Jetzt gehst du hin!» «Die nehmen wir», sagte sie. Stefan Nachbarn. Er schrieb einen Brief und war einverstanden – und irritiert, weil Die ersten Wochen im neuen Haus schickte ihn an die Eltern der Kinder, sie ursprünglich andere Vorstellungen waren noch schön, doch Fabienne die mit seiner Tochter den Kinder- gehabt hatten. «Wir entschieden im- hatte zunehmend ein Durcheinander garten besuchten. «Verheimlichen mer gemeinsam», wird er sieben Jahre mit ihren Terminen und verhielt sich kommt nicht gut an – die Leute r eden später sagen. «Manchmal diskutier- nicht mehr so, wie Stefan sie k annte. so oder so darüber», sagt Stefan. ten wir bei einer Flasche Wein, bis wir Die Defizite zeigten sich in immer «Die Leute in unserem Umfeld sollten zu einer Lösung kamen, die für beide kürzeren Abständen. «So jetzt gehst wissen, dass Fabienne nicht verrückt, stimmte.» du hin», sagte Stefan, als die Ausre- sondern krank ist.» den nicht mehr funktionierten, und Die Menschen reagierten ohne «Die ist es!» schickte sie zum Psychologen. Nach Ausnahme positiv: Eltern boten an, Rückblick: Im Sommer 2004 besuch- dem zweiten Treffen sagte der Psy- die Tochter zu hüten. Nachbarn ka- te Stefan – er war damals 28 – einen chologe, Fabiennes Zeitraster stimme men zum Kaffee und fragten, auf
9 Sonnweid, das Heft Nr. 13 welche Art sie helfen könnten. Stefans zuliebe tat: «Es ist wie beim Bank einem Lächeln. Ihre Finger sind steif beste Freunde sorgten dafür, dass er konto: Du kannst nur abheben, wenn geworden. Stefan wünscht sich eine auch mal auf andere Gedanken kam. du genug einzahlst.» neue Beziehung, aber nicht um jeden Sein Chef bot flexiblere Arbeitszeiten Beim Outing der Krankheit sei- Preis. Er fragte seine Familie – unter und ein reduziertes Pensum an. ner Frau ging Stefan noch weiter als anderem Fabiennes Eltern – wie sie Vom Psychologen wollte Stefan andere. Er berichtete im Schweizer dazu stünden. Sie alle fanden, er habe zum Beispiel wissen, wie er es der Fernsehen von seinen Erfahrungen so viel für Fabienne getan, er s olle jetzt damals fünfjährigen Tochter erklären und trat am Zürcher Demenz Meet das Leben wieder g eniessen dürfen. sollte. «Mama tut es nicht weh. Sie auf. «Es gibt nicht viele, die öffentlich Das Hotel «Julier Palace», in dem spürt es nicht, und wir können nichts darüber reden wollen», sagt Stefan. die Geschichte von Fabienne und Ste- dafür»: Diese Erklärung hallt bis heu- «Du bist an allen Ecken gefordert fan ihren Anfang nahm, gibt es nicht te nach. Stefan sagte sich: «Was man und wirst zu einem Experten – ob du mehr. An seiner Stelle ist ein Neubau einem Kind erzählt, kann auch mir gut es willst oder nicht. Die Rückmeldun- mit Ferienwohnungen entstanden. tun. Ich kann nichts dafür, aber ich gen haben mir gezeigt, dass ich mit Wenn Stefan heute die Küche be- kann eine Umgebung schaffen, in der meinen Erfahrungen dem einen oder tritt, die Fabienne 2013 ausgesucht sie sich wohlfühlt.» anderen helfen konnte.» hat, spürt er nur positive Gefühle: Die Hilfsbereitschaft der Men- Besonders freute es ihn, als ihm «Sie ist richtig cool und schön! Hin- schen hat Stefan positiv überrascht. eine Frau schrieb, sie habe es sich ten an der Wand kochst du, und auf Weniger erfreulich war die Erkennt- endlich erlaubt, ihren demenzkran- der Insel, die ein Lavabo hat, rüstest nis, dass das «Demenzsystem» der ken Mann für ein paar Stunden abzu- du. Du kannst die Gäste früher ein- Schweiz verzettelt und kaum zu über- geben. Stefan: «Meine Botschaft ist, laden, sie können mithelfen oder an schauen ist. Den Angehörigen wird dass man sich nicht komplett aufgibt der Insel sitzen und mit dir reden. Die viel abverlangt, ob es um das Her- für den anderen – der andere wünscht Küche erzählt eine schöne Story. Sie ausfinden von Entlastungsangeboten sich dies sicher nicht. Ein gesunder erinnert mich daran, dass Fabienne oder die Beantragung finanzieller Un- Egoismus kann sehr sozial sein.» sehr viel Gutes gemacht hat.» terstützung geht. Es fehlen zentrale Stefans Tipps für Anlaufstellen, die in allen Fragen wei- pflegende Angehörige: terhelfen können. Ausserdem gibt es kaum Angebote für junge Menschen • Man darf Hilfe annehmen, mit Demenz. und man muss Hilfe holen «Nur abheben, • Man darf Menschen mit Demenz wenn du einzahlst» an andere abgeben, manchmal muss man es tun Fabienne baute rasch ab. Kaum hat- te Stefan das Leben der Familie sta- • Man ist nicht allein mit solchen bilisiert, tauchten neue Probleme auf. Themen und Belastungen Etwas mehr als ein Jahr nach der Dia- gnose konnte Fabienne nicht mehr al- Zwei neue Probleme sorgten dafür, lein zu Hause sein. Stefan übernahm dass Fabienne nicht mehr zu Hause zwei Tage die Woche, sein Vater und bleiben konnte. Einerseits wurde sie Fabiennes Mutter je einen. Für ein bis – besonders gegenüber Frauen – oft zwei Tage stellte Stefan eine ausge- laut und wehrte sich gegen Betreu- bildete Betreuerin an. ung und Pflege. Andererseits wurde Gesprächsgruppen für Angehörige Diese Anstellung brachte Entlas- sie inkontinent. Ein Jahr nach Stefans Das Leben mit an Frontotemporaler tung, bürdete Stefan aber viel Arbeit Auftritt im Schweizer Fernsehen trat Demenz (FTD) erkrankten Menschen auf. Er musste zu diesem Zweck eine Fabienne in das Altersheim einer fordert Angehörige und B etreuende Einzelfirma gründen, die Versiche- Nachbargemeinde ein. Stefan fragte oft bis aufs Äusserste. Verständnis- rungen und Altersvorsorge der An- sich, ob er es nicht hätte besser ma- losigkeit der Umgebung, Scham, Isolation, Umgang mit herausfordern gestellten organisieren und Buchhal- chen können. Die negativen Gefühle dem Verhalten des B etroffenen tung führen. Zudem beantragte er nahmen ab, als er sah, wie liebevoll sind nur einige der T hemen, welche für seine Fabienne Ergänzungsleis- Fabienne betreut wird. Dass sie dort die Angehörigen belasten. tungen, Hilflosenentschädigung und neue Kontakte knüpfen konnte. Alzheimer Schweiz und die De- eine IV-Rente. menzfachfrau Margrit Dobler bieten «Die Küche ist richtig cool!» Angehörigen von Menschen mit FTD Stefan ist ein Mensch, der seinen die Möglichkeit eines Austausches Mitmenschen gerne etwas gibt. Doch Fabienne lebt jetzt seit drei Jahren in geschütztem Rahmen. Hier können die vielen Aufgaben erschöpften ihn: im Heim. Stefan und die Tochter be- die Angehörigen eigene Grenzen ken- «Ich wurde am Abend nicht mehr ru- suchen sie wöchentlich. «Viele Trepp- nenlernen und über den Umgang mit hig, ging mit vielen Fragen ins Bett.» chen geht es nicht mehr hinunter», den eigenen Gefühlen reden. Solche Gesprächsgruppen gibt es in Zürich, Er erkannte, dass er seiner Frau und sagt Stefan zu ihrem Zustand. Sie re- Basel, Chur und Olten. Weitere Infor- seiner Tochter nur ein guter Begleiter det nicht mehr und reagiert nur selten mationen und Anmeldung unter: sein konnte, wenn er auch sich etwas auf ihn und die Tochter, dann aber mit ftd-margrit.dobler@hotmail.com
10 UMFR AGE Auf unserer Station haben wir einen Bewohner mit Jahrgang 1958 . Dieser Mann ist nun seit fast zehn Jahren in der Sonnweid und nicht viel älter als mein Papa. Ich finde dies sehr prägend. Vom Alter her könnten es meine Eltern sein, deshalb stelle ich mir die Frage, wie ich mit ihnen umgehen würde. W elche Sprache würde ich sprechen? Welche Aktivitäten machen? Welche Musik wollen sie hören? Andrina Parigger (18) Fachfrau Gesundheit (FaGe) in Ausbildung Egal, welches Alter der Betroffene hat, Eine junge Bewohnerin hat sich sehr eine individuelle Pflege und Betreuung geschämt für die Pants, die sie wegen sind zentral. Jüngere Betroffene bringen ihrer Inkontinenz tragen musste. Als oftmals andere Bedürfnisse, Ressourcen sie mit ihrem Freund spazieren ging, und Stärken mit sich, die es zu b ea chten hat sie so gelitten, weil sie Angst davor gilt. Der Einbezug von Familie, sozialen hatte, dass er es merken würde. Bei Kontakten, Beruf oder Hobbys sind von einem Menschen mit Demenz, der keine grosser Bedeutung, weil junge Men- F alten im Gesicht hat und sportlich schen durch die Erkrankung aus ihrem aussieht, ist die Begegnung für mich Alltag herausgerissen worden sind. ganz anders. Ich empfinde viel Mit Vera Berisha (29) gefühl und erlebe grosse Momente der Pflegefachfrau HF Traurigkeit. Amparo Oviedo (60) Pflegehelferin SRK ( gk/mm) Auf unserer Abteilung lebt ein Bewohner mit dem gleichen Jahrgang wie ich. Für mich macht das keinen grossen Unter schied. Ob jünger oder älter: Das Wich- tigste ist, dem Bewohner das zu geben, was er im Moment braucht, und ihn dort abzuholen, wo er gerade steht. Die Begleitung eines j ungen Bewohners unterscheidet sich aber darin, dass wir die gleiche Sprache sprechen und teil- weise auch die gleichen Ansichten teilen. Susanna Müller (57) Fachfrau Gesundheit (FaGe)
11 Sonnweid, das Heft Nr. 13 DAS RICHTIGE TUN Krügel informierte die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) «Ich habe mich nie von sich aus. Er sagt es deutlich: Die KESB habe ihn unterstützt, nicht ent- mündigt, wie viele immer wieder kla- hilflos gefühlt» gen. Gemeinsam mit seiner Familie, seinem Netzwerk und der Behörde hat er sich der Aufgabe gestellt: Wie Martin Krügel stellte sich der Demenz Im Mai 2015 Anmeldung bei Irene können wir entlasten, damit es alle seiner jung erkrankten Frau. Er gab Bopp in der Memory Clinic Waid. Ab- Beteiligten besser haben? einer möglichen Zukunft ein Gesicht, klärung, Diagnose, Klarheit. Entstres- Das Loslassen-Müssen nutzte frühzeitig die Netzwerke und sung, wenn das Kind einen Namen be- vertraute den Mitmenschen. kommt – und ja, natürlich, der Vater! Frau Krügel lebt heute in der Sonn- Von Michael Schmieder Jetzt wird vieles klar und die Frage weid. Den Heimeintritt bezeichnet bleibt, warum man nicht selbst auf Martin Krügel als einschneidendes, Martin Krügel lief mir in der Sonn- den Gedanken gekommen ist. Wer zuerst niederschmetterndes Erleb- weid über den Weg, als ich den Auf- übernimmt wann was, wer schaut im nis. Dieses Loslassen-Müssen. Das trag hatte, für dieses Heft mit dem Restaurant, dass sie keinen Stress Anerkennen, dass es zu Hause nicht Schwerpunkt «Zu früh!» Interviews hat? Wohin platziert man sie, was be- mehr geht, bezeichnet er als grösste zu führen und einen Beitrag zu stellt man, und: Wie geht man damit Krisensituation. Die Besuche, sagt er, schreiben. Seine Frau (Jahrgang 1965) um, wenn es dennoch zu Situationen mache er mehr für sich, sie tun ihm lebt bei uns, und er war bereit zu ei- kommt, die man im Vorfeld nicht ab- gut. Wie seine Frau die Besuche wahr- nem Gespräch mit mir. Nach einer fangen kann? nimmt, weiss er nicht. Er geht aber Stunde verspürte ich seit langer Zeit davon aus, dass auch sie die gemein- Dramatische Auswirkungen wieder einmal das Gefühl, wie es ist, sam verbrachte Zeit geniessen kann. wenn einer alles richtig gemacht hat. Wie geht man als Familie die Her- «Ich habe keine Freunde Scheinbar ist es möglich, es als Ange- ausforderungen aktiv an? Was kön- verloren in dieser Zeit.» höriger richtig zu machen. Aber schön nen wir im Vorfeld tun, was könnte als der Reihe nach: nächstes kommen, welche Strategie «Stress wurde mir genommen Zirka ein Jahr vor der Diagnose be- fahren wir? Was ist, wenn sie selber von Menschen, die ich gar nicht gannen bei Krügels Frau Einschrän- Auto fahren will? Wenn sie im Internet gekannt habe.» kungen, die man nicht einordnen Dinge bestellt, die niemand braucht? «Die Kinder haben ja konnte: gestörtes Sozialverhalten, all- Wie begegnen wir dem Kaufzwang in vermutlich die Gene auch in tägliche Fähigkeiten eingeschränkt, der Migros? Was ist, wenn sie 50 Mal sich, aber die lassen sich nicht früh ins Bett gehen. Sie war distanz- telefoniert und im sozialen Umgang verrückt machen, sie wollen los im Sozialverhalten, aber körper- distanzlos ist? Das sind alles bekann- einfach leben.» lich sehr distanziert. Niemand dach- te Anzeichen und Verhaltensauffällig- te daran, dass ihr Vater eine Demenz keiten von Menschen mit einer Fron- Das sind nur drei wörtliche Zitate gehabt hatte und daran gestorben totemporalen Demenz. Im Alltag sind von dem Mann, der mich sehr be- war. Es gab in der Familie offenbar die Auswirkungen dramatisch. Da eindruckt hat. Wie kann man so viel einen blinden Fleck. Es konnte nicht helfen die mit wohlmeinender, em- richtig machen – wo doch oft so vie- sein, was nicht sein darf. pathischer Weichspülerstimme vor- les falsch läuft? gebrachten Rat-Schläge nicht weiter. Martin Krügel stellte sich dem Sich rar machen «Ich habe mich nie hilflos gefühlt», Menschen mit seiner Krankheit. Er Was ist in einer solchen Situation sagt Krügel heute. «Ich habe immer gab einer möglichen Zukunft ein Ge- zu tun? Vielleicht: die gemeinsame Unterstützung bekommen. Ich habe sicht, nutzte frühzeitig die Netzwerke Zeit reduzieren, sich rar machen immer nach Lösungen gesucht und und vertraute den Mitmenschen. Dies und die Kinder (13 und 15 Jahre alt) diese auch gefunden.» Zum Beispiel tat er im Wissen, dass Abschied neh- ebenfalls zu distanzierterem Verhal- an der Theaterkasse, wenn sie sich men zum Leben gehört, und nicht nur ten anhalten. Distanz schaffen kann wieder vordrängte und andere verär- zum Tod. Er stand zu den Gefühlen, stressreduzierend wirken, wenigs- gerte: Dann verteilte er Kärtchen mit die in solch schwierigen Situationen tens eine Zeit lang. Der erste Arzt di- einer kurzen Information zur Krank- hochkommen. Er erkannte, dass der agnostizierte eine Unterfunktion der heit seiner Frau. Er tat es auch im familiäre Rahmen nicht die allein se- Schilddrüse und Eisenmangel. We- Kaufhaus an der Kasse – immer dann, lig machende Struktur im Krankheits- der die Diagnose noch die Behand- wenn die Fehlleistungen so gravierend verlauf sein kann. lung brachten eine Besserung. Wie waren, dass die Mitmenschen das Ver- Abschied führt immer auch zu auch? Der Streit nahm zu, die Kon- halten unwissend und verständnislos Neuem, zu neuen Menschen, zu neu- flikte auch. Und dann ist Mann halt missbilligten. Damit entlastete er sich en Dingen. Dies geschieht dann wie viel weg, mehr als beruflich notwendig auch selbst, denn eine soziale Miss- von selbst. gewesen wäre. Auch eine Strategie. achtung fällt auch auf die Begleiter zurück. Mitgefangen, mitgehangen!
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14 TR AUER «Ich werde für unmündig gehalten» Beat Karstein* (61) lebt mit seiner Frau erlebt, dass Kunden so frech mir ge- immer wieder. Manchmal bin ich ext- Eveline in Winterthur. Mit 58 Jahren genüber waren. Am Schluss haben wir rem traurig und möchte nur noch wei- wurde bei ihm Demenz diagnostiziert. eine friedliche Lösung gefunden. Aber nen. Zu begreifen, dass der geliebte Darüber redet er bis heute nur mit das hat mich sehr irritiert. Mensch so hilflos wird, ist wahnsinnig wenigen. Wenn ihm Fragen danach zu Eveline Beat hatte immer höchste schwierig. Ich arbeite seit dreissig Jah- schwierig sind, antwortet seine Frau. Ansprüche an seine Präzision, und ren als Heilpraktikerin und habe vie- Von Uschi Entenmann nun auf einmal Mühe mit simplem le demenzkranke Menschen in mei- Kopfrechnen. Er musste das Projekt ner Praxis gehabt. Zudem hatte mein Herr Karstein, wie hat Ihr Leben schliesslich abgeben. Vater zehn Jahre Alzheimer, ich weiss vor der Diagnose ausgeschaut? viel darüber. Wann spürten Sie, dass es Schön! Unser Sohn studierte Archi- Ihrem Mann schwerfiel, sich Beat, wenn wir miteinander tektur in Genf und Santiago. Alles zurechtzufinden? sprechen, machen Ihnen die war gut. Ich war Installateur für Ge- Fragen Mühe? bäudetechnik und hatte einen klei- Eveline Im Winter 2016 lag sein Va- nen Betrieb. Aber mit dem Herzen ter im Sterben. Beat konnte nichts Ich merke, dass mir Worte fehlen. war ich Künstler. anderes mehr denken, er drehte sich Alles geschieht jetzt viel langsamer. elend im Kreis, das ging monatelang Ich vergesse schnell. Wenn ich ei- Welche Kunst war es denn, die über die normale Belastung hinaus. nen Rucksack packe, brauche ich Ihnen am Herzen lag? Ich dachte: Was ist bloss los mit ihm? eine Liste und kontrolliere x-mal, Schon als Kind habe ich geschnitzt. Beat Ich dachte, ich bin nur übermü- ob ich alles habe. Orange, Messer, Auch später arbeitete ich mit Holz, det. Ging zu meinem Hausarzt, der Regenschutz… ebenso mit Metall und Wachs. Als ich Mangel an Vitamin B12 diagnostizier- Wem haben Sie von der 42 wurde, dachte ich: jetzt oder nie. te. Er sagte: Wir spritzen das, in drei Diagnose erzählt? Wenn ich noch ernsthaft als Künstler Monaten bist du wieder fit. wirken möchte, sollte ich nicht länger Eveline Das muss man sich mal vor- Beat Nicht vielen. Unserem Sohn, we- warten. stellen. Nach drei Monaten war es nigen guten Freunden und den engs- noch schlimmer. Der hatte eine Fehl- ten Familienmitgliedern. Die behalten Klingt mutig. Sie sind offenbar diagnose gestellt! das alle für sich. ein unternehmungslustiger Typ? Beat Hinzu kam, ich hatte im selben Warum dürfen die es nicht Ja, eigentlich ja, fröhlich auch. Aber Winter eine aggressive Grippe, mir weitererzählen? manchmal auch tiefgründig. Das ist gings so schlecht, dass wir ins Spital normal, oder? Jedenfalls: Holzskulp- mussten. Dort fragte mich ein Arzt Beat Das ist eine bilaterale Sache. turen faszinierten mich. hektisch aus: Name, Geburtsdatum, Wer mir nicht nah´ steht, dem möch- Geburtsort. Der bellte mich so zackig te ich das nicht erzählen. Ich bin dann Und Ihre Frau, teilt sie Ihre an. Ich dachte, fuck you! Und wusste Müll. Man nimmt mich nicht mehr Leidenschaft für die Kunst? keine Antworten mehr. ernst, das ist weit verbreitet. Wer es Sie unterstützt mich. Aber sonst ar- Eveline Im Sommer 2017 gingen wir weiss, redet nicht mehr mit mir. Ich beitet sie als Heilpraktikerin. deshalb zur Abklärung in die Memory werde für unmündig gehalten. Das ist Klinik nach Zürich. Zwei Monate spä- zwar kein Unfall, was ich habe, aber Wann merkten Sie zum ersten ter hatten wir Gewissheit: Beat hat ein verfrühtes Todesurteil. Mal, dass Sie nicht mehr Alzheimer. so perfekt funktionierten wie Merken es die Leute nicht früher? Wie ging es Ihnen danach? ohnehin, zum Beispiel die Kassiererin beim Einkaufen? Erste Anzeichen? Da gabs ein schwie- Beat Ganz übel. Die teilten uns das riges Projekt. Neue Sanitärtechnik so unsensibel mit, als wäre es die nor- Beat Ich glaube nicht. Gibt ja immer in einem Mehrfamilienhaus. Dann malste Sache der Welt. Ein Husten wieder Leute, die die Geldbörse hin- schimpfte eine Kundin, wie langsam oder so. Ich war im Schockzustand. strecken, damit ihnen geholfen wird. ich sei. Und die Rechnung stimme Hab viel geweint. Und dabei sagen, «Ich hab meine nicht. Ja, ich hätte besser rechnen Eveline Zuerst habe ich das akzeptie- Brille vergessen». müssen. Aber die hätte das doch gar ren können. Endlich wussten wir we- Eveline Mein Mann hat Angst, als nicht verstanden, die war doch selber nigstens Bescheid. Bei mir kam der Depp abgestempelt zu werden. Einem saftig dement. Ich hatte bis dahin nie Zusammenbruch später. Und seither Nachbarn habe ich es jetzt erzählt,
15 Sonnweid, das Heft Nr. 13 mit Beats Einverständnis. Das brauch- wie ich, die oft mit etwas rausplatzt, Wissen Sie, was Sie gefrühstückt te echt Überzeugungsarbeit. Erst sag- impulsiv ist und versehentlich Gläser haben? te Beat rigoros nein!, später lenkte er umkippt oder mal einen Teller runter- Ja! (Lacht). Haferflocken mit Birne. ein. Weil er merkte, dass es mir wichtig schmeisst. Jetzt kippt er Gläser um. Ich frühstücke immer das gleiche. ist. Ich finde es besser, wenn Offenheit Ziehen Sie beide sich wegen der herrscht. Haben Sie noch Pläne für dieses Krankheit zurück? Jahr? Wie reagieren die, die es wissen? Beat Vielleicht ja, da müssen wir auf- Ich merke, die Demenz schreitet lang- Das sind die ganz nahen Freunde mei- passen. Ich bin von Eveline mehr als sam voran. Ich schiebe die Dinge lieber nes Mannes, die reagieren sehr po- früher abhängig. Sie liest gern, taucht nicht mehr auf. Besuchte grade einen sitiv und warmherzig. Nur einer kann ein in eine andere Welt. Lesen geht Freund in Berlin. Und gehe bald mit es nicht nachvollziehen und zieht sich bei mir nur noch sehr langsam. meiner Frau nach Afrika auf Safari. zurück. Eveline Wir sind beide gern zu Hau- Eveline Mein Kindheitstraum war eine se und hatten nie viel Besuch. Das Hat die Diagnose Ihre Beziehung Safari in Tansania. Beat wollte das ist jetzt noch weniger geworden. Un- verändert? nie. Jetzt sagt er aber doch, er kommt ser Sohn sagt, das sei ein Fehler. Wir mit. Aber ich kann nicht mit ihm allein Beat Ja schon. Wir sind enger gewor- müssten mehr Menschen zu Hause reisen, das würde mich psychisch völ- den. Ich bin mehr von Eveline abhän- um uns haben. Ich bin aber geprägt lig überfordern, ich wär’ nur Organi- gig, ich brauche sie. von meiner Kindheit: Wenn Besuch sator und Therapeutin. kommt, muss das Haus geputzt und Wobei zum Beispiel? das Drei-Gänge-Menü zubereitet Wovor haben Sie beide am (Beat überlegt…) sein. Da kann ich nicht aus meiner meisten Angst? Eveline Bei allem. Wenn er einkauft, Haut. Die Arbeit hängt jetzt allein an Beat Angst habe ich nicht so sehr. muss ich eine Liste schreiben, er mir, das wird mir zu viel. Bin nur traurig. Es ist so schade um geht immer in denselben kleinen La- Ist es ein Problem, dass Sie zur die Zeit. Meine Frau sagt, wenn ich den und kauft die gleichen Produk- Arbeit gehen, aber Beat immer inkontinent werde, geht es nicht mehr te. Das geht. Ein grosser Laden oder allein zu Hause ist? zu Hause. neue Produkte, das wäre schwierig. Zu Hause räume ich die Sachen weg. Seine Freunde arbeiten alle noch und Sie reden sehr offen miteinander! Ich bitte ihn, den Tisch zu decken, er haben wenig Zeit. Beat verliert sich Eveline Inkontinenz ist ein No go. Urin braucht für alles Aufforderung und dann manchmal in seiner Traurig- ist okay, aber Stuhlgang schaffe ich Anleitung. Manchmal denke ich, dann keit. Wenn ich um fünf von der Arbeit nicht. kann ich es gleich selbst machen. komme, sitzt er total traurig in sei- nem Büro. Vor sich geöffnete Briefe, Haben Sie Sorge, dass Sie Ihre Sind Sie genervt, gibt es Streit? die er nicht versteht. Meist gelingt es Frau irgendwann nicht mehr Eveline Nein, das ist es nicht. Wir ha- mir, ihn da rauszuholen, zum Beispiel, erkennen? ben eine nahe, liebevolle Beziehung. wenn wir laufen gehen. Der Gedanke tut weh. Aber ich tu’s Darauf achten wir beide. Er ist zum Beat Es war schön, als der Nebel end- ja nicht mit böser Absicht. Der Ver- Glück ein offener Typ und verleugnet lich weg ging und die Sonne rauskam. lauf ist bisher langsam. Würde mich die Krankheit nicht vor sich und mir. Arbeiten Sie noch, Beat? freuen, wenn es so weitergeht und ich Das hilft mir. Manchmal haben wir viel bei guter Verfassung noch zehn Jah- Nähe, dann wieder viel Distanz. Oft Nicht als Installateur. Ich r epariere re lebe. verstehe ich nicht, was er sagen möch- nicht mal einen Wasserhahn im Haus. Eveline Ich bin erst 57, also doch noch te, manchmal versteht er mich nicht. Nachher richte ich eine grosse Zer- relativ jung. Wenn er vor mir stirbt, Dann müssen wir uns wieder finden. störung an (lacht). Ich brauch viel möchte ich nicht auch gleich sterben mehr Schlaf und es dauert lang, bis Zum Beispiel? vor Erschöpfung und Überforderung. ich morgens fertig bin, diese Lang- Ich möchte ihm aber ermöglichen, zu Heute Morgen hatte er Rücken- samkeit nervt. Ich muss viele Tablet- Hause zu bleiben, so lange es für uns schmerzen, ich sagte, geh in den ten schlucken, um zehn geh ich los, beide schön ist. Vierfüsslerstand, das verstand er mach mir mein Futter, kontrollier alles nicht. Ich machte es vor. Dann sollte x-mal und fahr mit dem Rad durch die er Katzenbuckel und Hohlrücken ma- Stadt in die Werkstatt. Dort arbeite chen, das verstand er auch nicht. Ich ich mit Holz. wiederholte es, sagte es mit anderen Die Orientierung ist noch gut? Worten und dann ging es. Ja. Nur daheim bin ich oft am Suchen. Dennoch, wer es nicht weiss, Gestern wieder. Irgendwann fand U s c h i E nte n m a n n (Stut t g a r t ) i s t Auto ri n merkt es ihm nicht gleich an… b e i Ze ite n s p i e g e l Re p o r ta g e n u n d Ch ef ich es. re d a k t o ri n d e s M U T M a g azi n s . S i e h at m it Doch wer ihn kennt, spürt, dass er sich Michael Schmieder den Bestseller « Dement, Was war das? a b e r n i c ht b e s c h e u e r t » g e s c h ri e b e n . verändert hat. Er war immer beson- nen, überlegte, bevor er sprach. Nicht … (überlegt). Das weiss ich nicht mehr. (*) N a m e u n d Wo h n o r t g e ä n d e r t .
16 YOUNG CARERS Kleine Menschen mit (zu) grossen Aufgaben In jeder Schulklasse gibt es ein bis Nordrhein-Westfalen ergab einen Ein sechsjähriges Mädchen, das der zwei Kinder oder Jugendliche, die zu Anteil von 6,1 Prozent Young Carers. kranken Mutter eine Salbe bringt, Hause für ein krankes Familienmit- Das heisst, dass es in jeder Schul- erlebt sich als nützlich. Wenn aber glied sorgen. In einem nicht geeigne- klasse ein bis zwei pflegende Kinder/ dieses Mädchen der am Boden lie- ten Umfeld werden diese jungen Hel- Jugendliche gibt. genden Mutter ein überlebenswich fer schnell überfordert. Dass sich junge Menschen um tiges Medikament geben muss, wird Von Martin Mühlegg Kranke kümmern, muss nicht schlecht die Nützlichkeit zur Überforderung. sein. Da ist zum Beispiel der 15-jäh- Die chronische Erkrankung eines El- Die 50-jährige Regula* hat ihre S telle rige Jan, der in seiner Freizeit oft sei- ternteils ist auch für ein Kind ohne verloren, weil sie nicht mehr zuver- nen an Trisomie 21 erkrankten Bru- pflegerische Verantwortung eine Be- lässig arbeitete. Ihre Demenz schrei- der betreut und unterstützt. Er macht lastung. Wenn das Kind auch noch tet rasch voran, die kleine Familie – das gerne und tauscht sich mit sei- hauptverantwortlich ist für das Wohl- Regula hat eine Tochter und ist allein- nen Eltern und seinem weiteren Um- befinden und Überleben des Eltern- erziehend – gerät in soziale und finan- feld darüber aus. Ähnliches gilt für teils, ist dies traumatisierend. Die zielle Not. Regula geht kaum mehr aus die 14-jährige Jasmin, die für ihre an Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass dem Haus und trinkt viel. Die Ange- MS erkrankte Mutter sorgt. Auch sich solche Kinder und Jugendliche hörigen, die untereinander zerstritten sie reflektiert ihre Rolle und sagt ih- psychisch ungünstig entwickeln. Un- sind, haben der zwölfjährigen Toch- ren Mitmenschen, wenn sie das Pfle- günstig ist auch, wenn ein krankes ter Anna gesagt, es sei kein Geld für gen, Kochen, Einkaufen und Waschen Geschwister oder ein kranker Eltern- Pflege da, sie müsse zu ihrer Mutter überlasten oder wenn sie negative teil die ganze Aufmerksamkeit der schauen. Jetzt pflegt, wäscht und Gefühle hat. In solchen Zeiten be- restlichen Familie auf sich zieht. kocht Anna. Ihre Leistungen in der kommt sie mehr Unterstützung von Konzentrationsschwächen, Schule sind schlecht. Sie hat kaum ihrer Grossmutter oder ihrem Vater. Rückzug und Schlafmanko mehr Kontakt zu Gleichaltrigen und Kind und Mutter in einem traut sich nicht, mit Aussenstehenden Studien haben aufgezeigt, dass psy- über ihre Not zu sprechen. Weniger positiv hat die heute erwach- chische Überlastungssymptome bei sene Esther ihre Rolle als Young Carer Young Carers doppelt so häufig auf- Erst seit wenigen Jahren erlebt: Sie pflegte ihre an Hepatitis treten wie bei anderen Kindern und auf dem Radar erkrankte, depressive und trinkende Jugendlichen. Häufige Symptome sind Anna ist nicht allein. Sie gehört zu Mutter. Dazu sorgte sie für ihre jünge- nachlassende Leistungen in Schule einer Gruppe von Jugendlichen und re Schwester und pflegte den krebs- oder Lehre, Konzentrationsschwä- Kindern, von denen man bei uns bis kranken, von der Mutter geschiede- chen, Rückzug und Schlafmanko. vor Kurzem nicht viel mehr wusste, als nen Vater. Erst nach dem Tod ihres Eine Gruppe von Fachleuten um dass es sie gibt. Erst seit wenigen Jah- Vaters erkannte sie, dass sie Unter- die Careum-Professorin Agnes Leu ren ist das Thema der sogenannten stützung brauchte. Die war nicht ein- arbeitet nun an der Sensibilisierung Young Carers im deutschsprachigen fach zu bekommen: Als Esther eine von Privatpersonen und Institutio- Raum auf dem Radar von Forschern psychiatrische Klinik um Hilfe bat, nen (Schulen, Spitex, Sozialdienste, und Fachleuten. sagte man ihr, sie solle einfach die Interessenverbände, Beratungsstel- Forschungen der Careum Hoch- Polizei rufen, wenn es mit der Mutter len etc.). Sie hat Gruppen ins Leben schule in Zürich ergaben überra- nicht mehr gehe. gerufen, in denen sich Young Carers schende Resultate: In der Schweiz Es fällt vielen Young Carers in ungezwungenem Rahmen austau- pflegen fast 8 Prozent aller 10- bis schwer, Unterstützung und Hilfe an- schen können. 15-Jährigen zu Hause ein krankes zufordern. Einerseits finden es vie- Auch auf politischer Ebene tut Familienmitglied. Das sind 51 000 le normal und verpflichtend, ihren sich etwas: In der Schweiz will der Kinder und Jugendliche. Meist sor- Eltern beizustehen. Andererseits Bund pflegende Angehörige mit ver- gen diese jungen Menschen für einen fürchten sie sich davor, ihre Familie schiedenen Massnahmen unterstüt- Elternteil, manchmal auch für Gross «zu verraten». Aussenstehende (Mit- zen (unter anderem durch bessere eltern oder Geschwister. Eine Unter- glieder der erweiterten Familie oder Entlastungsangebote und bezahlte suchung im deutschen Bundesland Behörden) könnten die Familie aus- Pflegeurlaube). Auf Drängen von Inte einanderreissen. Zudem fehlen geeig- ressenverbänden sind auch Jugend- * D i e N a m e n d e r B etrof fe n e n nete niederschwellige Beratungs- und liche und Kinder in diesen Aktions- w u rd e n vo n d e r Re d a k ti o n g e ä n d e r t . Unterstützungsangebote. plan aufgenommen worden. Im neuen
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18 Regierungsplan Österreichs ist eine HER AUSFORDERUNG ALLTAG «präventive Entlastung für pflegende Angehörige, insbesondere der Young Carers» vorgesehen. Netzwerk und Anlaufstellen «Früher waren Careum fördert nun den Aufbau ei- nes Netzwerkes mit Anlaufstellen, Entlastungsdiensten und Plattfor- wir eine lustige men zum Austausch. Dieses Netzwerk soll auch bestehende Strukturen nut- zen – wie zum Beispiel jene von Alz- Familie» heimer Schweiz. Jürgen Ehlers bekam mit 55 die Di- Therapien schlugen nicht an. Nach di- Die Datenlage zu Young Carers, agnose Frontotemporale Demenz. versen weiteren Untersuchungen kam die in der Schweiz Menschen mit De- Seit er krank ist, hat er diverse Ticks die endgültige Diagnose. Inzwischen menz betreuen, ist allerdings sehr entwickelt. Für die Familie ist das hatte Ehlers seinen Job verloren. 25 knapp. Aus einer Angehörigenbefra- Zusammenleben jeden Tag eine Jahre war er bei derselben Firma ge- gung von Alzheimer Schweiz (2012) Herausforderung. wesen, mit der er sich sehr verbun- geht hervor, dass nur sieben Prozent Von Franziska Wolffheim den gefühlt hatte. «Er war total de- der betreuenden Angehörigen unter primiert», erinnert seine Frau. Der 30 Jahre alt sind. «Es könnte gut sein, – Es ist 18.53 Uhr Verlust seiner Arbeit bedeutete für dass es heute mehr sind», sagt Karine – Es ist 18.54 Uhr ihn auch einen Verlust von Identität. Begey, stellvertretende Geschäftslei- – Es ist 18.56 Uhr Nach der Diagnose terin von Alzheimer Schweiz. «Unser – Es ist 18.58 Uhr wie in Trance nationales Alzheimer-Telefon be- – Ich gucke Fernsehen kommt regelmässig Anrufe von Young – Es ist 18.59 Uhr Für die Familie brach mit der Diagno- Carers. Sie haben ähnliche Fragen – Die Katze liegt auf dem Bett se ein festes Gefüge ein, das über Jah- wie andere betreuende Angehörige. – Es ist 19.03 Uhr re verlässlich gewesen war. Eine har- Es sind in der R egel Enkel von Men- monische Familie, die am Hamburger schen mit Demenz, die nicht unbe- Seit er krank ist, setzt Jürgen Ehlers Stadtrand lebt, zwei Töchter, heute dingt unter dem Rentenalter sind.» In zahlreiche WhatsApps ab. Um Kon- 20 und 23 Jahre alt, freundliche Nach- den Sektionen Zürich (www.alz-zue- takt zu seiner Frau zu halten, wenn barn. «Wie in Trance habe ich bei ei- rich.ch) und Waadt (www.alzheimer- sie nicht da ist. Oft stellt sie ihr H andy nem Pflegestützpunkt Informationen vaud.ch) gibt es b ereits Gesprächs- stumm, wenn er immer wieder ver- eingeholt und alle nötigen Schritte gruppen für junge Angehörige. Weil sucht, sie anzurufen. Selbstschutz, eingeleitet», sagt Petra Ehlers. Be- Alzheimer Schweiz immer mehr An- das hat Petra Ehlers gelernt, ist eine rufsunfähigkeitsrente, Vollmachten. fragen in diese Richtung bekommt, unerlässliche Strategie, wenn man Wochenlang hat sie alles im Internet sind nun Überlegungen zu noch mehr mit jemandem zusammenlebt, der gelesen, was sie über die Krankheit spezifischen Angeboten im Gang. andauernd dieselben Fragen stellt, finden konnte. «Ich wusste, was auf der ständig mitteilt, was er gerade uns zukommt.» Dass die Berufsunfä- macht. Auch jetzt stellt sie ihr Handy higkeitsrente relativ hoch ist, dass ihr stumm, damit wir in Ruhe reden kön- Mann darüber hinaus für die Familie nen. Dass das Gespräch mit ihr und finanziell vorgesorgt hat, schafft zu- der jüngeren Tochter Sabrina nicht zu mindest materiell Entlastung. Für ihre Hause, sondern an einem neutralen, Psyche muss sie selbst sorgen. ungestörten Ort stattfinden kann, Die Krankheit ist nach der Diagno- war ihr wichtig. se schnell fortgeschritten. Zunächst Wann fing das alles an? Im August war Jürgen Ehlers noch in seinem 2018 bekam Jürgen Ehlers die Diag- Handball-Verein aktiv, hat Trompete nose Frontotemporale Demenz. Eine gespielt und ist regelmässig schwim- eher seltene Form der Demenz, von men gegangen. Heute ist das alles der häufig auch jüngere Menschen Vergangenheit. Der 56-Jährige leidet betroffen sind. Zwei Jahre zuvor hatte unter Sprachstörungen, spricht kaum Ehlers, der als Unternehmensberater noch zusammenhängende Sätze. viel unterwegs war, bei der Arbeit eine Sein Motorrad ist verkauft, auch die Angstattacke bekommen. Er wur- anderen Hobbys pflegt er nicht mehr. de auf Burnout behandelt, aber die Nachdem er einen Autounfall gebaut hat, setzt er sich nicht mehr ans Steu- Fra nzi s ka Wo lf fh e i m (H a m b u r g ) i s t fre i e er. Sein Tag ist klar strukturiert, feste J o u rn a l i s ti n u n d B u c h a uto ri n . S i e a rb e itet u nte r a n d e re m f ü r S p i e g e l o n l i n e, STE R N , Essens- und Schlafzeiten, Rituale, die c h ri s m o n , B ri g it te u n d a lzh e i m e r. c h . zu Ticks geworden sind.
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