Sozial - Pflegekinder in der Schweiz: Was es braucht für ein gutes Aufwachsen - ZHAW
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ZÜRCHER HOCHSCHULE FÜR NR. 15 / 2021 ANGEWANDTE WISSENSCHAFTEN MAGAZIN ZHAW SOZIALE ARBEIT Seite 10 Pflegekinder in der Schweiz: sozial Was es braucht für ein gutes Aufwachsen
EDITORIAL Unser neues Normal ist alles andere als normal – und das ist gut so Wenn sich die Arbeits- und Lebenswelten so rasch verändern wie in den vergangenen anderthalb Jahren, bringt dies auch Gefühle und Gedanken ins Rotieren. Oft waren wir hin- und hergerissen Impressum zwischen Sorge und Erschöpfung einerseits, Mut und Hoffnung andererseits. Mir ging es nicht anders. Unmittelbar vor der Pande- HERAUSGEBER ZHAW Soziale Arbeit mie haben wir, das Departement Soziale Arbeit der ZHAW, begon- Pfingstweidstrasse 96 Postfach nen, uns neu auszurichten. Dies mit dem Ziel, unsere wissenschaft- 8037 Zürich liche Expertise noch stärker dazu zu nutzen, um als Dienstleister KONZEPT für die sozialarbeiterische Praxis da zu sein. Wir wollten noch Regula Freuler Christine Zürn aktueller werden, noch aufmerksamer. Corona hat diese Aufgabe REDAKTION wahrlich nicht einfacher gemacht. Aber es hat uns auch in unserem Regula Freuler regula.freuler@zhaw.ch Vorhaben bestärkt. GESTALTUNG Denn für die meisten Adressatinnen und Adressaten der Andrea Koch, Notice Design, Zürich Sozialen Arbeit bedeutete die Pandemie ein drastischer Einschnitt. KORREKTORAT Für uns als Hochschule war klar, dass wir uns mit allen Möglich- Text Control, Zürich keiten für diese Menschen einsetzen, und zwar auf jene Weise, auf ADRESSÄNDERUNGEN zhaw.ch/sozialearbeit/ die wir am meisten beitragen können: Indem wir Sozialarbeitende adressaenderung ausbilden; indem wir forschen und die Erkenntnisse für Praxis und «SOZIAL» ABONNIEREN Politik zur Verfügung stellen; indem wir uns mit Sozialarbeitenden zhaw.ch/sozial-abonnieren zusammensetzen. Vieles davon konnten wir schon umsetzen. «SOZIAL» ABBESTELLEN adressverwaltung.sozialearbeit@ Ein sichtbares Zeichen für unsere Veränderung ist das Maga- zhaw.ch zin «sozial». Es sieht nicht nur anders aus, sondern soll auch den DRUCK neuen Geist verkörpern: aktueller, engagierter, praxisnaher. Unser Schmid-Fehr AG, Goldach neues Normal ist also alles andere als normal – und das ist gut so. AUFLAGE 22 000 Exemplare; Foto: Peter Hauser erscheint zweimal jährlich Herzlich, Klimaneutral gedruckt auf Frank Wittmann FSC-zertifiziertes Papier. Gedruckt in der Schweiz. Direktor ZHAW Soziale Arbeit 2
INHALT Sozipedia Seite 29 Pflegekinder in der Schweiz Wie wir mit Hassrede umgehen sollten Caritas-Projekt «Copilot» Seite 10 Seite 16 Seite 26 FORSCHUNG — PRAXIS — WEITERBILDUNG RUBRIKEN 6 Nichtbezug von 22 Ausgrenzung unter 4 NOTIERT Studien, Initiativen, Sozialhilfe Ausgegrenzten Publikationen: Neues aus dem Departement Warum viele Menschen mit Was die Etablierten-Aussen- Migrationshintergrund auf Geld seiter-Theorie von Norbert Elias 18 INTERVIEW verzichten, das ihnen zustünde. mit einem Alkoholikertreff mit Raphael Golta, gemein hat. Sozialvorsteher der Stadt Foto Cover: Sarah Carp; Fotos Inhalt: Sarah Carp, Beni Bischof; Illustration: Anja Wicki Zürich, und den ZHAW- 9 Fernbeziehung Dozierenden Monika Götzö Covid-19 hat die vertrauten 25 Pink Cross forscht und Michael Herzig Gesprächssettings in der mit – über sich 29 SOZIPEDIA Sozialberatung stark verändert. Die Community schwuler, Eine Kolumne über Fachbegriffe auf Abwegen bisexueller und queerer Männer 10 Ein sicheres Zuhause wird aktiv in ein Forschungs- 28 ALUMNI Wie wachsen fremdplatzierte projekt über sie einbezogen. Simon Stocker, Master- Kinder in der Schweiz am besten Absolvent und Experte für Alterspolitik mit auf? Darüber sind sich Politik und 26 «Copilot» hilft beim Exekutiv-Erfahrung Wissenschaft nicht immer einig. Schulstart 30 INTERNATIONAL Caritas Zürich unterstützt 16 Keine rechtsfreien Familien mit jungen Kindern, von Manuel Bertogg aus Marseille Räume sich im Schweizer Schulsystem 32 SOZIAL GESEHEN Rechtspsychiater Frank Urbaniok zurechtzufinden. Cartoon von über Bedrohungsmanagement Lawrence Grimm 3
NOTIERT ADOPTION IN ZWANGSSITUATIONEN Ledige Mütter unter Druck Während vieler Jahre wurden Kinder bei einer Adoption aus ihrer Herkunftsfamilie herausgelöst und in einer neuen Familie platziert, ohne dass dem Kindeswohl genügend Beachtung geschenkt wur- de. Vor allem ledige Mütter standen unter Druck, ihre Kinder ab- zugeben. Die behördlichen und institutionellen Dynamiken dahin- ter wurden bisher kaum untersucht. Für den Zeitraum seit den 1960er-Jahren leisten dies nun Susanne Businger und Nadja Ramsauer vom Institut für Kindheit, Jugend und Familie. Die Rechtsgrundlagen, die Entwicklung der Adoptionszahlen und die Sichtweise der Betroffenen werden ebenfalls analysiert. Die Stu- die zur Geschichte der nationalen und internationalen Adoptionen wird vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert. zhaw.ch/adoption-zwang BLENDED LEARNING Wie Lehren und Lernen aufgemischt werden Eigentlich steht ein Blender (Neu- deutsch: Mixer) in der Küche und verar- beitet Früchte zu Saft. Seit einiger Zeit wird der Begriff auch im Bil dungs kontext verwendet: Blended Learning steht für gemischtes Lehren und Ler- nen. Dabei werden Präsenzunterricht und Online-Elemente und -Tools sowie neue didaktische Methoden kombi- niert. Im Grund ist das nicht wirklich neu, doch der Lockdown hat der Ent- HÄUSLICHE GEWALT wicklung in diesem Bereich erst so rich- tig Vorschub geleistet – auch an der Für einen besseren Schutz ZHAW Soziale Arbeit: Das Departement hat diesen Digitalisierungssprung ge- In der Schweiz nimmt die Zahl registrierter Fälle von häuslicher nutzt, um Lehre und Weiterbildung in Gewalt seit Jahren zu. Was steht hinter dem Phänomen? Dies zu Blended-Learning-Settings zu über- untersuchen, ist das Ziel zweier Studien unter der Co-Leitung von führen. Dieser Prozess wird noch einige Dirk Baier und Susanne Nef. Zum einen soll die erste systematische Monate dauern. Ein Umsetzungskon- Analyse von Statistiken über die Entwicklung häuslicher Gewalt zept zur ZHAW-Strategie «Bildung und während der Covid-19-Pandemie Aufschluss geben. Diese wird digitale Transformation» ist in Erarbei- ergänzt durch Befragungen von Betroffenen sowie Interviews mit tung und wird eine konzeptionelle Expertinnen und Experten. In der zweiten Studie steht die Gewalt- Grundlage für diese Veränderungen betroffenheit im Lebensverlauf von Menschen mit Behinderungen, geben. Derzeit werden Standards guter im Alter sowie LGBTQI+ im Fokus. Hierbei sollen die Wechsel- gemischter Lehr- und Lernsettings ent- wirkung der Risikofaktoren sowie die Barrieren des Zugangs Illustration: Patric Sandri wickelt. Diese werden abgestützt durch zu Unterstützung und Schutz aus intersektionaler Perspektive die zahlreichen gewonnenen Erfahrun- analysiert werden. Beide Studien werden vom Eidgenössischen gen der vergangenen Monate. Büro für Gleichstellung von Frau und Mann finanziert. blog.zhaw.ch/digitalsozial zhaw.ch/gewaltpraevention-vulnerable 4
AHV/IV Zur Reform der Ergänzungsleistungen Seit ihrer Einführung im Jahr 1966 ha- ben sich die Ergänzungsleistungen zur AHV/IV zu einem unerlässlichen Pfeiler der sozialen Sicherheit entwickelt. Denn leider gibt es in der reichen Schweiz so- wohl Altersarmut wie auch Armut unter Menschen mit einem Handicap – und das bis heute. Wie das komplexe Sys- tem der Ergänzungsleistungen ange- ELTERN IN HAFT legt ist und wie es sich in der Praxis von Verwaltung und Rechtsprechung ge- Papas Fenster hat Gitter staltet, zeigen Erwin Carigiet und Uwe Koch in ihrem Buch. Dieses hat sich seit Eisenstäbe und Mauern: So zeichnet ein Kind ein Gefängnis – nor- der Erstpublikation im Jahr 1995 zum malerweise. Sitzt ein Elternteil dieses Kindes in Haft, kommen Mo- Standardwerk und als wegweisendes tive dazu, die von Verlust und Trauer künden. Dass eine Inhaftie- Arbeitsinstrument etabliert. rung von Vater oder Mutter gravierende Folgen für die Entwicklung In der soeben erschienenen Neu- eines Kindes haben kann, ist bekannt. Dennoch gibt es zu diesen auflage widmen sich die Autoren ein- vergessenen Opfern keine gesamtschweizerischen Informationen. gehend der am 1. Januar 2021 in Kraft Eine Studie der ZHAW Soziale Arbeit soll dies ändern. Im Auftrag getretenen EL-Reform. Sie erläutern des Bundesamts für Justiz erhebt ein Team unter der Leitung von insbesondere die Vermögensschwelle, Patrik Manzoni die aktuelle Praxis von Justizvollzugsanstalten und die neuen Mietzinsrichtlinien und die die Erfahrungen von allen Betroffenen. So wird geklärt, ob und wie Rückerstattungspflicht der Erbinnen die Kinder ihr Recht wahrnehmen können, eine Beziehung zum und Erben. Damit wollen sie insbeson- inhaftierten Elternteil zu pflegen. Die Studie dauert bis Herbst dere die Mitarbeitenden der Sozialbe- 2022 und soll Empfehlungen zu Best Practice abgeben. ratung bei ihrer Arbeit unterstützen. Erwin Carigiet, Uwe Koch: Ergänzungsleistungen zhaw.ch/eltern-inhaftiert zur AHV/IV (3., überarbeitete und ergänzte Auflage). Schulthess, Zürich 2021. 391 Seiten. SONDERSCHULISCHE SETTINGS Migrationskinder betroffen DIE ZAHL Hierzulande lernen Kinder mit Migrationshintergrund überpropor- 29 % Foto: REPR – Relais Enfants Parents Romands tional häufig in sonderschulischen Settings. Ein Team der ZHAW Soziale Arbeit analysiert anhand von sechs Fällen im Kanton Zürich, wie es dazu kommt. Die Kinder sind im Alter zwischen Einschu- So hoch ist der Anteil der Sozialhilfebe- lungsalter und 16 Jahren und haben die Diagnose «kognitive Be- ziehenden unter 18 Jahren. Das sind einträchtigung» erhalten. Mithilfe von qualitativen Interviews soll mehr als 79 000 Kinder und Jugendli- ihre schulische Geschichte nachvollzogen werden. Die Studie wird che. Dies ergab der statistische Bericht von der Mercator-Stiftung finanziert und läuft bis Ende 2021. 2021 über Familien in der Schweiz. zhaw.ch/flüchtlingskinder-schule Quelle: Bundesamt für Statistik, Eurostat 5
Trotz prekärer Lebenslage machen viele Ausländerinnen und Ausländer von ihrem Recht auf Sozialhilfe keinen Gebrauch. Was sind ihre Gründe? Hat die Corona-Pandemie dieses Verhalten geändert? Wir haben Fachpersonen bei Behörden und NGO befragt. Von GISELA MEIER, EVA MEY und RAHEL STROHMEIER NAVARRO SMITH «Die Lage wird sich weiter verschärfen, von Migrations- und Sozialpolitik. und es wird vor allem Ausländerinnen Diese wurde mit der Einführung des und Ausländer mit niedrigem Lohn revidierten Ausländer- und Integrati- treffen», lautet die Einschätzung einer onsgesetzes im Jahr 2019 akzentuiert. Sozialarbeiterin aus der wirtschaft- Insbesondere Aufenthalts- und Nieder- lichen Sozialhilfe auf die Frage, wie lassungsrechte, aber auch das Recht auf die Covid-19-Pandemie das Phänomen Familiennachzug oder eine Einbürge- Nichtbezug von Sozialhilfe beeinflus- rung sind an die eigene wirtschaftliche sen wird. Die Corona-Krise hat gezeigt, Unabhängigkeit gekoppelt. wo unsere soziale Sicherung schlecht Unter Pandemiebedingungen ge- greift und an ihre Grenzen stösst. Dies raten oftmals jene Migrantinnen und gilt insbesondere für den Nichtbezug Migranten, die ohnehin schon in krisen- von Sozialhilfe – eine Problematik, die anfälligen Branchen und in unsicheren in der Sozialen Arbeit schon länger Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, mit Sorge beobachtet wird. Betroffen in eine doppelt prekäre Situation: Sie sind dabei insbesondere Ausländerin- verlieren nicht nur ihre Arbeitsstelle, nen und Ausländer mit Aufenthaltsbe- sondern sie sehen auch ihr Bleiberecht willigung B oder C, die trotz prekärer gefährdet. Den Gang aufs Sozialamt, Lebenslagen unterhalb des sozialhil- zu dem sie berechtigt wären, versuchen ferechtlichen Existenzminimums die sie deshalb zu vermeiden. Dieser Um- ihnen zustehende materielle Hilfe be- stand führt zu einem Dilemma in der wusst nicht beantragen. sozialarbeiterischen Beratung. Wenn sich zeigt, dass Personen dringend auf Kontakt wird abgebrochen Sozialhilfe angewiesen wären, wird Welche gesetzlichen Mechanismen und üblicherweise Motivations- und Unter- individuellen Gründe stecken hinter stützungsarbeit geleistet, um diese zu diesem Phänomen? Wie wird derzeit in beantragen, trotz potenzieller aufent- der Sozialen Arbeit damit umgegangen? haltsrechtlicher Konsequenzen. Häufig Und wie wirkt sich der Nichtbezug auf führt dies zum Kontaktabbruch: «Von die betroffenen Personen aus? Diesen einem Tag auf den anderen sehen wir Fragen sind wir anhand von Interviews sie nie mehr», erzählt eine interviewte mit Fachpersonen aus staatlichen und Fachperson aus einer NGO. Häufig sei nicht-staatlichen Behörden- und Fach- stellen des Sozial- und Migrationsbe- reichs im Kanton Zürich nachgegangen. Bisherige Untersuchungen zeigen, dass häufig prozessuale und strukturel- Wenn Menschen den Gang aufs le Gründe zum Nichtbezug von Sozial- Sozialamt vermeiden, führt das zu einem Dilemma in der Foto: Annie Spratt / Unsplash hilfe führen. Sie liegen etwa in kompli- zierten Anmeldeverfahren oder in der restriktiven Definition von Anspruchs- sozialarbeiterischen Beratung. kriterien. Für die ausländische Bevöl- kerung kommt eine erhebliche Hürde hinzu: die zunehmende Verschränkung 7
ohne tatsächlichen Bezug finanzieller Leistungen. Es gibt auf nationaler Ebene noch Gesetzesvorgaben werden kantonal keine gesicherten Zahlen darüber, wie viele Migrantinnen und Migranten aus sehr unterschiedlich umgesetzt. Furcht vor ausländerrechtlichen Kon- Zudem gibt es bei Fallentscheiden sequenzen das Sozialamt meiden oder welche Personengruppen, beispiels- viel Ermessensspielraum. weise in Bezug auf Alter oder Famili- enform, besonders betroffen sind. Je- doch gehen Fachpersonen unisono von einer hohen Anzahl unbekannter Fälle kaum vorstellbar, wie es die Familien aus: «Die Dunkelziffer ist eben beson- schaffen, unter den gegebenen Bedin- ders dunkel.» gungen finanziell durchzukommen. Doch im Falle eines Kontaktabbruchs Wege aus der Abwärtsspirale könne keine persönliche Hilfe mehr Einigkeit besteht unter den für die Stu- geleistet werden. die Befragten auch bezüglich der gra- Viele Fachpersonen sowohl von vierenden Folgen. So mögen kurz- und staatlichen wie nicht-staatlichen Or- mittelfristig die privaten Netzwerke ganisationen schildern, dass die Angst oder vorübergehende Angebote seitens vor ausländerrechtlichen Konsequen- Staat und NGO aushelfen. Längerfristig zen enorm gross sei, wobei deren Be- jedoch drohen Verschuldungs- und Pre- rechtigung nie ganz sicher sei. Erstens karisierungsspiralen, in deren Verlauf werden die gesetzlichen Vorgaben kan- irgendwann der soziale Rückzug er- tonal unterschiedlich umgesetzt. Zwei- folgt, die Wohnsituation unsicher wird tens scheint es erhebliche Ermessens- und physische und/oder psychische spielräume auf der Ebene der einzelnen Probleme zunehmen. Wenn Kinder Fallentscheide zu geben. So spielt es da sind, können sich die Probleme in eine Rolle, wie die Meldepflicht in den mehrfacher Hinsicht und mit potenziell jeweiligen Gemeinden seitens der So- nachhaltigeren Folgen verschärfen. zialhilfe konkret umgesetzt wird; das Die derzeit ergriffenen Massnah- kantonale Migrationsamt evaluiert und men in Form von finanziellen Unter- bewertet dann seinerseits den Sozial- stützungsleistungen jenseits der regu- hilfebezug im Rahmen der aufenthalts- lären Sozialhilfe können zwar helfen, rechtlichen Abklärungen. eine solche Abwärtsspirale hinauszu- zögern (siehe Interview S. 18). Doch Hohe Dunkelziffer kann eine Situation nicht befriedigen, Dazu kommt, dass die Dokumentation in der Menschen, die zum Teil schon zu ausländerrechtlichen Entscheiden viele Jahre in der Schweiz leben, ein noch lückenhaft und wenig zugänglich Grundrecht – nämlich das Anrecht auf ist, was diese sowohl für Betroffene als finanzielle Hilfe in Notlagen – nicht in auch für Fachpersonen noch weniger Anspruch zu nehmen wagen, weil sie vorhersehbar macht und auf beiden ihre Aufenthaltssicherheit nicht riskie- Seiten grosse Unsicherheiten hinter- ren möchten. In einem grösseren Fol- lässt. So wird zum Beispiel nicht diffe- geprojekt möchten wir die zunehmende renziert erfasst, aus welchen Gründen Verschränkung der Sozial- und Migrati- eine Aufenthaltsbewilligung entzogen onspolitik und ihre Auswirkungen aus wird. Je nach institutionellem und kom- Sicht der Betroffenen vertieft analysie- munalpolitischem Kontext variiert der ren und damit Licht ins Dunkel auch Zeitpunkt, wann eine Meldung erfolgt, langfristiger Folgen des Nichtbezugs erheblich. Im Extremfall wird eine Mel- von Sozialhilfe bringen. dung bereits nach dem ersten Kontakt mit dem Sozialdienst getätigt – auch doi.org/10.21256/zhaw-2651 8
SOZIALBERATUNG ONLINE Videocall, Telefon und SMS: Was vom Lockdown übrig bleibt Von MIRYAM ESER DAVOLIO, GISELA MEIER, KUSHTRIM ADILI und CLAUDIA KUNZ MARTIN Rasch ein Online-Meeting aufsetzen oder einen Videocall niger Wahrnehmungsdefiziten wie fehlender Mimik und Ges- vereinbaren anstelle eines Termins im Büro: Was den meis- tik verbunden gewesen wären. Allerdings hätten für Video- ten Sozialberatungsstellen – und wohl den meisten von uns calls bei gewissen Adressatinnen und Adressaten die Infra- überhaupt – im Frühjahr 2020 als schiere Unmöglichkeit struktur und das Know-how gefehlt. vorkam, ist heute vielerorts selbstverständlich. So benutzt Als zentrales Fazit hielten die Sozialarbeitenden die man beispielsweise bei der Sozialberatung Stadt Zürich und Möglichkeit fest, über elektronische Medien die Gespräche in Winterthur seit diesem Jahr neben persönlichen Treffen niederschwelliger zu gestalten, indem diese etwa in kürzeren auch Online-Tools, um Klientinnen und Klienten zu beraten. Abständen und häufiger als sonst üblich stattfanden. Zudem Wie gingen andere Stellen mit dem jähen Schubs in den sei der Aufwand bezüglich Koordination mit weiteren Betei- Lockdown und ins Homeoffice um? Und was nahmen sie in ligten oder der Wegaufwand dank Online-Setting deutlich die neue Normalität mit? Dies wollten wir in einer explorati- geringer. Trotzdem möchten die meisten Sozialarbeitenden ven Analyse herausfinden. Face-to-Face-Beratungen nicht missen, insbesondere bei Bei den Gruppendiskussionen mit 21 Sozialarbeitenden Erstgesprächen, bei denen der Beziehungsaufbau sonst nur aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern zeigten sich viele Ge- schwer zu bewerkstelligen sei. meinsamkeiten. So verfügten die wenigsten Beratungsdienste Aus all diesen Gründen haben viele Beratungsstellen Illustration: Lucia Pigliapochi über die nötige technische Infrastruktur wie Dienstcomputer entschieden, Mischformen von physischen, virtuellen und te- für alle Mitarbeitenden oder Lizenzen für Programme, die lefonischen Gesprächen einzuführen. Für uns als Hochschule den Anforderungen des Datenschutzes genügten. bedeutet dies, dass wir uns zusammen mit der Praxis weiter Dies führte dazu, dass die meisten der Befragten lediglich intensiv mit der Digitalisierung der Sozialen Arbeit befassen. Telefon und Mail nutzten, auch wenn Videocalls der Qualität einer persönlichen Begegnung näher gekommen und mit we- zhaw.ch/online-sozialberatung 9
Was Pflegekinder brauchen In europäischen Ländern sollen fremdplatzierte Kinder viel häufiger in Pflegefamilien als in Heimen aufwachsen. In der Schweiz läuft der Trend in die entgegengesetzte Richtung. Doch man sollte zuerst über Qualitätsstandards diskutieren, bevor man politische Weichen stellt. Von DANIELA REIMER Wenn Kinder in einem Heim oder einer Pflegefa- Arbeit wie auch auf politischer Ebene diskutiert. milie aufwachsen, wird das in der Regel kritisch Doch nicht nur in der Schweiz, sondern auch in beäugt. Das liegt an der leidvollen Geschichte die- anderen europäischen Ländern, vor allem in Ost- ser beiden Formen von Fremdplatzierung, die von europa, wird diskutiert, wie gemeinsame Quali- Moralismus, Missbrauchserfahrungen und Beam- tätsstandards entwickelt werden können. Dies mit tenwillkür geprägt ist, in der Schweiz zumindest dem Ziel, dass weniger Kinder in Heimen platziert bis zur Aufhebung des Jugendhilfegesetzes im werden und sie stattdessen eine Pflegefamilie Jahr 1981. Seither hat sich vieles grundlegend ge- finden. In Deutschland etwa verabschiedete der ändert, politisch, juristisch, gesellschaftlich. Bundestag im Frühjahr eine Reform des Kinder- Aus einer Professionsperspektive der Sozi- und Jugendhilfegesetzes. Dieses beinhaltet unter alen Arbeit stellen sich bei einer Fremdplatzie- anderem eine strengere Aufsicht von Heimen und rung in einer Pflegefamilie folgende Leitfragen: ähnlichen Einrichtungen sowie Anlaufstellen für Welche Rahmenbedingungen brauchen Kinder fremdplatzierte Kinder und Jugendliche. In der und Familien? Was ist eine gute Unterstützung für Schweiz haben diverse Kantone – darunter auch Pflegekinder? Wie kann eine Struktur so gestal- die grossen Kantone Zürich und Bern – ihre Rah- tet sein, dass sie im besten Interesse des Kindes menbedingungen für die Pflegekinderhilfe in den ist, also seine Bedürfnisse und seine Situation im vergangenen Jahren verändert oder sie arbeiten Mittelpunkt stehen? Diese Fragen werden seit dem derzeit an Veränderungen. In Zürich soll die neue Postulat der damaligen Nationalrätin und heuti- Verordnung zum Kinder- und Jugendheimgesetz gen Regierungsrätin Jacqueline Fehr aus dem Jahr (KJG) per 1. Januar 2022 in Kraft treten. Fotos: Sarah Carp 2002, in welchem sie klare, kindzentrierte und na- Ein Grund für die angestrebten Änderungen tional einheitliche Standards für die Pflegekinder- ist die grosse Diversität in den Finanzierungs- und hilfe forderte, regelmässig sowohl in der Sozialen Begleitstrukturen für Pflegeverhältnisse, sogar 11
innerhalb der Kantone. Zum einen gibt es unbe- insbesondere auf Krisensituationen fokussiert gleitete Pflegeverhältnisse, die in den meisten wird. In Zürich soll mit dem neuen Kinder- und Gemeinden nur wenige Aufsichtsbesuche pro Jahr Jugendheimgesetz die Begleitung durch DAF nicht bekommen; viele davon sind Verwandtenpflege- mehr pauschal finanziert, sondern nach erfolg- verhältnisse. Zum anderen gibt es durch private ten Leistungen abgerechnet werden. Ausserdem Dienstleistungsanbieter in der Familienpflege schlägt der Kanton vor, das Setting der professio- (DAF) vermittelte und begleitete Pflegeverhält- nellen Pflegefamilien innerhalb von fünf Jahren nisse. Je nach DAF sind diese unterschiedlich abzuschaffen. Einige Punkte sind noch in Dis- eng gerahmt. Rund die Hälfte der Pflegekinder in kussion; die letzten Anpassungen werden bis zum der Deutschschweiz werden über DAF vermittelt, Inkrafttreten am 1. Januar 2022 erfolgen. Paral- weshalb sie eine bedeutende Rolle im Rahmen der lel zu den Änderungen in den Kantonen hat die Fremdplatzierung spielen. Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) im Januar 2021 ins- Mehr Transparenz angestrebt gesamt 42 Empfehlungen für die ausserfamiliale Und als Drittes gibt es professionelle Pflegefami- Unterbringung von Kindern veröffentlicht. In lien, in denen mindestens ein Pflegeelternteil eine diesen Empfehlungen wird das Kindeswohl ins pädagogische Ausbildung hat. Zudem bekommen Zentrum gestellt. Zudem werden qualitative sie nicht nur einen Lohn für ihre Tätigkeit, son- Mindeststandards für eine einvernehmliche oder dern werden meistens auch noch professionell be- angeordnete Fremdunterbringung festgelegt. Die gleitet. Die Höhe der Entlöhnungen und die Krite- SODK-Empfehlungen verstehen sich als Orientie- rien, warum welches Kind wo platziert wird, sind rungsrahmen für fachliche und politische Gremi- nicht immer eindeutig. Ausserdem fehlt bis jetzt en. Ebenso sollen kantonale Stellen und Gemein- eine schweizweite Übersicht. Die anstehenden den die Weiterentwicklung ihrer Prozesse danach Änderungen in den Kantonen können dem System ausrichten können. mehr Transparenz und eine stärkere Angleichung ermöglichen. Wider den europäischen Trend Im Kanton Bern wird angeknüpft an das Pro- Die kantonalen Anpassungen und die Empfehlun- jekt «Optimierung der ergänzenden Hilfen zur gen der SODK sind parallele Prozesse. Sie beein- Erziehung» (Projekt OeHE), bei dem die Beglei- flussen sich wechselseitig, weil sie den Rahmen tung von Pflegeverhältnissen seit einigen Jahren stecken für die strukturelle und fachliche Weiter- entwicklung der Pflegekinderhilfe und entspre- chend aufeinander abgestimmt werden müssen. Wissenschaftlich begleitet werden die kantonalen Änderungen bisher nur an wenigen Orten, zum DREI FORSCHUNGSPROJEKTE Beispiel im Kanton Neuchâtel. Unklar wird in all Am Institut für Kindheit, Jugend und Familie der den Neuerungen zunehmend die Rolle der DAF, ZHAW Soziale Arbeit hat im März 2021 die SNF- die auch vorher an den meisten Orten nicht voll- Studie «Bilder der Pflegefamilie – und ihre Wirkung ständig geklärt war. In ihrer ganzen – manchmal auf Kooperationsprozesse» unter der Leitung von auch kritisch betrachteten – Vielfalt haben die Daniela Reimer gestartet. Ziel ist es, Entwicklungs- DAF in den letzten Jahrzehnten die bis anhin in möglichkeiten und -grenzen der Pflegekinderhilfe Laienhänden befindliche Pflegekinderhilfe pro- in der Praxis fundiert zu diskutieren und Refle- fessionalisiert und an vielen Orten verbessert. xionsflächen für Fachkräfte zu schaffen. Die Palatin- In den Empfehlungen der SODK wird nun Stiftung fördert im Rahmen des Projekts «Pflege- nicht vorgeschlagen, sie in der Interkantonalen kinder – Next Generation» seit April 2021 drei Stu- Vereinbarung für soziale Einrichtungen (IVSE) dien; sechs Schweizer Hochschulen sind beteiligt, aufzunehmen, wie dies von vielen DAF gefordert auch die ZHAW. So leitet Daniela Reimer die Studie wird. Auch im Vertragsverhältnis zwischen Ge- «Gute Begleitung von Pflegeverhältnissen», und meinden und Pflegefamilien werden DAF nicht Nadja Ramsauer arbeitet an der Studie zu den als Vertragspartner vorgeschlagen. Neue Finan- «Kantonalen Strukturen der Pflegekinderhilfe» mit. zierungsvorschläge wie etwa die Abrechnung auf Stundenbasis würden dazu führen, dass die Arbeit zhaw.ch/gute-begleitung; der DAF administrativ aufwendiger und die finan- zhaw.ch/bilder-pflegefamilie; zielle Basis prekärer werden würden. Während in pflegekinder-nextgeneration.ch der Schweiz Pflegefamilien immer noch allzu oft 12
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Die Fotografin Sarah Carp hat im Foto-Essay «Paranthèse» ihre Welt als Mutter im Lockdown festgehalten. Dafür wurde sie als Swiss Press Photographer of the Year 2021 ausgezeichnet. Die Bilder hier stammen aus dem Essay sowie aus dem Zyklus «Echappées» (2002–2005). 14
als günstige Alternative zur Heimerziehung be- trachtet werden, die idealerweise noch günstiger werden soll, hat die Europäische Union die Pflege- kinderhilfe zur besten Option für ausserfamiliale Unterbringungen ernannt und treibt den Ausbau «In vielen EU-Ländern der Pflegekinderhilfe im Rahmen der EU-Deinsti- gibt es zu wenige tutionalisierungsinitiative seit Anfang 2000 mas- siv voran. In manchen osteuropäischen Ländern, Pflegefamilien und zu die bis in die Nullerjahre hinein traurige Berühmt- wenige qualifizierte heit erlangten wegen ihrer grossen Institutionen und der dort herrschenden furchtbaren Zustände, Professionelle für leben heute deutlich mehr Kinder in Pflegefami- die Begleitung. Doch lien als in Heimen, so etwa in Serbien, Bulgarien und Rumänien. die Zielrichtung ist klar: Während in der Schweiz weiterhin viele klei- weniger Heime.» ne Kinder in Institutionen leben, will die Europä- ische Union diese Praxis unterbinden und fordert das Ende der institutionellen Platzierung von allen Kindern, insbesondere der jüngeren Kinder. Damit ist sie auch im Einklang mit internationalen Er- Projekten beteiligt beziehungsweise führt diese klärungen, wie zum Beispiel der «United Nations durch, zum Teil in Kooperation mit anderen Hoch- Guidelines for the Alternative Care of Children», schulen (siehe S. 12). die fordern, dass Heimplatzierungen limitiert be- Alle diese Studien haben eine intensive Be- ziehungsweise nur für ältere Kinder in Betracht teiligung sowohl der sozialarbeiterischen Pra- gezogen werden sollen, für die genau dieses spe- xis wie auch die Partizipation der Adressatinnen zialisierte Setting angemessen ist. und Adressaten – Kinder und Pflegefamilien – im Fokus. Mit diesen verschiedenen Bemühungen, Studien mit starker Partizipation Projekten, Empfehlungen und Standards sind die Zwar stellt sich auch in der EU die Frage, wie Pfle- besten Voraussetzungen dafür vorhanden, eine gefamilien gefunden und gut begleitet werden kön- grundlegende Diskussion darüber zu führen, wie nen. In vielen Ländern gibt es zu wenige Pflegefa- der Pflegekinderbereich in der Schweiz dauerhaft milien und zu wenige qualifizierte Fachpersonen so aufgestellt werden kann, dass er zukunftsfähig für die Begleitung. Doch die Zielrichtung ist klar, ist. Ziel der Diskussion muss es sein, eine Pflege- und es werden deutlich Ressourcen für den Aus- kinderhilfe zu entwickeln, die das beste Interesse bau der Pflegekinderhilfe zur Verfügung gestellt. des Kindes ins Zentrum stellt. Um zwei der oben genannten Länder als Beispiele Welche Ressourcen braucht es dafür? Wel- zu nennen: Rumänien kündigte 2017 an, über che politischen Weichen müssen gestellt werden? 100 Millionen Euro aus EU-Geldern dafür aufzu- Welche Rolle sollen Pflegefamilien im System der wenden, und in Bulgarien wurden zwischen 2014 Kinder- und Jugendhilfe zukünftig spielen? Wel- und 2020 über 160 Millionen Euro in die Deinsti- che Kompetenzen müssen die Fachpersonen in der tutionalisierung eingesetzt. Pflegekinderhilfe besitzen, und welche Weiter- In der Schweiz gestalten derzeit verschiedene bildungsangebote braucht es für sie? Um diese Organisationen und Projekte die Weiterentwick- Diskussion fundiert zu führen, müssen sich die lung der Pflegekinderhilfe mit. Die SODK hat zentralen Akteurinnen und Akteure all dieser Pro- ihre oben erwähnten Empfehlungen veröffent- zesse nun zusammenfinden. Denn eine fundierte licht. Der Fachverband Integras hat «Standards: Weiterentwicklung gibt es nur, wenn alle mitge- Prozessqualität zur Platzierung von Kindern und nommen werden: die Praxis in den kommunalen Jugendlichen in Pflegefamilien» ausgearbeitet und und kantonalen Stellen sowie in den DAF, die Po- veröffentlicht. Auch in die Forschung wird derzeit litik und auch die Wissenschaft. viel investiert, unter anderem im Rahmen des Na- tionalen Forschungsprogramms 76 «Fürsorge und Weiterbildungen: Zwang» sowie durch das von der Palatin-Stiftung CAS Kindes- und Erwachsenenschutzrecht; lancierte Projekt «Pflegekinder – Next Generati- Kurs Besuchskontakte von fremdplatzierten on». Alleine die ZHAW Soziale Arbeit ist an drei Kindern professionell begleiten 15
Eine liberale oder, um es mit den Worten von Karl Popper zu sagen, eine offene Gesellschaft lebt davon, dass mündige Bürgerinnen und Bürger Freiheitsrech- te besitzen und ihr Leben selbst gestal- ten können. Die Grenze verläuft dort, wo andere Menschen oder die Umwelt geschädigt werden. Diese rote Linie sollten wir verteidigen, auch wenn es unbequem oder sogar riskant erscheint. Einfach ist es meistens dann, wenn es einen Einzeltäter gibt wie etwa bei häuslicher Gewalt. Es gibt speziali- sierte Polizeieinheiten, und es herrscht ein gesellschaftlicher Konsens darü- ber, dass die eigenen vier Wände kein rechtsfreier Raum sind. Immer wieder werde ich gefragt, wie sich Frauen – denn zumeist han- delt es sich um Frauen – verhalten sol- len, wenn sie von ihrem Partner oder Ex-Partner an Leib und Leben bedroht werden. Ich verweise dann oft auf eine Faustregel. Wenn man denkt: «Ich er- statte lieber keine Anzeige, weil der andere dann noch wütender und es noch gefährlicher wird», handelt es sich meist um jene Fälle, die angezeigt werden sollten. Man glaubt zwar, den Aggressor zu besänftigen und die Si- tuation zu verbessern. Jedoch erreicht man meist genau das Gegenteil. Denn durch das Entgegenkommen fühlt sich FORENSIK der Aggressor bestätigt – und von nun Kein Raum an wird alles nur noch schlimmer. Das Prinzip, das hier für den Pri- vatbereich beschrieben wird, sollte für rechtsfreie in gleicher Weise für die ganze Ge- sellschaft gelten. Was andernfalls passieren kann, zeigte unlängst eine Räume Dokumentation über Hooligans im «Aktuellen Sportstudio». Es ging in der ZDF-Sendung darum, dass sich die Ultras verschiedener Vereine auf Diet- mar Hopp, den Sponsor des TSG 1899 Foto: «Ghettofaust» (2011) von Beni Bischof Es gehört zu einer offenen Gesellschaft, Hoffenheim, eingeschossen haben. Er und seine Familie wurden aufs Übels- sich und andere gegen Drohungen te beleidigt und auch bedroht. Hopp und Gewalt zu verteidigen. Auch wenn wollte sich das nicht gefallen lassen und erstattete Strafanzeige. Und was es manchmal Mut dazu braucht. geschah? Eine Welle der Solidarität mit dem Angegriffenen? Weit gefehlt. Von FRANK URBANIOK Viele Funktionäre, Medieschaffende und andere «Fachleute» zeigten sich 16
als feinfühlige Versteher dieses über- und andere Funktionsträgerinnen und aus komplexen Geschehens. Man müs- -träger, die sich hier um ihre Verant- se beide Seiten sehen. Hopp sei nun wortung drücken, um Konflikten aus einmal eine Reizfigur, ausserdem habe dem Weg zu gehen, sind fehl am Platz. er mit seiner Strafanzeige Öl ins Feuer Wie man das mit Drohungen und gegossen. Dies habe fatalerweise dazu Opfer sind nicht die Gewalt verbundene Risiko sachgerecht geführt, dass ganze Fangruppen aus besseren Menschen. beurteilt, wie man mit Risiken umgeht dem Stadion ausgeschlossen wurden – und was sinnvolle Interventionen sind, was für eine drakonische Strafe. Aber sich auf ihre ist die praktisch-methodische Seite. In der Dokumentation kamen auch Seite zu stellen, hat Hier geht es um Professionalität und ausführlich die Vertreter der Ultra-Sze- technische Kompetenzen. Wie aber ne zu Wort, und man hörte und staun- letzten Endes mit Hetze, Drohungen, Gewalt und Straf- te nicht schlecht. Dietmar Hopp habe Zivilcourage zu tun. taten generell eingeordnet werden, ist durch seine Anzeige provoziert und Ausdruck einer politischen und gesell- eine Grenze überschritten, liessen die schaftlichen Haltung. Die Politik, Ent- Ultras verlauten. Die Aktionen gegen scheidungsträger und Profis aus den ihn seien berechtigt gewesen, schliess- Bereichen Polizei und Justiz müssen lich habe man die gewünschte media- das Recht umsetzen und vor allem po- le Aufmerksamkeit erreicht. Gemeint dem Strich wurde der Eindruck vermit- tenzielle Opfer schützen. war: Es sei den Ultras gelungen, die Öf- telt, Dietmar Hopp habe zu mindestens fentlichkeit auf das ihrer Ansicht nach 50 Prozent selbst zur Eskalation beige- Haltung zeigen gravierende Problem hingewiesen zu tragen, weil er die Ultras derart provo- Letztlich geht es um eine gesellschaftli- haben. Nämlich auf die Unverschämt- ziert habe. che Haltung, die wir gemeinsam reprä- heit des Hoffenheim-Sponsors, Anzei- Die Position des neutralen Verste- sentieren sollten. Das heisst: Grösst ge zu erstatten. Dieser Steilpass wurde hers, der Verständnis für beide Seiten mögliche Freiheit und Liberalität für von der ZDF-Redaktion für ihre Doku- hat, ist bequem. Man kann sich für den die individuelle Lebensgestaltung, aber mentation offenbar gerne aufgenom- Austausch der Argumente und für eine keine Toleranz gegenüber menschen- men. Am Ende orteten die Journalisten Mediation einsetzen und stellt damit verachtender Hetze und Gewalt. Und das Verschulden irgendwo in der Mitte. gleichzeitig sicher, nicht selbst Ziel zwar nicht nur dort, wo es einfach und Einzig Uli Hoeness brachte es auf den von Attacken wütender Fangruppen zu bequem ist, sondern überall, nach dem Punkt: Hier werde fälschlicherweise werden. Auch in der Schweiz wird im Motto: keine rechtsfreien Räume. nicht unterschieden, wer eigentlich Tä- Umgang mit gewaltbereiten Fussball- Das gilt im Übrigen auch für die ter und wer Opfer sei, so der ehemalige fans oft eine vornehme Zurückhaltung sozialen Medien. Dort sind Hetze, Fussballstar und heutige Funktionär. an den Tag gelegt, um der Konfron- Drohungen und Aufrufe zu Gewalt an tation aus dem Weg zu gehen. Genau der Tagesordnung. Hier sind wir alle Bequem und ängstlich so entstehen rechtsfreie Räume. Man gefordert, uns zu zeigen, uns zu po- Nun sind die Ultras kein pöbelnder, sucht sich nach Belieben aus, was einem sitionieren und uns mit denjenigen zu drohender oder schlagender Ehemann, rechtlich genehm ist. Einmal markiert solidarisieren, die Ziel von Hassatta- den man verhältnismässig leicht bän- man klar die rote Linie, an anderer Stel- cken sind. Opfer sind nicht die besse- digen und zur Abkühlung in eine Zelle le toleriert man, dass sie überschritten ren Menschen. Aber sich auf die Seite sperren kann. Bei den Ultras droht po- wird, weil es unbequemer, konflikthaf- der Opfer zu stellen, ist – zumindest für tenziell mehr Ärger. Man könnte selbst ter und vielleicht sogar gefährlicher ist. mich – die richtige Seite. Das hat letzten zur Zielscheibe werden, wenn man sich Damit sendet man ein fatales Sig- Endes immer mit Zivilcourage zu tun ihnen entgegenstellt. Da überlegen es nal. Es erinnert stark an ein Phänomen und geht uns alle an. sich viele Leute aus Medien, Sport und bei der Verurteilung von Finanz- und Be- Politik zweimal, ob man sich mit sol- trugsdelikten: Die Kleinen hängt man, FRANK URBANIOK (* 1962) war von 1997 bis 2018 Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen chen Leuten anlegen will. die Grossen lässt man laufen. Grosse Dienstes (PPD) des Kantons Zürich. Er ist als So zeigten sich auch die Macher können im Bereich von Bedrohungen selbständiger Gutachter, Berater, Supervisor und der ZDF-Dokumentation sichtlich be- und Gewalt auch grosse Gruppen sein, ZHAW-Dozent tätig. Ausserdem publiziert er Bücher und Kommentare zu forensischen und müht, die empfindsamen Seelen der Ul- die zum Beispiel in Zusammenhang mit politischen Themen. tras nicht über Gebühr zu strapazieren. Fussballspielen marodierend durch die Zwar wurden die Aktionen der Ultras Strassen ziehen, Sachbeschädigungen Weiterbildungen: nicht explizit gutgeheissen. Aber ihre begehen sowie Leute bedrohen und CAS Forensisches Bedrohungs Vertreter bekamen eine Bühne. Unter angreifen. Politiker, Sportfunktionäre management; Kurs Zivilcourage 17
INTERVIEW MIT RAPHAEL GOLTA MONIKA GÖTZÖ MICHAEL HERZIG Wie viel Not kann die wirtschaftliche Basishilfe lindern? Seit der Pandemie können sich manche Migrantinnen und Migranten kaum mehr Essen oder eine Wohnung leisten. Durch ein Projekt Illustrationen: Elisabeth Moch des Zürcher Stadtrats Raphael Golta stehen ihnen nun 2 Millionen Franken zur Verfügung. Das stösst bei einigen Parteien auf Kritik. Interview: REGULA FREULER 18
Herr Golta, im Sommer startete das von Ihnen lan- cierte Pilotprojekt «Wirtschaftliche Basishilfe», das auf 18 Monate befristet ist: Die Stadt Zürich stellt 2 Millionen Franken Bargeld für Auslände- rinnen und Ausländer zur Verfügung, die keinen oder keinen risikolosen Zugang zur Sozialhilfe haben. Wie weit reicht dieser Betrag? RG Das können wir heute noch nicht sagen. «Es gibt ein Recht auf Durch die Datenerhebung der ZHAW zu den Unterstützung, und kostenlosen Lebensmittelabgaben seit dem Lockdown kennen wir zwar die materiellen den Zugang müssen Sorgen und Bedürfnisse dieser Menschen, wir sicherstellen.» jedoch wissen wir nicht, wie viele es genau sind. Es ist Teil des Projekts, das herauszu- RAPHAEL GOLTA finden und entsprechend zu reagieren. MG In der Stadt Zürich leben geschätzt 10 000 bis 14 000 Sans-Papiers, die keine Sozialhilfe be- ziehen dürfen. Dazu kommen Migrantinnen und Migranten mit einem B- oder C-Ausweis, die riskieren, ihren Aufenthaltsstatus zu ver- lieren, wenn sie Sozialhilfe beziehen. Ange- RG Hier gilt es zu unterscheiden. Die Stigmati- sichts dieser grossen Zahl sind 2 Millionen sierung müssen wir gesamtgesellschaftlich Franken nicht viel, aber es ist ein guter Start. angehen, sie ist ein Problem der Wahrneh- Es ist denkbar, dass viele Betroffene zunächst mung. Beispielsweise ist es fragwürdig, wenn abwarten, um einschätzen zu können, ob sie jemand keine Zusatzleistungen beziehen will, rechtliche Konsequenzen zu befürchten ha- bloss weil das als stigmatisierend empfunden ben, wenn sie sich melden. Vor allem aber ist wird. Die wirtschaftliche Basishilfe hingegen entscheidend, wie es mit der Pandemie und ist für Menschen gedacht, die keinen oder der Situation auf dem Arbeitsmarkt weiterge- keinen risikofreien Zugang zur Sozialhilfe hen wird. haben. Das ist ein gesetzgeberisches Pro- blem. Es gibt in diesem Land ein Recht auf Nur einmal grob gerechnet: Wenn man die 2 Mil- Unterstützung in Notlagen, und den Zugang lionen Franken auf 10 000 Sans-Papiers verteilt, dazu müssen wir sicherstellen. sind das 200 Franken pro Person. Nimmt man weitere Anspruchsgruppen dazu, ist es noch Wie wollen Sie das ermöglichen? weniger Geld pro Person. Wie viel Not lässt sich RG Jene Menschen, die eine berechtigte Angst mit einem solchen Betrag wirklich lindern? davor haben, ihren Aufenthaltsstatus auf- RG Die wirtschaftliche Basishilfe ist eine Über- grund von Sozialhilfebezug zu verlieren, brückungshilfe für akute Notsituationen. Die müssen wir abholen. Dazu müssen wir eng Höhe orientiert sich am Niveau der Asyl- mit zivilgesellschaftlichen Organisationen vorsorge und liegt damit unter dem Sozial- zusammenarbeiten. Sie kennen diese Men- hilfeansatz. Das ist nicht viel Geld, kann im schen, ihnen vertrauen sie. Die wirtschaftli- Einzelfall aber den Unterschied machen. che Basishilfe soll hier für den Moment Teil der Lösung sein. Sans-Papiers leben oftmals zurückgezogen, um MH Was die Organisationen betrifft, so haben wir nicht aufzufallen. Wie erfahren sie vom Angebot bei unserer Datenerhebung festgestellt, dass der wirtschaftlichen Basishilfe? viele neue Akteurinnen und Akteure dazu- MH Das wird über Netzwerke privater Hilfswer- gekommen sind während des Lockdowns. ke funktionieren. Aber zunächst ist es kei- Dadurch entstanden neue Verbindungen zu ne Frage des Informiertseins, sondern des Armutsbetroffenen. Das sollte man in Zu- Vertrauens. Die Angst vor ausländerrechtli- kunft nutzen. Stereotype und Ängste sind chen Konsequenzen ist gross. Dazu kommt irrational, sie lassen sich nicht alleine mit die Stigmatisierung, denn niemand ist gerne Informationen abbauen, sondern es braucht Bittsteller. Die Leute wollen arbeiten. solche persönlichen Kontakte. 19
INTERVIEW Vertrauen ist wichtig, aber gibt es darüber hinaus Familien kümmert. Die vier Organisationen auch eine gewisse Absicherung, keine negativen kennen ihre Adressatinnen und Adressaten, Konsequenzen fürchten zu müssen? daher wird ein Mehrfachbezug wohl recht RG Die verschiedenen Organisationen, denen wir schwierig werden. die Basishilfe zur Verfügung stellen, unterste- hen nicht der Meldepflicht. Bei der Datenerhebung der ZHAW wurden neun Bezugsgruppen der Lebensmittelabgabe aus- Wie wird sichergestellt, dass sich niemand mehr- gemacht. Dazu gehörten auch Prostituierte. fach Geld auszahlen lässt? Nirgendwo in der Schweiz galt das Sexverbot so RG Die Organisationen ergreifen Massnahmen, lange wie im Kanton Zürich. Warum? um Doppelbezüge von wirtschaftlicher Ba- RG Es war eine Entscheidung des Kantons. Klar sishilfe durch dieselbe Person zu verhindern. war meines Erachtens, dass ein Verbot nicht Zudem sind die Zuständigkeiten der Organi- zum Schutz der Prostituierten beigetragen hat. sationen für die spezifische Zielgruppe klar MH Ein landesweites Verbot zu Beginn der Pan- definiert und abgegrenzt, und wo diese Ab- demie war nachvollziehbar, man wusste zu grenzung nicht eindeutig möglich ist, erfolgt wenig über das Virus. Aber dass man Monate ein enger Austausch untereinander. Weiterhin später noch einmal Sexarbeit verbietet, war bestätigen auch die betroffenen Personen per epidemiologisch kontraproduktiv. Die Unter- Selbstdeklaration, dass sie nicht bereits ande- stützung brach weg, aber das Geschäft ging re Leistungen – darunter auch die wirtschaftli- weiter. che Basishilfe – beziehen. MG Die Gelder werden durch vier NGO verteilt, Im März hat das Stadtparlament einen Kredit und jede Organisation ist für eine spezifische über 4,6 Millionen Franken für ein dreijähriges Gruppe von Adressatinnen und Adressaten Pilotprojekt gesprochen. Es soll Personen ohne zuständig. So ist die Caritas für Familien mit Krankenkasse eine medizinische Unterstützung gültigem Aufenthaltsstatus zuständig, die sichern. Warum ging das im Vergleich zur hitzig SPAZ für Sans-Papiers, der Verein Solidara – diskutierten Basishilfe so schlank durch? vormals Stadtmission – für Sexarbeitende bei MH Zynisch gesagt: Wer gesund ist, kann das Land der Isla Victoria, der Verein Schweizerisches wieder verlassen. Kranke können das nicht. Rotes Kreuz Kanton Zürich für Ausländerin- MG Offenbar werden armutsbezogene Fragen an- nen und Ausländer mit gültigem Aufenthalts- ders eingestuft als gesundheitliche Fragen. status, hier jedoch Einzelpersonen und Paa- Die Wertigkeit, die dahinter steht, lautet: re im Unterschied zur Caritas, die sich um Gesundheit kann passieren, Armut ist selbst- verschuldet. Das finde ich problematisch. Un- sere Studie zeigt, dass sich diese Menschen enorm bemühen, selbständig durchs Leben zu kommen. Meine Prognose lautet: Sobald sie sich wieder auf dem Arbeitsmarkt bewegen können, werden sie keine Gelder mehr bean- spruchen. Die Erwerbsarbeit ist ihre zentrale «Die Erwerbsarbeit Überlebensstrategie. RG Wie widersprüchlich eine solche Unterschei- ist die zentrale dung von gesundheitlicher und wirtschaft- Überlebensstrategie licher Not im Akutfall ist, scheint manchen Menschen vielleicht gar nicht bewusst zu der Sans-Papiers.» sein. MONIKA GÖTZÖ Indem Sie die Corona-Notsituation heranziehen und dabei das Schweizer Migrationsrecht kritisie- ren, koppeln Sie die Basishilfe an eine Grundsatz- debatte – warum? RG Die Koppelung liegt auf der Hand. Das Bun- desrecht erschwert unseren Auftrag, Men- schen in Not zu helfen. 20
Laut Sans-Papiers-Organisationen hätten wir mit einer Regularisierung nicht diese Not. In Genf wurden bei der Opération Papyrus 2500 Sans- Papiers regularisiert. Dennoch sah man im Lock- down Menschenschlangen bei Essensabgaben. RG Es gibt keine umfassende Lösung für alle «Wieso muss man Aspekte der Prekarisierung. Die Regularisie- rung ist ein mögliches Mittel. Auch die City zehn Jahre Card, eine Art städtische Identitätskarte, wäre Ausbeutung ertragen, ein Schritt in diese Richtung, selbst wenn sie nur ein Behelfsinstrument ist. Man muss es um hier leben zu doch so sehen: Menschen, die seit einer be- dürfen? Ich finde das stimmten Weile hier leben, fünf oder zehn Jahre, die gehören irgendwann einfach dazu. unlogisch.» MICHAEL HERZIG Die Aufenthaltsdauer ist immer wieder Gegen- stand der Diskussion. Ab wann gehört jemand denn dazu? MG Die meisten Sans-Papiers, mit denen wir ge- sprochen haben, leben seit längerer Zeit hier, manche schon seit 20, 30 Jahren. Sie arbeiten. MH Jene Städte, die bei der City Card zögern, Ihre Familien ziehen sie in den seltensten Fäl- müssen bedenken: Wenn sie jetzt nichts un- len nach – so viel zur immer wieder geäus- ternehmen, verlieren die Menschen die Woh- serten Befürchtung, dass Projekte wie die nung. Und das Obdach, das wissen wir von wirtschaftliche Basishilfe eine Sogwirkung den Befragungen, hat oberste Priorität. Es ist entfalten würden. Auch in Genf hat man bei das Letzte, das sie aufgeben. der Evaluation der Opération Papyrus keine Sogwirkung feststellen können. Die Zahlen Der Bundesrat hat Ende 2020 eine kollektive dort sind stabil, sie sind mit der Situation am Regularisierung der Sans-Papiers abgelehnt. Wird Arbeitsmarkt verknüpft. sich das auf die anstehende Behandlung der City MH Die Festlegung einer Aufenthaltsdauer geht Card im Zürcher Gemeinderat auswirken? eigentlich an der Realität vorbei. Man kann RG Es ist klar, dass es auf Bundesebene nicht so sich in diesem Land nichts ersitzen, man schnell gehen wird. Darum ist es wichtig, dass kann es sich nur erarbeiten. Schätzungsweise wir auf kommunaler Ebene schon etwas bewe- 75 000 bis 100 000 Sans-Papiers leben in der gen. Allein schon aus föderalistischen Grün- Schweiz. Sie sind ein wichtiger Faktor in der den müssen wir uns für unseren Spielraum Volkswirtschaft. Wieso muss man zehn Jahre wehren, zumal wir letztlich dafür zuständig Ausbeutung ertragen, um hier leben zu dür- sind, Armut zu vermeiden. Und trotz allem fen? Das finde ich unlogisch. halten wir uns mit unseren Massnahmen an RG Ich sehe die Festlegung einer gewissen Anzahl die geltenden Gesetze. Jahre nicht nur negativ. Für die Betroffenen bringt das durchaus eine Entlastung, wenn RAPHAEL GOLTA (SP) steht seit 2014 als Zürcher Stadt- rat dem Sozialdepartement vor. Im Mai lancierte er das sie wissen, dass sie nach einer bestimmten Pilotprojekt «Wirtschaftliche Basishilfe» für Armutsbe- Aufenthaltsdauer auf der sicheren Seite sind. troffene, die keinen oder einen risikoreichen Zugang zu Sozialhilfe haben. Für das Projekt stehen ab Sommer 2021 Egal, ob das nun zehn oder 15 Jahre sind. innert 18 Monaten 2 Millionen Franken zur Verfügung. Zur vorhin erwähnten City Card: In Luzern und Biel MONIKA GÖTZÖ leitet das Institut für Vielfalt und ge- sellschaftliche Teilhabe. Ihre Datenerhebung pandemie- haben sich die Regierungen dieses Jahr gegen bedingter, kostenloser Mahlzeiten-, Lebensmittel- und eine solche städtische Identitätskarte ausge- Gutscheinabgaben in der Stadt Zürich durch öffentliche und private Institutionen lieferte die empirische Ein- sprochen. Auch in Zürich regt sich eine so starke schätzung aktueller und künftiger Bedarfe (zhaw.ch/ Opposition, dass eine Regularisierung nicht lebensmittelabgabe). durchsetzbar scheint. Warum klappte es in Genf? MICHAEL HERZIG lehrt und forscht am Institut für MG Der Röstigraben spielt eine grosse Rolle, das Sozialmanagement und berät Organisationen im Sozial- merkt man oft bei sozialpolitischen Fragen. bereich. Er gehörte zum Projektteam der Datenerhebung. 21
Ausgrenzung unter Ausgegrenzten 22
Wer neu zu einer Gruppe stösst, muss sich beweisen. Diese Dynamik beschrieb einst der Soziologe Norbert Elias in England. Sie spielt auch in Mikrokosmen wie in einem Alkoholikertreffpunkt in Zürich. Essay von ERILENE LEITE DE ARAÚJO und MICHAEL HERZIG Eine soziale Einrichtung als Heimat für erinnerte sie an eine Theorie des jüdi- darin Fotos mit strahlenden Augen in Menschen, die kein Daheim haben. So schen Intellektuellen Norbert Elias. verwitterten Gesichtern. wurde die Anlaufstelle t-alk vor über Als die Nationalsozialisten 1933 Aber im t-alk gibt es auch Neu- 20 Jahren in Zürich konzipiert. T-Bin- das soziologische Institut der Univer- ankommende, denen nicht warm ums destrich-Alk: Treffpunkt für Alkoholi- sität Mannheim schlossen, an dem er Herz wird, wenn der Cervelat-Salat ser- kerinnen und Alkoholiker. habilitieren wollte, floh Elias nach Eng- viert wird oder das Wädli mit Sauer- Laut Konzept sollten sie sich mit land. Nach Monaten in Internierungs- kraut und Kartoffeln. Manche schieben ihrem Treff identifizieren, er sollte at- lagern liess er sich in Leicester nieder. das Schweinefleisch zur Seite. Andere traktiver sein als die Parkbank. Mittel Im Vorort South Wigston beobachtete versuchen, selbst in die Position der dazu waren Mitsprache und Mitarbeit. er ein ausgeprägtes Machtgefälle zwi- Köchin oder des Kochs zu gelangen. Sehen konnte man dies an den Brocken- schen der ansässigen Industriearbei- haus-Schinken an der Wand, hören an terschaft und den später zugezogenen Nur beinahe im gleichen Boot Elvis Presley aus der Stereoanlage und Arbeiterfamilien. Arm waren alle, nur Doch da hört der Spass auf. «Versuchen erfahren bei den Jass-Meisterschaf- die neu Zugezogenen waren ärmer dran. kann man es schon, aber wenn man kei- ten. Einen Tag im Monat schmissen In dieser Arbeitersiedlung sezierte ne Erfahrung hat, dann filtern sie dich die Klientinnen und Klienten den La- Norbert Elias die sozialen Beziehun- raus», sagt Zara, die es probiert hat. den selbst. Ohne moderierende und gen. Er entlarvte faktische Diskrimi- Die Stammgäste kennen keine Gnade, beschwichtigende Sozialarbeit. Da die nierung von neu Zugezogenen und sym- wenn es nicht mundet. Oder wenn es zu Zielgruppe schwere Alkoholikerinnen bolische Machtkonstituierung der seit fremdländisch schmeckt. und Alkoholiker waren (und noch im- langem Ansässigen. Seine eigene Er- «Wenn sie ihr Essen ‹innebigä› mer sind), ähnelte die Einrichtung bald fahrung als Geflüchteter und sein eige- wollen, sollen sie es im Coop selber einer Kneipe. Der prominenteste Ort? nes Fremdsein schärften die Sinne. So kaufen. Ich kann ja auch nicht weiss ich Der Stammtisch. Gross, rund, in seiner deckte er Ausgrenzungsmechanismen irgendwo hin nach Marokko und sagen: Mitte ein kupferner Aschenbecher. auf, die er im Buch «Etablierte Aussen- ‹Ich will Rösti!›», meint Reto. «Kein seiter» beschrieb. Darin gibt er South Schweinefleisch essen, aber saufen und Cervelat-Salat und Wädli Wigston den fiktiven Namen Winston kiffen», fügt er noch an. Er ist ein Wort- Wer Beizen kennt, weiss: Ein Stamm- Parva. Das 1965 publizierte Werk ist führer am Stammtisch. Zwar sässen sie tisch ist Einheimischen vorbehalten. heute ein Klassiker der Soziologie. alle im gleichen Boot: keine Wohnung, Wer das Lokal zum ersten Mal betritt, Wer sich im t-alk an den Stamm- Alkoholabhängigkeit, psychische Pro- setzt sich woanders hin. Vorerst. Haben tisch setzen darf, ist das eine, was auf bleme. Doch weil sie eben nicht in der sich die Zugezogenen bewährt, dürfen den Tisch kommt, das andere. Im Treff- Schweiz aufgewachsen seien, passen sie sich dazusetzen. Dann gehören sie punkt kochen die Gäste. Besonders oft die Neuen auch nicht hierhin. Reto sagt: dazu. So war es beim t-alk gedacht: der tun dies die Stammgäste. Wer es schafft, «Wenn du anders aufwächst, kannst du Stammtisch als Instrument sozialer In- 30 vollwertige Menüs zuzubereiten, nicht einfach den Schalter umstellen.» klusion. Das war er auch – aber nicht erntet Anerkennung. Das ist gut für das Jürg mag diese Diskussion nicht. Man nur das. Er stellte sich als geradezu di- Selbstbewusstsein von Menschen, de- ende schnell beim Rassismus. alektisches Möbel heraus. nen draussen auf der Parkbank ständig Die Mehrheit der Köche im t-alk Eine Studentin der Sozialen Arbeit das eigene Scheitern vorgeführt wird. sind Schweizer, männlich, über 50. Die sah in ihm ein Symbol für Machtaus- Kochen als Inklusionsbeschleuni- Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter übung. Die junge Frau war in Brasilien ger – das gehörte zum Konzept. Und versuchen immer wieder, die Zusam- aufgewachsen und absolvierte im t-alk es hat funktioniert: Die Köchinnen und mensetzung der Kochtruppe ausge- ihr Praktikum. Der grosse runde Tisch, Köche sind hoch angesehen. Sogar ein glichener zu gestalten und damit den dieser Platz in der Mitte des Raums, Kochbuch haben sie herausgegeben, Menüplan der multikulturellen Realität 23
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