Sozial - Pflegekinder in der Schweiz: Was es braucht für ein gutes Aufwachsen - ZHAW

Die Seite wird erstellt Stefan-Nikolai Wiegand
 
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Sozial - Pflegekinder in der Schweiz: Was es braucht für ein gutes Aufwachsen - ZHAW
ZÜRCHER HOCHSCHULE FÜR
NR. 15 / 2021                                           ANGEWANDTE WISSENSCHAFTEN   MAGAZIN ZHAW SOZIALE ARBEIT

    Seite 10
                     Pflegekinder in der Schweiz:
                                                                                              sozial

               Was es braucht für ein gutes Aufwachsen
Sozial - Pflegekinder in der Schweiz: Was es braucht für ein gutes Aufwachsen - ZHAW
EDITORIAL
                                     Unser neues Normal ist alles andere
                                       als normal – und das ist gut so
                                     Wenn sich die Arbeits- und Lebenswelten so rasch verändern wie
                                     in den vergangenen anderthalb Jahren, bringt dies auch Gefühle
                                     und Gedanken ins Rotieren. Oft waren wir hin- und hergerissen
Impressum
                                     zwischen Sorge und Erschöpfung einerseits, Mut und Hoffnung
                                     andererseits. Mir ging es nicht anders. Unmittelbar vor der Pande-
HERAUSGEBER
ZHAW Soziale Arbeit                  mie haben wir, das Departement Soziale Arbeit der ZHAW, begon-
Pfingstweidstrasse 96
Postfach                             nen, uns neu auszurichten. Dies mit dem Ziel, unsere wissenschaft-
8037 Zürich                          liche Expertise noch stärker dazu zu nutzen, um als Dienstleister
KONZEPT                              für die sozialarbeiterische Praxis da zu sein. Wir wollten noch
Regula Freuler
Christine Zürn                       aktueller werden, noch aufmerksamer. Corona hat diese Aufgabe
REDAKTION                            wahrlich nicht einfacher gemacht. Aber es hat uns auch in unserem
Regula Freuler
regula.freuler@zhaw.ch
                                     Vorhaben bestärkt.
GESTALTUNG
                                           Denn für die meisten Adressatinnen und Adressaten der
Andrea Koch, Notice Design, Zürich   Sozialen Arbeit bedeutete die Pandemie ein drastischer Einschnitt.
KORREKTORAT                          Für uns als Hochschule war klar, dass wir uns mit allen Möglich-
Text Control, Zürich
                                     keiten für diese Menschen einsetzen, und zwar auf jene Weise, auf
ADRESSÄNDERUNGEN
zhaw.ch/sozialearbeit/
                                     die wir am meisten beitragen können: Indem wir Sozialarbeitende
adressaenderung                      ausbilden; indem wir forschen und die Erkenntnisse für Praxis und
«SOZIAL» ABONNIEREN                  Politik zur Verfügung stellen; indem wir uns mit Sozialarbeitenden
zhaw.ch/sozial-abonnieren
                                     zusammensetzen. Vieles davon konnten wir schon umsetzen.
«SOZIAL» ABBESTELLEN
adressverwaltung.sozialearbeit@            Ein sichtbares Zeichen für unsere Veränderung ist das Maga-
zhaw.ch
                                     zin «sozial». Es sieht nicht nur anders aus, sondern soll auch den
DRUCK                                neuen Geist verkörpern: aktueller, engagierter, praxisnaher. Unser
Schmid-Fehr AG, Goldach
                                     neues Normal ist also alles andere als normal – und das ist gut so.
AUFLAGE
22 000 Exemplare;
                                                                                                           Foto: Peter Hauser

erscheint zweimal jährlich
                                     Herzlich,
Klimaneutral gedruckt auf            Frank Wittmann
FSC-zertifiziertes Papier.
Gedruckt in der Schweiz.             Direktor ZHAW Soziale Arbeit

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Sozial - Pflegekinder in der Schweiz: Was es braucht für ein gutes Aufwachsen - ZHAW
INHALT

                                                                                                                                                                               Sozipedia
                                                                                                                                                                               Seite 29

                                                                                           Pflegekinder in der Schweiz                Wie wir mit Hassrede umgehen sollten    Caritas-Projekt «Copilot»
                                                                                           Seite 10                                   Seite 16                                 Seite 26

                                                                                           FORSCHUNG — PRAXIS — WEITERBILDUNG                                                  RUBRIKEN

                                                                                           6 Nichtbezug von                           22 Ausgrenzung unter                     4   NOTIERT
                                                                                                                                                                                   Studien, Initiativen,
                                                                                             Sozialhilfe                                 Ausgegrenzten                             Publikationen: Neues aus
                                                                                                                                                                                   dem Departement
                                                                                                 Warum viele Menschen mit                   Was die Etablierten-Aussen-
                                                                                                 Migrationshintergrund auf Geld             seiter-Theorie von Norbert Elias   18 INTERVIEW
                                                                                                 verzichten, das ihnen zustünde.            mit einem Alkoholikertreff            mit Raphael Golta,
                                                                                                                                            gemein hat.                           Sozialvorsteher der Stadt
Foto Cover: Sarah Carp; Fotos Inhalt: Sarah Carp, Beni Bischof; Illustration: Anja Wicki

                                                                                                                                                                                  Zürich, und den ZHAW-
                                                                                           9 Fernbeziehung                                                                        Dozierenden Monika Götzö
                                                                                                 Covid-19 hat die vertrauten          25 Pink Cross forscht                       und Michael Herzig

                                                                                                 Gesprächssettings in der                mit – über sich                       29 SOZIPEDIA
                                                                                                 Sozialberatung stark verändert.            Die Community schwuler,               Eine Kolumne über
                                                                                                                                                                                  Fachbegriffe auf Abwegen
                                                                                                                                            bisexueller und queerer Männer
                                                                                           10 Ein sicheres Zuhause                          wird aktiv in ein Forschungs-      28 ALUMNI
                                                                                                 Wie wachsen fremdplatzierte                projekt über sie einbezogen.          Simon Stocker, Master-
                                                                                                 Kinder in der Schweiz am besten                                                  Absolvent und Experte
                                                                                                                                                                                  für Alterspolitik mit
                                                                                                 auf? Darüber sind sich Politik und   26 «Copilot» hilft beim                     Exekutiv-Erfahrung
                                                                                                 Wissenschaft nicht immer einig.
                                                                                                                                         Schulstart                            30 INTERNATIONAL
                                                                                                                                            Caritas Zürich unterstützt
                                                                                           16 Keine rechtsfreien                            Familien mit jungen Kindern,
                                                                                                                                                                                  von Manuel Bertogg
                                                                                                                                                                                  aus Marseille
                                                                                              Räume                                         sich im Schweizer Schulsystem      32 SOZIAL GESEHEN
                                                                                                 Rechtspsychiater Frank Urbaniok            zurechtzufinden.                      Cartoon von
                                                                                                 über Bedrohungsmanagement                                                        Lawrence Grimm

                                                                                                                                                   3
Sozial - Pflegekinder in der Schweiz: Was es braucht für ein gutes Aufwachsen - ZHAW
NOTIERT
                                                            ADOPTION IN ZWANGSSITUATIONEN

                                               Ledige Mütter unter Druck
                                            Während vieler Jahre wurden Kinder bei einer Adoption aus ihrer
                                            Herkunftsfamilie herausgelöst und in einer neuen Familie platziert,
                                            ohne dass dem Kindeswohl genügend Beachtung geschenkt wur-
                                            de. Vor allem ledige Mütter standen unter Druck, ihre Kinder ab-
                                            zugeben. Die behördlichen und institutionellen Dynamiken dahin-
                                            ter wurden bisher kaum untersucht. Für den Zeitraum seit den
                                            1960er-Jahren leisten dies nun Susanne Businger und Nadja
                                            Ramsauer vom Institut für Kindheit, Jugend und Familie. Die
                                            Rechtsgrundlagen, die Entwicklung der Adoptionszahlen und die
                                            Sichtweise der Betroffenen werden ebenfalls analysiert. Die Stu-
                                            die zur Geschichte der nationalen und internationalen Adoptionen
                                            wird vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert.
                                               zhaw.ch/adoption-zwang

           BLENDED LEARNING

 Wie Lehren und Lernen
  aufgemischt werden
Eigentlich steht ein Blender (Neu-
deutsch: Mixer) in der Küche und verar-
beitet Früchte zu Saft. Seit einiger Zeit
wird der Begriff auch im Bil­    dungs­
kontext verwendet: Blended Learning
steht für gemischtes Lehren und Ler-
nen. Dabei werden Präsenzunterricht
und Online-Elemente und -Tools sowie
neue didaktische Methoden kombi-
niert. Im Grund ist das nicht wirklich
neu, doch der Lockdown hat der Ent-                                 HÄUSLICHE GEWALT
wicklung in diesem Bereich erst so rich-
tig Vorschub geleistet – auch an der            Für einen besseren Schutz
ZHAW Soziale Arbeit: Das Departement
hat diesen Digitalisierungssprung ge-       In der Schweiz nimmt die Zahl registrierter Fälle von häuslicher
nutzt, um Lehre und Weiterbildung in        Gewalt seit Jahren zu. Was steht hinter dem Phänomen? Dies zu
Blended-Learning-Settings zu über-          untersuchen, ist das Ziel zweier Studien unter der Co-Leitung von
führen. Dieser Prozess wird noch einige     Dirk Baier und Susanne Nef. Zum einen soll die erste systematische
Monate dauern. Ein Umsetzungskon-           Analyse von Statistiken über die Entwicklung häuslicher Gewalt
zept zur ZHAW-Strategie «Bildung und        während der Covid-19-Pandemie Aufschluss geben. Diese wird
digitale Transformation» ist in Erarbei-    ergänzt durch Befragungen von Betroffenen sowie Interviews mit
tung und wird eine konzeptionelle           Expertinnen und Experten. In der zweiten Studie steht die Gewalt-
Grundlage für diese Veränderungen           betroffenheit im Lebensverlauf von Menschen mit Behinderungen,
geben. Derzeit werden Standards guter       im Alter sowie LGBTQI+ im Fokus. Hierbei sollen die Wechsel-
gemischter Lehr- und Lernsettings ent-      wirkung der Risikofaktoren sowie die Barrieren des Zugangs
                                                                                                                  Illustration: Patric Sandri

wickelt. Diese werden abgestützt durch      zu Unterstützung und Schutz aus intersektionaler Perspektive
die zahlreichen gewonnenen Erfahrun-        analysiert werden. Beide Studien werden vom Eidgenössischen
gen der vergangenen Monate.                 Büro für Gleichstellung von Frau und Mann finanziert.
   blog.zhaw.ch/digitalsozial                  zhaw.ch/gewaltpraevention-vulnerable

                                                   4
Sozial - Pflegekinder in der Schweiz: Was es braucht für ein gutes Aufwachsen - ZHAW
AHV/IV

                                                                                                                          Zur Reform der
                                                                                                                       Ergänzungsleistungen
                                                                                                                    Seit ihrer Einführung im Jahr 1966 ha-
                                                                                                                    ben sich die Ergänzungsleistungen zur
                                                                                                                    AHV/IV zu einem unerlässlichen Pfeiler
                                                                                                                    der sozialen Sicherheit entwickelt. Denn
                                                                                                                    leider gibt es in der reichen Schweiz so-
                                                                                                                    wohl Altersarmut wie auch Armut unter
                                                                                                                    Menschen mit einem Handicap – und
                                                                                                                    das bis heute. Wie das komplexe Sys-
                                                                                                                    tem der Ergänzungsleistungen ange-
                                                                        ELTERN IN HAFT                              legt ist und wie es sich in der Praxis von
                                                                                                                    Verwaltung und Rechtsprechung ge-
                                                    Papas Fenster hat Gitter                                        staltet, zeigen Erwin Carigiet und Uwe
                                                                                                                    Koch in ihrem Buch. Dieses hat sich seit
                                              Eisenstäbe und Mauern: So zeichnet ein Kind ein Gefängnis – nor-      der Erstpublikation im Jahr 1995 zum
                                              malerweise. Sitzt ein Elternteil dieses Kindes in Haft, kommen Mo-    Standardwerk und als wegweisendes
                                              tive dazu, die von Verlust und Trauer künden. Dass eine Inhaftie-     Arbeitsinstrument etabliert.
                                              rung von Vater oder Mutter gravierende Folgen für die Entwicklung          In der soeben erschienenen Neu-
                                              eines Kindes haben kann, ist bekannt. Dennoch gibt es zu diesen       auflage widmen sich die Autoren ein-
                                              vergessenen Opfern keine gesamtschweizerischen Informationen.         gehend der am 1. Januar 2021 in Kraft
                                              Eine Studie der ZHAW Soziale Arbeit soll dies ändern. Im Auftrag      getretenen EL-Reform. Sie erläutern
                                              des Bundesamts für Justiz erhebt ein Team unter der Leitung von       insbesondere die Vermögensschwelle,
                                              Patrik Manzoni die aktuelle Praxis von Justizvollzugsanstalten und    die neuen Mietzinsrichtlinien und die
                                              die Erfahrungen von allen Betroffenen. So wird geklärt, ob und wie    Rückerstattungspflicht der Erbinnen
                                              die Kinder ihr Recht wahrnehmen können, eine Beziehung zum            und Erben. Damit wollen sie insbeson-
                                              inhaftierten Elternteil zu pflegen. Die Studie dauert bis Herbst      dere die Mitarbeitenden der Sozialbe-
                                              2022 und soll Empfehlungen zu Best Practice abgeben.                  ratung bei ihrer Arbeit unterstützen.
                                                                                                                    Erwin Carigiet, Uwe Koch: Ergänzungsleistungen
                                                 zhaw.ch/eltern-inhaftiert
                                                                                                                    zur AHV/IV (3., überarbeitete und ergänzte Auflage).
                                                                                                                    Schulthess, Zürich 2021. 391 Seiten.

                                                                 SONDERSCHULISCHE SETTINGS

                                                Migrationskinder betroffen
                                                                                                                                               DIE ZAHL

                                              Hierzulande lernen Kinder mit Migrationshintergrund überpropor-
                                                                                                                               29 %
Foto: REPR – Relais Enfants Parents Romands

                                              tional häufig in sonderschulischen Settings. Ein Team der ZHAW
                                              Soziale Arbeit analysiert anhand von sechs Fällen im Kanton Zürich,
                                              wie es dazu kommt. Die Kinder sind im Alter zwischen Einschu-
                                                                                                                    So hoch ist der Anteil der Sozialhilfebe-
                                              lungsalter und 16 Jahren und haben die Diagnose «kognitive Be-
                                                                                                                    ziehenden unter 18 Jahren. Das sind
                                              einträchtigung» erhalten. Mithilfe von qualitativen Interviews soll
                                                                                                                    mehr als 79 000 Kinder und Jugendli-
                                              ihre schulische Geschichte nachvollzogen werden. Die Studie wird
                                                                                                                    che. Dies ergab der statistische Bericht
                                              von der Mercator-Stiftung finanziert und läuft bis Ende 2021.
                                                                                                                    2021 über Familien in der Schweiz.
                                                 zhaw.ch/flüchtlingskinder-schule                                   Quelle: Bundesamt für Statistik, Eurostat

                                                                                                       5
Sozial - Pflegekinder in der Schweiz: Was es braucht für ein gutes Aufwachsen - ZHAW
SOZIALHILFE

Unerreichbar
    nah

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Sozial - Pflegekinder in der Schweiz: Was es braucht für ein gutes Aufwachsen - ZHAW
Trotz prekärer Lebenslage machen viele Ausländerinnen und Ausländer
                                         von ihrem Recht auf Sozialhilfe keinen Gebrauch. Was sind
                                    ihre Gründe? Hat die Corona-Pandemie dieses Verhalten geändert?
                                         Wir haben Fachpersonen bei Behörden und NGO befragt.
                                                            Von GISELA MEIER, EVA MEY und RAHEL STROHMEIER NAVARRO SMITH

                                «Die Lage wird sich weiter verschärfen,    von Migrations- und Sozialpolitik.
                                und es wird vor allem Ausländerinnen       Diese wurde mit der Einführung des
                                und Ausländer mit niedrigem Lohn           revidierten Ausländer- und Integrati-
                                treffen», lautet die Einschätzung einer    onsgesetzes im Jahr 2019 akzentuiert.
                                Sozialarbeiterin aus der wirtschaft-       Insbesondere Aufenthalts- und Nieder-
                                lichen Sozialhilfe auf die Frage, wie      lassungsrechte, aber auch das Recht auf
                                die Covid-19-Pandemie das Phänomen         Familiennachzug oder eine Einbürge-
                                Nichtbezug von Sozialhilfe beeinflus-      rung sind an die eigene wirtschaftliche
                                sen wird. Die Corona-Krise hat gezeigt,    Unabhängigkeit gekoppelt.
                                wo unsere soziale Sicherung schlecht            Unter Pandemiebedingungen ge-
                                greift und an ihre Grenzen stösst. Dies    raten oftmals jene Migrantinnen und
                                gilt insbesondere für den Nichtbezug       Migranten, die ohnehin schon in krisen-
                                von Sozialhilfe – eine Problematik, die    anfälligen Branchen und in unsicheren
                                in der Sozialen Arbeit schon länger        Beschäftigungsverhältnissen arbeiten,
                                mit Sorge beobachtet wird. Betroffen       in eine doppelt prekäre Situation: Sie
                                sind dabei insbesondere Ausländerin-       verlieren nicht nur ihre Arbeitsstelle,
                                nen und Ausländer mit Aufenthaltsbe-       sondern sie sehen auch ihr Bleiberecht
                                willigung B oder C, die trotz prekärer     gefährdet. Den Gang aufs Sozialamt,
                                Lebenslagen unterhalb des sozialhil-       zu dem sie berechtigt wären, versuchen
                                ferechtlichen Existenzminimums die         sie deshalb zu vermeiden. Dieser Um-
                                ihnen zustehende materielle Hilfe be-      stand führt zu einem Dilemma in der
                                wusst nicht beantragen.                    sozialarbeiterischen Beratung. Wenn
                                                                           sich zeigt, dass Personen dringend auf
                                     Kontakt wird abgebrochen              Sozialhilfe angewiesen wären, wird
                                Welche gesetzlichen Mechanismen und        üblicherweise Motivations- und Unter-
                                individuellen Gründe stecken hinter        stützungsarbeit geleistet, um diese zu
                                diesem Phänomen? Wie wird derzeit in       beantragen, trotz potenzieller aufent-
                                der Sozialen Arbeit damit umgegangen?      haltsrechtlicher Kon­sequenzen. Häufig
                                Und wie wirkt sich der Nichtbezug auf      führt dies zum Kontaktabbruch: «Von
                                die betroffenen Personen aus? Diesen       einem Tag auf den anderen sehen wir
                                Fragen sind wir anhand von Interviews      sie nie mehr», erzählt eine interviewte
                                mit Fachpersonen aus staatlichen und       Fachperson aus einer NGO. Häufig sei
                                nicht-staatlichen Behörden- und Fach-
                                stellen des Sozial- und Migrationsbe-
                                reichs im Kanton Zürich nachgegangen.
                                     Bisherige Untersuchungen zeigen,
                                dass häufig prozessuale und strukturel-
                                                                                        Wenn Menschen den Gang aufs
                                le Gründe zum Nichtbezug von Sozial-                      Sozialamt vermeiden, führt
                                                                                         das zu einem Dilemma in der
Foto: Annie Spratt / Unsplash

                                hilfe führen. Sie liegen etwa in kompli-
                                zierten Anmeldeverfahren oder in der
                                restriktiven Definition von Anspruchs-                  sozialarbeiterischen Beratung.
                                kriterien. Für die ausländische Bevöl-
                                kerung kommt eine erhebliche Hürde
                                hinzu: die zunehmende Verschränkung

                                                                                             7
Sozial - Pflegekinder in der Schweiz: Was es braucht für ein gutes Aufwachsen - ZHAW
ohne tatsächlichen Bezug finanzieller
                                                            Leistungen.
                                                                 Es gibt auf nationaler Ebene noch

Gesetzesvorgaben werden kantonal                            keine gesicherten Zahlen darüber, wie
                                                            viele Migrantinnen und Migranten aus
  sehr unterschiedlich umgesetzt.                           Furcht vor ausländerrechtlichen Kon-

 Zudem gibt es bei Fallentscheiden                          sequenzen das Sozialamt meiden oder
                                                            welche Personengruppen, beispiels-
     viel Ermessensspielraum.                               weise in Bezug auf Alter oder Famili-
                                                            enform, besonders betroffen sind. Je-
                                                            doch gehen Fachpersonen unisono von
                                                            einer hohen Anzahl unbekannter Fälle
                 kaum vorstellbar, wie es die Familien      aus: «Die Dunkelziffer ist eben beson-
                 schaffen, unter den gegebenen Bedin-       ders dunkel.»
                 gungen finanziell durchzukommen.
                 Doch im Falle eines Kontaktabbruchs             Wege aus der Abwärtsspirale
                 könne keine persönliche Hilfe mehr         Einigkeit besteht unter den für die Stu-
                 geleistet werden.                          die Befragten auch bezüglich der gra-
                      Viele Fachpersonen sowohl von         vierenden Folgen. So mögen kurz- und
                 staatlichen wie nicht-staatlichen Or-      mittelfristig die privaten Netzwerke
                 ganisationen schildern, dass die Angst     oder vorübergehende Angebote seitens
                 vor ausländerrechtlichen Konsequen-        Staat und NGO aushelfen. Längerfristig
                 zen enorm gross sei, wobei deren Be-       jedoch drohen Verschuldungs- und Pre-
                 rechtigung nie ganz sicher sei. Erstens    karisierungsspiralen, in deren Verlauf
                 werden die gesetzlichen Vorgaben kan-      irgendwann der soziale Rückzug er-
                 tonal unterschiedlich umgesetzt. Zwei-     folgt, die Wohnsituation unsicher wird
                 tens scheint es erhebliche Ermessens-      und physische und/oder psychische
                 spielräume auf der Ebene der einzelnen     Probleme zunehmen. Wenn Kinder
                 Fallentscheide zu geben. So spielt es      da sind, können sich die Probleme in
                 eine Rolle, wie die Meldepflicht in den    mehrfacher Hinsicht und mit potenziell
                 jeweiligen Gemeinden seitens der So-       nachhaltigeren Folgen verschärfen.
                 zialhilfe konkret umgesetzt wird; das           Die derzeit ergriffenen Massnah-
                 kantonale Migrationsamt evaluiert und      men in Form von finanziellen Unter-
                 bewertet dann seinerseits den Sozial-      stützungsleistungen jenseits der regu-
                 hilfebezug im Rahmen der aufenthalts-      lären Sozialhilfe können zwar helfen,
                 rechtlichen Abklärungen.                   eine solche Abwärtsspirale hinauszu-
                                                            zögern (siehe Interview S. 18). Doch
                       Hohe Dunkelziffer                    kann eine Situation nicht befriedigen,
                 Dazu kommt, dass die Dokumentation         in der Menschen, die zum Teil schon
                 zu ausländerrechtlichen Entscheiden        viele Jahre in der Schweiz leben, ein
                 noch lückenhaft und wenig zugänglich       Grundrecht – nämlich das Anrecht auf
                 ist, was diese sowohl für Betroffene als   finanzielle Hilfe in Notlagen – nicht in
                 auch für Fachpersonen noch weniger         Anspruch zu nehmen wagen, weil sie
                 vorhersehbar macht und auf beiden          ihre Aufenthaltssicherheit nicht riskie-
                 Seiten grosse Unsicherheiten hinter-       ren möchten. In einem grösseren Fol-
                 lässt. So wird zum Beispiel nicht diffe-   geprojekt möchten wir die zunehmende
                 renziert erfasst, aus welchen Gründen      Verschränkung der Sozial- und Migrati-
                 eine Aufenthaltsbewilligung entzogen       onspolitik und ihre Auswirkungen aus
                 wird. Je nach institutionellem und kom-    Sicht der Betroffenen vertieft analysie-
                 munalpolitischem Kontext variiert der      ren und damit Licht ins Dunkel auch
                 Zeitpunkt, wann eine Meldung erfolgt,      langfristiger Folgen des Nichtbezugs
                 erheblich. Im Extremfall wird eine Mel-    von Sozialhilfe bringen.
                 dung bereits nach dem ersten Kontakt
                 mit dem Sozialdienst getätigt – auch          doi.org/10.21256/zhaw-2651

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Sozial - Pflegekinder in der Schweiz: Was es braucht für ein gutes Aufwachsen - ZHAW
SOZIALBERATUNG ONLINE
                                                            Videocall, Telefon und SMS:
                                                           Was vom Lockdown übrig bleibt
                                                                            Von MIRYAM ESER DAVOLIO, GISELA MEIER,
                                                                            KUSHTRIM ADILI und CLAUDIA KUNZ MARTIN

                                  Rasch ein Online-Meeting aufsetzen oder einen Videocall               niger Wahrnehmungsdefiziten wie fehlender Mimik und Ges-
                                  vereinbaren anstelle eines Termins im Büro: Was den meis-             tik verbunden gewesen wären. Allerdings hätten für Video-
                                  ten Sozialberatungsstellen – und wohl den meisten von uns             calls bei gewissen Adressatinnen und Adressaten die Infra-
                                  überhaupt – im Frühjahr 2020 als schiere Unmöglichkeit                struktur und das Know-how gefehlt.
                                  vorkam, ist heute vielerorts selbstverständlich. So benutzt                Als zentrales Fazit hielten die Sozialarbeitenden die
                                  man beispielsweise bei der Sozialberatung Stadt Zürich und            Möglichkeit fest, über elektronische Medien die Gespräche
                                  in Winterthur seit diesem Jahr neben persönlichen Treffen             niederschwelliger zu gestalten, indem diese etwa in kürzeren
                                  auch Online-Tools, um Klientinnen und Klienten zu beraten.            Abständen und häufiger als sonst üblich stattfanden. Zudem
                                       Wie gingen andere Stellen mit dem jähen Schubs in den            sei der Aufwand bezüglich Koordination mit weiteren Betei-
                                  Lockdown und ins Homeoffice um? Und was nahmen sie in                 ligten oder der Wegaufwand dank Online-Setting deutlich
                                  die neue Normalität mit? Dies wollten wir in einer explorati-         geringer. Trotzdem möchten die meisten Sozialarbeitenden
                                  ven Analyse herausfinden.                                             Face-to-Face-Beratungen nicht missen, insbesondere bei
                                       Bei den Gruppendiskussionen mit 21 Sozialarbeitenden             Erstgesprächen, bei denen der Beziehungsaufbau sonst nur
                                  aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern zeigten sich viele Ge-           schwer zu bewerkstelligen sei.
                                  meinsamkeiten. So verfügten die wenigsten Beratungsdienste                 Aus all diesen Gründen haben viele Beratungsstellen
Illustration: Lucia Pigliapochi

                                  über die nötige technische Infrastruktur wie Dienstcomputer           entschieden, Mischformen von physischen, virtuellen und te-
                                  für alle Mitarbeitenden oder Lizenzen für Programme, die              lefonischen Gesprächen einzuführen. Für uns als Hochschule
                                  den Anforderungen des Datenschutzes genügten.                         bedeutet dies, dass wir uns zusammen mit der Praxis weiter
                                       Dies führte dazu, dass die meisten der Befragten lediglich       intensiv mit der Digitalisierung der Sozialen Arbeit befassen.
                                  Telefon und Mail nutzten, auch wenn Videocalls der Qualität
                                  einer persönlichen Begegnung näher gekommen und mit we-                  zhaw.ch/online-sozialberatung

                                                                                                    9
Sozial - Pflegekinder in der Schweiz: Was es braucht für ein gutes Aufwachsen - ZHAW
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Was Pflegekinder
                                  brauchen
                     In europäischen Ländern sollen fremdplatzierte Kinder viel häufiger in
                    Pflegefamilien als in Heimen aufwachsen. In der Schweiz läuft der Trend
                         in die entgegengesetzte Richtung. Doch man sollte zuerst über
                      Qualitätsstandards diskutieren, bevor man politische Weichen stellt.
                                                                   Von DANIELA REIMER

                         Wenn Kinder in einem Heim oder einer Pflegefa-             Arbeit wie auch auf politischer Ebene diskutiert.
                         milie aufwachsen, wird das in der Regel kritisch           Doch nicht nur in der Schweiz, sondern auch in
                         beäugt. Das liegt an der leidvollen Geschichte die-        anderen europäischen Ländern, vor allem in Ost-
                         ser beiden Formen von Fremdplatzierung, die von            europa, wird diskutiert, wie gemeinsame Quali-
                         Moralismus, Missbrauchserfahrungen und Beam-               tätsstandards entwickelt werden können. Dies mit
                         tenwillkür geprägt ist, in der Schweiz zumindest           dem Ziel, dass weniger Kinder in Heimen platziert
                         bis zur Aufhebung des Jugendhilfegesetzes im               werden und sie stattdessen eine Pflegefamilie
                         Jahr 1981. Seither hat sich vieles grundlegend ge-         finden. In Deutschland etwa verabschiedete der
                         ändert, politisch, juristisch, gesellschaftlich.           Bundestag im Frühjahr eine Reform des Kinder-
                               Aus einer Professionsperspektive der Sozi-           und Jugendhilfegesetzes. Dieses beinhaltet unter
                         alen Arbeit stellen sich bei einer Fremdplatzie-           anderem eine strengere Aufsicht von Heimen und
                         rung in einer Pflegefamilie folgende Leitfragen:           ähnlichen Einrichtungen sowie Anlaufstellen für
                         Welche Rahmenbedingungen brauchen Kinder                   fremdplatzierte Kinder und Jugendliche. In der
                         und Familien? Was ist eine gute Unterstützung für          Schweiz haben diverse Kantone – darunter auch
                         Pflegekinder? Wie kann eine Struktur so gestal-            die grossen Kantone Zürich und Bern – ihre Rah-
                         tet sein, dass sie im besten Interesse des Kindes          menbedingungen für die Pflegekinderhilfe in den
                         ist, also seine Bedürfnisse und seine Situation im         vergangenen Jahren verändert oder sie arbeiten
                         Mittelpunkt stehen? Diese Fragen werden seit dem           derzeit an Veränderungen. In Zürich soll die neue
                         Postulat der damaligen Nationalrätin und heuti-            Verordnung zum Kinder- und Jugendheimgesetz
                         gen Regierungsrätin Jacqueline Fehr aus dem Jahr           (KJG) per 1. Januar 2022 in Kraft treten.
Fotos: Sarah Carp

                         2002, in welchem sie klare, kindzentrierte und na-               Ein Grund für die angestrebten Änderungen
                         tional einheitliche Standards für die Pflegekinder-        ist die grosse Diversität in den Finanzierungs- und
                         hilfe forderte, regelmässig sowohl in der Sozialen         Begleitstrukturen für Pflegeverhältnisse, sogar

                                                                               11
innerhalb der Kantone. Zum einen gibt es unbe-          insbesondere auf Krisensituationen fokussiert
gleitete Pflegeverhältnisse, die in den meisten         wird. In Zürich soll mit dem neuen Kinder- und
Gemeinden nur wenige Aufsichtsbesuche pro Jahr          Jugendheimgesetz die Begleitung durch DAF nicht
bekommen; viele davon sind Verwandtenpflege-            mehr pauschal finanziert, sondern nach erfolg-
verhältnisse. Zum anderen gibt es durch private         ten Leistungen abgerechnet werden. Ausserdem
Dienstleistungsanbieter in der Familienpflege           schlägt der Kanton vor, das Setting der professio-
(DAF) vermittelte und begleitete Pflegeverhält-         nellen Pflegefamilien innerhalb von fünf Jahren
nisse. Je nach DAF sind diese unterschiedlich           abzuschaffen. Einige Punkte sind noch in Dis-
eng gerahmt. Rund die Hälfte der Pflegekinder in        kussion; die letzten Anpassungen werden bis zum
der Deutschschweiz werden über DAF vermittelt,          Inkrafttreten am 1. Januar 2022 erfolgen. Paral-
weshalb sie eine bedeutende Rolle im Rahmen der         lel zu den Änderungen in den Kantonen hat die
Fremdplatzierung spielen.                               Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen
                                                        und Sozialdirektoren (SODK) im Januar 2021 ins-
     Mehr Transparenz angestrebt                        gesamt 42 Empfehlungen für die ausserfamiliale
Und als Drittes gibt es professionelle Pflegefami-      Unterbringung von Kindern veröffentlicht. In
lien, in denen mindestens ein Pflegeelternteil eine     diesen Empfehlungen wird das Kindeswohl ins
pädagogische Ausbildung hat. Zudem bekommen             Zentrum gestellt. Zudem werden qualitative
sie nicht nur einen Lohn für ihre Tätigkeit, son-       Mindeststandards für eine einvernehmliche oder
dern werden meistens auch noch professionell be-        angeordnete Fremdunterbringung festgelegt. Die
gleitet. Die Höhe der Entlöhnungen und die Krite-       SODK-Empfehlungen verstehen sich als Orientie-
rien, warum welches Kind wo platziert wird, sind        rungsrahmen für fachliche und politische Gremi-
nicht immer eindeutig. Ausserdem fehlt bis jetzt        en. Ebenso sollen kantonale Stellen und Gemein-
eine schweizweite Übersicht. Die anstehenden            den die Weiterentwicklung ihrer Prozesse danach
Änderungen in den Kantonen können dem System            ausrichten können.
mehr Transparenz und eine stärkere Angleichung
ermöglichen.                                                 Wider den europäischen Trend
     Im Kanton Bern wird angeknüpft an das Pro-         Die kantonalen Anpassungen und die Empfehlun-
jekt «Optimierung der ergänzenden Hilfen zur            gen der SODK sind parallele Prozesse. Sie beein-
Erziehung» (Projekt OeHE), bei dem die Beglei-          flussen sich wechselseitig, weil sie den Rahmen
tung von Pflegeverhältnissen seit einigen Jahren        stecken für die strukturelle und fachliche Weiter-
                                                        entwicklung der Pflegekinderhilfe und entspre-
                                                        chend aufeinander abgestimmt werden müssen.
                                                        Wissenschaftlich begleitet werden die kantonalen
                                                        Änderungen bisher nur an wenigen Orten, zum
DREI FORSCHUNGSPROJEKTE                                 Beispiel im Kanton Neuchâtel. Unklar wird in all
Am Institut für Kindheit, Jugend und Familie der        den Neuerungen zunehmend die Rolle der DAF,
ZHAW Soziale Arbeit hat im März 2021 die SNF-           die auch vorher an den meisten Orten nicht voll-
Studie «Bilder der Pflegefamilie – und ihre Wirkung     ständig geklärt war. In ihrer ganzen – manchmal
auf Kooperationsprozesse» unter der Leitung von         auch kritisch betrachteten – Vielfalt haben die
Daniela Reimer gestartet. Ziel ist es, Entwicklungs-    DAF in den letzten Jahrzehnten die bis anhin in
möglichkeiten und -grenzen der Pflegekinderhilfe        Laienhänden befindliche Pflegekinderhilfe pro-
in der Praxis fundiert zu diskutieren und Refle-        fessionalisiert und an vielen Orten verbessert.
xionsflächen für Fachkräfte zu schaffen. Die Palatin-        In den Empfehlungen der SODK wird nun
Stiftung fördert im Rahmen des Projekts «Pflege-        nicht vorgeschlagen, sie in der Interkantonalen
kinder – Next Generation» seit April 2021 drei Stu-     Vereinbarung für soziale Einrichtungen (IVSE)
dien; sechs Schweizer Hochschulen sind beteiligt,       aufzunehmen, wie dies von vielen DAF gefordert
auch die ZHAW. So leitet Daniela Reimer die Studie      wird. Auch im Vertragsverhältnis zwischen Ge-
«Gute Begleitung von Pflegeverhältnissen», und          meinden und Pflegefamilien werden DAF nicht
Nadja Ramsauer arbeitet an der Studie zu den            als Vertragspartner vorgeschlagen. Neue Finan-
«Kantonalen Strukturen der Pflegekinderhilfe» mit.      zierungsvorschläge wie etwa die Abrechnung auf
                                                        Stundenbasis würden dazu führen, dass die Arbeit
   zhaw.ch/gute-begleitung;                             der DAF administrativ aufwendiger und die finan-
   zhaw.ch/bilder-pflegefamilie;                        zielle Basis prekärer werden würden. Während in
   pflegekinder-nextgeneration.ch                       der Schweiz Pflegefamilien immer noch allzu oft

                                                    12
13
Die Fotografin Sarah Carp hat im Foto-Essay «Paranthèse» ihre Welt als Mutter im Lockdown
festgehalten. Dafür wurde sie als Swiss Press Photographer of the Year 2021 ausgezeichnet.
Die Bilder hier stammen aus dem Essay sowie aus dem Zyklus «Echappées» (2002–2005).

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als günstige Alternative zur Heimerziehung be-
trachtet werden, die idealerweise noch günstiger
werden soll, hat die Europäische Union die Pflege-
kinderhilfe zur besten Option für ausserfamiliale
Unterbringungen ernannt und treibt den Ausbau                «In vielen EU-Ländern
der Pflegekinderhilfe im Rahmen der EU-Deinsti-                gibt es zu wenige
tutionalisierungsinitiative seit Anfang 2000 mas-
siv voran. In manchen osteuropäischen Ländern,               Pflegefamilien und zu
die bis in die Nullerjahre hinein traurige Berühmt-           wenige qualifizierte
heit erlangten wegen ihrer grossen Institutionen
und der dort herrschenden furchtbaren Zustände,                Professionelle für
leben heute deutlich mehr Kinder in Pflegefami-              die Begleitung. Doch
lien als in Heimen, so etwa in Serbien, Bulgarien
und Rumänien.
                                                            die Zielrichtung ist klar:
     Während in der Schweiz weiterhin viele klei-               weniger Heime.»
ne Kinder in Institutionen leben, will die Europä-
ische Union diese Praxis unterbinden und fordert
das Ende der institutionellen Platzierung von allen
Kindern, insbesondere der jüngeren Kinder. Damit
ist sie auch im Einklang mit internationalen Er-       Projekten beteiligt beziehungsweise führt diese
klärungen, wie zum Beispiel der «United Nations        durch, zum Teil in Kooperation mit anderen Hoch-
Guidelines for the Alternative Care of Children»,      schulen (siehe S. 12).
die fordern, dass Heimplatzierungen limitiert be-            Alle diese Studien haben eine intensive Be-
ziehungsweise nur für ältere Kinder in Betracht        teiligung sowohl der sozialarbeiterischen Pra-
gezogen werden sollen, für die genau dieses spe-       xis wie auch die Partizipation der Adressatinnen
zialisierte Setting angemessen ist.                    und Adressaten – Kinder und Pflegefamilien – im
                                                       Fokus. Mit diesen verschiedenen Bemühungen,
     Studien mit starker Partizipation                 Projekten, Empfehlungen und Standards sind die
Zwar stellt sich auch in der EU die Frage, wie Pfle-   besten Voraussetzungen dafür vorhanden, eine
gefamilien gefunden und gut begleitet werden kön-      grundlegende Diskussion darüber zu führen, wie
nen. In vielen Ländern gibt es zu wenige Pflegefa-     der Pflegekinderbereich in der Schweiz dauerhaft
milien und zu wenige qualifizierte Fachpersonen        so aufgestellt werden kann, dass er zukunftsfähig
für die Begleitung. Doch die Zielrichtung ist klar,    ist. Ziel der Diskussion muss es sein, eine Pflege-
und es werden deutlich Ressourcen für den Aus-         kinderhilfe zu entwickeln, die das beste Interesse
bau der Pflegekinderhilfe zur Verfügung gestellt.      des Kindes ins Zentrum stellt.
Um zwei der oben genannten Länder als Beispiele              Welche Ressourcen braucht es dafür? Wel-
zu nennen: Rumänien kündigte 2017 an, über             che politischen Weichen müssen gestellt werden?
100 Millionen Euro aus EU-Geldern dafür aufzu-         Welche Rolle sollen Pflegefamilien im System der
wenden, und in Bulgarien wurden zwischen 2014          Kinder- und Jugendhilfe zukünftig spielen? Wel-
und 2020 über 160 Millionen Euro in die Deinsti-       che Kompetenzen müssen die Fachpersonen in der
tutionalisierung eingesetzt.                           Pflegekinderhilfe besitzen, und welche Weiter-
     In der Schweiz gestalten derzeit verschiedene     bildungsangebote braucht es für sie? Um diese
Organisationen und Projekte die Weiterentwick-         Diskussion fundiert zu führen, müssen sich die
lung der Pflegekinderhilfe mit. Die SODK hat           zentralen Akteurinnen und Akteure all dieser Pro-
ihre oben erwähnten Empfehlungen veröffent-            zesse nun zusammenfinden. Denn eine fundierte
licht. Der Fachverband Integras hat «Standards:        Weiterentwicklung gibt es nur, wenn alle mitge-
Prozessqualität zur Platzierung von Kindern und        nommen werden: die Praxis in den kommunalen
Jugendlichen in Pflegefamilien» ausgearbeitet und      und kantonalen Stellen sowie in den DAF, die Po-
veröffentlicht. Auch in die Forschung wird derzeit     litik und auch die Wissenschaft.
viel investiert, unter anderem im Rahmen des Na-
tionalen Forschungsprogramms 76 «Fürsorge und            	Weiterbildungen:
Zwang» sowie durch das von der Palatin-Stiftung            CAS Kindes- und Erwachsenenschutzrecht;
lancierte Projekt «Pflegekinder – Next Generati-           Kurs Besuchskontakte von fremdplatzierten
on». Alleine die ZHAW Soziale Arbeit ist an drei           Kindern professionell begleiten

                                                   15
Eine liberale oder, um es mit den Worten
                                           von Karl Popper zu sagen, eine offene
                                           Gesellschaft lebt davon, dass mündige
                                           Bürgerinnen und Bürger Freiheitsrech-
                                           te besitzen und ihr Leben selbst gestal-
                                           ten können. Die Grenze verläuft dort,
                                           wo andere Menschen oder die Umwelt
                                           geschädigt werden. Diese rote Linie
                                           sollten wir verteidigen, auch wenn es
                                           unbequem oder sogar riskant erscheint.
                                                Einfach ist es meistens dann, wenn
                                           es einen Einzeltäter gibt wie etwa bei
                                           häuslicher Gewalt. Es gibt speziali-
                                           sierte Polizeieinheiten, und es herrscht
                                           ein gesellschaftlicher Konsens darü-
                                           ber, dass die eigenen vier Wände kein
                                           rechtsfreier Raum sind.
                                                Immer wieder werde ich gefragt,
                                           wie sich Frauen – denn zumeist han-
                                           delt es sich um Frauen – verhalten sol-
                                           len, wenn sie von ihrem Partner oder
                                           Ex-Partner an Leib und Leben bedroht
                                           werden. Ich verweise dann oft auf eine
                                           Faustregel. Wenn man denkt: «Ich er-
                                           statte lieber keine Anzeige, weil der
                                           andere dann noch wütender und es
                                           noch gefährlicher wird», handelt es
                                           sich meist um jene Fälle, die angezeigt
                                           werden sollten. Man glaubt zwar, den
                                           Aggressor zu besänftigen und die Si-
                                           tuation zu verbessern. Jedoch erreicht
                                           man meist genau das Gegenteil. Denn
                                           durch das Entgegenkommen fühlt sich
              FORENSIK                     der Aggressor bestätigt – und von nun

     Kein Raum
                                           an wird alles nur noch schlimmer.
                                                Das Prinzip, das hier für den Pri-
                                           vatbereich beschrieben wird, sollte

   für rechtsfreie
                                           in gleicher Weise für die ganze Ge-
                                           sellschaft gelten. Was andernfalls
                                           passieren kann, zeigte unlängst eine

       Räume
                                           Dokumentation über Hooligans im
                                           «Aktuellen Sportstudio». Es ging in
                                           der ZDF-Sendung darum, dass sich die
                                           Ultras verschiedener Vereine auf Diet-
                                           mar Hopp, den Sponsor des TSG 1899
                                                                                      Foto: «Ghettofaust» (2011) von Beni Bischof

Es gehört zu einer offenen Gesellschaft,   Hoffenheim, eingeschossen haben. Er
                                           und seine Familie wurden aufs Übels-
   sich und andere gegen Drohungen         te beleidigt und auch bedroht. Hopp

und Gewalt zu verteidigen. Auch wenn       wollte sich das nicht gefallen lassen
                                           und erstattete Strafanzeige. Und was
     es manchmal Mut dazu braucht.         geschah? Eine Welle der Solidarität
                                           mit dem Angegriffenen? Weit gefehlt.
             Von FRANK URBANIOK
                                           Viele Funktionäre, Medieschaffende
                                           und andere «Fachleute» zeigten sich

                                  16
als feinfühlige Versteher dieses über-                                                  und andere Funktionsträgerinnen und
aus komplexen Geschehens. Man müs-                                                      -träger, die sich hier um ihre Verant-
se beide Seiten sehen. Hopp sei nun                                                     wortung drücken, um Konflikten aus
einmal eine Reizfigur, ausserdem habe                                                   dem Weg zu gehen, sind fehl am Platz.
er mit seiner Strafanzeige Öl ins Feuer                                                      Wie man das mit Drohungen und
gegossen. Dies habe fatalerweise dazu        Opfer sind nicht die                       Gewalt verbundene Risiko sachgerecht
geführt, dass ganze Fangruppen aus           besseren Menschen.                         beurteilt, wie man mit Risiken umgeht
dem Stadion ausgeschlossen wurden –                                                     und was sinnvolle Interventionen sind,
was für eine drakonische Strafe.              Aber sich auf ihre                        ist die praktisch-methodische Seite.
     In der Dokumentation kamen auch         Seite zu stellen, hat                      Hier geht es um Professionalität und
ausführlich die Vertreter der Ultra-Sze-                                                technische Kompetenzen. Wie aber
ne zu Wort, und man hörte und staun-          letzten Endes mit                         Hetze, Drohungen, Gewalt und Straf-
te nicht schlecht. Dietmar Hopp habe         Zivilcourage zu tun.                       taten generell eingeordnet werden, ist
durch seine Anzeige provoziert und                                                      Ausdruck einer politischen und gesell-
eine Grenze überschritten, liessen die                                                  schaftlichen Haltung. Die Politik, Ent-
Ultras verlauten. Die Aktionen gegen                                                    scheidungsträger und Profis aus den
ihn seien berechtigt gewesen, schliess-                                                 Bereichen Polizei und Justiz müssen
lich habe man die gewünschte media-                                                     das Recht umsetzen und vor allem po-
le Aufmerksamkeit erreicht. Gemeint        dem Strich wurde der Eindruck vermit-        tenzielle Opfer schützen.
war: Es sei den Ultras gelungen, die Öf-   telt, Dietmar Hopp habe zu mindestens
fentlichkeit auf das ihrer Ansicht nach    50 Prozent selbst zur Eskalation beige-           Haltung zeigen
gravierende Problem hingewiesen zu         tragen, weil er die Ultras derart provo-     Letztlich geht es um eine gesellschaftli-
haben. Nämlich auf die Unverschämt-        ziert habe.                                  che Haltung, die wir gemeinsam reprä-
heit des Hoffenheim-Sponsors, Anzei-             Die Position des neutralen Verste-     sentieren sollten. Das heisst: Grösst­
ge zu erstatten. Dieser Steilpass wurde    hers, der Verständnis für beide Seiten       mögliche Freiheit und Liberalität für
von der ZDF-Redaktion für ihre Doku-       hat, ist bequem. Man kann sich für den       die individuelle Lebensgestaltung, aber
mentation offenbar gerne aufgenom-         Austausch der Argumente und für eine         keine Toleranz gegenüber menschen-
men. Am Ende orteten die Journalisten      Mediation einsetzen und stellt damit         verachtender Hetze und Gewalt. Und
das Verschulden irgendwo in der Mitte.     gleichzeitig sicher, nicht selbst Ziel       zwar nicht nur dort, wo es einfach und
Einzig Uli Hoeness brachte es auf den      von Attacken wütender Fangruppen zu          bequem ist, sondern überall, nach dem
Punkt: Hier werde fälschlicherweise        werden. Auch in der Schweiz wird im          Motto: keine rechtsfreien Räume.
nicht unterschieden, wer eigentlich Tä-    Umgang mit gewaltbereiten Fussball-               Das gilt im Übrigen auch für die
ter und wer Opfer sei, so der ehemalige    fans oft eine vornehme Zurückhaltung         sozialen Medien. Dort sind Hetze,
Fussballstar und heutige Funktionär.       an den Tag gelegt, um der Konfron-           Drohungen und Aufrufe zu Gewalt an
                                           tation aus dem Weg zu gehen. Genau           der Tagesordnung. Hier sind wir alle
     Bequem und ängstlich                  so entstehen rechtsfreie Räume. Man          gefordert, uns zu zeigen, uns zu po-
Nun sind die Ultras kein pöbelnder,        sucht sich nach Belieben aus, was einem      sitionieren und uns mit denjenigen zu
drohender oder schlagender Ehemann,        rechtlich genehm ist. Einmal markiert        solidarisieren, die Ziel von Hassatta-
den man verhältnismässig leicht bän-       man klar die rote Linie, an anderer Stel-    cken sind. Opfer sind nicht die besse-
digen und zur Abkühlung in eine Zelle      le toleriert man, dass sie überschritten     ren Menschen. Aber sich auf die Seite
sperren kann. Bei den Ultras droht po-     wird, weil es unbequemer, konflikthaf-       der Opfer zu stellen, ist – zumindest für
tenziell mehr Ärger. Man könnte selbst     ter und vielleicht sogar gefährlicher ist.   mich – die richtige Seite. Das hat letzten
zur Zielscheibe werden, wenn man sich            Damit sendet man ein fatales Sig-      Endes immer mit Zivilcourage zu tun
ihnen entgegenstellt. Da überlegen es      nal. Es erinnert stark an ein Phänomen       und geht uns alle an.
sich viele Leute aus Medien, Sport und     bei der Verurteilung von Finanz- und Be-
Politik zweimal, ob man sich mit sol-      trugsdelikten: Die Kleinen hängt man,        FRANK URBANIOK (* 1962) war von 1997 bis
                                                                                        2018 Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen
chen Leuten anlegen will.                  die Grossen lässt man laufen. Grosse         Dienstes (PPD) des Kantons Zürich. Er ist als
     So zeigten sich auch die Macher       können im Bereich von Bedrohungen            selbständiger Gutachter, Berater, Supervisor und
der ZDF-Dokumentation sichtlich be-        und Gewalt auch grosse Gruppen sein,         ZHAW-Dozent tätig. Ausserdem publiziert er
                                                                                        Bücher und Kommentare zu forensischen und
müht, die empfindsamen Seelen der Ul-      die zum Beispiel in Zusammenhang mit         politischen Themen.
tras nicht über Gebühr zu strapazieren.    Fussballspielen marodierend durch die
Zwar wurden die Aktionen der Ultras        Strassen ziehen, Sachbeschädigungen              Weiterbildungen:
nicht explizit gutgeheissen. Aber ihre     begehen sowie Leute bedrohen und                 CAS Forensisches Bedrohungs­
Vertreter bekamen eine Bühne. Unter        angreifen. Politiker, Sportfunktionäre           management; Kurs Zivilcourage

                                                              17
INTERVIEW

                                   MIT
RAPHAEL GOLTA            MONIKA GÖTZÖ                 MICHAEL HERZIG

      Wie viel Not kann
     die wirtschaftliche
     Basishilfe lindern?
Seit der Pandemie können sich manche Migrantinnen und Migranten
   kaum mehr Essen oder eine Wohnung leisten. Durch ein Projekt
                                                                       Illustrationen: Elisabeth Moch

 des Zürcher Stadtrats Raphael Golta stehen ihnen nun 2 Millionen
  Franken zur Verfügung. Das stösst bei einigen Parteien auf Kritik.
                          Interview: REGULA FREULER

                                    18
Herr Golta, im Sommer startete das von Ihnen lan-
cierte Pilotprojekt «Wirtschaftliche Basishilfe»,
das auf 18 Monate befristet ist: Die Stadt Zürich
stellt 2 Millionen Franken Bargeld für Auslände-
rinnen und Ausländer zur Verfügung, die keinen
oder keinen risikolosen Zugang zur Sozialhilfe
haben. Wie weit reicht dieser Betrag?
RG Das können wir heute noch nicht sagen.                                               «Es gibt ein Recht auf
     Durch die Datenerhebung der ZHAW zu den                                             Unterstützung, und
     kostenlosen Lebensmittelabgaben seit dem
     Lockdown kennen wir zwar die materiellen                                            den Zugang müssen
     Sorgen und Bedürfnisse dieser Menschen,                                              wir sicherstellen.»
     jedoch wissen wir nicht, wie viele es genau
     sind. Es ist Teil des Projekts, das herauszu-                                                RAPHAEL GOLTA
     finden und entsprechend zu reagieren.
MG In der Stadt Zürich leben geschätzt 10 000 bis
     14 000 Sans-Papiers, die keine Sozialhilfe be-
     ziehen dürfen. Dazu kommen Migrantinnen
     und Migranten mit einem B- oder C-Ausweis,
     die riskieren, ihren Aufenthaltsstatus zu ver-
     lieren, wenn sie Sozialhilfe beziehen. Ange-       RG Hier gilt es zu unterscheiden. Die Stigmati-
     sichts dieser grossen Zahl sind 2 Millionen           sierung müssen wir gesamtgesellschaftlich
     Franken nicht viel, aber es ist ein guter Start.      angehen, sie ist ein Problem der Wahrneh-
     Es ist denkbar, dass viele Betroffene zunächst        mung. Beispielsweise ist es fragwürdig, wenn
     abwarten, um einschätzen zu können, ob sie            jemand keine Zusatzleistungen beziehen will,
     rechtliche Konsequenzen zu befürchten ha-             bloss weil das als stigmatisierend empfunden
     ben, wenn sie sich melden. Vor allem aber ist         wird. Die wirtschaftliche Basishilfe hingegen
     entscheidend, wie es mit der Pandemie und             ist für Menschen gedacht, die keinen oder
     der Situation auf dem Arbeitsmarkt weiterge-          keinen risikofreien Zugang zur Sozialhilfe
     hen wird.                                             haben. Das ist ein gesetzgeberisches Pro-
                                                           blem. Es gibt in diesem Land ein Recht auf
Nur einmal grob gerechnet: Wenn man die 2 Mil-             Unterstützung in Notlagen, und den Zugang
lionen Franken auf 10 000 Sans-Papiers verteilt,           dazu müssen wir sicherstellen.
sind das 200 Franken pro Person. Nimmt man
weitere Anspruchsgruppen dazu, ist es noch              Wie wollen Sie das ermöglichen?
weniger Geld pro Person. Wie viel Not lässt sich        RG Jene Menschen, die eine berechtigte Angst
mit einem solchen Betrag wirklich lindern?                  davor haben, ihren Aufenthaltsstatus auf-
RG Die wirtschaftliche Basishilfe ist eine Über-            grund von Sozialhilfebezug zu verlieren,
     brückungshilfe für akute Notsituationen. Die           müssen wir abholen. Dazu müssen wir eng
     Höhe orientiert sich am Niveau der Asyl-               mit zivilgesellschaftlichen Organisationen
     vorsorge und liegt damit unter dem Sozial-             zusammenarbeiten. Sie kennen diese Men-
     hilfeansatz. Das ist nicht viel Geld, kann im          schen, ihnen vertrauen sie. Die wirtschaftli-
     Einzelfall aber den Unterschied machen.                che Basishilfe soll hier für den Moment Teil
                                                            der Lösung sein.
Sans-Papiers leben oftmals zurückgezogen, um            MH Was die Organisationen betrifft, so haben wir
nicht aufzufallen. Wie erfahren sie vom Angebot             bei unserer Datenerhebung festgestellt, dass
der wirtschaftlichen Basishilfe?                            viele neue Akteurinnen und Akteure dazu-
MH Das wird über Netzwerke privater Hilfswer-               gekommen sind während des Lockdowns.
    ke funktionieren. Aber zunächst ist es kei-             Dadurch entstanden neue Verbindungen zu
    ne Frage des Informiertseins, sondern des               Armutsbetroffenen. Das sollte man in Zu-
    Vertrauens. Die Angst vor ausländerrechtli-             kunft nutzen. Stereotype und Ängste sind
    chen Konsequenzen ist gross. Dazu kommt                 irrational, sie lassen sich nicht alleine mit
    die Stigmatisierung, denn niemand ist gerne             Informationen abbauen, sondern es braucht
    Bittsteller. Die Leute wollen arbeiten.                 solche persönlichen Kontakte.

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INTERVIEW
            Vertrauen ist wichtig, aber gibt es darüber hinaus        Familien kümmert. Die vier Organisationen
            auch eine gewisse Absicherung, keine negativen            kennen ihre Adressatinnen und Adressaten,
            Konsequenzen fürchten zu müssen?                          daher wird ein Mehrfachbezug wohl recht
            RG Die verschiedenen Organisationen, denen wir            schwierig werden.
                die Basishilfe zur Verfügung stellen, unterste-
                hen nicht der Meldepflicht.                       Bei der Datenerhebung der ZHAW wurden neun
                                                                  Bezugsgruppen der Lebensmittelabgabe aus-
            Wie wird sichergestellt, dass sich niemand mehr-      gemacht. Dazu gehörten auch Prostituierte.
            fach Geld auszahlen lässt?                            Nirgendwo in der Schweiz galt das Sexverbot so
            RG Die Organisationen ergreifen Massnahmen,           lange wie im Kanton Zürich. Warum?
                um Doppelbezüge von wirtschaftlicher Ba-          RG Es war eine Entscheidung des Kantons. Klar
                sishilfe durch dieselbe Person zu verhindern.          war meines Erachtens, dass ein Verbot nicht
                Zudem sind die Zuständigkeiten der Organi-             zum Schutz der Prostituierten beigetragen hat.
                sationen für die spezifische Zielgruppe klar      MH Ein landesweites Verbot zu Beginn der Pan-
                definiert und abgegrenzt, und wo diese Ab-             demie war nachvollziehbar, man wusste zu
                grenzung nicht eindeutig möglich ist, erfolgt          wenig über das Virus. Aber dass man Monate
                ein enger Austausch untereinander. Weiterhin           später noch einmal Sexarbeit verbietet, war
                bestätigen auch die betroffenen Personen per           epidemiologisch kontraproduktiv. Die Unter-
                Selbstdeklaration, dass sie nicht bereits ande-        stützung brach weg, aber das Geschäft ging
                re Leistungen – darunter auch die wirtschaftli-        weiter.
                che Basishilfe – beziehen.
            MG Die Gelder werden durch vier NGO verteilt,         Im März hat das Stadtparlament einen Kredit
                und jede Organisation ist für eine spezifische    über 4,6 Millionen Franken für ein dreijähriges
                Gruppe von Adressatinnen und Adressaten           Pilotprojekt gesprochen. Es soll Personen ohne
                zuständig. So ist die Caritas für Familien mit    Krankenkasse eine medizinische Unterstützung
                gültigem Aufenthaltsstatus zuständig, die         sichern. Warum ging das im Vergleich zur hitzig
                SPAZ für Sans-Papiers, der Verein Solidara –      diskutierten Basishilfe so schlank durch?
                vormals Stadtmission – für Sexarbeitende bei      MH Zynisch gesagt: Wer gesund ist, kann das Land
                der Isla Victoria, der Verein Schweizerisches          wieder verlassen. Kranke können das nicht.
                Rotes Kreuz Kanton Zürich für Ausländerin-        MG Offenbar werden armutsbezogene Fragen an-
                nen und Ausländer mit gültigem Aufenthalts-            ders eingestuft als gesundheitliche Fragen.
                status, hier jedoch Einzelpersonen und Paa-            Die Wertigkeit, die dahinter steht, lautet:
                re im Unterschied zur Caritas, die sich um             Gesundheit kann passieren, Armut ist selbst-
                                                                       verschuldet. Das finde ich problematisch. Un-
                                                                       sere Studie zeigt, dass sich diese Menschen
                                                                       enorm bemühen, selbständig durchs Leben zu
                                                                       kommen. Meine Prognose lautet: Sobald sie
                                                                       sich wieder auf dem Arbeitsmarkt bewegen
                                                                       können, werden sie keine Gelder mehr bean-
                                                                       spruchen. Die Erwerbsarbeit ist ihre zentrale
«Die Erwerbsarbeit                                                     Überlebensstrategie.
                                                                  RG Wie widersprüchlich eine solche Unterschei-
  ist die zentrale                                                     dung von gesundheitlicher und wirtschaft-
Überlebensstrategie                                                    licher Not im Akutfall ist, scheint manchen
                                                                       Menschen vielleicht gar nicht bewusst zu
 der Sans-Papiers.»                                                    sein.
     MONIKA GÖTZÖ
                                                                  Indem Sie die Corona-Notsituation heranziehen
                                                                  und dabei das Schweizer Migrationsrecht kritisie-
                                                                  ren, koppeln Sie die Basishilfe an eine Grundsatz-
                                                                  debatte – warum?
                                                                  RG Die Koppelung liegt auf der Hand. Das Bun-
                                                                       desrecht erschwert unseren Auftrag, Men-
                                                                       schen in Not zu helfen.

                                                   20
Laut Sans-Papiers-Organisationen hätten wir
mit einer Regularisierung nicht diese Not. In Genf
wurden bei der Opération Papyrus 2500 Sans-
Papiers regularisiert. Dennoch sah man im Lock-
down Menschenschlangen bei Essensabgaben.
RG Es gibt keine umfassende Lösung für alle                                                     «Wieso muss man
     Aspekte der Prekarisierung. Die Regularisie-
     rung ist ein mögliches Mittel. Auch die City                                                  zehn Jahre
     Card, eine Art städtische Identitätskarte, wäre                                          Ausbeutung ertragen,
     ein Schritt in diese Richtung, selbst wenn sie
     nur ein Behelfsinstrument ist. Man muss es                                                  um hier leben zu
     doch so sehen: Menschen, die seit einer be-                                              dürfen? Ich finde das
     stimmten Weile hier leben, fünf oder zehn
     Jahre, die gehören irgendwann einfach dazu.                                                   unlogisch.»
                                                                                                          MICHAEL HERZIG
Die Aufenthaltsdauer ist immer wieder Gegen-
stand der Diskussion. Ab wann gehört jemand
denn dazu?
MG Die meisten Sans-Papiers, mit denen wir ge-
     sprochen haben, leben seit längerer Zeit hier,
     manche schon seit 20, 30 Jahren. Sie arbeiten.    MH Jene Städte, die bei der City Card zögern,
     Ihre Familien ziehen sie in den seltensten Fäl-      müssen bedenken: Wenn sie jetzt nichts un-
     len nach – so viel zur immer wieder geäus-           ternehmen, verlieren die Menschen die Woh-
     serten Befürchtung, dass Projekte wie die            nung. Und das Obdach, das wissen wir von
     wirtschaftliche Basishilfe eine Sogwirkung           den Befragungen, hat oberste Priorität. Es ist
     entfalten würden. Auch in Genf hat man bei           das Letzte, das sie aufgeben.
     der Evaluation der Opération Papyrus keine
     Sogwirkung feststellen können. Die Zahlen         Der Bundesrat hat Ende 2020 eine kollektive
     dort sind stabil, sie sind mit der Situation am   Regularisierung der Sans-Papiers abgelehnt. Wird
     Arbeitsmarkt verknüpft.                           sich das auf die anstehende Behandlung der City
MH Die Festlegung einer Aufenthaltsdauer geht          Card im Zürcher Gemeinderat auswirken?
     eigentlich an der Realität vorbei. Man kann       RG Es ist klar, dass es auf Bundesebene nicht so
     sich in diesem Land nichts ersitzen, man               schnell gehen wird. Darum ist es wichtig, dass
     kann es sich nur erarbeiten. Schätzungsweise           wir auf kommunaler Ebene schon etwas bewe-
     75 000 bis 100 000 Sans-Papiers leben in der           gen. Allein schon aus föderalistischen Grün-
     Schweiz. Sie sind ein wichtiger Faktor in der          den müssen wir uns für unseren Spielraum
     Volkswirtschaft. Wieso muss man zehn Jahre             wehren, zumal wir letztlich dafür zuständig
     Ausbeutung ertragen, um hier leben zu dür-             sind, Armut zu vermeiden. Und trotz allem
     fen? Das finde ich unlogisch.                          halten wir uns mit unseren Massnahmen an
RG Ich sehe die Festlegung einer gewissen Anzahl            die geltenden Gesetze.
     Jahre nicht nur negativ. Für die Betroffenen
     bringt das durchaus eine Entlastung, wenn             RAPHAEL GOLTA (SP) steht seit 2014 als Zürcher Stadt-
                                                           rat dem Sozialdepartement vor. Im Mai lancierte er das
     sie wissen, dass sie nach einer bestimmten            Pilotprojekt «Wirtschaftliche Basishilfe» für Armutsbe-
     Aufenthaltsdauer auf der sicheren Seite sind.         troffene, die keinen oder einen risikoreichen Zugang zu
                                                           Sozialhilfe haben. Für das Projekt stehen ab Sommer 2021
     Egal, ob das nun zehn oder 15 Jahre sind.             innert 18 Monaten 2 Millionen Franken zur Verfügung.

Zur vorhin erwähnten City Card: In Luzern und Biel         MONIKA GÖTZÖ leitet das Institut für Vielfalt und ge-
                                                           sellschaftliche Teilhabe. Ihre Datenerhebung pandemie-
haben sich die Regierungen dieses Jahr gegen               bedingter, kostenloser Mahlzeiten-, Lebensmittel- und
eine solche städtische Identitätskarte ausge-              Gutscheinabgaben in der Stadt Zürich durch öffentliche
                                                           und private Institutionen lieferte die empi­rische Ein-
sprochen. Auch in Zürich regt sich eine so starke
                                                           schätzung aktueller und künftiger Bedarfe (zhaw.ch/
Opposition, dass eine Regularisierung nicht                lebensmittelabgabe).
durchsetzbar scheint. Warum klappte es in Genf?
                                                           MICHAEL HERZIG lehrt und forscht am Institut für
MG Der Röstigraben spielt eine grosse Rolle, das           Sozialmanagement und berät Organisationen im Sozial-
     merkt man oft bei sozialpolitischen Fragen.           bereich. Er gehörte zum Projektteam der Datenerhebung.

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Ausgrenzung

unter

Ausgegrenzten
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Wer neu zu einer Gruppe stösst, muss sich beweisen. Diese Dynamik
      beschrieb einst der Soziologe Norbert Elias in England. Sie spielt
     auch in Mikrokosmen wie in einem Alkoholikertreffpunkt in Zürich.
                                   Essay von ERILENE LEITE DE ARAÚJO und MICHAEL HERZIG

Eine soziale Einrichtung als Heimat für     erinnerte sie an eine Theorie des jüdi-     darin Fotos mit strahlenden Augen in
Menschen, die kein Daheim haben. So         schen Intellektuellen Norbert Elias.        verwitterten Gesichtern.
wurde die Anlaufstelle t-alk vor über            Als die Nationalsozialisten 1933            Aber im t-alk gibt es auch Neu-
20 Jahren in Zürich konzipiert. T-Bin-      das soziologische Institut der Univer-      ankommende, denen nicht warm ums
destrich-Alk: Treffpunkt für Alkoholi-      sität Mannheim schlossen, an dem er         Herz wird, wenn der Cervelat-Salat ser-
kerinnen und Alkoholiker.                   habilitieren wollte, floh Elias nach Eng-   viert wird oder das Wädli mit Sauer-
     Laut Konzept sollten sie sich mit      land. Nach Monaten in Internierungs-        kraut und Kartoffeln. Manche schieben
ihrem Treff identifizieren, er sollte at-   lagern liess er sich in Leicester nieder.   das Schweinefleisch zur Seite. Andere
traktiver sein als die Parkbank. Mittel     Im Vorort South Wigston beobachtete         versuchen, selbst in die Position der
dazu waren Mitsprache und Mitarbeit.        er ein ausgeprägtes Machtgefälle zwi-       Köchin oder des Kochs zu gelangen.
Sehen konnte man dies an den Brocken-       schen der ansässigen Industriearbei-
haus-Schinken an der Wand, hören an         terschaft und den später zugezogenen             Nur beinahe im gleichen Boot
Elvis Presley aus der Stereoanlage und      Arbeiterfamilien. Arm waren alle, nur       Doch da hört der Spass auf. «Versuchen
erfahren bei den Jass-Meisterschaf-         die neu Zugezogenen waren ärmer dran.       kann man es schon, aber wenn man kei-
ten. Einen Tag im Monat schmissen                In dieser Arbeitersiedlung sezierte    ne Erfahrung hat, dann filtern sie dich
die Klientinnen und Klienten den La-        Norbert Elias die sozialen Beziehun-        raus», sagt Zara, die es probiert hat.
den selbst. Ohne moderierende und           gen. Er entlarvte faktische Diskrimi-       Die Stammgäste kennen keine Gnade,
beschwichtigende Sozialarbeit. Da die       nierung von neu Zugezogenen und sym-        wenn es nicht mundet. Oder wenn es zu
Zielgruppe schwere Alkoholikerinnen         bolische Machtkonstituierung der seit       fremdländisch schmeckt.
und Alkoholiker waren (und noch im-         langem Ansässigen. Seine eigene Er-              «Wenn sie ihr Essen ‹innebigä›
mer sind), ähnelte die Einrichtung bald     fahrung als Geflüchteter und sein eige-     wollen, sollen sie es im Coop selber
einer Kneipe. Der prominenteste Ort?        nes Fremdsein schärften die Sinne. So       kaufen. Ich kann ja auch nicht weiss ich
Der Stammtisch. Gross, rund, in seiner      deckte er Ausgrenzungsmechanismen           irgendwo hin nach Marokko und sagen:
Mitte ein kupferner Aschenbecher.           auf, die er im Buch «Etablierte Aussen-     ‹Ich will Rösti!›», meint Reto. «Kein
                                            seiter» beschrieb. Darin gibt er South      Schweinefleisch essen, aber saufen und
     Cervelat-Salat und Wädli               Wigston den fiktiven Namen Winston          kiffen», fügt er noch an. Er ist ein Wort-
Wer Beizen kennt, weiss: Ein Stamm-         Parva. Das 1965 publizierte Werk ist        führer am Stammtisch. Zwar sässen sie
tisch ist Einheimischen vorbehalten.        heute ein Klassiker der Soziologie.         alle im gleichen Boot: keine Wohnung,
Wer das Lokal zum ersten Mal betritt,            Wer sich im t-alk an den Stamm-        Alkoholabhängigkeit, psychische Pro-
setzt sich woanders hin. Vorerst. Haben     tisch setzen darf, ist das eine, was auf    bleme. Doch weil sie eben nicht in der
sich die Zugezogenen bewährt, dürfen        den Tisch kommt, das andere. Im Treff-      Schweiz aufgewachsen seien, passen
sie sich dazusetzen. Dann gehören sie       punkt kochen die Gäste. Besonders oft       die Neuen auch nicht hierhin. Reto sagt:
dazu. So war es beim t-alk gedacht: der     tun dies die Stammgäste. Wer es schafft,    «Wenn du anders aufwächst, kannst du
Stammtisch als Instrument sozialer In-      30 vollwertige Menüs zuzubereiten,          nicht einfach den Schalter umstellen.»
klusion. Das war er auch – aber nicht       erntet Anerkennung. Das ist gut für das     Jürg mag diese Diskussion nicht. Man
nur das. Er stellte sich als geradezu di-   Selbstbewusstsein von Menschen, de-         ende schnell beim Rassismus.
alektisches Möbel heraus.                   nen draussen auf der Parkbank ständig            Die Mehrheit der Köche im t-alk
     Eine Studentin der Sozialen Arbeit     das eigene Scheitern vorgeführt wird.       sind Schweizer, männlich, über 50. Die
sah in ihm ein Symbol für Machtaus-              Kochen als Inklusionsbeschleuni-       Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter
übung. Die junge Frau war in Brasilien      ger – das gehörte zum Konzept. Und          versuchen immer wieder, die Zusam-
aufgewachsen und absolvierte im t-alk       es hat funktioniert: Die Köchinnen und      mensetzung der Kochtruppe ausge-
ihr Praktikum. Der grosse runde Tisch,      Köche sind hoch angesehen. Sogar ein        glichener zu gestalten und damit den
dieser Platz in der Mitte des Raums,        Kochbuch haben sie herausgegeben,           Menüplan der multikulturellen Realität

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