Stadtwachstum und Stadtumbau in Oslo. Exkursion durch die inneren Bereiche der norwegischen Hauptstadt

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NORDEN                                   Bd. 16                                   S. 165-180          Bremen 2004

                Stadtwachstum und Stadtumbau in Oslo.
    Exkursion durch die inneren Bereiche der norwegischen Hauptstadt

                                                              von
                                                      Jürgen Aring*

1      Zielsetzung der Exkursion
Norwegen wird im Allgemeinen wegen seiner Na-                        intensiver mit Oslo beschäftigen.
tur bereist und nicht wegen seiner Städte. Der Be-                   Das Werden und Wachsen der Hauptstadt spiegelt
sucher freut sich auf Fjell, Fjorde und das Licht des                auf wenigen Quadratkilometern die Entwicklung von
Nordens. Einige Städte - Oslo, Bergen, úlesund,                      Staat und Gesellschaft in Norwegen. Die nachfol-
Trondheim - gehören zwar auch ins touristische Pro-                  gende Exkursion, für die man mindestens einen
gramm, doch ihnen gilt nicht das Hauptinteresse                      ganzen Tag ansetzen sollte, führt durch das innere
der Reisenden. Wer jedoch einen Zugang zur mo-                       Oslo. Vorbereitet wird die Exkursion durch einen
dernen norwegischen Nation sucht, der sollte sich                    Überblick zur Stadtentwicklung.

2      Einführung zur Exkursion – Die Stadthistorie im Überblick

2.1    Vorgeschichte                                                 2.2     Hier soll die Stadt liegen –
                                                                             Die Stadtgründung von Christian IV.
Im Jahre 2000 feierte Oslo sein 1000-jähriges Be-
stehen, denn um das Jahr 1000 n. Chr. entstand                       Fragen wir uns zunächst, warum das mittelalterli-
am Nordende des Oslofjordes die erste stadtartige                    che Oslo so klein und unbedeutend war und war-
Bebauung. Dem aufmerksamen Beobachter fällt                          um sich dann im 17. Jahrhundert der dänische Kö-
aber beim Betrachten des Stadtplans sofort auf,                      nig von Kopenhagen an den Oslofjord bemühte, um
dass die Stadt keinen mittelalterlichen Stadtkern                    die Neuanlage der Stadt zu leiten. Die erste Frage
besitzt. Es fehlen die schmalen verwinkelten Stra-                   ist relativ leicht beantwortet. Das mittelalterliche
ßen und die romanischen oder gotischen Kirchen,                      Oslo lag „am Rande der Welt“, hatte ein extrem
die im Allgemeinen den Kern gleich alter Städte prä-                 dünn besiedeltes Hinterland, und es hatte ökono-
gen. Das mittelalterliche Oslo war eine Kleinstadt                   misch wenig zu bieten. Ein wichtiges Handelsgut
mit geringer Einwohnerzahl. Die meisten Gebäude                      im Mittelalter war Fisch, der als christliche Freitags-
waren aus Holz. Einige steinernen Reste sind bei                     speise nachgefragt wurde. Fisch gab es an der nor-
Ausgrabungen in den letzten Jahren freigelegt wor-                   wegischen Westküste, und die Hanse sorgte mit
den und können besichtigt werden. Diese Aus-                         ihrem Kontor in Bergen dafür, dass der Fisch nach
grabungsergebnisse findet man aber nicht im heu-                     Mitteleuropa kam. Im Mittelalter waren deshalb
tigen Zentrum, sondern einige Kilometer weiter öst-                  Bergen und Trondheim viel bedeutendere und auch
lich unterhalb des Ekebergs (den man von weither                     urbanere Städte als Oslo.
am markanten viertürmigen Gebäude der ehemali-                       Im 16. Jahrhundert veränderten sich die Rahmen-
gen Seemannsschule erkennen kann). Die mittel-                       bedingungen erheblich. Norwegen wurde nach dem
alterliche Kleinstadt zählte in ihren besten Jahren                  Zerfall der Kalmarer Union 1523 und der Einfüh-
zwischen 2.000 und 3.500 Einwohner, die Zahl ging                    rung der Reformation 1536 zu einem dänischen
jedoch im ausklingenden Mittelalter aufgrund von                     Nebenland, ähnlich einer Kolonie. Das Land erhielt
Krisen sogar wieder deutlich zurück. Im Jahre 1624                   einen dänischen Statthalter, und Dänisch wurde zur
brannte das Städtchen vollständig nieder und durf-                   Amts-, Schul- und Kirchensprache. Damit verscho-
te auf Weisung des dänischen Königs Christian IV.                    ben sich die administrativen Bezugspunkte Norwe-
nicht wieder aufgebaut werden. Stattdessen kam                       gens in den Süden nach Kopenhagen. Gleichzeitig
es zu einer Verlagerung und Neugründung. Doch                        schuf der Zerfall der Union Grenzen und kriegeri-
dazu später mehr.                                                    sche Auseinandersetzungen zwischen Dänemark

*Dr. J. Aring, Klosterstr. 84, 53340 Meckenheim, E-Mail: Aring@t-online.de
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  550000

  500000

  450000

  400000

  350000

  300000
                                                                                                              Oslo
                                                                                                              Oslo u. Aker
  250000

  200000

  150000

  100000

   50000

      0
       1800    1820    1840    1860    1880     1900        1920       1940     1960    1980     2000

Abb. 1:    Bevölkerungsentwicklung Oslo 1800 - 2003
           Anmerkung: Die Stadt Oslo hat im Laufe der Jahrzehnte immer wieder Teile der die Stadt umgeben-
           den Landkommune Aker übernommen, bis es 1948 zu einer vollständigen Eingemeindung kam.

und Schweden um die Vorherrschaft im Ostsee-                       hus an der Bjørvika gegenüber von Alt-Oslo. Diese
raum (u. a. Krieg unter Frederik II. von 1563-1570).               Festung war um 1300 unter dem norwegischen
Norwegen musste vom dänischen König gesichert                      König Håkon V. entstanden. Später diente sie dann
werden, um nicht bei der erstbesten Gelegenheit                    dem dänischen König als Hof in Norwegen. Mit der
an Schweden verloren zu werden. Mindestens                         Neugründung einer Stadt unmittelbar neben
genauso wichtig sind jedoch ökonomische Grün-                      Akershus erreichte Christian IV. zwei Ziele. Die neue
de. Mit der Reformation ging in Europa die Nach-                   Stadt vor der Festung konnte in die Verteidigungs-
frage nach Fisch als Fastenspeise drastisch zurück,                anlagen einbezogen und so besser vor schwedi-
und Westnorwegen verlor seine Exportbasis.                         schen Angriffen geschützt werden. Gleichzeitig
Gleichzeitig stieg aufgrund der ökonomischen Ent-                  konnte der König seinen Einfluss auf die Stadt er-
wicklungen in Mitteleuropa die Nachfrage nach Holz,                höhen. So nahm Christian IV. die Sache in die Hand
das Ostnorwegen liefern konnte. Es wurde in                        und bestimmte, wo und wie neu gebaut werden
Romerike gefällt, in Sägemühlen zu Balken verar-                   sollte. Sowohl am Christiania torv wie auf dem
beitet und zur Verschiffung an den Oslofjord ge-                   Stortorv finden sich Denkmäler, die den vielzitierten
bracht. Außerdem musste die Kirche mit der Re-                     Ausspruch „hier soll die Stadt liegen“ (her skal byen
formation ihre politische Machtstellung und ihre                   ligge) illustrieren. Konzipiert wurde ein Schachbrett-
ökonomische Basis (Klöster und Güter) an die welt-                 muster, mit sechs Nord-Süd-Straßen (seinerzeit
liche Macht abgeben. Abgaben und Steuern der                       „stræder“ genannt) und sechs Ost-West-Straßen
bäuerlichen Bevölkerung in den ostnorwegischen                     („gader“ genannt) in einheitlicher Breite. In Oslo
Tälern und in den (relativen) landwirtschaftlichen                 heißt dieser Bereich heute „Kvadraturen“. Er war
Gunstgebieten um den Oslofjord waren nun eine                      im Norden durch den Ostabschnitt der heutigen
Sache des Königs. Fazit: Norwegen mochte arm,                      Karl-Johans-Gate begrenzt. Im Stadtplan ist diese
rückständig und dünn besiedelt sein. Trotzdem hatte                Keimzelle des neuen Oslo unschwer zu erkennen.
es aus einer Kopenhagener Perspektive seinen                       Für die Häuser bestand Baupflicht aus Stein. Holz-
Wert. Da machte es Sinn, diese Konstellation zu                    häuser waren nicht länger zugelassen. Das war
sichern und zu fördern. Christian IV. tat also durch-              nicht nur repräsentativer, sondern sollte vor allem
aus gut daran, nach Norwegen zu reisen und sich                    die Brandgefahr reduzieren. Das besondere Enga-
um seinen Machtvorposten zu kümmern.                               gement des Königs schlug sich auch in der Namens-
Im innersten Ende des Oslofjordes gab es neben                     gebung für die Neugründung nieder. Die Neue Stadt
dem mittelalterlichen Handelsstädtchen auch eine                   wurde „Christiania“ genannt.
alte Burg auf einer Landzunge, die Festung Akers-                  Bis 1814 war Christiania der dänische Vorposten in
Norden 16                           Stadtwachstum und Stadtumbau in Oslo.                                  167

Norwegen, von dem aus das Land verwaltet wur-              richteten sich ein zwischen Unterordnung und Inte-
de. Gleichzeitig hatte die Stadt eine gewisse wirt-        gration. Letzteres galt besonders für die dünne
schaftliche Bedeutung als Exporthafen für Holz,            Oberschicht.
weshalb im Bereich Bjørvika zunehmend Land auf-            Spätere Generationen suchten ihre Identität vor al-
geschüttet wurde, um dort Hafenanlagen zu errich-          lem im Absetzen von der dänischen Periode und
ten. Im 17. und 18. Jahrhundert entstanden proto-          dem Aufzeigen einer längeren Linie eigenständiger
industrielle Produktionsbetriebe (Mühlen, Säge-            norwegischer Kultur und Kontinuität. Der ausge-
mühlen, Papierfabriken, Brauereien, Werften). Da-          prägte Nationalromantismus der Norweger, den
mit hatte es aber auch sein Bewenden. Für Kunst,           man auch in der ornamentischen und skulpturellen
Kultur und Wissenschaft war kaum Platz. Der wich-          Ausgestaltung von Gebäuden der Stadt wieder fin-
tigste zentrale Ort für Norwegen war die dänische          det, ist Ausdruck dieser Bemühungen. Die Namens-
Hauptstadt Kopenhagen. Dort hatten Staat und Kir-          wahl „Haakon VII.“ des ersten Königs nach der Un-
che ihre Machtbasis, dort wurde die Beamtenschaft          abhängigkeit 1905 findet darin ihre Erklärung. Und
ausgebildet, und dort gab es im 17. und 18. Jahr-
                                                           auch die Umbenennung von Christiania zu Oslo zu
hundert ein reiches kulturelles Leben. Christiania
                                                           Beginn des 20. Jahrhunderts und auch die jüngere
hingegen war Provinz. Angesichts dieser Kolonial-
                                                           intensive über rein historische Forschung hinaus-
situation gibt es in Oslo auch keine herausragen-
                                                           gehende Beschäftigung mit Gamlebyen (=Alt-Oslo)
den Beispiele für Bau- und Kulturdenkmäler aus der
                                                           passen zu diesem Reaktionsmuster. Wer das neu-
dänischen Zeit. Die markantesten Gebäude aus der
                                                           zeitliche Oslo verstehen will, muss das Bemühen
dänischen Epoche sind die im Stile nordischer Re-
                                                           der Emanzipation von der dänischen Kolonialzeit
naissance umgebaute Festung Akershus (mit dem
                                                           und der Konstruktion einer Norwegischen Nation
Prunksaal „Christian 4.s sal“) und der 1697 einge-
                                                           als geistesgeschichtlichen Hintergrund beachten.
weihte Dom (Oslo domkirke).
1814 ist für die moderne norwegische Nation und
die Entwicklung der Stadt Oslo ein Schlüsseljahr.          2.3    Hauptstadt
Dänemark gehörte zu den Verlierern bei den napo-           1814 war Christiania also zur Hauptstadt geworden,
leonischen Kriegen, und bei der europäischen Neu-          aber dem 10.000 Einwohner zählenden Städtchen
ordnung auf dem Wiener Kongress wurde Norwe-               fehlte alles, was eine Hauptstadt ausmachte. Des-
gen dem schwedischen Königreich zugeschlagen.              wegen standen die folgenden Jahrzehnte ganz im
Die Wirren dieser Transformationsphase nutzte die          Zeichen der Hauptstadtwerdung. Die ersten natio-
zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstarkte Unabhän-          nalen Institutionen Parlament, Staatsverwaltung,
gigkeitsbewegung in Norwegen durch die Schaf-              Universität waren zwar in Provisorien untergebracht,
fung eigener Fakten. Zeitgleich mit dem Wiener             aber allein ihre Existenz gab der Stadt schon einen
Kongress setzte sich in einem Herrenhaus in                Wachstumsschub. Zusätzlich zog auch verarmte
Eidsvoll - d. h. auf dem Lande etwa 50 km nördlich         Landbevölkerung in der Hoffnung auf bessere Le-
der Hauptstadt - eine Gruppe von Oberschicht-              bensbedingungen in die Stadt. So wuchs Christiania
aktivisten zusammen, die eine Verfassung (Grund-           bis 1850 auf etwa 30.000 Einwohner an (40.000 im
lov) schrieb und die norwegische Unabhängigkeit            Gebiet des heutigen Oslo).
erklärte. Damit gab es zwei konkurrierende Rechts-         Die bauliche Entwicklung jener Jahre prägt das heu-
tatbestände, nämlich die Angliederung der däni-            tige Bild der Stadt ganz entscheidend. Vor-
schen Kolonie Norwegen an Schweden und die                 entscheidend dafür war 1822 der Entschluss, ein
Norwegische Unabhängigkeit. Kurzfristig standen            Schloss zu bauen. 1825 wurde der Grundstein auf
die Zeichen auf Krieg zwischen Norwegen und                Bellevuehøyden, einem Hügel westlich der Stadt,
Schweden, doch dann fand sich ein Kompromiss.              gelegt. Die Fertigstellung des Schlosses zog sich
Norwegen erhielt eine Teilautonomie. Es wurde in-          allerdings aufgrund von Geldmangel bis 1848 hin,
nenpolitisch selbstständig und außenpolitisch von          und da war es auch eine gegenüber den ursprüng-
Schweden verwaltet. Damit war Norwegen von ei-             lichen Planungen abgespeckte Variante geworden.
ner Kolonie zum Juniorpartner in einer Doppel-             Das Schloss wurde mit der alten Stadt seit den
monarchie aufgestiegen. Christiania erhielt eine           1830er-Jahren über eine breite, schnurgerade Stra-
neue Rolle: „Hauptstadt“, und damit bekam die              ße verbunden, die zunächst Slottsgate hieß und
Stadtentwicklung im 19. Jahrhundert vollkommen             1852 nach dem damaligen Unionskönig in Karl-
neue Impulse, die das Weichbild der Stadt entschei-        Johans-Gate umbenannt wurde. An dieser neuen
dend geprägt haben.                                        Straße und deren engstem Umfeld stellte sich der
Doch bevor nun auf die Stadtentwicklung der nächs-         neue norwegische Staat auf. Hier finden sich das
ten Jahre eingegangen wird, muss man noch einmal           Parlament (erbaut 1861-66), die alte Universität
auf die vorangegange Phase eingehen, die zwar              (1841-54), das Nationaltheater (eröffnet 1899), als
formal abgeschlossen war, aber unterschwellig              Bühne für das öffentliche Leben das Grand Hotel
weiter wirkte. Für das norwegische Selbstverständ-         (eröffnet 1874, Neubau 1911-13), sowie weitere Bür-
nis sind die Jahre der dänischen Kolonialzeit bis          gerhäuser. Seinen weitläufigen Charakter erhält das
heute ein Thema. Die damals lebenden Menschen              Ensemble durch den Eidsvoll Plass, der ab 1846
168                                                    J. Aring                                              Norden 16

als Park angelegt wurde. Funktional war Oslo also                 Mit der Industrialisierung wurde Christiania auch
schnell in die neue Hauptstadtrolle hineingeschlüpft,             mehr und mehr zu einer Handelsstadt. Der traditio-
doch städtebaulich bedurfte es fast eines Jahrhun-                nelle Holzexport hatte zwar an Bedeutung verloren,
derts, um das heute das Stadtzentrum prägende                     doch für die Industrien mussten die Rohstoff-, Zu-
Bild zu schaffen.                                                 liefer- und Absatzmärkte erschlossen werden.
Könnte man die Zeit auf etwa 1840 zurückstellen,                  Deswegen entstanden zeitgleich auch vermehrt
dann böte sich dem Besucher folgendes Bild: Der                   Großhandelsunternehmen, die zusätzliche Arbeits-
Bereich der Quadratur gliche einem Landstädtchen                  plätze schufen und Kontorgebäude in der Stadt be-
mit ein- und zweigeschossigen Häusern aus Stein                   nötigten. Gleichzeitig wurden die Hafenanlagen er-
(ähnlich den Straßenzügen im städtischen Teil des                 weitert, indem Bjørvika Bispevika ausgebaut und
Norwegischen Folkemuseums auf Bygdøy). Vom                        Pivervika (vor dem heutigen Rathaus) dem Hafen
Egertorget, dem höchsten Punkt der Karl-Johans-                   zugeschlagen wurde. In diesem Rahmen begann
Gate neben dem Storting, hätte man nach Westen                    ab 1854 Akers mekaniske Verksted, die bis dahin
einen Blick auf ein halbfertiges Schloss und weite-               am Akerselv kleinere Maschinen und Pumpen her-
re Baustellen, die die zukünftige Hauptstadt erah-                gestellt hatte, mit der Produktion und Reparatur von
nen lassen. Im Bereich des heutigen Rathauses                     Schiffen. 128 Jahre später wurde der Betrieb ein-
träfe man auf eine kleinteilige vorstädtische Wohn-               gestellt und die ehemaligen Werkstatthallen in den
bebauung, in der Arbeiter der Werften an der                      neuen Büro-, Geschäfts-, Freizeit- und Wohn-
Pipervika leben. Ähnlich sähe es aus, wenn man                    komplex Aker Brygge integriert.
die Stadt nach Osten in Richtung Vaterland, Grøn-                 Etwa zeitgleich mit dem Ausbau der Hafen- und
land und Unterlauf des Akerselv verlässt (d. h. den               Seeverbindungen wurde landseitig die Verkehrs-
Bereich nördlich des heutigen Zentralbahnhofs).                   infrastruktur ausgebaut. 1854 bestand Norwegens
Weil diese Gebiete bei ihrer Bebauung außerhalb                   erste Eisenbahnverbindung zwischen Oslo und
der Stadtgrenzen lagen, herrschte kein Zwang zum                  Eidsvoll. Bezeichnenderweise wurden in Norwegen
Bauen in Stein. Deswegen dominierte hier eine ein-                mit der Bahn zunächst nicht Städte verbunden, son-
fache Holzbebauung ohne stadtplanerisches Kon-                    dern ein landwirtschaftlich geprägter Produktions-
zept. Damit ist der ganze bebaute Bereich der gut                 und Absatzraum erschlossen. In den Folgejahren
25.000 Einwohner zählenden Stadt beschrieben.                     kamen weitere Strecken hinzu (Drammensbanen
                                                                  1872, Østfoldbanen 1879, Gjøvikbanen 1900), wo-
2.4    Industrieller Aufbruch und Stadtexpansion                  durch die Erreichbarkeit der Hauptstadt weiter ver-
                                                                  bessert wurde. Christiania wurde bahntechnisch
Den nächsten Entwicklungsschub erhielt die Stadt                  zum Knoten zwischen dem Ausland (Schweden,
durch die um 1850 einsetzende Industrialisierung,                 Dänemark, Deutschland) und dem nationalen Hin-
in der die Technologien aus England und Kontinen-                 terland. Aus städtebaulichen und bahntechnischen
taleuropa zum Einsatz kamen. Zunächst mit Was-                    Gründen waren bis 1980 das Ostnetz (Østfold,
serkraft und dann auf Dampfmaschinenbasis ent-                    Ostnorwegische Täler, Trondheim) und das West-
standen und wuchsen Fabriken. Den Anfang mach-                    netz (Vestfold, Sørland, Hallingdal, Bergen) ge-
te die Textilindustrie, später folgte Eisen- und Metall-          trennt. Erst dann wurden die beiden Netze mit ei-
verarbeitung, und ab 1880/90 kam die elektrotech-                 nem Tunnel verbunden und neben dem alten Ost-
nische Energie hinzu. Als Folge dieser neuen Öko-                 bahnhof der neue Zentralbahnhof etabliert. Für Oslo
nomie wuchs schon bis 1875 die Bevölkerung in                     war der Ostbahnhof immer der wichtigere Bahn-
Christiania und den kurz darauf eingemeindeten                    hof. Als Standort wählte man bewusst einen Ort,
Vorstädten auf etwa 100.000 Einwohner, bis 1900                   der günstig zum Stadtzentrum und zum Hafen an
auf etwa 230.000 Einwohner an. Dass Christiania                   der Bjørvika lag, nämlich die Aufschüttungsflächen
zum Ausgangspunkt der Industrialisierung in Nor-                  unmittelbar östlich der Kvadratur am unteren Ende
wegen wurde, hat einen einfachen Grund. Als größte                der Karl-Johans-Gate. Das Bahnhofsgebäude
Stadt des Landes mit einem vergleichsweise dicht                  Østbanehallen, das um 1880 einen älteren Vor-
besiedelten landwirtschaftlichen Umland war hier                  läuferbau ersetzte, wird heute als Markthalle ge-
der Markt für Industrieprodukte am größten. Gleich-               nutzt, die jedoch mit dem neuen Zentralbahnhof
zeitig war in der Hauptstadt hinreichend Investitions-            verbunden ist.
kapital verfügbar. Die neuen Industriebetriebe lie-               Mit dem enormen Bevölkerungswachstum in der
ßen sich entlang des Akerselv nieder, wo schon das                zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand ein
protoindustrielle Gewerbe die Wasserkraft als Ener-               riesiger Wohnungsbedarf. Im Osten der Stadt,
giequelle genutzt hatte. Heute kann man entlang                   rechts und links der Industrieachse am Akerselv,
des Akerselv die industrielle Keimzelle Norwegens                 wuchsen Stadtteile mit Mietwohnungsblöcken. So-
mit ihrer Industriearchitektur erwandern. Am Ober-                weit die Gebäude im Stadtgebiet lagen, waren die
lauf des Flusses (Kjelsåsveien 143) wurde 1986 der                Häuser aus Stein mit Decken und nichttragenden
Neubau des Norwegischen Technischen Museums                       Wänden aus Holzbalken. Außerhalb des Stadtge-
eröffnet, in dem auch die Industriegeschichte am                  bietes und damit außerhalb des Steinbauzwanges
Akerselv gezeigt wird.                                            entstanden Häuser aus Holz. Der heute bekann-
Norden 16                            Stadtwachstum und Stadtumbau in Oslo.                                     169

teste gründerzeitliche Stadtteil mit Mietskasernen          werte Stadtteile, die einen Einblick in das Christiania
ist Grünerløkka östlich des Akerselv. Das Gebiet            des späten 19. Jahrhunderts geben und gleichzei-
lag zu Beginn der Industrialisierung vor der Stadt          tig die extreme soziale Polarisierung zwischen Oslo-
und befand sich im Privateigentum (Hans Grüner).            Ost und Oslo-West illustrieren. Obwohl in Luftlinie
Teile wurden parzelliert und mit Holzhäusern be-            nur etwa 2 km voneinander entfernt, repräsentier-
baut, von denen es nur noch sehr wenige Reste               ten die Stadtteile vollkommen unterschiedliche so-
gibt. Nach der Eingemeindung 1858 wurde der nörd-           ziale Welten - Wohlstand und Geräumigkeit im Wes-
liche Teil vom Handelsmann Thorvald Meyer über-             ten, Armut und Enge im Osten. Auch in den nachfol-
nommen, der das Gebiet einer geordneten Entwick-            genden Ausbauphasen „weiter draußen“, die durch
lung zuführte und vermarktete. Meyer baute Stra-            die Anlage der Straßenbahnen (Pferdebahnen ab
ßen aus, gab Grundstücke für Park, Kirche und               1875, elektrische Bahnen ab 1894) und die Vor-
Schule an die Kommune und ließ den Rest äußerst             stadtbahnen (Holmenkollenbahn, zunächst mit Stra-
dicht bebauen. Nach wenigen Jahren lebten hier              ßenbahnprofil ab 1899) möglich wurden, blieb das
20.000 Menschen, zwar in einem städtisch geord-             West-Ost-Muster erhalten. Im Westen findet sich
neten Umfeld, doch insgesamt in beengten und                die Villenbebauung von Holmenkollen, während im
schlechten Wohnverhältnissen. Schon in den                  Osten immer neue Arbeiterquartiere bis hin zu den
1930er-Jahren gab es Vorschläge zur Sanierung               Großsiedlungen der 60er-Jahre entstanden. Und
des Geländes (zeitgleich mit den Sanierungen im             auch die ausländischen Zuwanderer ballen sich
Bereich des heutigen Rathauses), und in den                 heute im Osten, z. B. in Grønland nordöstlich des
1970er-Jahren sah die Stadtplanung den flächen-             Hauptbahnhofs.
haften Abriss vor. Die erste Teilsanierung weckte
jedoch großen Widerstand bei der Bevölkerung, und           2.5    Sozialdemokratisierung und
so wurde eine behutsame Stadterneuerung einge-                     Wohlfahrtsstaat
leitet. Man erhielt die Blockrandbebauung und mo-
                                                            Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahmen die Un-
dernisierte die Gebäude. Grünerløkka mutierte bin-
nen weniger Jahre zu einem äußerst beliebten                stimmigkeiten zwischen Norwegen und Schweden
Stadtteil und wurde gentrifiziert.                          zu, und im Jahre 1905 wurde schließlich die Union
                                                            mit Schweden aufgelöst. Ein armes, aber national-
Den Gegenpol zu Grünerløkka bildet Homansbyen               bewusstes Landes, das mehr und mehr zur fordis-
im Westen der Stadt (Inkognitogata, Ocars Gate),            tischen Industrienation wurde und die Industriege-
wo sich in der Nachbarschaft des Schlosses ein
                                                            sellschaft politisch gestalten musste, bildete den
attraktives Villenquartier für wohlhabende Kaufleu-
                                                            Rahmen für die Stadtentwicklung der nächsten Jahr-
te, Industrielle und Staatsbeamte errichten ließ.
                                                            zehnte. Einerseits hielten die Industrialisierung und
Auch hier vollzogen sich Planung und Entwicklung
                                                            der Zuzug vom Lande in die Stadt an. Andererseits
des Gebietes in privater Regie. Die Brüder Homann
                                                            prägten die Arbeiterbewegung und soziale Refor-
hatten die Fläche 1853 erworben und begannen
                                                            men die gesellschaftliche Entwicklung der ersten
1858 mit der Entwicklung eines einheitlichen Ge-
                                                            Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.
bietes mit individuellen Villen. Die Häuser wurden
bis 1862 vom Architekten G. A. Bull entworfen,              Der Selbstfindungsprozess der jungen norwegi-
danach bis 1868 von anderen renommierten Archi-             schen Nation markierte sich auch im Bemühen, his-
tekten. Dabei hatten sie einem einheitlichen Plan           torische Kontinuitäten ins Mittelalter und die Wikin-
zu folgen, der dem Gebiet trotz aller Individualität        gerzeit aufzuzeigen. In diesem Sinne wurde 1925
eine für die damalige Zeit ungewöhnliche gestalte-          Christiania in Oslo umbenannt oder in der norwegi-
rische Einheitlichkeit gab. Die Prinzipien privater         schen Lesart rückbenannt. Dazu gehört auch die
Entwicklung wirkten sich in diesem Falle sehr posi-         rückbezügliche ornamentale und skulpturale Aus-
tiv auf die Stadt aus. Trotz seiner Attraktivität und       schmückung moderner Gebäude, wie z. B. des Rat-
seines städtebaulichen Wertes drohte dem Gebiet             hauses.
in den 1960er- und 1970er-Jahren mehrfach ein               Städtebaulich schlugen sich die neuen Herausfor-
Ende. Geplant waren unter anderem Abrisse                   derungen in umfassenden Wohnungsbauprogram-
zugunsten eines verdichteten Wohnungsbaus so-               men nieder, wobei sowohl der Neubau am Stadt-
wie zur Schaffung einer Durchgangsstraße.                   rand (auch außerhalb der kommunalen Grenzen)
Schließlich wurde der Stadtteil jedoch 1978 unter           wie auch die Sanierung von Slums und Schlicht-
Denkmalschutz gestellt. In den Folgejahren nahm             wohngebieten angegangen wurden. Mengenmäßig
die Beliebtheit des Stadtteils wieder zu, und zwar          dominierte zwar die Entwicklung am Stadtrand, denn
sowohl für das Wohnen wie auch für Büros in un-             fast das gesamte Bevölkerungswachstum Oslos in
genutzten Villen.                                           der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konzentrierte
Die beiden genannten Stadtentwicklungen - Grüner-           sich auf die Kragenkommune Akershus, die dann
løkka und Homansbyen - bilden nur einen kleinen             1948 vollständig eingemeindet wurde. Aber für die
Ausschnitt aus dem enormen Bauprogramm, das                 Stadtentwicklung waren auch die Sanierung des
die Stadt seit etwa 1850 enorm rasch expandieren            heutigen Rathausbereiches und der Bau von politi-
ließ. Aber es sind zwei bemerkens- und besuchens-           schen und kulturellen Gebäuden der Arbeiterschaft
170                                                 J. Aring                                               Norden 16

im Bereich Torggata/Youngtorget von Bedeutung.                 das bisherige Staats- und Wirtschaftssystem in die
Aufgrund der öffentlichen Armut, der wirtschaftlichen          Defensive. Fast zwei Jahrzehnte lang waren die Ein-
Depression der 30er-Jahre und der Besatzung in                 wohnerzahlen von Oslo rückläufig. Die Stadt
den Kriegsjahren zogen sich viele Entwicklungen,               schrumpfte auf etwa 450.000 Einwohner.
die schon um 1920 geplant waren, bis in die 1950er-            So war Oslo Ende der 70er-Jahre im internationa-
und frühen 1960er-Jahre hin. Die Sanierung des                 len Vergleich wenig attraktiv. Einerseits spürte man
Bereichs Pipervika/Rathaus ist hierfür ein gutes Bei-          allerorten staatliche Regulierungen und Normierun-
spiel.                                                         gen (z.B. bei der restriktiven Vergabe von
Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm der Staat                  Schanklizenzen für Restaurants oder der ständigen
mehr und mehr die Verantwortung für das Wohl des               Präsenz von Polizei in der abendlichen Fußgänger-
Einzelnen in der Gesellschaft. Unter der Führung               zone). Andererseits fehlte es an einer nach vorne
der Arbeiderpartiet wurden die strengen wirtschaftli-          weisenden Vision. Das änderte sich aber grundle-
chen Restriktionen der Kriegsjahre zwar in den 50er-           gend im Zuge der Deregulierung und Liberalisie-
Jahren zurückgenommen, aber durch vielfältige Re-              rung ab 1982, die das Kreditwesen, Steuergesetze,
gulierungen wurde die Wirtschaft weiterhin indirekt            Ladenschlusszeiten, Schanklizenzen u. a. m. be-
gesteuert. In Form von staatlichen Banken und                  rührte. Die neue politische Orientierung zog einen
Staatsbetrieben übernahm der Staat vielfach auch               einzigartigen Konsum-, Gründer- und Bauboom
unternehmerische Aufgaben. Parallel wurde die nor-             nach sich und begünstigte im Raum Oslo die Trans-
wegische Variante des Wohlfahrtsstaates aufge-                 formation zur postindustriellen Dienstleistungs-
baut. Obwohl Norwegen im europäischen Vergleich                ökonomie. Seit Mitte der 80er-Jahre wächst die Ein-
weiterhin zu den ärmsten Ländern zählte, waren die             wohnerzahl in Oslo wieder und zwar in einem ähn-
50er- und 60er-Jahre von einem stetigen Wirt-                  lichen Tempo wie zur Zeit der Industrialisierung.
schafts- und Wohlfahrtswachstum geprägt, das sich
                                                               Die Deregulierung und Liberalisierung wäre ohne
wiederum in politischer Stabilität und weitgehender
                                                               ein neues Staatsverständnis kaum denkbar gewe-
gesellschaftlicher Zufriedenheit ausdrückte.
                                                               sen. Während der Staat in den Nachkriegs-
Im Stadtbild von Oslo schlug sich die Aufbau- und              jahrzehnten eher ein distanziertes Verhältnis zur Pri-
Stabilisierungsphase in vielfältigen Neubauten für             vatwirtschaft pflegte und eher auf eigenes unter-
staatliche Behörden, staatstragenden Institutionen,            nehmerisches Handeln setzte, wurde am Anfang
Verbände und Hauptsitzen von Staatsbetrieben und               der 80er-Jahre ein eher partnerschaftliches Verhält-
Kulturbauten nieder. Im Halbkreis um die City – etwa           nis betont. Für die städtische Planung lautet ein
markiert durch den heutigen teils unterirdischen               Credo nun PPP (public-private-partnership). Im
Henrik-Ibsen-Ring – entstanden die Neubauten der               Zuge von Verhandlungsplanungen wurde auf öffent-
späten 60er- und 70er-Jahre. Es dominierten groß-              liche Vorgaben öfter verzichtet und stattdessen ein
maßstäbige Bauten mit viel Beton und einer gerin-              Aushandlungsprozess zwischen öffentlichen und
gen Sensibilität gegenüber den gewachsenen Stadt-              privaten Interessen angestrebt. So entstand eine
strukturen (vgl. Exkursionsabschnitt 4). Wenn alle             neue Planungskultur. Mit der Implosion der ökono-
Abriss- und Neubauplanungen realisiert worden wä-
                                                               mischen Blase zu Ende der 80er-Jahre brach zwar
ren, sähe Oslo heute erheblich anders aus. Aber
                                                               das private Engagement kurzfristig vollständig ein,
Geldmangel und Widerstand aus der Bevölkerung
                                                               und es zeigten sich die Risiken des privatwirtschaft-
ließ manche großflächige Sanierungen scheitern
                                                               lichen Engagements, doch inzwischen haben sich
und erzwang später kleinteiligere stadtverträglichere
                                                               die Verhältnisse längst wieder stabilisiert.
Lösungen. Die bereits genannten Beispiele
Grünerløkka und Homansbyen stehen für ein sol-                 Die Transformation Oslos in den letzten 25 Jahren,
ches Umdenken.                                                 die aus einer verschlafenen Stadt in der europäi-
                                                               schen Peripherie eine international wahrgenomme-
                                                               ne Metropole machte, hat ihren baulichen Nieder-
2.6   Deregulierung und Stadtumbau                             gang in einer Vielzahl von Stadtentwicklungsprojek-
In den späten 60er- und frühen 70er-Jahren stieß               ten und einer umfassenden Hebung des Attraktivi-
das Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell der Nach-             täts-, Einkaufs- und Freizeitniveaus im ganzen in-
kriegsjahre an Grenzen. Mit zunehmender Integra-               neren Bereich gefunden. Den Auftakt der vielen
tion der Wirtschaft in internationale Kontexte wurde           Maßnahmen machte das Vorzeigeprojekt der Yuppie-
auch der Wettbewerb schärfer. Norwegens Han-                   zeit, das private waterfront-Development Aker
delsflotte, die Werftindustrie und auch die verschie-          Brygge. Aber dies wäre nur ein isoliertes Projekt
denen energiebasierten Grundstoffindustrien gerie-             geblieben, wenn nicht gleichzeitig erhebliche öffent-
ten unter Konkurrenzdruck. Gleichzeitig veränder-              liche Investitionen in Angriff genommen worden
te sich die Gesellschaft, z. B. durch die Studenten-           wären. Zu nennen ist die Verlegung der Hauptver-
unruhen, Diskussionen über Frauenrechte, und                   kehrsstraßen in Tunnellage und die Verknüpfung
natürlich auch die Friedens- und Umweltbewegung.               der westlichen und östlichen Bahnsysteme im Nah-
Die Entwicklungsbedingungen für Wirtschaft und                 wie im Fernverkehr. Damit wurde die City einerseits
Gesellschaft wandelten sich schnell und brachten               entlastet und andererseits besser erschlossen. Viele
Norden 16                            Stadtwachstum und Stadtumbau in Oslo.                                   171

private Aufwertungs- und Neubaumaßnahmen wa-                der Kvadratur-Keimzelle, der waterfront am Rat-
ren die Folge, was man besonders deutlich an der            hausplatz, dem Miljøpark am Akerselv und der Sa-
Ausweitung und Differenzierung der Einzelhandels-           nierung im Bereich Vaterland/Zentralbahnhof ge-
und Bürostandorte sieht. Hier sind neue Zentren             führt. Ungeachtet mancher Kritik und einigen Feh-
und Passagen entstanden und unter dem Wettbe-               lern, die bei einem so massiven Umbau nicht aus-
werbsdruck ist auch die Qualität im Bereich Karl-           bleiben, hat sich Oslo im letzten Vierteljahrhundert
Johans-Gate wieder besser geworden. Weitere öf-             äußerst attraktiv entwickelt.
fentliche Maßnahmen haben zu einer Renaissance

3     Exkursionsroute

3.1   Teilabschnitt 1: Schwerpunkt Überblicke/              rechts ab. Eine Brücke über die Kongensgate führt
      Akershus Festung                                      in die Festung Akershus, wo einige Museen (z. B.
Wir beginnen die Exkursion auf der Ostseite der             die Festung mit Renaissancesaal und das Wider-
Akershus-Halbinsel beim Astrup Fearnley Museet,             standsmuseum) auch den touristischen Besuch loh-
um uns einen ersten räumlichen Überblick verschaf-          nen. Wir beschränken uns aber auf einen Rund-
fen. Der Blick geht nach Osten über die Bjørvika,           gang durch die Anlage. Dazu wenden wir uns auf
wo man am gegenüberliegenden Ekeberg die mar-               dem Festungsgelände zunächst nach links, wo wir
kante viertürmige ehemalige Seemannsschule                  dann auf den Bastionen ankommen und einen her-
sieht. Etwas weiter links, an der Einmündung eines          vorragenden Blick auf den Oslofjord haben. Die
kleinen Flusses in die Björvika/Bispevika, lag das          beeindruckende Lage Oslos am innersten Ende des
mittelalterliche Oslo (Gamlebyen). Von unserem              Fjordes wird hier besonders gut deutlich. Wir ge-
Standpunkt ist dieser Platz nur wenige Kilometer            hen nun weiter an der Außenseite der Festungs-
entfernt. Da die Strandlinie vor 1000 Jahren etwa 5         gebäude entlang, einen Weg bergauf durch einen
m höher als heute lag, waren der Weg von der Fes-           Torbogen und kommen wieder in den Innenbereich.
tung und die Bucht zum mittelalterlichen Oslo viel          Wir halten uns links und kommen auf die nach Wes-
weiter als heute.                                           ten orientierten Bastionen. Hier verschaffen wir uns
                                                            erneut einen umfangreicheren Lageüberblick.
Die Bucht Bjørvika/Bispevika ist das „traditionelle“
Hafengebiet der Stadt Oslo. Die zentrumsnahen               Die Bucht im Vordergrund heißt Pipervika. Das mar-
Kaianlagen der Bjørvika dienen jedoch nicht länger          kanteste Gebäude an der Bucht ist das zweitürmige
als Frachtschiffhafen bzw. Warenumschlagplatz.              Rathaus, mit dessen Bau der ganze Bereich der
Hier prägen heute Fährschiffe und im Sommer auch            ehemaligen Vorstadt und des Hafenquartiers
Kreuzfahrtschiffe das Bild. Seit Jahren läuft in Oslo       flächensaniert wurde. Hinter dem Rathaus erstreckt
eine Hafendebatte, bei der es um die Frage geht,            sich die heutige City von Oslo, die in etwa durch die
ob sich der Hafen weiter aus den zentrumsnahen              Raute Zentralbahnhof - Akershus Festning - Schloss -
Bereichen zurückziehen soll, um die Flächen für ur-         St. Olavs-Plass begrenzt wird.
bane städtische Nutzungen zu gewinnen (vergleich-           Weit oben am Berg erkennen wir die Holmenkollen-
bar der Entwicklung auf Aker Brygge). Bereits in            Skisprungschanze. Fast bis zu dieser Höhe er-
den 80er Jahren wurden die links von uns liegen-            streckt sich die Wohnbebauung von Oslo. Die Ent-
den markanten Lagergebäude (erbaut 1916-20) in              wicklung dieser höher gelegenen Gebiete - im Wes-
Büros umgewandelt. Zu dieser Diskussion passt               ten eher bürgerliche Villen, im Osten mehr Etagen-
auch der Beschluss aus dem Jahre 1999, am in-               wohnungsbau wurde ab Beginn des 20. Jahrhun-
nersten Ende der Bjørvika in Bahnhofsnähe ein               derts durch den Bau der Vorstadtbahnen ermög-
neues Opernhaus zu bauen. Viele Fragen der Um-              licht. Bis 1948 lagen diese Gebiete aber noch weit
nutzung sind aber noch offen.                               vor der Stadt. Erst dann wurde die umgebende
Unmittelbar vor unserem Standort fließt (oder steht)        Landkommune Aker eingemeindet. Hinter einer Li-
der Verkehr auf einer mehrspurigen Autobahn, die            nie, die in etwa durch die Schanze angedeutet wird,
rechter Hand in einen Tunnel führt. Dies ist die Ein-       beginnt die Nordmarka, ein weitläufiges Wald- und
fahrt zu einem zentralen Verkehrsbauwerk aus der            Seengebiet, das heute vor allem der Naherholung
Stadtumbauphase der 80er- und 90er-Jahre. Der               dient. Eine planerisch festgelegte „Markagrenze“
Festungstunnel ist ein zentraler Teil des maut-             trennt potenziellen Siedlungsraum vom Freiraum.
finanzierten Straßenausbauprogramms, das den                Konzentrieren wir uns zum Schluss wieder auf den
Autoverkehr auf eine weitgehend in Tunnellage ge-           Vordergrund. Auf der gegenüberliegenden Seite der
führte Uferautobahn und drei Ringe konzentriert.            Pipervika liegt Aker Brygge, der in den 80er-Jahren
Wir gehen nun durch die Myntgata, biegen links in           entstandene Büro-, Einkaufs-, Wohn- und Freizeit -
die Kirkegata ein, gehen an Verwaltungsgebäuden             komplex. Dort wird unsere Exkursion später enden.
des „militärischen Teils“ von Akershus vorbei und           Markant hebt sich bei Aker Brygge die ehemalige
biegen dann über einen weitläufigen Platz nach              Maschinenhalle von den umgebenden Neubauten ab.
172                                              J. Aring                                              Norden 16

Abb. 2: Karte der Exkursion zum Stadtwachstum und Stadtumbau in Oslo

Wir verlassen nun die Bastion und das Gelände               Christiania im 17./18. Jahrhundert zeigt. Die Öff-
der Festung Akershus über kleinere Wege in Rich-            nungszeiten der „Scheune“ sind allerdings im Ver-
tung Innenstadt und kommen auf die Rådhusgata,              gleich zu vielen Museen ziemlich eingeschränkt.
wo wir uns je nach gewähltem „Abstieg“ rechts oder
links halten müssen, um zum Christiania Torv zu
                                                            3.2   Teilabschnitt 2: Schwerpunkt „Kvadratur“
kommen. Zur Vorbereitung der nächsten Etappe
bietet es sich aber an, innerhalb der Festung               Unmittelbar nördlich an die Festung Akershus
Akershus das Høymagasinet aufzusuchen. Hier                 schließt die Stadtgründung des dänischen Königs
kann ein Stadtmodell besichtigt werden, das                 Christian IV. an, die an ihrem regelmäßigen, schach-
Norden 16                            Stadtwachstum und Stadtumbau in Oslo.                                  173

brettförmigen Grundriss im Stadtbild unschwer aus-          einwärts. Wir kommen durch den Bereich der Kva-
zumachen ist. Am heute Christiania Torv genann-             dratur, der gegen Ende des 19 Jahrhunderts und
ten Platz befand sich ein Zentrum der Stadt. Hier           im 20. Jahrhundert fast durchgehend neu und da-
war zunächst der Marktplatz (der dann 1736 zum              mit viel höher bebaut wurde. So hat das Stadtquar-
heutigen Stortorvet verlegt wurde), hier war ein öf-        tier im Vergleich zur Gründungszeit einen baulich
fentlicher Brunnen, hier befand sich der Pranger,           viel dichteren Charakter bekommen. An vielen Ta-
und am Platz stand eine Kirche und steht noch das           gen des Jahres, wenn die Sonne niedrig steht und
erste Rathaus (Nedre Slottsgate 1), an dessen               Regen und Wind durch die schnurgeraden Straßen
Wand die Jahreszahl 1641 festgehalten ist. Das              pfeifen, macht das Quartier einen ziemlich unge-
markanteste Gebäude des Platzes ist jedoch ein              mütlichen Eindruck. Wohl auch deshalb ist es im
zweigeschossiges Ziegelsteingebäude mit Giebel-             Laufe der Jahre zu einer City-Randlage geworden.
verzierungen aus dem Jahre 1626 (Rådhusgata 19).            Erst durch die Entlastung vom Straßenverkehr dank
Dieses Gebäude wird Garnisjonssykehuset ge-                 der Tunnelführung der E18 und der städtebaulichen
nannt, weil es zwischenzeitlich als Militärkranken-         Aufwertungsaktivitäten in den späten 80er- und
haus diente. Mit seinen ein- und zweigeschossigen           90er-Jahren wurde das Gebiet wieder attraktiver.
Gebäuden gibt Christiania Torv einen ganz passab-           Im Bereich der Domkirke treffen wir auf die Karl-
len Eindruck vom kleinstädtischen Charakter Oslos           Johans-Gate, die hier ursprünglich anders hieß und
im 17. Jahrhundert. Das moderne Oslo besann sich            den nördlichen Rand der Kvadratur markiert. Bli-
erst in der Stadtumbauphase der 80er- und 90er-             cken wir nach rechts, die Straße hinunter, so sehen
Jahre des 20. Jahrhunderts wieder auf den Bereich           wir am Ende die Østbanehallen, das ehemalige
der Kvadratur und den ersten Marktplatz. In den             Bahnhofsgebäude für die östlichen Bahnen (erbaut
Jahrzehnten zuvor war die Kvadratur eher zu ei-             1882). Zur Zeit der Stadtgründung konnte man bei
nem düsteren Cityrandbereich geworden und der               diesem Blick noch aufs Wasser der Bjørvika schau-
Christiania Torv stark verkehrsbelastet. In den 90er-       en. Wo heute der Bahnhof liegt, war früher Meer.
Jahren wurde der Bereich saniert und als historisch         Die Flächen wurden erst später aufgeschüttet. Öst-
wertvoller Raum für die Stadt zurückgewonnen. Das           lich der Kvadratur findet sich eine Straße mit dem
Denkmal „Der Handschuh von Christian IV.“ wurde             Namen Strandgate. Dieser Name hatte durchaus
1997 errichtet. Es erinnert an die Gründung Chris-          einmal seine Berechtigung. Hier im innersten Be-
tianias im Jahre 1624 und das persönliche Enga-             reich der Björvika gingen die Handelsschiffe vor An-
gement des Königs, dem der Satz „Hier soll die Stadt        ker, die vor allem im Holzexport tätig waren.
liegen“ zugeschrieben wird.                                 Wir kreuzen nun die Karl-Johans-Gate und machen
Wir folgen der Rådhusgata stadtauswärts und bie-            einen Abstecher zur Domkirke und zum Stortor.
gen an der Kongens Gate rechts ein. Hier passie-            Trotz der Bestimmungen zum Brandschutz (Stein-
ren wir ein Gebäude von 1640 (Kongens Gate 1),              hauszwang und relativ breite, rechtwinklige Straßen)
das später als Waisenhaus genutzt wurde. Nach               war die Stadt im 17. Jahrhundert nicht vor Bränden
wenigen Metern biegen wir links ein und queren den          gefeit, aber sie waren nicht mehr ganz so verhee-
Bankplassen, an dem wir das erste Gebäude der               rend. Nach einem großen Stadtbrand 1686 wurde
Norwegischen Staatsbank (Bankplassen 3, von                 beschlossen, die Kirche am Christiania Torv und
1828), den repräsentativen Erweiterungsbau                  einige weitere Gebäude unmittelbar vor den Fes-
(Bankplassen 4, erbaut 1899-1906), und den mo-              tungsmauern von Akershus nicht wieder aufzubau-
dernen Neubau (eingeweiht 1986) finden. Norges              en. Stattdessen zog man einem kleinen Bereich
Bank hatte ursprünglich seinen Hauptsitz in Trond-          nördlich der Stadtwälle in das Stadtgebiet ein und
heim. Die ersten Gebäude in Oslo beherbergten nur           verlagerte dorthin den Markt (Stortorvet) und die
Filialen. Erst 1897 wurde der Hauptsitz nach Oslo           Hauptkirche des seit dem frühen Mittelalter beste-
verlegt. Am Bankplassen befindet sich auch das              henden Osloer Bistums. 1697 wurde die neue
traditionsreiche Engebret Café (gegründet 1857).            Domkirke eingeweiht, die verglichen mit den gro-
                                                            ßen Domen, Münstern und Stadtkirchen in Mittele-
Wir gehen nun weiter um den modernen Block der              uropa klein und unauffällig ist. In gewisser Weise
Norwegischen Bank durch die Revierstredet und               repräsentiert dieser Bau recht gut die bescheide-
dann links in die Dronningens Gate, und kommen              nen finanziellen Mittel, die in Norwegen zu Beginn
so wieder auf die Rådhusgate, der wir wieder stadt-         des 18. Jahrhunderts für öffentliche Bauprojekte zur
einwärts folgen. Auf der nun rechten Straßenseite           Verfügung standen. Vor dem Dom befindet sich der
passieren wir zwei alte Hofkomplexe. Das rote Ge-           Stortorv, der sowohl in seiner Funktion als Markt-
bäude Garmannsgården (Rådhusgata 7) war der                 platz wie im Hinblick auf sein städtebauliches Er-
Hofkomplex eines wohlhabenden Landkommissars,               scheinungsbild absolut unspektakulär ist. Trotzdem
der das Haus 1647 übernahm und umbaute. Spä-                gehört ein Abstecher auf den Stortorv zum Kern-
ter diente es auch als Rathaus. Ein weiteres inter-         programm eines Rundgangs durch das historische
essantes Objekt aus der Gründungszeit ist der               Oslo, weil hier seit 1880 ein Denkmal des Stadt-
Stattholdergården (Ecke Rådhusgata/Kirkegate).              gründers steht, an dem Generationen von Schü-
Über die Kirkegate gehen wir nun weiter stadt-              lern lernen mussten, wer die Stadt auf welche Wei-
174                                                 J. Aring                                               Norden 16

se gegründet hat. Unmittelbar nördlich des Stortor-            Vom Eingangsbereich des Stortinggebäudes schaut
vet verläuft eine Straße mit Namen Grensen, denn               man auf den Eidsvoll Plass, der nach dem Ort be-
hier befand sich für lange Zeit die Stadtgrenze. Noch          nannt ist, an dem 1814 das norwegische Grundge-
um 1840 gab es nördlich des Marktplatzes nur eine              setz erarbeitet wurde. Wir gehen an der Südseite
Häuserreihe, und dahinter war man schon im Grü-                des Platzes entlang und kommen über die Rosen-
nen.                                                           krantz-Gate zurück zur Karl-Johans-Gate, der wir
Wir kehren zurück auf die Karl-Johans-Gate, wen-               weiter in Richtung Schloss folgen. Auf der rechten
den uns nach rechts, und folgen der leicht aufwärts            Seite liegen bürgerliche Wohnhäuser und Ge-
führenden Straße. Am höchsten Punkt (Egertorget)               schäftshäuser. Besondere Aufmerksamkeit verdient
verändert die Straße geringfügig die Richtung und              das Grandhotel, das im ausgehenden 19. Jahrhun-
ganz extrem ihren Charakter. Hier kommen wir in                dert ein wichtiger Treffplatz der norwegischen
den Bereich der hauptstadtbedingten Stadterweite-              Künstlerelite (u. a. Ibsen und Munch) war. In einem
rung des 19. Jahrhunderts.                                     großen Wandgemälde aus den 30er-Jahren wird
                                                               an diese Historie erinnert. Beachtenswert in diesem
                                                               Bereich der Karl-Johans-Gate ist auch das Ge-
3.3   Teilabschnitt 3: Schwerpunkt „Hauptstadt
      und Bürgerstadt“                                         schäftszentrum Paleet, das Ende der 80er-Jahre
                                                               mit rekonstruierten Fassaden neu entstand. Wir
Der Blick vom Egertorget nach Westen zählt zu den              werden in einem späteren Teil der Exkursion hier
beliebtesten Postkartenmotiven in Oslo. Mit der                noch einmal vorbeikommen und den Bereich unter
westlichen Karl-Johans-Gate haben wir die wich-                dem Blickwinkel des jüngsten Stadtumbaus be-
tigste stadtprägende Achse vor uns. Hier finden sich           trachten.
die Schlüsselgebäude der norwegischen Staatswer-
                                                               Auf der gegenüberliegenden Seite der Prachtstraße
dung im 19. Jahrhundert, das Parlament (Storting),
                                                               setzt sich der Park des Eidvoll Plass fort. Die in den
die erste Universität Norwegens, das Nationalthe-
                                                               50er-Jahren eingebauten Spiegelteiche werden
ater, die Nationalgalerie (in einer Querstraße) und
das Königsschloss. Den Rahmen für diese zentra-                inzwischen im Winter als beleuchtete Eislaufflächen
len Gebäude bilden repräsentative Bürger- und                  benutzt und dienen so der Belebung der Innenstadt.
Geschäftshäuser sowie Parks. Die städtebauliche                Mit der Roald-Amundsens-Gate/Universitetsgate
Wirkung der Achse wird durch die Topographie                   kreuzen wir eine weitere interessante Blickachse,
unterstrichen. Vom Egertorget verläuft die Karl-               die durch den Bau des Rathauses entstand. Auf
Johans-Gate zunächst abwärts, um dann wieder                   diese Achse und das Rathaus werden wir ebenfalls
anzusteigen. So wird das die Achse abschließende               später zurückkommen. Weiter geht es über die Karl-
Schloss besonders hervorgehoben. Für die Wirkung               Johans-Gate vorbei am Nationaltheather (eröffnet
ist die Standortwahl bedeutender als die Architek-             1899), in dessen Fries die Namen der drei großen
tur selbst. Aber nicht nur städtebaulich sondern auch          Nationaldichter Björnson, Holberg und Ibsen vere-
im Gebrauch ist die westliche Karl-Johans-Gate von             wigt sind. Gegenüber liegt das im klassizistischen
besonderer Bedeutung. Mit den rot-weiß-blauen Na-              Stil 1841-1851 erbaute Hauptgebäude der Univer-
tionalfahnen geschmückt dient sie als Paraderaum               sität (erbaut 1841-1851). Die alten Universitäts-
an nationalen Festtagen (wie dem Nationalfeiertag              gebäude mit der später hinzugefügten Aula, die mit
17. Mai) oder bei Ehrungen (wie z. B. bei der Frie-            einem großen Wandgemälde von Edvard Munch
densnobelpreisverleihung im Dezember).                         ausgeschmückt wurden, dienen heute der juristi-
Wir gehen nun weiter über die Karl-Johans-Gate                 schen Fakultät sowie Repräsentations- und Fest-
zum Eingangsbereich des Parlamentsgebäudes                     zwecken. Eine neue heutige Universität wurde seit
(Storting), das auf seiner Schauseite ebenfalls die            den 30er-Jahren als Campus „Blindern“ einige Ki-
Hanglage zur städtebaulichen Hervorhebung aus-                 lometer nördlich des Zentrums entwickelt.
nutzt. Das mit gelbem Ziegelstein verblendete Ge-              Nun biegen wir links ab und queren den Platz zwi-
bäude wurde 1861-1866 erbaut. Zuvor hatte das                  schen der Rückseite des Theaters und dem Ein-
Parlament kein eigenes Gebäude und musste als                  gang zur T-Bahn-Station „Nationalteatret“. Wir kreu-
Gast an anderen Orten logieren, u. a. einige Jahre             zen die Stortingsgata und halten uns rechts in Rich-
im Festsaal der Universität. Angesichts des zentra-            tung Drammensveien. Wir biegen in die zweite Stra-
listischen Staatsaufbaus in Oslo hat das nationale             ße links ein, den Ruseløkkveien. Nach wenigen
Parlament einen entscheidenden Einfluss auf die                Metern geht es rechts eine Treppe hoch, und man
Investitionen und damit die Entwicklung in den Re-             kommt auf den Platz des 7. Juni, der nach dem
gionen. Damit der Blick für das Land und die Peri-             Datum der Unionsauflösung mit Schweden (7. 6.
pherie nicht verloren geht, sitzen die Abgeordneten            1905) benannt ist. Zurück über die Treppe schaut
nicht nach Parteien gruppiert sondern nach Regio-              man durch die Håkon-VII.-Gate, die im 20. Jahr-
nen. Durch diese Sitzordnung sind die Regionen                 hundert im Kontext mit der Sanierung des Quar-
im Parlament implizit mit vertreten. Überparteiliche           tiers Pipervika und des Rathausbaus angelegt wur-
regionale Gruppenbildungen sind bei Abstimmun-                 de. Dabei entstand eine neue Sichtachse zwischen
gen mit regionalen Wirkungen durchaus üblich.                  dem Schloss und der Festung Akershus.
Norden 16                             Stadtwachstum und Stadtumbau in Oslo.                                     175

Auf dem Platz des 7. Juni findet sich eine Statue            lich, wenn nicht gar liebenswert.
des Königs Håkon VII., des ersten norwegischen               Am Schloss mit seinen Wachen geht es nun rechts
Königs nach der Unionsauflösung mit Schweden.                vorbei. Durch den Schlosspark kommt man zu den
Da es nach der langen Phase der Abhängigkeit von             bürgerlichen Wohnbereichen, die in der zweiten
Dänemark und Schweden keinen norwegischen                    Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden. In
Adel mehr gab, wurde ein dänischer Prinz auf den             Uranienborg und Homansbyen finden wir eine viel-
norwegischen Thron gerufen. Er nahm den Namen                seitige Villenarchitektur, deren Attraktivität für Woh-
Håkon VII. an, um die neue Nation in eine histori-           nen oder Büronutzung hoch ist. Wir queren den
sche Kontinuität zu stellen. Der Namensvorgänger             Parkveien, gehen in die Riddervolds Gate und bie-
Håkon VI. war der letzte König Norwegens im Mit-             gen rechts in die Incognitogata ein. Am Ende bie-
telalter und starb 1380. Obwohl der aus dem Aus-             gen wir links in den Hegdehaugsveien ein und dann
land stammende neue König Zeit seines Lebens                 wieder rechts in die Josefines Gate. Am Ende der
kein richtiges Norwegisch sprach sondern Dänisch,            Straße sehen wir das Bislett Stadion, das über Jahr-
hat er enorm viel zur nationalen Identitätsbildung           zehnte für Sommer- und Wintersportwettkämpfe
beigetragen. Größtes Ansehen erwarb er sich im               genutzt wurde. Seit 1988 ist das Stadion jedoch
Zweiten Weltkrieg, als er im Gegensatz zum da-               außer Betrieb. Vor dem Stadion wenden wir uns
maligen dänischen König sich nicht den deutschen             rechts auf die Pilestredet und gehen wieder stadt-
Besatzern unterwarf, sondern nach England ins Exil           einwärts.
flüchtete und dort zum Symbol eines freien Norwe-
gens wurde. Das Denkmal auf dem Platz erinnert
                                                             3.4    Teilabschnitt 4: Schwerpunkt „Wohl-
an die Rückkehr des Königs 1945 ins befreite Nor-                   fahrtsstaat und Fordismus nach 1950“
wegen. Die Statue bildet den König in der Haltung
ab, in der er vorn auf dem Schiff stehend in den             Wir kommen nun in einen City-Randbereich, der
Hafen von Oslo einlief und dort mit Begeisterung             wesentlich im 19. Jahrhundert bebaut, aber in der
empfangen wurde.                                             zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend
                                                             ergänzt und überformt wurde. Hier stehen viele grö-
Wir queren nun den Drammensveien, gehen durch
                                                             ßere Gebäude, in denen sich der Wohlfahrtstaat
den Park zurück zur Zentralachse und wenden uns
                                                             und die Führungsebene der fordistischen Industrie-
dem Schloss zu. Auf der Anhöhe mit Blick auf die
                                                             gesellschaft manifestiert haben. Man stößt beim
Stadt findet sich das Reiterstandbild des Unions-
                                                             Rundgang auf Regierungsstellen, leitende und
königs Karl-Johan, auf dessen Wunsch oder An-
                                                             nachgeordnete Behörden, Verwaltungen von
weisung es überhaupt zu einem Schlossbau in Oslo
                                                             Staatsbetrieben, öffentliche Wohnungsbauge-
kam und der auch entscheidend Einfluss auf den
                                                             sellschaften, Interessenverbände und einige gro-
Standort nahm. Das Schloss wurde in den Jahren
                                                             ße Hotels. Angesichts des Erscheinungsbildes vie-
1825-1848 im Empirestil erbaut. Aus Geldmangel
                                                             ler Gebäude könnte man diesen City-Randbereich
zog sich der Bau lange hin und fiel letztlich deutlich
                                                             auch als „Betonring“ bezeichnen.
kleiner aus als ursprünglich geplant. Der erste Kö-
nig, der das Schloss nutzte, war der Unionskönig             Dabei ist der Begriff „Ring“ allerdings etwas irre-
Oscar I., Nachfolger von König Karl-Johan. Dauer-            führend, weil man dabei an eine große Erschlies-
hafter Wohnsitz des Königs wurde das Schloss erst            sungsstraße denkt. Einen solchen nördlichen City-
nach der Unionsauflösung 1905. Wie die Karl-                 Rand-Ring hat es in Oslo bis in die jüngste Vergan-
Johans-Gate hat auch das Schloss eine besonde-               genheit nicht gegeben, weil es keine zu schleifen-
re symbolische Bedeutung. Vom Balkon des Schlos-             den Befestigungsanlagen gab. Vielmehr ist die Stadt
ses beobachtet die Königsfamilie jedes Jahr den              vom Zentrum aus tortenstückartig entwickelt wor-
Festumzug zum 17. Mai. Vor dem Schloss zeigten               den und die Querverbindungen zwischen den Quar-
die Norweger 1991 ihre Trauer nach dem Tod von               tieren sind eher zufälliger und nachgeordneter Na-
König Olav V., indem sie tausende Kerzen und Blu-            tur. Erst mit den Straßenausbaumaßnahmen um
men im Schnee des Schlossplatzes aufstellten.                1990 entstand mit den Henrik-Ibsen-Ring (= Ring 1)
Damals waren sie über sich selbst erstaunt ob ih-            ein nördlicher Innenstadtring, der allerdings zu gro-
res „katholischen Verhaltens“ im nüchternen nordi-           ßen Teilen in Tunneln geführt wird. Insgesamt macht
schen Staatsprotestantismus. Auf dem Balkon zeig-            der nördliche City-Randbereich mit seiner funktio-
te sich nach der Beerdigung auch der neue König              nalen Mischung aus Verwaltung, einfachem Woh-
Harald und Tausende sangen spontan die Natio-                nen und neuen Verkehrsbauwerken einen ausge-
nalhymne „Ja, vi elsker dette landet“ („Ja, wir lie-         sprochen unstrukturierten und oft unwirtlichen Ein-
ben dieses Land“). Wie Deutschland und Italien zählt         druck. Obwohl unmittelbar an die Laufmeilen der
Norwegen zu den verspäteten Nationen des 19.                 Touristen angrenzend, verirrt sich hierhin nur sel-
Jahrhunderts. Angesichts seiner geringen Größe               ten ein Besucher.
musste es aber weniger aggressive Formen finden,             Wir folgen der Pilestredet stadteinwärts und treffen
um sein Bedürfnis nach Nationalismus zu befriedi-            nach kurzer Strecke links auf den Neubaukomplex
gen. Das macht den norwegischen Nationalismus                „Högskolen i Oslo“. Dabei handelt es sich um eine
und die Selbstzufriedenheit der Norweger erträg-             Fachhochschule mit berufsorientierten Studiengän-
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