Stadtwachstum und Stadtumbau in Oslo. Exkursion durch die inneren Bereiche der norwegischen Hauptstadt
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NORDEN Bd. 16 S. 165-180 Bremen 2004 Stadtwachstum und Stadtumbau in Oslo. Exkursion durch die inneren Bereiche der norwegischen Hauptstadt von Jürgen Aring* 1 Zielsetzung der Exkursion Norwegen wird im Allgemeinen wegen seiner Na- intensiver mit Oslo beschäftigen. tur bereist und nicht wegen seiner Städte. Der Be- Das Werden und Wachsen der Hauptstadt spiegelt sucher freut sich auf Fjell, Fjorde und das Licht des auf wenigen Quadratkilometern die Entwicklung von Nordens. Einige Städte - Oslo, Bergen, úlesund, Staat und Gesellschaft in Norwegen. Die nachfol- Trondheim - gehören zwar auch ins touristische Pro- gende Exkursion, für die man mindestens einen gramm, doch ihnen gilt nicht das Hauptinteresse ganzen Tag ansetzen sollte, führt durch das innere der Reisenden. Wer jedoch einen Zugang zur mo- Oslo. Vorbereitet wird die Exkursion durch einen dernen norwegischen Nation sucht, der sollte sich Überblick zur Stadtentwicklung. 2 Einführung zur Exkursion – Die Stadthistorie im Überblick 2.1 Vorgeschichte 2.2 Hier soll die Stadt liegen – Die Stadtgründung von Christian IV. Im Jahre 2000 feierte Oslo sein 1000-jähriges Be- stehen, denn um das Jahr 1000 n. Chr. entstand Fragen wir uns zunächst, warum das mittelalterli- am Nordende des Oslofjordes die erste stadtartige che Oslo so klein und unbedeutend war und war- Bebauung. Dem aufmerksamen Beobachter fällt um sich dann im 17. Jahrhundert der dänische Kö- aber beim Betrachten des Stadtplans sofort auf, nig von Kopenhagen an den Oslofjord bemühte, um dass die Stadt keinen mittelalterlichen Stadtkern die Neuanlage der Stadt zu leiten. Die erste Frage besitzt. Es fehlen die schmalen verwinkelten Stra- ist relativ leicht beantwortet. Das mittelalterliche ßen und die romanischen oder gotischen Kirchen, Oslo lag „am Rande der Welt“, hatte ein extrem die im Allgemeinen den Kern gleich alter Städte prä- dünn besiedeltes Hinterland, und es hatte ökono- gen. Das mittelalterliche Oslo war eine Kleinstadt misch wenig zu bieten. Ein wichtiges Handelsgut mit geringer Einwohnerzahl. Die meisten Gebäude im Mittelalter war Fisch, der als christliche Freitags- waren aus Holz. Einige steinernen Reste sind bei speise nachgefragt wurde. Fisch gab es an der nor- Ausgrabungen in den letzten Jahren freigelegt wor- wegischen Westküste, und die Hanse sorgte mit den und können besichtigt werden. Diese Aus- ihrem Kontor in Bergen dafür, dass der Fisch nach grabungsergebnisse findet man aber nicht im heu- Mitteleuropa kam. Im Mittelalter waren deshalb tigen Zentrum, sondern einige Kilometer weiter öst- Bergen und Trondheim viel bedeutendere und auch lich unterhalb des Ekebergs (den man von weither urbanere Städte als Oslo. am markanten viertürmigen Gebäude der ehemali- Im 16. Jahrhundert veränderten sich die Rahmen- gen Seemannsschule erkennen kann). Die mittel- bedingungen erheblich. Norwegen wurde nach dem alterliche Kleinstadt zählte in ihren besten Jahren Zerfall der Kalmarer Union 1523 und der Einfüh- zwischen 2.000 und 3.500 Einwohner, die Zahl ging rung der Reformation 1536 zu einem dänischen jedoch im ausklingenden Mittelalter aufgrund von Nebenland, ähnlich einer Kolonie. Das Land erhielt Krisen sogar wieder deutlich zurück. Im Jahre 1624 einen dänischen Statthalter, und Dänisch wurde zur brannte das Städtchen vollständig nieder und durf- Amts-, Schul- und Kirchensprache. Damit verscho- te auf Weisung des dänischen Königs Christian IV. ben sich die administrativen Bezugspunkte Norwe- nicht wieder aufgebaut werden. Stattdessen kam gens in den Süden nach Kopenhagen. Gleichzeitig es zu einer Verlagerung und Neugründung. Doch schuf der Zerfall der Union Grenzen und kriegeri- dazu später mehr. sche Auseinandersetzungen zwischen Dänemark *Dr. J. Aring, Klosterstr. 84, 53340 Meckenheim, E-Mail: Aring@t-online.de
166 J. Aring Norden 16 550000 500000 450000 400000 350000 300000 Oslo Oslo u. Aker 250000 200000 150000 100000 50000 0 1800 1820 1840 1860 1880 1900 1920 1940 1960 1980 2000 Abb. 1: Bevölkerungsentwicklung Oslo 1800 - 2003 Anmerkung: Die Stadt Oslo hat im Laufe der Jahrzehnte immer wieder Teile der die Stadt umgeben- den Landkommune Aker übernommen, bis es 1948 zu einer vollständigen Eingemeindung kam. und Schweden um die Vorherrschaft im Ostsee- hus an der Bjørvika gegenüber von Alt-Oslo. Diese raum (u. a. Krieg unter Frederik II. von 1563-1570). Festung war um 1300 unter dem norwegischen Norwegen musste vom dänischen König gesichert König Håkon V. entstanden. Später diente sie dann werden, um nicht bei der erstbesten Gelegenheit dem dänischen König als Hof in Norwegen. Mit der an Schweden verloren zu werden. Mindestens Neugründung einer Stadt unmittelbar neben genauso wichtig sind jedoch ökonomische Grün- Akershus erreichte Christian IV. zwei Ziele. Die neue de. Mit der Reformation ging in Europa die Nach- Stadt vor der Festung konnte in die Verteidigungs- frage nach Fisch als Fastenspeise drastisch zurück, anlagen einbezogen und so besser vor schwedi- und Westnorwegen verlor seine Exportbasis. schen Angriffen geschützt werden. Gleichzeitig Gleichzeitig stieg aufgrund der ökonomischen Ent- konnte der König seinen Einfluss auf die Stadt er- wicklungen in Mitteleuropa die Nachfrage nach Holz, höhen. So nahm Christian IV. die Sache in die Hand das Ostnorwegen liefern konnte. Es wurde in und bestimmte, wo und wie neu gebaut werden Romerike gefällt, in Sägemühlen zu Balken verar- sollte. Sowohl am Christiania torv wie auf dem beitet und zur Verschiffung an den Oslofjord ge- Stortorv finden sich Denkmäler, die den vielzitierten bracht. Außerdem musste die Kirche mit der Re- Ausspruch „hier soll die Stadt liegen“ (her skal byen formation ihre politische Machtstellung und ihre ligge) illustrieren. Konzipiert wurde ein Schachbrett- ökonomische Basis (Klöster und Güter) an die welt- muster, mit sechs Nord-Süd-Straßen (seinerzeit liche Macht abgeben. Abgaben und Steuern der „stræder“ genannt) und sechs Ost-West-Straßen bäuerlichen Bevölkerung in den ostnorwegischen („gader“ genannt) in einheitlicher Breite. In Oslo Tälern und in den (relativen) landwirtschaftlichen heißt dieser Bereich heute „Kvadraturen“. Er war Gunstgebieten um den Oslofjord waren nun eine im Norden durch den Ostabschnitt der heutigen Sache des Königs. Fazit: Norwegen mochte arm, Karl-Johans-Gate begrenzt. Im Stadtplan ist diese rückständig und dünn besiedelt sein. Trotzdem hatte Keimzelle des neuen Oslo unschwer zu erkennen. es aus einer Kopenhagener Perspektive seinen Für die Häuser bestand Baupflicht aus Stein. Holz- Wert. Da machte es Sinn, diese Konstellation zu häuser waren nicht länger zugelassen. Das war sichern und zu fördern. Christian IV. tat also durch- nicht nur repräsentativer, sondern sollte vor allem aus gut daran, nach Norwegen zu reisen und sich die Brandgefahr reduzieren. Das besondere Enga- um seinen Machtvorposten zu kümmern. gement des Königs schlug sich auch in der Namens- Im innersten Ende des Oslofjordes gab es neben gebung für die Neugründung nieder. Die Neue Stadt dem mittelalterlichen Handelsstädtchen auch eine wurde „Christiania“ genannt. alte Burg auf einer Landzunge, die Festung Akers- Bis 1814 war Christiania der dänische Vorposten in
Norden 16 Stadtwachstum und Stadtumbau in Oslo. 167 Norwegen, von dem aus das Land verwaltet wur- richteten sich ein zwischen Unterordnung und Inte- de. Gleichzeitig hatte die Stadt eine gewisse wirt- gration. Letzteres galt besonders für die dünne schaftliche Bedeutung als Exporthafen für Holz, Oberschicht. weshalb im Bereich Bjørvika zunehmend Land auf- Spätere Generationen suchten ihre Identität vor al- geschüttet wurde, um dort Hafenanlagen zu errich- lem im Absetzen von der dänischen Periode und ten. Im 17. und 18. Jahrhundert entstanden proto- dem Aufzeigen einer längeren Linie eigenständiger industrielle Produktionsbetriebe (Mühlen, Säge- norwegischer Kultur und Kontinuität. Der ausge- mühlen, Papierfabriken, Brauereien, Werften). Da- prägte Nationalromantismus der Norweger, den mit hatte es aber auch sein Bewenden. Für Kunst, man auch in der ornamentischen und skulpturellen Kultur und Wissenschaft war kaum Platz. Der wich- Ausgestaltung von Gebäuden der Stadt wieder fin- tigste zentrale Ort für Norwegen war die dänische det, ist Ausdruck dieser Bemühungen. Die Namens- Hauptstadt Kopenhagen. Dort hatten Staat und Kir- wahl „Haakon VII.“ des ersten Königs nach der Un- che ihre Machtbasis, dort wurde die Beamtenschaft abhängigkeit 1905 findet darin ihre Erklärung. Und ausgebildet, und dort gab es im 17. und 18. Jahr- auch die Umbenennung von Christiania zu Oslo zu hundert ein reiches kulturelles Leben. Christiania Beginn des 20. Jahrhunderts und auch die jüngere hingegen war Provinz. Angesichts dieser Kolonial- intensive über rein historische Forschung hinaus- situation gibt es in Oslo auch keine herausragen- gehende Beschäftigung mit Gamlebyen (=Alt-Oslo) den Beispiele für Bau- und Kulturdenkmäler aus der passen zu diesem Reaktionsmuster. Wer das neu- dänischen Zeit. Die markantesten Gebäude aus der zeitliche Oslo verstehen will, muss das Bemühen dänischen Epoche sind die im Stile nordischer Re- der Emanzipation von der dänischen Kolonialzeit naissance umgebaute Festung Akershus (mit dem und der Konstruktion einer Norwegischen Nation Prunksaal „Christian 4.s sal“) und der 1697 einge- als geistesgeschichtlichen Hintergrund beachten. weihte Dom (Oslo domkirke). 1814 ist für die moderne norwegische Nation und die Entwicklung der Stadt Oslo ein Schlüsseljahr. 2.3 Hauptstadt Dänemark gehörte zu den Verlierern bei den napo- 1814 war Christiania also zur Hauptstadt geworden, leonischen Kriegen, und bei der europäischen Neu- aber dem 10.000 Einwohner zählenden Städtchen ordnung auf dem Wiener Kongress wurde Norwe- fehlte alles, was eine Hauptstadt ausmachte. Des- gen dem schwedischen Königreich zugeschlagen. wegen standen die folgenden Jahrzehnte ganz im Die Wirren dieser Transformationsphase nutzte die Zeichen der Hauptstadtwerdung. Die ersten natio- zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstarkte Unabhän- nalen Institutionen Parlament, Staatsverwaltung, gigkeitsbewegung in Norwegen durch die Schaf- Universität waren zwar in Provisorien untergebracht, fung eigener Fakten. Zeitgleich mit dem Wiener aber allein ihre Existenz gab der Stadt schon einen Kongress setzte sich in einem Herrenhaus in Wachstumsschub. Zusätzlich zog auch verarmte Eidsvoll - d. h. auf dem Lande etwa 50 km nördlich Landbevölkerung in der Hoffnung auf bessere Le- der Hauptstadt - eine Gruppe von Oberschicht- bensbedingungen in die Stadt. So wuchs Christiania aktivisten zusammen, die eine Verfassung (Grund- bis 1850 auf etwa 30.000 Einwohner an (40.000 im lov) schrieb und die norwegische Unabhängigkeit Gebiet des heutigen Oslo). erklärte. Damit gab es zwei konkurrierende Rechts- Die bauliche Entwicklung jener Jahre prägt das heu- tatbestände, nämlich die Angliederung der däni- tige Bild der Stadt ganz entscheidend. Vor- schen Kolonie Norwegen an Schweden und die entscheidend dafür war 1822 der Entschluss, ein Norwegische Unabhängigkeit. Kurzfristig standen Schloss zu bauen. 1825 wurde der Grundstein auf die Zeichen auf Krieg zwischen Norwegen und Bellevuehøyden, einem Hügel westlich der Stadt, Schweden, doch dann fand sich ein Kompromiss. gelegt. Die Fertigstellung des Schlosses zog sich Norwegen erhielt eine Teilautonomie. Es wurde in- allerdings aufgrund von Geldmangel bis 1848 hin, nenpolitisch selbstständig und außenpolitisch von und da war es auch eine gegenüber den ursprüng- Schweden verwaltet. Damit war Norwegen von ei- lichen Planungen abgespeckte Variante geworden. ner Kolonie zum Juniorpartner in einer Doppel- Das Schloss wurde mit der alten Stadt seit den monarchie aufgestiegen. Christiania erhielt eine 1830er-Jahren über eine breite, schnurgerade Stra- neue Rolle: „Hauptstadt“, und damit bekam die ße verbunden, die zunächst Slottsgate hieß und Stadtentwicklung im 19. Jahrhundert vollkommen 1852 nach dem damaligen Unionskönig in Karl- neue Impulse, die das Weichbild der Stadt entschei- Johans-Gate umbenannt wurde. An dieser neuen dend geprägt haben. Straße und deren engstem Umfeld stellte sich der Doch bevor nun auf die Stadtentwicklung der nächs- neue norwegische Staat auf. Hier finden sich das ten Jahre eingegangen wird, muss man noch einmal Parlament (erbaut 1861-66), die alte Universität auf die vorangegange Phase eingehen, die zwar (1841-54), das Nationaltheater (eröffnet 1899), als formal abgeschlossen war, aber unterschwellig Bühne für das öffentliche Leben das Grand Hotel weiter wirkte. Für das norwegische Selbstverständ- (eröffnet 1874, Neubau 1911-13), sowie weitere Bür- nis sind die Jahre der dänischen Kolonialzeit bis gerhäuser. Seinen weitläufigen Charakter erhält das heute ein Thema. Die damals lebenden Menschen Ensemble durch den Eidsvoll Plass, der ab 1846
168 J. Aring Norden 16 als Park angelegt wurde. Funktional war Oslo also Mit der Industrialisierung wurde Christiania auch schnell in die neue Hauptstadtrolle hineingeschlüpft, mehr und mehr zu einer Handelsstadt. Der traditio- doch städtebaulich bedurfte es fast eines Jahrhun- nelle Holzexport hatte zwar an Bedeutung verloren, derts, um das heute das Stadtzentrum prägende doch für die Industrien mussten die Rohstoff-, Zu- Bild zu schaffen. liefer- und Absatzmärkte erschlossen werden. Könnte man die Zeit auf etwa 1840 zurückstellen, Deswegen entstanden zeitgleich auch vermehrt dann böte sich dem Besucher folgendes Bild: Der Großhandelsunternehmen, die zusätzliche Arbeits- Bereich der Quadratur gliche einem Landstädtchen plätze schufen und Kontorgebäude in der Stadt be- mit ein- und zweigeschossigen Häusern aus Stein nötigten. Gleichzeitig wurden die Hafenanlagen er- (ähnlich den Straßenzügen im städtischen Teil des weitert, indem Bjørvika Bispevika ausgebaut und Norwegischen Folkemuseums auf Bygdøy). Vom Pivervika (vor dem heutigen Rathaus) dem Hafen Egertorget, dem höchsten Punkt der Karl-Johans- zugeschlagen wurde. In diesem Rahmen begann Gate neben dem Storting, hätte man nach Westen ab 1854 Akers mekaniske Verksted, die bis dahin einen Blick auf ein halbfertiges Schloss und weite- am Akerselv kleinere Maschinen und Pumpen her- re Baustellen, die die zukünftige Hauptstadt erah- gestellt hatte, mit der Produktion und Reparatur von nen lassen. Im Bereich des heutigen Rathauses Schiffen. 128 Jahre später wurde der Betrieb ein- träfe man auf eine kleinteilige vorstädtische Wohn- gestellt und die ehemaligen Werkstatthallen in den bebauung, in der Arbeiter der Werften an der neuen Büro-, Geschäfts-, Freizeit- und Wohn- Pipervika leben. Ähnlich sähe es aus, wenn man komplex Aker Brygge integriert. die Stadt nach Osten in Richtung Vaterland, Grøn- Etwa zeitgleich mit dem Ausbau der Hafen- und land und Unterlauf des Akerselv verlässt (d. h. den Seeverbindungen wurde landseitig die Verkehrs- Bereich nördlich des heutigen Zentralbahnhofs). infrastruktur ausgebaut. 1854 bestand Norwegens Weil diese Gebiete bei ihrer Bebauung außerhalb erste Eisenbahnverbindung zwischen Oslo und der Stadtgrenzen lagen, herrschte kein Zwang zum Eidsvoll. Bezeichnenderweise wurden in Norwegen Bauen in Stein. Deswegen dominierte hier eine ein- mit der Bahn zunächst nicht Städte verbunden, son- fache Holzbebauung ohne stadtplanerisches Kon- dern ein landwirtschaftlich geprägter Produktions- zept. Damit ist der ganze bebaute Bereich der gut und Absatzraum erschlossen. In den Folgejahren 25.000 Einwohner zählenden Stadt beschrieben. kamen weitere Strecken hinzu (Drammensbanen 1872, Østfoldbanen 1879, Gjøvikbanen 1900), wo- 2.4 Industrieller Aufbruch und Stadtexpansion durch die Erreichbarkeit der Hauptstadt weiter ver- bessert wurde. Christiania wurde bahntechnisch Den nächsten Entwicklungsschub erhielt die Stadt zum Knoten zwischen dem Ausland (Schweden, durch die um 1850 einsetzende Industrialisierung, Dänemark, Deutschland) und dem nationalen Hin- in der die Technologien aus England und Kontinen- terland. Aus städtebaulichen und bahntechnischen taleuropa zum Einsatz kamen. Zunächst mit Was- Gründen waren bis 1980 das Ostnetz (Østfold, serkraft und dann auf Dampfmaschinenbasis ent- Ostnorwegische Täler, Trondheim) und das West- standen und wuchsen Fabriken. Den Anfang mach- netz (Vestfold, Sørland, Hallingdal, Bergen) ge- te die Textilindustrie, später folgte Eisen- und Metall- trennt. Erst dann wurden die beiden Netze mit ei- verarbeitung, und ab 1880/90 kam die elektrotech- nem Tunnel verbunden und neben dem alten Ost- nische Energie hinzu. Als Folge dieser neuen Öko- bahnhof der neue Zentralbahnhof etabliert. Für Oslo nomie wuchs schon bis 1875 die Bevölkerung in war der Ostbahnhof immer der wichtigere Bahn- Christiania und den kurz darauf eingemeindeten hof. Als Standort wählte man bewusst einen Ort, Vorstädten auf etwa 100.000 Einwohner, bis 1900 der günstig zum Stadtzentrum und zum Hafen an auf etwa 230.000 Einwohner an. Dass Christiania der Bjørvika lag, nämlich die Aufschüttungsflächen zum Ausgangspunkt der Industrialisierung in Nor- unmittelbar östlich der Kvadratur am unteren Ende wegen wurde, hat einen einfachen Grund. Als größte der Karl-Johans-Gate. Das Bahnhofsgebäude Stadt des Landes mit einem vergleichsweise dicht Østbanehallen, das um 1880 einen älteren Vor- besiedelten landwirtschaftlichen Umland war hier läuferbau ersetzte, wird heute als Markthalle ge- der Markt für Industrieprodukte am größten. Gleich- nutzt, die jedoch mit dem neuen Zentralbahnhof zeitig war in der Hauptstadt hinreichend Investitions- verbunden ist. kapital verfügbar. Die neuen Industriebetriebe lie- Mit dem enormen Bevölkerungswachstum in der ßen sich entlang des Akerselv nieder, wo schon das zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand ein protoindustrielle Gewerbe die Wasserkraft als Ener- riesiger Wohnungsbedarf. Im Osten der Stadt, giequelle genutzt hatte. Heute kann man entlang rechts und links der Industrieachse am Akerselv, des Akerselv die industrielle Keimzelle Norwegens wuchsen Stadtteile mit Mietwohnungsblöcken. So- mit ihrer Industriearchitektur erwandern. Am Ober- weit die Gebäude im Stadtgebiet lagen, waren die lauf des Flusses (Kjelsåsveien 143) wurde 1986 der Häuser aus Stein mit Decken und nichttragenden Neubau des Norwegischen Technischen Museums Wänden aus Holzbalken. Außerhalb des Stadtge- eröffnet, in dem auch die Industriegeschichte am bietes und damit außerhalb des Steinbauzwanges Akerselv gezeigt wird. entstanden Häuser aus Holz. Der heute bekann-
Norden 16 Stadtwachstum und Stadtumbau in Oslo. 169 teste gründerzeitliche Stadtteil mit Mietskasernen werte Stadtteile, die einen Einblick in das Christiania ist Grünerløkka östlich des Akerselv. Das Gebiet des späten 19. Jahrhunderts geben und gleichzei- lag zu Beginn der Industrialisierung vor der Stadt tig die extreme soziale Polarisierung zwischen Oslo- und befand sich im Privateigentum (Hans Grüner). Ost und Oslo-West illustrieren. Obwohl in Luftlinie Teile wurden parzelliert und mit Holzhäusern be- nur etwa 2 km voneinander entfernt, repräsentier- baut, von denen es nur noch sehr wenige Reste ten die Stadtteile vollkommen unterschiedliche so- gibt. Nach der Eingemeindung 1858 wurde der nörd- ziale Welten - Wohlstand und Geräumigkeit im Wes- liche Teil vom Handelsmann Thorvald Meyer über- ten, Armut und Enge im Osten. Auch in den nachfol- nommen, der das Gebiet einer geordneten Entwick- genden Ausbauphasen „weiter draußen“, die durch lung zuführte und vermarktete. Meyer baute Stra- die Anlage der Straßenbahnen (Pferdebahnen ab ßen aus, gab Grundstücke für Park, Kirche und 1875, elektrische Bahnen ab 1894) und die Vor- Schule an die Kommune und ließ den Rest äußerst stadtbahnen (Holmenkollenbahn, zunächst mit Stra- dicht bebauen. Nach wenigen Jahren lebten hier ßenbahnprofil ab 1899) möglich wurden, blieb das 20.000 Menschen, zwar in einem städtisch geord- West-Ost-Muster erhalten. Im Westen findet sich neten Umfeld, doch insgesamt in beengten und die Villenbebauung von Holmenkollen, während im schlechten Wohnverhältnissen. Schon in den Osten immer neue Arbeiterquartiere bis hin zu den 1930er-Jahren gab es Vorschläge zur Sanierung Großsiedlungen der 60er-Jahre entstanden. Und des Geländes (zeitgleich mit den Sanierungen im auch die ausländischen Zuwanderer ballen sich Bereich des heutigen Rathauses), und in den heute im Osten, z. B. in Grønland nordöstlich des 1970er-Jahren sah die Stadtplanung den flächen- Hauptbahnhofs. haften Abriss vor. Die erste Teilsanierung weckte jedoch großen Widerstand bei der Bevölkerung, und 2.5 Sozialdemokratisierung und so wurde eine behutsame Stadterneuerung einge- Wohlfahrtsstaat leitet. Man erhielt die Blockrandbebauung und mo- Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahmen die Un- dernisierte die Gebäude. Grünerløkka mutierte bin- nen weniger Jahre zu einem äußerst beliebten stimmigkeiten zwischen Norwegen und Schweden Stadtteil und wurde gentrifiziert. zu, und im Jahre 1905 wurde schließlich die Union mit Schweden aufgelöst. Ein armes, aber national- Den Gegenpol zu Grünerløkka bildet Homansbyen bewusstes Landes, das mehr und mehr zur fordis- im Westen der Stadt (Inkognitogata, Ocars Gate), tischen Industrienation wurde und die Industriege- wo sich in der Nachbarschaft des Schlosses ein sellschaft politisch gestalten musste, bildete den attraktives Villenquartier für wohlhabende Kaufleu- Rahmen für die Stadtentwicklung der nächsten Jahr- te, Industrielle und Staatsbeamte errichten ließ. zehnte. Einerseits hielten die Industrialisierung und Auch hier vollzogen sich Planung und Entwicklung der Zuzug vom Lande in die Stadt an. Andererseits des Gebietes in privater Regie. Die Brüder Homann prägten die Arbeiterbewegung und soziale Refor- hatten die Fläche 1853 erworben und begannen men die gesellschaftliche Entwicklung der ersten 1858 mit der Entwicklung eines einheitlichen Ge- Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. bietes mit individuellen Villen. Die Häuser wurden bis 1862 vom Architekten G. A. Bull entworfen, Der Selbstfindungsprozess der jungen norwegi- danach bis 1868 von anderen renommierten Archi- schen Nation markierte sich auch im Bemühen, his- tekten. Dabei hatten sie einem einheitlichen Plan torische Kontinuitäten ins Mittelalter und die Wikin- zu folgen, der dem Gebiet trotz aller Individualität gerzeit aufzuzeigen. In diesem Sinne wurde 1925 eine für die damalige Zeit ungewöhnliche gestalte- Christiania in Oslo umbenannt oder in der norwegi- rische Einheitlichkeit gab. Die Prinzipien privater schen Lesart rückbenannt. Dazu gehört auch die Entwicklung wirkten sich in diesem Falle sehr posi- rückbezügliche ornamentale und skulpturale Aus- tiv auf die Stadt aus. Trotz seiner Attraktivität und schmückung moderner Gebäude, wie z. B. des Rat- seines städtebaulichen Wertes drohte dem Gebiet hauses. in den 1960er- und 1970er-Jahren mehrfach ein Städtebaulich schlugen sich die neuen Herausfor- Ende. Geplant waren unter anderem Abrisse derungen in umfassenden Wohnungsbauprogram- zugunsten eines verdichteten Wohnungsbaus so- men nieder, wobei sowohl der Neubau am Stadt- wie zur Schaffung einer Durchgangsstraße. rand (auch außerhalb der kommunalen Grenzen) Schließlich wurde der Stadtteil jedoch 1978 unter wie auch die Sanierung von Slums und Schlicht- Denkmalschutz gestellt. In den Folgejahren nahm wohngebieten angegangen wurden. Mengenmäßig die Beliebtheit des Stadtteils wieder zu, und zwar dominierte zwar die Entwicklung am Stadtrand, denn sowohl für das Wohnen wie auch für Büros in un- fast das gesamte Bevölkerungswachstum Oslos in genutzten Villen. der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konzentrierte Die beiden genannten Stadtentwicklungen - Grüner- sich auf die Kragenkommune Akershus, die dann løkka und Homansbyen - bilden nur einen kleinen 1948 vollständig eingemeindet wurde. Aber für die Ausschnitt aus dem enormen Bauprogramm, das Stadtentwicklung waren auch die Sanierung des die Stadt seit etwa 1850 enorm rasch expandieren heutigen Rathausbereiches und der Bau von politi- ließ. Aber es sind zwei bemerkens- und besuchens- schen und kulturellen Gebäuden der Arbeiterschaft
170 J. Aring Norden 16 im Bereich Torggata/Youngtorget von Bedeutung. das bisherige Staats- und Wirtschaftssystem in die Aufgrund der öffentlichen Armut, der wirtschaftlichen Defensive. Fast zwei Jahrzehnte lang waren die Ein- Depression der 30er-Jahre und der Besatzung in wohnerzahlen von Oslo rückläufig. Die Stadt den Kriegsjahren zogen sich viele Entwicklungen, schrumpfte auf etwa 450.000 Einwohner. die schon um 1920 geplant waren, bis in die 1950er- So war Oslo Ende der 70er-Jahre im internationa- und frühen 1960er-Jahre hin. Die Sanierung des len Vergleich wenig attraktiv. Einerseits spürte man Bereichs Pipervika/Rathaus ist hierfür ein gutes Bei- allerorten staatliche Regulierungen und Normierun- spiel. gen (z.B. bei der restriktiven Vergabe von Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm der Staat Schanklizenzen für Restaurants oder der ständigen mehr und mehr die Verantwortung für das Wohl des Präsenz von Polizei in der abendlichen Fußgänger- Einzelnen in der Gesellschaft. Unter der Führung zone). Andererseits fehlte es an einer nach vorne der Arbeiderpartiet wurden die strengen wirtschaftli- weisenden Vision. Das änderte sich aber grundle- chen Restriktionen der Kriegsjahre zwar in den 50er- gend im Zuge der Deregulierung und Liberalisie- Jahren zurückgenommen, aber durch vielfältige Re- rung ab 1982, die das Kreditwesen, Steuergesetze, gulierungen wurde die Wirtschaft weiterhin indirekt Ladenschlusszeiten, Schanklizenzen u. a. m. be- gesteuert. In Form von staatlichen Banken und rührte. Die neue politische Orientierung zog einen Staatsbetrieben übernahm der Staat vielfach auch einzigartigen Konsum-, Gründer- und Bauboom unternehmerische Aufgaben. Parallel wurde die nor- nach sich und begünstigte im Raum Oslo die Trans- wegische Variante des Wohlfahrtsstaates aufge- formation zur postindustriellen Dienstleistungs- baut. Obwohl Norwegen im europäischen Vergleich ökonomie. Seit Mitte der 80er-Jahre wächst die Ein- weiterhin zu den ärmsten Ländern zählte, waren die wohnerzahl in Oslo wieder und zwar in einem ähn- 50er- und 60er-Jahre von einem stetigen Wirt- lichen Tempo wie zur Zeit der Industrialisierung. schafts- und Wohlfahrtswachstum geprägt, das sich Die Deregulierung und Liberalisierung wäre ohne wiederum in politischer Stabilität und weitgehender ein neues Staatsverständnis kaum denkbar gewe- gesellschaftlicher Zufriedenheit ausdrückte. sen. Während der Staat in den Nachkriegs- Im Stadtbild von Oslo schlug sich die Aufbau- und jahrzehnten eher ein distanziertes Verhältnis zur Pri- Stabilisierungsphase in vielfältigen Neubauten für vatwirtschaft pflegte und eher auf eigenes unter- staatliche Behörden, staatstragenden Institutionen, nehmerisches Handeln setzte, wurde am Anfang Verbände und Hauptsitzen von Staatsbetrieben und der 80er-Jahre ein eher partnerschaftliches Verhält- Kulturbauten nieder. Im Halbkreis um die City – etwa nis betont. Für die städtische Planung lautet ein markiert durch den heutigen teils unterirdischen Credo nun PPP (public-private-partnership). Im Henrik-Ibsen-Ring – entstanden die Neubauten der Zuge von Verhandlungsplanungen wurde auf öffent- späten 60er- und 70er-Jahre. Es dominierten groß- liche Vorgaben öfter verzichtet und stattdessen ein maßstäbige Bauten mit viel Beton und einer gerin- Aushandlungsprozess zwischen öffentlichen und gen Sensibilität gegenüber den gewachsenen Stadt- privaten Interessen angestrebt. So entstand eine strukturen (vgl. Exkursionsabschnitt 4). Wenn alle neue Planungskultur. Mit der Implosion der ökono- Abriss- und Neubauplanungen realisiert worden wä- mischen Blase zu Ende der 80er-Jahre brach zwar ren, sähe Oslo heute erheblich anders aus. Aber das private Engagement kurzfristig vollständig ein, Geldmangel und Widerstand aus der Bevölkerung und es zeigten sich die Risiken des privatwirtschaft- ließ manche großflächige Sanierungen scheitern lichen Engagements, doch inzwischen haben sich und erzwang später kleinteiligere stadtverträglichere die Verhältnisse längst wieder stabilisiert. Lösungen. Die bereits genannten Beispiele Grünerløkka und Homansbyen stehen für ein sol- Die Transformation Oslos in den letzten 25 Jahren, ches Umdenken. die aus einer verschlafenen Stadt in der europäi- schen Peripherie eine international wahrgenomme- ne Metropole machte, hat ihren baulichen Nieder- 2.6 Deregulierung und Stadtumbau gang in einer Vielzahl von Stadtentwicklungsprojek- In den späten 60er- und frühen 70er-Jahren stieß ten und einer umfassenden Hebung des Attraktivi- das Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell der Nach- täts-, Einkaufs- und Freizeitniveaus im ganzen in- kriegsjahre an Grenzen. Mit zunehmender Integra- neren Bereich gefunden. Den Auftakt der vielen tion der Wirtschaft in internationale Kontexte wurde Maßnahmen machte das Vorzeigeprojekt der Yuppie- auch der Wettbewerb schärfer. Norwegens Han- zeit, das private waterfront-Development Aker delsflotte, die Werftindustrie und auch die verschie- Brygge. Aber dies wäre nur ein isoliertes Projekt denen energiebasierten Grundstoffindustrien gerie- geblieben, wenn nicht gleichzeitig erhebliche öffent- ten unter Konkurrenzdruck. Gleichzeitig veränder- liche Investitionen in Angriff genommen worden te sich die Gesellschaft, z. B. durch die Studenten- wären. Zu nennen ist die Verlegung der Hauptver- unruhen, Diskussionen über Frauenrechte, und kehrsstraßen in Tunnellage und die Verknüpfung natürlich auch die Friedens- und Umweltbewegung. der westlichen und östlichen Bahnsysteme im Nah- Die Entwicklungsbedingungen für Wirtschaft und wie im Fernverkehr. Damit wurde die City einerseits Gesellschaft wandelten sich schnell und brachten entlastet und andererseits besser erschlossen. Viele
Norden 16 Stadtwachstum und Stadtumbau in Oslo. 171 private Aufwertungs- und Neubaumaßnahmen wa- der Kvadratur-Keimzelle, der waterfront am Rat- ren die Folge, was man besonders deutlich an der hausplatz, dem Miljøpark am Akerselv und der Sa- Ausweitung und Differenzierung der Einzelhandels- nierung im Bereich Vaterland/Zentralbahnhof ge- und Bürostandorte sieht. Hier sind neue Zentren führt. Ungeachtet mancher Kritik und einigen Feh- und Passagen entstanden und unter dem Wettbe- lern, die bei einem so massiven Umbau nicht aus- werbsdruck ist auch die Qualität im Bereich Karl- bleiben, hat sich Oslo im letzten Vierteljahrhundert Johans-Gate wieder besser geworden. Weitere öf- äußerst attraktiv entwickelt. fentliche Maßnahmen haben zu einer Renaissance 3 Exkursionsroute 3.1 Teilabschnitt 1: Schwerpunkt Überblicke/ rechts ab. Eine Brücke über die Kongensgate führt Akershus Festung in die Festung Akershus, wo einige Museen (z. B. Wir beginnen die Exkursion auf der Ostseite der die Festung mit Renaissancesaal und das Wider- Akershus-Halbinsel beim Astrup Fearnley Museet, standsmuseum) auch den touristischen Besuch loh- um uns einen ersten räumlichen Überblick verschaf- nen. Wir beschränken uns aber auf einen Rund- fen. Der Blick geht nach Osten über die Bjørvika, gang durch die Anlage. Dazu wenden wir uns auf wo man am gegenüberliegenden Ekeberg die mar- dem Festungsgelände zunächst nach links, wo wir kante viertürmige ehemalige Seemannsschule dann auf den Bastionen ankommen und einen her- sieht. Etwas weiter links, an der Einmündung eines vorragenden Blick auf den Oslofjord haben. Die kleinen Flusses in die Björvika/Bispevika, lag das beeindruckende Lage Oslos am innersten Ende des mittelalterliche Oslo (Gamlebyen). Von unserem Fjordes wird hier besonders gut deutlich. Wir ge- Standpunkt ist dieser Platz nur wenige Kilometer hen nun weiter an der Außenseite der Festungs- entfernt. Da die Strandlinie vor 1000 Jahren etwa 5 gebäude entlang, einen Weg bergauf durch einen m höher als heute lag, waren der Weg von der Fes- Torbogen und kommen wieder in den Innenbereich. tung und die Bucht zum mittelalterlichen Oslo viel Wir halten uns links und kommen auf die nach Wes- weiter als heute. ten orientierten Bastionen. Hier verschaffen wir uns erneut einen umfangreicheren Lageüberblick. Die Bucht Bjørvika/Bispevika ist das „traditionelle“ Hafengebiet der Stadt Oslo. Die zentrumsnahen Die Bucht im Vordergrund heißt Pipervika. Das mar- Kaianlagen der Bjørvika dienen jedoch nicht länger kanteste Gebäude an der Bucht ist das zweitürmige als Frachtschiffhafen bzw. Warenumschlagplatz. Rathaus, mit dessen Bau der ganze Bereich der Hier prägen heute Fährschiffe und im Sommer auch ehemaligen Vorstadt und des Hafenquartiers Kreuzfahrtschiffe das Bild. Seit Jahren läuft in Oslo flächensaniert wurde. Hinter dem Rathaus erstreckt eine Hafendebatte, bei der es um die Frage geht, sich die heutige City von Oslo, die in etwa durch die ob sich der Hafen weiter aus den zentrumsnahen Raute Zentralbahnhof - Akershus Festning - Schloss - Bereichen zurückziehen soll, um die Flächen für ur- St. Olavs-Plass begrenzt wird. bane städtische Nutzungen zu gewinnen (vergleich- Weit oben am Berg erkennen wir die Holmenkollen- bar der Entwicklung auf Aker Brygge). Bereits in Skisprungschanze. Fast bis zu dieser Höhe er- den 80er Jahren wurden die links von uns liegen- streckt sich die Wohnbebauung von Oslo. Die Ent- den markanten Lagergebäude (erbaut 1916-20) in wicklung dieser höher gelegenen Gebiete - im Wes- Büros umgewandelt. Zu dieser Diskussion passt ten eher bürgerliche Villen, im Osten mehr Etagen- auch der Beschluss aus dem Jahre 1999, am in- wohnungsbau wurde ab Beginn des 20. Jahrhun- nersten Ende der Bjørvika in Bahnhofsnähe ein derts durch den Bau der Vorstadtbahnen ermög- neues Opernhaus zu bauen. Viele Fragen der Um- licht. Bis 1948 lagen diese Gebiete aber noch weit nutzung sind aber noch offen. vor der Stadt. Erst dann wurde die umgebende Unmittelbar vor unserem Standort fließt (oder steht) Landkommune Aker eingemeindet. Hinter einer Li- der Verkehr auf einer mehrspurigen Autobahn, die nie, die in etwa durch die Schanze angedeutet wird, rechter Hand in einen Tunnel führt. Dies ist die Ein- beginnt die Nordmarka, ein weitläufiges Wald- und fahrt zu einem zentralen Verkehrsbauwerk aus der Seengebiet, das heute vor allem der Naherholung Stadtumbauphase der 80er- und 90er-Jahre. Der dient. Eine planerisch festgelegte „Markagrenze“ Festungstunnel ist ein zentraler Teil des maut- trennt potenziellen Siedlungsraum vom Freiraum. finanzierten Straßenausbauprogramms, das den Konzentrieren wir uns zum Schluss wieder auf den Autoverkehr auf eine weitgehend in Tunnellage ge- Vordergrund. Auf der gegenüberliegenden Seite der führte Uferautobahn und drei Ringe konzentriert. Pipervika liegt Aker Brygge, der in den 80er-Jahren Wir gehen nun durch die Myntgata, biegen links in entstandene Büro-, Einkaufs-, Wohn- und Freizeit - die Kirkegata ein, gehen an Verwaltungsgebäuden komplex. Dort wird unsere Exkursion später enden. des „militärischen Teils“ von Akershus vorbei und Markant hebt sich bei Aker Brygge die ehemalige biegen dann über einen weitläufigen Platz nach Maschinenhalle von den umgebenden Neubauten ab.
172 J. Aring Norden 16 Abb. 2: Karte der Exkursion zum Stadtwachstum und Stadtumbau in Oslo Wir verlassen nun die Bastion und das Gelände Christiania im 17./18. Jahrhundert zeigt. Die Öff- der Festung Akershus über kleinere Wege in Rich- nungszeiten der „Scheune“ sind allerdings im Ver- tung Innenstadt und kommen auf die Rådhusgata, gleich zu vielen Museen ziemlich eingeschränkt. wo wir uns je nach gewähltem „Abstieg“ rechts oder links halten müssen, um zum Christiania Torv zu 3.2 Teilabschnitt 2: Schwerpunkt „Kvadratur“ kommen. Zur Vorbereitung der nächsten Etappe bietet es sich aber an, innerhalb der Festung Unmittelbar nördlich an die Festung Akershus Akershus das Høymagasinet aufzusuchen. Hier schließt die Stadtgründung des dänischen Königs kann ein Stadtmodell besichtigt werden, das Christian IV. an, die an ihrem regelmäßigen, schach-
Norden 16 Stadtwachstum und Stadtumbau in Oslo. 173 brettförmigen Grundriss im Stadtbild unschwer aus- einwärts. Wir kommen durch den Bereich der Kva- zumachen ist. Am heute Christiania Torv genann- dratur, der gegen Ende des 19 Jahrhunderts und ten Platz befand sich ein Zentrum der Stadt. Hier im 20. Jahrhundert fast durchgehend neu und da- war zunächst der Marktplatz (der dann 1736 zum mit viel höher bebaut wurde. So hat das Stadtquar- heutigen Stortorvet verlegt wurde), hier war ein öf- tier im Vergleich zur Gründungszeit einen baulich fentlicher Brunnen, hier befand sich der Pranger, viel dichteren Charakter bekommen. An vielen Ta- und am Platz stand eine Kirche und steht noch das gen des Jahres, wenn die Sonne niedrig steht und erste Rathaus (Nedre Slottsgate 1), an dessen Regen und Wind durch die schnurgeraden Straßen Wand die Jahreszahl 1641 festgehalten ist. Das pfeifen, macht das Quartier einen ziemlich unge- markanteste Gebäude des Platzes ist jedoch ein mütlichen Eindruck. Wohl auch deshalb ist es im zweigeschossiges Ziegelsteingebäude mit Giebel- Laufe der Jahre zu einer City-Randlage geworden. verzierungen aus dem Jahre 1626 (Rådhusgata 19). Erst durch die Entlastung vom Straßenverkehr dank Dieses Gebäude wird Garnisjonssykehuset ge- der Tunnelführung der E18 und der städtebaulichen nannt, weil es zwischenzeitlich als Militärkranken- Aufwertungsaktivitäten in den späten 80er- und haus diente. Mit seinen ein- und zweigeschossigen 90er-Jahren wurde das Gebiet wieder attraktiver. Gebäuden gibt Christiania Torv einen ganz passab- Im Bereich der Domkirke treffen wir auf die Karl- len Eindruck vom kleinstädtischen Charakter Oslos Johans-Gate, die hier ursprünglich anders hieß und im 17. Jahrhundert. Das moderne Oslo besann sich den nördlichen Rand der Kvadratur markiert. Bli- erst in der Stadtumbauphase der 80er- und 90er- cken wir nach rechts, die Straße hinunter, so sehen Jahre des 20. Jahrhunderts wieder auf den Bereich wir am Ende die Østbanehallen, das ehemalige der Kvadratur und den ersten Marktplatz. In den Bahnhofsgebäude für die östlichen Bahnen (erbaut Jahrzehnten zuvor war die Kvadratur eher zu ei- 1882). Zur Zeit der Stadtgründung konnte man bei nem düsteren Cityrandbereich geworden und der diesem Blick noch aufs Wasser der Bjørvika schau- Christiania Torv stark verkehrsbelastet. In den 90er- en. Wo heute der Bahnhof liegt, war früher Meer. Jahren wurde der Bereich saniert und als historisch Die Flächen wurden erst später aufgeschüttet. Öst- wertvoller Raum für die Stadt zurückgewonnen. Das lich der Kvadratur findet sich eine Straße mit dem Denkmal „Der Handschuh von Christian IV.“ wurde Namen Strandgate. Dieser Name hatte durchaus 1997 errichtet. Es erinnert an die Gründung Chris- einmal seine Berechtigung. Hier im innersten Be- tianias im Jahre 1624 und das persönliche Enga- reich der Björvika gingen die Handelsschiffe vor An- gement des Königs, dem der Satz „Hier soll die Stadt ker, die vor allem im Holzexport tätig waren. liegen“ zugeschrieben wird. Wir kreuzen nun die Karl-Johans-Gate und machen Wir folgen der Rådhusgata stadtauswärts und bie- einen Abstecher zur Domkirke und zum Stortor. gen an der Kongens Gate rechts ein. Hier passie- Trotz der Bestimmungen zum Brandschutz (Stein- ren wir ein Gebäude von 1640 (Kongens Gate 1), hauszwang und relativ breite, rechtwinklige Straßen) das später als Waisenhaus genutzt wurde. Nach war die Stadt im 17. Jahrhundert nicht vor Bränden wenigen Metern biegen wir links ein und queren den gefeit, aber sie waren nicht mehr ganz so verhee- Bankplassen, an dem wir das erste Gebäude der rend. Nach einem großen Stadtbrand 1686 wurde Norwegischen Staatsbank (Bankplassen 3, von beschlossen, die Kirche am Christiania Torv und 1828), den repräsentativen Erweiterungsbau einige weitere Gebäude unmittelbar vor den Fes- (Bankplassen 4, erbaut 1899-1906), und den mo- tungsmauern von Akershus nicht wieder aufzubau- dernen Neubau (eingeweiht 1986) finden. Norges en. Stattdessen zog man einem kleinen Bereich Bank hatte ursprünglich seinen Hauptsitz in Trond- nördlich der Stadtwälle in das Stadtgebiet ein und heim. Die ersten Gebäude in Oslo beherbergten nur verlagerte dorthin den Markt (Stortorvet) und die Filialen. Erst 1897 wurde der Hauptsitz nach Oslo Hauptkirche des seit dem frühen Mittelalter beste- verlegt. Am Bankplassen befindet sich auch das henden Osloer Bistums. 1697 wurde die neue traditionsreiche Engebret Café (gegründet 1857). Domkirke eingeweiht, die verglichen mit den gro- ßen Domen, Münstern und Stadtkirchen in Mittele- Wir gehen nun weiter um den modernen Block der uropa klein und unauffällig ist. In gewisser Weise Norwegischen Bank durch die Revierstredet und repräsentiert dieser Bau recht gut die bescheide- dann links in die Dronningens Gate, und kommen nen finanziellen Mittel, die in Norwegen zu Beginn so wieder auf die Rådhusgate, der wir wieder stadt- des 18. Jahrhunderts für öffentliche Bauprojekte zur einwärts folgen. Auf der nun rechten Straßenseite Verfügung standen. Vor dem Dom befindet sich der passieren wir zwei alte Hofkomplexe. Das rote Ge- Stortorv, der sowohl in seiner Funktion als Markt- bäude Garmannsgården (Rådhusgata 7) war der platz wie im Hinblick auf sein städtebauliches Er- Hofkomplex eines wohlhabenden Landkommissars, scheinungsbild absolut unspektakulär ist. Trotzdem der das Haus 1647 übernahm und umbaute. Spä- gehört ein Abstecher auf den Stortorv zum Kern- ter diente es auch als Rathaus. Ein weiteres inter- programm eines Rundgangs durch das historische essantes Objekt aus der Gründungszeit ist der Oslo, weil hier seit 1880 ein Denkmal des Stadt- Stattholdergården (Ecke Rådhusgata/Kirkegate). gründers steht, an dem Generationen von Schü- Über die Kirkegate gehen wir nun weiter stadt- lern lernen mussten, wer die Stadt auf welche Wei-
174 J. Aring Norden 16 se gegründet hat. Unmittelbar nördlich des Stortor- Vom Eingangsbereich des Stortinggebäudes schaut vet verläuft eine Straße mit Namen Grensen, denn man auf den Eidsvoll Plass, der nach dem Ort be- hier befand sich für lange Zeit die Stadtgrenze. Noch nannt ist, an dem 1814 das norwegische Grundge- um 1840 gab es nördlich des Marktplatzes nur eine setz erarbeitet wurde. Wir gehen an der Südseite Häuserreihe, und dahinter war man schon im Grü- des Platzes entlang und kommen über die Rosen- nen. krantz-Gate zurück zur Karl-Johans-Gate, der wir Wir kehren zurück auf die Karl-Johans-Gate, wen- weiter in Richtung Schloss folgen. Auf der rechten den uns nach rechts, und folgen der leicht aufwärts Seite liegen bürgerliche Wohnhäuser und Ge- führenden Straße. Am höchsten Punkt (Egertorget) schäftshäuser. Besondere Aufmerksamkeit verdient verändert die Straße geringfügig die Richtung und das Grandhotel, das im ausgehenden 19. Jahrhun- ganz extrem ihren Charakter. Hier kommen wir in dert ein wichtiger Treffplatz der norwegischen den Bereich der hauptstadtbedingten Stadterweite- Künstlerelite (u. a. Ibsen und Munch) war. In einem rung des 19. Jahrhunderts. großen Wandgemälde aus den 30er-Jahren wird an diese Historie erinnert. Beachtenswert in diesem Bereich der Karl-Johans-Gate ist auch das Ge- 3.3 Teilabschnitt 3: Schwerpunkt „Hauptstadt und Bürgerstadt“ schäftszentrum Paleet, das Ende der 80er-Jahre mit rekonstruierten Fassaden neu entstand. Wir Der Blick vom Egertorget nach Westen zählt zu den werden in einem späteren Teil der Exkursion hier beliebtesten Postkartenmotiven in Oslo. Mit der noch einmal vorbeikommen und den Bereich unter westlichen Karl-Johans-Gate haben wir die wich- dem Blickwinkel des jüngsten Stadtumbaus be- tigste stadtprägende Achse vor uns. Hier finden sich trachten. die Schlüsselgebäude der norwegischen Staatswer- Auf der gegenüberliegenden Seite der Prachtstraße dung im 19. Jahrhundert, das Parlament (Storting), setzt sich der Park des Eidvoll Plass fort. Die in den die erste Universität Norwegens, das Nationalthe- 50er-Jahren eingebauten Spiegelteiche werden ater, die Nationalgalerie (in einer Querstraße) und das Königsschloss. Den Rahmen für diese zentra- inzwischen im Winter als beleuchtete Eislaufflächen len Gebäude bilden repräsentative Bürger- und benutzt und dienen so der Belebung der Innenstadt. Geschäftshäuser sowie Parks. Die städtebauliche Mit der Roald-Amundsens-Gate/Universitetsgate Wirkung der Achse wird durch die Topographie kreuzen wir eine weitere interessante Blickachse, unterstrichen. Vom Egertorget verläuft die Karl- die durch den Bau des Rathauses entstand. Auf Johans-Gate zunächst abwärts, um dann wieder diese Achse und das Rathaus werden wir ebenfalls anzusteigen. So wird das die Achse abschließende später zurückkommen. Weiter geht es über die Karl- Schloss besonders hervorgehoben. Für die Wirkung Johans-Gate vorbei am Nationaltheather (eröffnet ist die Standortwahl bedeutender als die Architek- 1899), in dessen Fries die Namen der drei großen tur selbst. Aber nicht nur städtebaulich sondern auch Nationaldichter Björnson, Holberg und Ibsen vere- im Gebrauch ist die westliche Karl-Johans-Gate von wigt sind. Gegenüber liegt das im klassizistischen besonderer Bedeutung. Mit den rot-weiß-blauen Na- Stil 1841-1851 erbaute Hauptgebäude der Univer- tionalfahnen geschmückt dient sie als Paraderaum sität (erbaut 1841-1851). Die alten Universitäts- an nationalen Festtagen (wie dem Nationalfeiertag gebäude mit der später hinzugefügten Aula, die mit 17. Mai) oder bei Ehrungen (wie z. B. bei der Frie- einem großen Wandgemälde von Edvard Munch densnobelpreisverleihung im Dezember). ausgeschmückt wurden, dienen heute der juristi- Wir gehen nun weiter über die Karl-Johans-Gate schen Fakultät sowie Repräsentations- und Fest- zum Eingangsbereich des Parlamentsgebäudes zwecken. Eine neue heutige Universität wurde seit (Storting), das auf seiner Schauseite ebenfalls die den 30er-Jahren als Campus „Blindern“ einige Ki- Hanglage zur städtebaulichen Hervorhebung aus- lometer nördlich des Zentrums entwickelt. nutzt. Das mit gelbem Ziegelstein verblendete Ge- Nun biegen wir links ab und queren den Platz zwi- bäude wurde 1861-1866 erbaut. Zuvor hatte das schen der Rückseite des Theaters und dem Ein- Parlament kein eigenes Gebäude und musste als gang zur T-Bahn-Station „Nationalteatret“. Wir kreu- Gast an anderen Orten logieren, u. a. einige Jahre zen die Stortingsgata und halten uns rechts in Rich- im Festsaal der Universität. Angesichts des zentra- tung Drammensveien. Wir biegen in die zweite Stra- listischen Staatsaufbaus in Oslo hat das nationale ße links ein, den Ruseløkkveien. Nach wenigen Parlament einen entscheidenden Einfluss auf die Metern geht es rechts eine Treppe hoch, und man Investitionen und damit die Entwicklung in den Re- kommt auf den Platz des 7. Juni, der nach dem gionen. Damit der Blick für das Land und die Peri- Datum der Unionsauflösung mit Schweden (7. 6. pherie nicht verloren geht, sitzen die Abgeordneten 1905) benannt ist. Zurück über die Treppe schaut nicht nach Parteien gruppiert sondern nach Regio- man durch die Håkon-VII.-Gate, die im 20. Jahr- nen. Durch diese Sitzordnung sind die Regionen hundert im Kontext mit der Sanierung des Quar- im Parlament implizit mit vertreten. Überparteiliche tiers Pipervika und des Rathausbaus angelegt wur- regionale Gruppenbildungen sind bei Abstimmun- de. Dabei entstand eine neue Sichtachse zwischen gen mit regionalen Wirkungen durchaus üblich. dem Schloss und der Festung Akershus.
Norden 16 Stadtwachstum und Stadtumbau in Oslo. 175 Auf dem Platz des 7. Juni findet sich eine Statue lich, wenn nicht gar liebenswert. des Königs Håkon VII., des ersten norwegischen Am Schloss mit seinen Wachen geht es nun rechts Königs nach der Unionsauflösung mit Schweden. vorbei. Durch den Schlosspark kommt man zu den Da es nach der langen Phase der Abhängigkeit von bürgerlichen Wohnbereichen, die in der zweiten Dänemark und Schweden keinen norwegischen Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden. In Adel mehr gab, wurde ein dänischer Prinz auf den Uranienborg und Homansbyen finden wir eine viel- norwegischen Thron gerufen. Er nahm den Namen seitige Villenarchitektur, deren Attraktivität für Woh- Håkon VII. an, um die neue Nation in eine histori- nen oder Büronutzung hoch ist. Wir queren den sche Kontinuität zu stellen. Der Namensvorgänger Parkveien, gehen in die Riddervolds Gate und bie- Håkon VI. war der letzte König Norwegens im Mit- gen rechts in die Incognitogata ein. Am Ende bie- telalter und starb 1380. Obwohl der aus dem Aus- gen wir links in den Hegdehaugsveien ein und dann land stammende neue König Zeit seines Lebens wieder rechts in die Josefines Gate. Am Ende der kein richtiges Norwegisch sprach sondern Dänisch, Straße sehen wir das Bislett Stadion, das über Jahr- hat er enorm viel zur nationalen Identitätsbildung zehnte für Sommer- und Wintersportwettkämpfe beigetragen. Größtes Ansehen erwarb er sich im genutzt wurde. Seit 1988 ist das Stadion jedoch Zweiten Weltkrieg, als er im Gegensatz zum da- außer Betrieb. Vor dem Stadion wenden wir uns maligen dänischen König sich nicht den deutschen rechts auf die Pilestredet und gehen wieder stadt- Besatzern unterwarf, sondern nach England ins Exil einwärts. flüchtete und dort zum Symbol eines freien Norwe- gens wurde. Das Denkmal auf dem Platz erinnert 3.4 Teilabschnitt 4: Schwerpunkt „Wohl- an die Rückkehr des Königs 1945 ins befreite Nor- fahrtsstaat und Fordismus nach 1950“ wegen. Die Statue bildet den König in der Haltung ab, in der er vorn auf dem Schiff stehend in den Wir kommen nun in einen City-Randbereich, der Hafen von Oslo einlief und dort mit Begeisterung wesentlich im 19. Jahrhundert bebaut, aber in der empfangen wurde. zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend ergänzt und überformt wurde. Hier stehen viele grö- Wir queren nun den Drammensveien, gehen durch ßere Gebäude, in denen sich der Wohlfahrtstaat den Park zurück zur Zentralachse und wenden uns und die Führungsebene der fordistischen Industrie- dem Schloss zu. Auf der Anhöhe mit Blick auf die gesellschaft manifestiert haben. Man stößt beim Stadt findet sich das Reiterstandbild des Unions- Rundgang auf Regierungsstellen, leitende und königs Karl-Johan, auf dessen Wunsch oder An- nachgeordnete Behörden, Verwaltungen von weisung es überhaupt zu einem Schlossbau in Oslo Staatsbetrieben, öffentliche Wohnungsbauge- kam und der auch entscheidend Einfluss auf den sellschaften, Interessenverbände und einige gro- Standort nahm. Das Schloss wurde in den Jahren ße Hotels. Angesichts des Erscheinungsbildes vie- 1825-1848 im Empirestil erbaut. Aus Geldmangel ler Gebäude könnte man diesen City-Randbereich zog sich der Bau lange hin und fiel letztlich deutlich auch als „Betonring“ bezeichnen. kleiner aus als ursprünglich geplant. Der erste Kö- nig, der das Schloss nutzte, war der Unionskönig Dabei ist der Begriff „Ring“ allerdings etwas irre- Oscar I., Nachfolger von König Karl-Johan. Dauer- führend, weil man dabei an eine große Erschlies- hafter Wohnsitz des Königs wurde das Schloss erst sungsstraße denkt. Einen solchen nördlichen City- nach der Unionsauflösung 1905. Wie die Karl- Rand-Ring hat es in Oslo bis in die jüngste Vergan- Johans-Gate hat auch das Schloss eine besonde- genheit nicht gegeben, weil es keine zu schleifen- re symbolische Bedeutung. Vom Balkon des Schlos- den Befestigungsanlagen gab. Vielmehr ist die Stadt ses beobachtet die Königsfamilie jedes Jahr den vom Zentrum aus tortenstückartig entwickelt wor- Festumzug zum 17. Mai. Vor dem Schloss zeigten den und die Querverbindungen zwischen den Quar- die Norweger 1991 ihre Trauer nach dem Tod von tieren sind eher zufälliger und nachgeordneter Na- König Olav V., indem sie tausende Kerzen und Blu- tur. Erst mit den Straßenausbaumaßnahmen um men im Schnee des Schlossplatzes aufstellten. 1990 entstand mit den Henrik-Ibsen-Ring (= Ring 1) Damals waren sie über sich selbst erstaunt ob ih- ein nördlicher Innenstadtring, der allerdings zu gro- res „katholischen Verhaltens“ im nüchternen nordi- ßen Teilen in Tunneln geführt wird. Insgesamt macht schen Staatsprotestantismus. Auf dem Balkon zeig- der nördliche City-Randbereich mit seiner funktio- te sich nach der Beerdigung auch der neue König nalen Mischung aus Verwaltung, einfachem Woh- Harald und Tausende sangen spontan die Natio- nen und neuen Verkehrsbauwerken einen ausge- nalhymne „Ja, vi elsker dette landet“ („Ja, wir lie- sprochen unstrukturierten und oft unwirtlichen Ein- ben dieses Land“). Wie Deutschland und Italien zählt druck. Obwohl unmittelbar an die Laufmeilen der Norwegen zu den verspäteten Nationen des 19. Touristen angrenzend, verirrt sich hierhin nur sel- Jahrhunderts. Angesichts seiner geringen Größe ten ein Besucher. musste es aber weniger aggressive Formen finden, Wir folgen der Pilestredet stadteinwärts und treffen um sein Bedürfnis nach Nationalismus zu befriedi- nach kurzer Strecke links auf den Neubaukomplex gen. Das macht den norwegischen Nationalismus „Högskolen i Oslo“. Dabei handelt es sich um eine und die Selbstzufriedenheit der Norweger erträg- Fachhochschule mit berufsorientierten Studiengän-
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