STANDPUNKT ARBEITER*INNEN

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STANDPUNKT ARBEITER*INNEN
ARBEITER*INNEN
                             STANdPuNKT
                             füR REVOLuTION, RÄTEdEmOKRATIE uNd SOZIALISmuS
Arbeiter*innenstandpunkt | Österreichische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale | Nr. 285 | Sept. 2021 | € 1,50

    Lobau:
    Die Bewegung gegen die Lo-
    bau-Autobahn geht in die hei-
    ße Phase, was brauchen wir um
    zu gewinnen?              S.5

    Afghanistan:
    Was bedeutet der Sieg der Tali-
    ban? Die Regierung tut sich als
    reaktionärste Kraft gegen Ge-
    flüchtete hervor.     S. 6 & 7

    Deutsche Linkspartei:
    Wie steht die Linkspartei vor
    den Wahlen Ende September
    da und was können wir uns von
    ihr erhoffen?            S. 9

                                 NACH dER KRISE
                                IST VOR dER KRISE
                     POLITISCHE LAgE IN ÖSTERREICH

                      www.arbeiterinnenstandpunkt.net
STANDPUNKT ARBEITER*INNEN
2                                  Inhalt & Editorial

               INHALTSVERZEICHNIS                           LIEBE LESER*INNEN!

    ÖSTERREICH                                              Der Sommer neigt sich dem Ende
                                                            und so nimmt gewohnter Weise auch
                                                            der hierzulandige Klassenkampf wie-
    Politisch-ökonomische Lage			                       3   der an Fahrt auf. Wie es darum steht
    Nach der Krise ist vor der Krise                        analysieren wir in dieser Ausgabe in
                                                            einem Artikel zur politisch-ökono-
                                                            mischen Lage. An dieser Stelle nur so
    Lobau-Autobahn			                    		             5   viel: Trotz einer gewissen wirtschaft-
    Auf, auf zum Kampf!                                     lichen Erholung ist die kapitalistische
                                                            Dynamik von Instabilitäten geprägt,
    Rassismus gegen Afghan*innen           		           6   nicht zuletzt auch durch die keines-
                                                            wegs schon überstandene Pandemie.
    Sichere Fluchtrouten Jetzt!
                                                            Wie instabil die kapitalistische Welt-
    INTERNATIONAL                                           ordnung insgesamt ist, zeigt sich
                                                            derzeit in der politischen Sphäre am
                                                            Beispiel Afghanistan. Deshalb ver-
    Afghanistan						                                   7   öffentlichen wir hierzu gleich zwei
                                                            Artikel. Österreich nimmt in der Dis-
    Sieg der Taliban und seine internationale Bedeutung     kussion um Abschiebungen ja noch
                                                            dazu die reaktionäre Speerspitze ein.
    Linkspartei vor der Wahl			                         9   Deswegen haben wir auch schon
    Aufbruch sieht anders aus                               mehrere Demonstrationen und Akti-
                                                            onen erlebt, in denen die Aufnahme
                                                            der Geflüchteten gefordert wird.
    Peru						                                       12
    Ein Muster für einen neuen Putschversuch von rechts?    Eine nicht geringe Bedeutung ha-
                                                            ben derzeit die Proteste gegen den
                                                            Lobau-Tunnel und die sogenannte
                                                            Stadtstraße in Wien. Ende August
                                                            haben erste Besetzungsaktionen be-
                                                            gonnen. Hier sieht man das radikale
                                                            Potential der Umweltbewegung, dem
                                                            allerdings noch ein klares antikapita-
                                                            listisches Programm und eine Strate-
                                                            gie im Bündnis mit der Arbeiter*in-
                                                            nennklasse fehlt. Abgerundet wird
                                                            diese Zeitung mit einem Artikel zu
                                                            den Wahlen in Peru, der eine durch-
                                                            aus spannende Entwicklung in La-
                                                            teinamerika diskutiert.

                                                            Allen Teilnehmenden in Wien wün-
                                                            schen wir wie immer auch ein wun-
                                                            derschönes Volksstimmefest!
STANDPUNKT ARBEITER*INNEN
Österreich                                                                  3

Politisch-ökonomische Lage

Nach der Krise
ist vor der Krise
            Michael Märzen                    der Tiefe des Einbruchs, gerade auch be-      licher Faktor dafür ist der immer noch
                                              dingt durch Schließung von Wirtschafts-       stark von der Krise betroffene Touris-
In den letzten Monaten konnten wir ein        sektoren bei gleichzeitiger Rettung der       mus, welcher im Winter beinahe einen
positives Wirtschaftswachstum der wich-       meisten Unternehmen, fällt die Erholung       Totalausfall erlitt. Lockerungen über
tigsten Volkswirtschaften sowie der Welt-     mit einem kräftigen Wachstum aus. Al-         den Sommer brachten zwar eine Erho-
wirtschaft insgesamt beobachten. Gleich-      lerdings: War der Einbruch synchron, so       lung, aber nachdem viele Beschäftigte im
zeitig und damit zusammenhängend einen        ist es der Aufschwung keineswegs. Was         Tourismus entlassen worden waren, sah
kontrollierteren und vermeintlich harm-       wir beobachten ist ein Wachstum der           sich die Branche nun mit einem akuten
loseren Verlauf der Pandemie, verbunden       entwickelten, imperialistischen Länder,       Personalmangel konfrontiert. Wovon die
mit Impffortschritten und saisonalem Ef-      vor allem in den USA (+6,6 %) und in          österreichische Wirtschaft derzeit mehr
fekt. Es wirkt beinahe so als wäre die Kri-   Asien (ohne Japan +7,9 %). Auch die Eu-       profitiert, ist eine rasche Erholung von
se vorbei oder zumindest das Schlimmste       ropäische Union erholt sich, wenn auch        Güterexporten (+7,1 %) aufgrund der po-
überstanden.                                  nicht ganz so gut (im Euroraum +4,6 %).       sitiven internationalen Entwicklung. Die-
                                              In den weniger entwickelten, abhängigen       se erlitten im vergangenen Jahr mit 10,9
Doch schon verdüstert sich der Horizont       Ländern verläuft das Wachstum weit-           % einen drastischen Einbruch aufgrund
von neuem. Die vierte Welle der Pan-          aus schwächer, die Erholung langsamer.        von Corona-Eindämmungsmaßnahmen
demie türmt sich auf, mit unbekannten         Während die fortgeschrittenen Länder          und Unterbrechungen in internationa-
Auswirkungen. Die Niederlage der USA          laut Prognose schon im dritten Quartal        len Lieferketten. Bis zum Jahresende er-
in Afghanistan reißt ein tiefes Loch in       2021 ihr Vorkrisenniveau überschrei-          reichten sie allerdings schon wieder das
die imperialistische Weltordnung. Hit-        ten sollen, verbleiben die sogenannten        Vorkrisenniveau. Auch die Industrie-
zewellen, Waldbrände, Überflutungen           Schwellenländer mittelfristig unter die-      auslastung stieg bis zur Jahresmitte 2021
und Wirbelstürme weisen apokalyptisch         sem Niveau. Das wird die internationale       wieder schnell an und liegt mittlerweile
auf die sich entfaltende Klimakatastro-       Ungleichheit weiter vergrößern und die        über dem langjährigen Durchschnitt.
phe. Und in Österreich? Auch hier ist         Abhängigkeit der neokolonialen Welt           Die Industrieunternehmen klagen jedoch
man längst nicht mehr verschont von           (z.B. die stark von der Krise betroffenen     weiterhin über Vormaterialengpässe. Die
den Übeln des Kapitalismus. Wie über-         Länder Lateinamerikas) verstärken. Die        Industriekonjunktur erfährt nach einem
all sonst auch stellt sich die Frage nach     Ungleichzeitigkeit bedeutet auch eine ge-     Einbruch von 4,8 % der Bruttoanlagein-
der vor sich gehenden politischen und         nerelle Vulnerabilität des Aufschwungs,       vestitionen im letzten Jahr wieder einen
ökonomischen Dynamik, welche das              noch dazu angesichts der weiterhin gras-      Anstieg um 4,7 %, besonders getrieben
Kräfteverhältnis zwischen den Klassen         sierenden Pandemie. Das veranschau-           durch nachzuholende und notwendige
entscheidend beeinflusst und maßgebend        lichen sowohl die Lieferengpässe in der       längerfristige Investitionen, soll sich aber
für die Perspektiven aller fortschrittli-     Halbleiter-Industrie als auch die vor         in den folgenden Jahren wieder abkühlen.
chen Kräfte sein muss.                        kurzem erfolgte teilweise Schließung des
                                              drittgrößten Hafens der Welt in China                        Vierte Welle
      Zustand der Weltwirtschaft              aufgrund einer Infektion. Generell soll-
                                              ten wir keine längerfristige, nachhaltige     Die anhaltende Corona-Pandemie stellt
Die Weltwirtschaft erlebt derzeit ein star-   Dynamik der kapitalistischen Ökonomi-         natürlich weiterhin ein Risiko für die
kes Wirtschaftswachstum, was natürlich        en erwarten. Eine solche kann nur auf         ökonomische Entwicklung dar. Aktuell
positive Auswirkungen auf das Wachs-          einer gesteigerten Profitabilität basieren.   rast Österreich ungebremst auf die vierte
tum in Österreich hat. In diesem Jahr         Aber die Profitraten sind weiterhin nied-     Welle zu. Seit Ende Juli hat sich die 7-Ta-
soll es global 6,0 % betragen (Gesamt-        rig und das unprofitable Kapital wurde        ge-Inzidenz innerhalb eines Monats ver-
wirtschaftliche Prognose der OeNB für         vor seiner Vernichtung bewahrt während        dreifacht und liegt nun Ende August bei
Österreich 2021 bis 2023). Das ist keines-    die Verschuldung noch weiter gestiegen        rund 103 pro 100.000 Einwohner*innen.
wegs verwunderlich. In der „Corona-Kri-       ist (siehe Michael Roberts: Some notes on     Das sind beinahe 19.000 aktive Fälle. In
se“ konnten wir einen beispiellosen in-       the world economy now).                       der ersten Corona-Welle gab es am Hö-
ternationalen Einbruch der Wirtschaft                                                       hepunkt nicht einmal 10.000 aktive Fälle.
erleben, der nicht nur tief sondern auch             Konjunktur in Österreich               Allerdings liegen die Hospitalisierungen
synchron verlief. Die Eindämmungsmaß-                                                       sowie Intensivfälle noch deutlich unter
nahmen und Lockdows trugen wesent-            Im Vergleich zum Euroraum verläuft die        den damaligen Werten. Das zeigt einer-
lich dazu bei. Auf die Rezession folgt nun    Erholung in Österreich noch ein Stück         seits die Wirksamkeit der Schutzimp-
die Erholung und vor dem Hintergrund          weit schwächer (+3,9 %). Ein wesent-          fungen, was man auch am Verhältnis der
STANDPUNKT ARBEITER*INNEN
4                                                        Österreich

Geimpften zu Ungeimpften in den Kran-        tin Kocher eine Arbeitsmarktreform an-         chen Kontext thematisieren, welcher die
kenhäusern sehen kann (andererseits die      zugehen: „Wenn wir sehen, dass sich der        bürgerliche Kleinfamilie, die darin beste-
Tatsache, dass in der ersten Welle das       Arbeitsmarkt weitgehend normalisiert           henden Abhängigkeiten und die Vertei-
Testwesen deutlich unterentwickelt war).     hat, werden wir im Herbst die Diskussion       lung von Reproduktionsarbeit selbst in
Geschätzt liegt die Immunisierung in der     starten.“ Für Arbeitslose lässt das nichts     den Blick nimmt. Anlässe dafür gibt es
Bevölkerung durch Impfung und über-          Gutes erhoffen. Unlängst hatte schon der       genug, zum Beispiel die jüngste Aussage
standene Erkrankung bei maximal 70 %.        ÖVP-Wirtschaftsbund gefordert, das Ar-         des Bundeskanzlers in einem Sommerge-
Laut allen Expert*innen ist das zu wenig     beitslosengeld auf 40 % des letzten Ge-        spräch, dass seine bevorstehende Vater-
und der Impffortschritt mittlerweile zu      halts zu kürzen – mit dem Lockvorschlag,       schaft nichts an seinem Arbeitspensum
langsam. Noch dazu zeigt das Beispiel        den Betrag anfangs auf 70 % zu erhöhen         ändern werde, er aber helfen würde so-
Israel, dass auch schon Geimpfte in gro-     aber über die Bezugszeit zu verringern.        weit es möglich sei.
ßem Ausmaß erkranken können, weil            Ein solches degressives Modell hätte auch
der Impfschutz mit der Zeit nachlässt.       der Arbeitsminister gerne. Zusätzlich          Zusätzlich gibt es brisante politische
Das alles könnte das Gesundheitssystem       meldete sich nun AMS-Chef Johannes             Auseinandersetzungen, welche die Wi-
wieder an die Belastungsgrenzen bringen      Kopf vorpreschend zu Wort und warf das         dersprüche in der türkis-grünen Koali-
und einen erneuten (Teil-)Lockdown be-       Verbot oder die Einschränkung der Zu-          tion zuspitzen (dazu wird auch die Ar-
deuten. Daher versucht die Politik nun       verdienstmöglichkeit in die Diskussion.        beitsmarktreform zählen). Zum einen ist
die Anreize zum Impfen zu erhöhen. So        Diese erlaubt es Arbeitslosen bis zu 475       das die Weigerung der ÖVP, selbst nach
schränkt die Stadt Wien die zeitliche Gül-   Euro dazu zu verdienen. Das solle vor          der Machtübernahme durch die Tali-
tigkeit von Corona-Zutrittstests ein und     allem Langzeitarbeitslose wieder in Be-        ban, Menschen aus Afghanistan Asyl zu
die Tendenz geht immer weiter in Rich-       schäftigung bringen weil vor allem nied-       gewähren. Österreich bildet damit die
tung 1G-Regel. Es scheint allerdings so,     rig entlohnte Branchen kein Personal           reaktionäre Speerspitze in Europa, ge-
als ob die Politik rechtzeitige und sinn-    fänden. Anstatt also über höhere Löhne         stützt von den Grünen. Zum anderen
volle Maßnahmen zur Eindämmung mal           nachzudenken, soll der Druck auf Ar-           ist da die Auseinandersetzung um neue
wieder verschlafen hat.                      beitslose so erhöht werden, dass sie auch      größere Straßenbauprojekte wie die Lo-
                                             schlecht bezahlte Jobs annehmen müssen         bau-Autobahn in Wien oder die S34 in
          Krisenbewältigung                  oder trotzdem arbeitslos bleiben, weil es      Vorarlberg. In beiden Fällen gibt es schon
                                             ohnehin nicht genügend offene Stellen          Proteste, bemerkenswerter Weise auch
Die Corona-Krise hat ein riesiges Loch in    gibt. Das würde viele Menschen in die          von Bäuer*innen am eben stattgefun-
den Staatshaushalt gerissen. Im vergan-      Armut treiben und durch die Ausweitung         denen ÖVP-Parteitag. Die ÖVP möchte
genen Jahr lag das Defizit bei 8,9 % der     prekärer Beschäftigung die Kampfkraft          die Projekte durchsetzen, während das
Wirtschaftsleistung, dieses Jahr soll es     der Arbeitenden schwächen.                     für die Grünen eine ernsthafte politische
noch 6,9 % betragen. Das Maastricht-Kri-                                                    Niederlage wäre. Das größere Thema Kli-
terium, welches höchstens 3 % Budgetde-      Ein weiterer Brennpunkt könnten die            makrise war nicht nur diesen Sommer
fizit vorsieht, sollte laut Budgetplanung    Kollektivvertragsverhandlungen           im    erfahrbar, die Auseinandersetzungen
im letzten Herbst erst 2023 wieder un-       Herbst sein. Die Inflation ist zuletzt deut-   darum werden vor dem Hintergrund
terschritten werden. Mit dem Auslau-         lich angestiegen, im Juni auf 2,8 % und        der Erfüllung gesteckter Klimaziele in
fen von Corona-Hilfsmaßnahmen sollte         um Juli auf 2,9 %. Die Hauptpreistreiber       den kommenden Jahren an Schärfe zu-
auch das Budgetdefizit zurückgehen. Ob       sind Verkehr (8,1 %) und Wohnen (v.a.          nehmen. Die Aufgabe von Antikapita-
das tatsächlich im erhofften Ausmaß          Haushaltsenergiepreise 7,1 %). Der Mi-         list*innen sollte daher sein, die Klimabe-
passiert, ist aufgrund der vierten Welle     niwarenkorb, der einen wöchentlichen           wegung auf die Arbeiter*innenklasse zu
mehr als fraglich. Was der Konsolidie-       Einkauf repräsentiert, verteuerte sich im      orientieren und in der (verbürgerlichten)
rung des Staatshaushalts zugute kommt        Jahresabstand um 6,1 %. Die Gewerk-            Arbeiter*innenbewegung (insbesonde-
sind die geringfügig negativen Zinssätze.    schaften werden also mit höheren For-          re den Gewerkschaften) einen Kampf
Die Schuldenquote soll dieses Jahr den       derungen als in den vergangen Jahren in        für eine radikale Umweltpolitik zu füh-
Höhepunkt von 85,1 % des BIP erreichen       Lohnverhandlungen gehen müssen, wäh-           ren. Für diesen Kampf benötigen wir
und danach wieder rückläufig sein. Ein       rend die Kapitalvertreter*innen mit Ver-       einen klares Programm, eine Partei und
großes Sparpaket hat die Regierung noch      weis auf die prekäre ökonomische Lage          starke Allianzen!
nicht in Aussicht gestellt, je nach weite-   blockieren werden. Sprich die Kapita-
rer Konjunkturentwicklung wird sie sich      list*innen werden noch mehr als immer
womöglich auch davor hüten müssen.           versuchen den Aufschwung auf Kosten
Mittelfristig wird sie zumindest inner-      der Arbeiter*innen zu finanzieren.
halb der bürgerlichen Logik nicht ohne
gewisse      Konsolidierungsmaßnahmen        Fortschrittliches Potential besteht auch
auskommen, insbesondere wenn sich der        durch die in der Öffentlichkeit gesteiger-
Wirtschaftsaufschwung in den Folgejah-       te Sensibilität für Gewalt gegen Frauen,
ren verlangsamt.                             die sich in der gehäuften Berichterstat-
                                             tung über Femizide darstellt. Die Regie-
        Politische Brennpunkte               rung hatte dazu ein Maßnahmenpaket
                                             vorgestellt, welches vor allem polizeiliche
Der Glaube an die überstandene Krise         Ansätze enthält. Das Problem ließe sich
beflügelt auch den Arbeitsminister Mar-      aber in einem breiteren gesellschaftli-
STANDPUNKT ARBEITER*INNEN
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                                                        Leitartikel
                                                        Österreich

Lobau-Autobahn

Auf, auf
zum Kampf!
            Aventina Holzer                  bauen (eines der wenigen leicht zugängli-   für braucht es mehr als Investitionen der
                                             chen von Wien aus) ist einfach eine öko-    Stadt Wien. Wir brauchen eine starke Be-
Die Proteste rund um die Bauprojekte der     logische Katastrophe. Mit dem Problem       steuerung der Klimakiller wie OMV und
Lobau-Autobahn und der Stadtstraße As-       des zunehmenden Verkehrs kommt da-          Co. und einen Ausbau von öffentlichem
pern nehmen an Fahrt auf. So wie versucht    bei ja auch noch die Frage rund um die      Nah- und Fernverkehr mit diesem Geld
wird trotz der Begutachtung durch Vorar-     Verkehrsemmissionen und Befeuerung          als Teil einer klaren Stadtplanung.
beiten Tatsachen zu schaffen, wird eben      des Treibhauseffekts dazu. Probleme wie
auch mit den Gegenprotesten versucht,        Bodenversiegelung, Grundwasserabsen-                      Perspektive
endlich eine reale Basis für die Verhinde-   kung durch Bauarbeiten, Trinkwasser-
rung dieser Monsterprojekte zu erarbeiten.   versorgungsprobleme, Feinstaubbelas-        Es gibt schon lange Aktivist*innen, die
Was ist die Perspektive der Bewegung und     tung, Schädigung der Biodiversität und      sich gegen die Lobau-Autobahn einset-
wie können wir weiterkommen?                 viele mehr bedrohen die geschützte Natur    zen. Momentan werden auch immer
                                             enorm.                                      mehr linke Gruppen darauf aufmerksam
Umweltpolitik wird von keiner der öster-                                                 und es hat sich eine gewisse Bewegung
reichischen Großparteien großgeschrie-                       Fragen                      gebildet, die sich mit radikalen Aktionen
ben. Der letzte Beweis dafür ist eben die                                                dem Bauprojekt entgegenstellt. Zuletzt
aktuelle Debatte rund um den Bau des         Das sind natürlich die dringlichsten Pro-   das Klimacamp gegen Bau der Lobau Au-
Lobau-Tunnels und der Stadtstraße As-        bleme, die sich in der Frage des Lobau      tobahn mit Aktivist*innen von Fridays
pern. Ein Projekt, stark vorangetrieben      Tunnels präsentieren. Aber zugrundelie-     for Future, System Change, Extinction
durch die SPÖ, wurde es auch nicht durch     gend sind zwei andere sehr schwerwie-       Rebellion, dem Jugendrat, LINKS und
die ehemalige Beteiligung der Grünen an      gende Fragestellungen: Erstens, wie soll    einigen mehr. Auch wenn die Bewegung
der Stadtregierung verhindert. Aber wo       nachhaltiger Verkehr und Stadtplanung       radikal ist und tendenziell breiter wird,
genau liegt das Problem?                     aussehen? Und zweitens, wie können          fehlt es an politischer und strategischer
                                             diese Alternativen umgesetzt werden         Klarheit und Einigkeit, aber auch an ei-
              Argumente                      ohne auf Kosten der Arbeiter*innen zu       ner konkreten Verbindung mit der Arbei-
                                             gehen?                                      ter*innenbewegung. Die Sozialdemokra-
Jedes große Autobahnprojekt bringt eini-                                                 tie und damit auch die Gewerkschaften
ge umwelttechnische Probleme mit sich.       Zu ersterem: Der Bau der gesamten Um-       haben wenig Interesse an dieser ganzen
Zum einen ist es mittlerweile recht gut      fahrung inklusive Lobautunnel kostet 1,9    Fragestellung, sie pochen noch auf den
nachgewiesen, dass zusätzliche Straßen       Milliarden Euro für 19 Kilometer (8,3       Bau der Lobau-Autobahn mit faden-
nicht zu einer Entlastung des Verkehrs       davon Tunnel). Das ist eine Menge Geld      scheinigen Argumenten. Es ist aber un-
führen, was jedoch immer noch oft als        das um einiges effizienter in den Bau von   erlässlich sie in diese Bewegung hinein-
Argument vorgebracht wird. Anstatt           öffentlichen Anbindungen in und nach        zuziehen um daraus auch tatsächlich eine
mehr Platz zu haben für die Pendler*in-      Wien gesteckt werden könnte. . Eigentlich   Massenbewegung machen zu können, die
nen und den Warenverkehr der unbe-           bräuchte es aber einen Plan zur stärkeren   mit ökonomischer Macht Druck ausübt
dingt über diese Strecke verlaufen muss,     Auflösung der Gegensätze von Stadt und      und neben radikalen Aktionen auch eine
wird mehr Verkehr angezogen und das          Land und eine bessere Verteilung von        Verankerung in der Bevölkerung hat.
Problem stellt sich wieder von neuem.        Arbeitsplätzen und Anbindungen und
                                             nicht die Zersiedelung mit Pendelverkehr    Linke Kräfte müssen sich aktiv und so
Die Entscheidung für den Bau des Lobau-      über Autobahnen. Die zweite Frage ist       gut es geht bei diesen Protesten einbrin-
tunnels wurde bereits vor einigen Jahren     ein bisschen schwieriger zu beantworten,    gen und versuchen gemeinsam mit den
festgelegt. Die wachsende Donaustadt         nicht unbedingt, weil die Finanzierung      Aktivist*innen der Umweltbewegung
und Floridsdorf wurden und werden            unklar ist, sondern weil die Gesetzgebun-   Vorschläge und Alternativen ausarbeiten.
dabei als Hauptgründe genannt. Der Be-       gen in der Vergangenheit, die unter dem     Letztlich werden wir das Steinzeitprojekt
völkerungszuwachs dort würde eben zu         Deckmantel des Klimaschutzes durchge-       Lobau-Autobahn nur doch massenhafte
einem Verkehrschaos führen, das ohne         führt wurden, nur zu oft zu Verschlech-     Besetzungen und ökonomischem sowie
den Bau des Lobau-Tunnels nicht kont-        terungen und Abwälzen der Kosten auf        politischem Druck aufhalten.
rollierbar wäre – so die SPÖ Wien. Der       die Arbeiter*innen geführt hat. Es müs-
erste Teil mag durchaus stimmen, aber        sen Alternativen umgesetzt werden, die
als „alternativlose“ Lösung dann einen       nicht nur klimafreundlich sind, sondern
Tunnel durch ein Naturschutzgebiet zu        auch den Menschen zugutekommen. Da-
STANDPUNKT ARBEITER*INNEN
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Rassismus gegen Afghan*innen

Sichere Fluchtrouten
jetzt!
                Alex Zora                     also solche die die Besatzung des Landes      denen afghanische Geflüchtete aufge-
                                              aktiv unterstützt haben, Asyl bekommen        fangen werden sollen. Garniert wird das
Nach dem militärischen und politischen        sollen, während der Rest schauen soll wo      Ganze mit der alten Leier von einer „Hilfe
Debakel der US-geführten Militärallianz       er bleibt.                                    vor Ort“, die es nie gab und auch mit die-
in Afghanistan und dem Abzug der im-                                                        ser Regierung nie geben wird.
perialistischen Besatzungstruppen konn-       In der EU ist das Thema Asyl und Flucht       Darüber hinaus möchte die Bundesre-
ten die reaktionär-islamistischen Taliban     seit einigen Jahren immer härter um-          gierung auch weiter Afghan*innen ab-
in den letzten Wochen und Monaten im          kämpft. Quer durch die politische Rechte,     schieben können. Das geht zwar derzeit
rasanten Tempo nahezu das gesamte             bis tief in die Mitte hinein, wird beschwo-   nicht, einerseits wegen der Europäischen
Land übernehmen. Nach der kampflosen          ren, dass sich „2015 nicht wiederholen        Menschenrechtskonvention, aber was für
Übernahme der Hauptstadt Kabul gingen         darf “. Und für die politischen Eliten ist    Nehammer und Co. vermutlich deutlich
dramatische Bilder von tausenden Afg-         das auch nicht verwunderlich, durchbra-       wichtiger ist, weil es derzeit keine Mög-
han*innen, die versuchten Richtung Flug-      chen damals tausende geflüchtete Men-         lichkeit der Überstellung nach Afghanis-
hafen zu fliehen, durch die internationalen   schen kurzzeitig das Grenzregime und          tan gibt. Grundsätzlich ausschließen will
Medien.                                       die rassistische Ordnung Europas. Dazu        der Innenminister auch Abschiebungen
                                              kam gleichzeitig eine breite Welle der So-    nicht, solange die Taliban an der Macht
Die westlichen Militärmissionen im Land       lidarität der Menschen in Europa mit den      sind. Unmittelbar möchte man stattdes-
legten dabei den klaren Fokus auf die         Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und       sen Afghan*innen in Nachbarländer ab-
Evakuierung der eigenen Streitkräfte, di-     Elend flohen. Grund genug für die Herr-       schieben.
plomatischen Mitarbeiter*innen und der        schenden das als Gefahr für ihre „Ord-
wenigen verbliebenen Geschäftsleute im        nung“ zu sehen.                                    Parteien der Menschenrechte?
Land. Das führte teilweise zu den abstru-     Besonders tut sich hier der französi-
sen Situationen, dass Flugzeuge teilweise     sche Präsident Macron hervor. Wäh-            Von den Grünen, die ja wie oft schwer er-
nur halb befüllt die Abreise antraten und     rend tausende verzweifelte Menschen           kennbar, auch in der Regierung sitzen, ist
damit zeigten, wie wenig den imperia-         am Kabuler Flughafen auf eine mögliche        zurzeit wenig zu hören. Zwar gibt es ein-
listischen Mächten das Leben der Afg-         Ausreise hofften, argumentierte er, dass      zelne Appelle von grünen Politiker*innen
han*innen offenbar wert ist. Nach dem         sich Frankreich vor „Wellen von Migran-       für mehr „notwendige Menschlichkeit“
blutigen Anschlag am Kabuler Flughafen,       ten“ schützen müsse. Deutschland geht         (Kogler), aber reale Auswirkungen auf die
mutmaßlich durchgeführt durch den Is-         eher den US-amerikanischen Weg und            Politik der Regierung hat das nicht. Wie
lamischen Staat, bei dem mehr als 185         möchte Menschen aufnehmen, die „sich          so oft in der Vergangenheit sind die Grü-
Menschen ihr Leben verloren, sind für         für Deutschland engagiert“ haben (La-         nen in der Regierung Steigbügelhalter*in-
die meisten Länder ihre Evakuierungs-         schet) oder „in den letzten Jahren die        nen der türkisen Politik. Die SPÖ ist hier
programme erst mal beendet.                   NATO-Truppen mit unterstützt haben“           aber um nichts besser, von ihrem rechten
                                              (Baerbock).                                   Flügel aus dem Burgenland wird sogar
    Internationale Aufnahmepläne                                                            der Rücktritt von Nehammer gefordert,
                                                Österreich wieder mal rechts außen          weil dieser angeblich zu links wäre! Aber
Länder wie die USA haben angekündigt                                                        auch die Mehrheitslinie von Pamela Ren-
einige Afghan*innen aufzunehmen. Der          Während sich in anderen EU-Staaten            di-Wagner ist nicht wirklich viel besser:
Schwerpunkt wird hierbei vor allem da-        darüber unterhalten wird, wie viele Ge-       Sie fordert Deals mit den Nachbarländern
rauf gelegt, die Afghan*innen aufzuneh-       flüchtete aufgenommen werden können,          nach Vorbild des Türkei-Deals von 2016,
men, die mit den imperialistischen Be-        schließt das die österreichische Bundes-      der die rassistische Festung Europa durch
satzungsmächten zusammen gearbeitet           regierung komplett aus. Sebastian Kurz        politische und finanzielle Zugeständnisse
haben. Argumentiert wird das mit einer        dazu in seiner berühmt menschenfeindli-       an Erdogan absicherte.
speziellen Gefährdungslage dieser Men-        chen Manier: „Ich bin klar dagegen, dass
schen, doch, dass unterschiedliche reli-      wir jetzt freiwillig mehr Menschen auf-       Was es stattdessen brauchen würde ist
giöse, ethnische oder sozial unterdrückte     nehmen - das wird es unter meiner Kanz-       die Errichtung von sicheren Fluchtrou-
Gruppen vermutlich einer genauso gro-         lerschaft nicht geben.“ Stattdessen möch-     ten, die Aufnahme aller Geflüchteten,
ßen, wenn nicht einer größeren Gefähr-        te man mit den autokratischen Regimen         eine klare Ablehnung der rassistischen
dung unterliegen, wird hier geflissentlich    rund um Afghanistan zusammen arbei-           Grundhaltung aller etablierter Parteien
ignoriert. Der Schwerpunkt liegt klar         ten um dort „Außenanlandeplattformen“         und die Einheit aller Unterdrückten und
darauf, dass die „guten“ Afghan*innen,        bzw. „Abschiebezentren“ zu schaffen, in       Ausgebeuteten.
STANDPUNKT ARBEITER*INNEN
International                                                              7

Afghanistan

Der Sieg der Taliban und seine
internationale Bedeutung
   Liga für die Fünfte Internationale        sitzenden Klasse erfordert, was unter den    konnten, hing offensichtlich nicht nur
                                             USA oder ihren Handlanger*innen in           von der Rekrutierung verarmter Flücht-
Der Sieg der Taliban und der Sturz der       Kabul niemals geschehen würde.               linge ab. Der Schlüssel dazu war die Un-
Regierung Ghani sind eine demütigende                                                     terstützung Pakistans, insbesondere des
Niederlage von globaler Bedeutung für die    Die Taliban haben vielleicht nicht mit       Geheimdienstes ISI, der Afghanistan seit
USA und ihre westlichen Verbündeten.         der außergewöhnlichen Geschwindigkeit        langem als potenziellen Faktor in seiner
Das Bild der Hubschrauber, die fliehende     gerechnet, mit der sie das ganze Land        Fehde mit Indien ansieht.
Diplomat*innen vom Dach der US-Bot-          erobert haben, aber sie waren immer
schaft heben, erinnert stark an den Fall     zuversichtlich, dass das Regime und sei-     Nach der sowjetischen Invasion in Afgha-
von Saigon im Jahr 1975. Aber der Un-        ne Truppen zusammenbrechen würden,           nistan, als das halbkoloniale Pakistan ein
terschied ist noch wichtiger. Damals war     sobald die imperialistischen Besatzung-      williger Verbündeter der USA war, spielte
die einzige globale Rivalin der USA, die     struppen abgezogen sind, was die harte       der ISI eine wichtige Rolle beim Aufbau
Sowjetunion, selbst schon eine schwin-       Wahrheit ans Licht bringt, dass die Re-      der reaktionären Mudschahidin-Gueril-
dende Macht. Heute ist China ein kräfti-     gierung keine wirklichen sozialen Wur-       la und sammelte wertvolle Erfahrungen
ger Imperialismus, der durch sein eigenes    zeln in der afghanischen Gesellschaft        und Fachkenntnisse bei der Kanalisie-
Wachstum veranlasst ist, seine Macht und     hatte.                                       rung der US-Hilfe für ihre Guerillakämp-
seinen Einflussbereich auf Kosten der USA                                                 fer*innen. Doch die Zeiten ändern sich,
auszuweiten.                                 Nach 20 Jahren Besatzung, Hundert-           und mit ihnen die Loyalitäten. Die zwan-
                                             tausenden von Toten und 7 Millionen          zig Jahre der US-Besatzung Afghanistans
Trumps Entscheidung, den Rückzug der         Flüchtlingen, die der lange asymmetri-       waren auch die Jahre des Aufstiegs Chin-
USA mit den Taliban in Doha zu ver-          schen Krieg hervorgebracht hat, wur-         as, das heute die wichtigste Quelle wirt-
einbaren, ohne auch nur den Anschein         de das Land von seinen Besatzer*in-          schaftlicher Hilfe für Pakistan verkörpert
zu erwecken, die Regierung in Kabul          nen in einem Zustand der Verwüstung          und für das letzteres im Rahmen von
zu konsultieren, war nicht nur eine per-     zurückgelassen. Rund 80 Prozent der          Pekings Neuer Seidenstraße eine strate-
sönliche Laune eines exzentrischen Prä-      Bevölkerung sind arbeitslos oder un-         gische Bedeutung einnimmt. Zweifellos
sidenten. Sie war Ausdruck der zuneh-        terbeschäftigt, und 60 Prozent der Kin-      gibt es im pakistanischen Staatsapparat
menden Erkenntnis, dass dieser Krieg         der leiden an Hunger und Unterer-            immer noch prowestliche Elemente, aber
nicht zu gewinnen und es besser ist, sich    nährung.                                     die Geschwindigkeit, mit der Premiermi-
zurückzuziehen und zu verschwinden.                                                       nister Imran Khan den Sieg der Taliban
Diese Schlussfolgerung wurde nicht nur       Die Kombination aus Armut und Krieg          begrüßt hat, deutet darauf hin, dass die
von vielen Mitgliedern der Republika-        trieb nicht nur Millionen von Menschen       prochinesische Fraktion jetzt die Ober-
nischen Partei geteilt, sondern auch von     aus dem Land, die oft von den Taliban        hand gewonnen hat.
Joe Biden, der sich als Vizepräsident ge-    rekrutiert wurden, sondern auch in die
gen Obamas „Eingriff “ ausgesprochen         Städte. Hier haben sich die sozialen Be-     Die globale, vielleicht historische Be-
hatte.                                       ziehungen verändert, vor allem für die       deutung des Sieges der Taliban liegt da-
                                             Frauen, aber auch in Bezug auf Arbeits-      rin, dass die US-Invasion, wie auch die
In Doha stimmte eine neue Generation         plätze und ein gewisses Maß an politi-       anschließende im Irak, nicht nur der
von Taliban-Führern, die von jenen Tei-      scher Demokratie. Wie das Regime selbst      Demonstration der US-Macht diente,
len des pakistanischen Staates, die sie im   sind jedoch auch diese stark von den         sondern auch der Konsolidierung dieser
Exil unterstützt hatten, beraten, wenn       Ressourcen abhängig, die von den USA         Macht, indem sie den gesamten Nahen
nicht gar gelenkt wurden, taktisch einem     und ihren Verbündeten bereitgestellt         und Mittleren Osten unter ihre Kontrolle
Abkommen zu, das eine Art Machttei-          werden.                                      brachte. Damit sollte der Boden für das
lung in einer künftigen Regierung vorsah.                                                 neue amerikanische Jahrhundert bereitet
Während dies für die USA gesichtswah-                        Pakistan                     werden, das durch den Zusammenbruch
rend war, wussten die Taliban, dass sich                                                  der Sowjetunion und die Globalisierung
die sozialen Verhältnisse im größten Teil    Die Tatsache, dass die Taliban in der Lage   eingeläutet wurde.
ihres Heimatlandes nicht geändert hatten     waren, nicht nur gegen den mächtigsten
und das gesamte Regime vollständig von       Staat der Welt zu überleben, sondern         Der barbarische und reaktionäre Angriff
der US-Präsenz abhängig war. Eine fort-      auch so weit zu wachsen und sich zu          auf die Zwillingstürme in New York dien-
schrittliche wirtschaftliche und soziale     entwickeln, dass sie innerhalb weniger       te als Vorwand, als Rechtfertigung für
Entwicklung hätte den Sturz der landbe-      Wochen das ganze Land übernehmen             den „Krieg gegen den Terror“, in dem
STANDPUNKT ARBEITER*INNEN
8
                                                      International

Washington das Recht beanspruchte,          nen eigenen zivilen Verwaltungsapparat         nisation aufbauen, die sich auf ein Pro-
überall dort militärisch zu intervenie-     verfügt, praktisch sinnvoll und war der        gramm stützt, das die unvermeidlichen
ren, wo es seine Interessen bedroht sah.    Ratschlag ihrer potenziellen internatio-       sozialen und politischen Kämpfe mit
Heute, nach den militärischen Niederla-     nalen Unterstützer*innen. Die Zeit wird        dem Aufbau von Organisationen der Ar-
gen im Irak und in Afghanistan und der      zeigen, ob dies von Dauer sein wird oder       beiter*innenklasse und der Bauern und
Wirtschaftskrise von 2008/9, steht diese    die reaktionärsten Strömungen im Lan-          Bäuerinnen verbindet, die mit der Zeit zu
ganze Weltsicht in Frage. Die USA stel-     de bereit sind, solche Zugeständnisse zu       Träger*innen des Sturzes des bestehen-
len zweifelsohne immer noch einen sehr      tolerieren, nachdem sie zwanzig Jahre          den Regimes und seiner Ersetzung durch
mächtigen Staat dar, aber sie sind kein     lang für die Rückkehr zu den von ihnen         eine Arbeiter*innen- und Bäuer*innen-
unangefochtener Hegemon mehr.               bevorzugten Normen gekämpft haben.             regierung geraten können, mit anderen
                                            Klar ist, dass es derzeit keine Kräfte wie     Worten: die Strategie der permanenten
Das veränderte Kräftegleichgewicht wird     politische Parteien oder Gewerkschaften        Revolution.
nicht nur die rivalisierenden Imperialis-   gibt, die mobilisieren könnten, um einen
men China und Russland, sondern auch        Rückschritt zu verhindern.                     Der Aufbau einer solchen Organisation
regionale Mächte wie Pakistan, Iran, die                                                   ist zweifelsohne eine langfristige Ange-
Türkei und Indien dazu ermutigen, die Si-   Auf internationaler Ebene sollten die Ver-     legenheit. Unmittelbar sind Millionen
tuation zu ihrem Vorteil zu nutzen. Auch    fechter*innen der demokratischen Rech-         Menschen von brutaler politischer Un-
Länder, die die Unterstützung der USA       te der Ausgebeuteten und Unterdrückten         terdrückung bedroht. Andere versuchen,
als selbstverständlich angesehen haben,     in Afghanistan alles in ihrer Macht Ste-       in Nachbarländer oder nach Europa zu
wie Taiwan, müssen sich fragen, was die     hende tun, um Racheakte der besiegten          fliehen. Die Linke und die internationa-
Zukunft bringt. Selbst EU-Imperialismen     Imperialist*innen zu verhindern. Alle          le Arbeiter*innenbewegung müssen ei-
wie Deutschland und Frankreich werden       Versuche, Sanktionen zu verhängen oder         nen gemeinsamen Kampf für die bedin-
abwägen, wie weit sie von den Prioritäten   der jetzigen De-facto-Regierung des            gungslose Öffnung der Grenzen führen
der USA abweichen sollen.                   Landes die Anerkennung zu verweigern,          und sich für die Beschaffung materieller
                                            müssen abgelehnt werden, da sie das be-        Mittel für die Flüchtlinge einsetzen, die
In Afghanistan selbst wird die Wieder-      reits erlittene Elend und die Armut nur        in den Nachbarländern Afghanistans
einsetzung einer Taliban-Regierung ein-     noch vergrößern können.                        bleiben.
deutig nicht den Weg zu Frieden und
Wohlstand eröffnen. Zwanzig Jahre Exil      Für die Massen in Afghanistan brechen          Die dramatischen Ereignisse in Afgha-
in Pakistan und den Golfstaaten, die        dunkle Zeiten an. Der Sieg der Taliban         nistan bestätigen, dass wir in einer Zeit
Entwicklung neuer Führungspersönlich-       wird alle demokratischen, Frauenorga-          zunehmender zwischenimperialistischer
keiten, die Herausforderung, ein Regie-     nisationen, Gewerkschaften und sozialis-       Rivalität leben, einer Zeit, in der ökono-
rungssystem in einem stark veränderten      tischen oder kommunistischen Kräfte in         mische Konkurrenz zu Handelskriegen
Land zu bilden, und die Möglichkeit von     die Illegalität treiben. Gleichzeitig werden   führen kann, Sanktionen zu Blockaden
Spannungen zwischen den zurückkeh-          aber, wie in allen theokratischen Regimen      werden und regionale Konflikte zu grö-
renden Exilant*innen und denjenigen,        zu beobachten, die sozialen Widersprü-         ßeren Kriegen führen können. Die für
die die Organisation im Land unter der      che keineswegs verschwinden. Klassen-          das zwanzigste Jahrhundert typischen
Besatzung aufrechterhalten haben, wer-      gegensätze und andere soziale Konflikte        wirtschaftlichen und territorialen Rei-
den wahrscheinlich zu internen Span-        sind früher oder später unvermeidlich.         bungen entfalten sich nun im Kontext der
nungen führen, denn der Sieg trennt im-     Die Jugendproteste in Dschalalabad sind        sich entwickelnden Klimakatastrophe,
mer die Sieger*innen.                       ein erstes Anzeichen dafür. Darauf müs-        die naturgemäß die Notwendigkeit einer
                                            sen sich die Revolutionär*innen in Afg-        internationalen Lösung bestätigt. Vor-
            Taliban-Regime                  hanistan organisatorisch, politisch und        aussetzung dafür ist eine internationale
                                            programmatisch unter den Bedingungen           Organisation, eine internationale Partei
Auf seiner ersten Pressekonferenz ver-      der Illegalität, der konspirativen Arbeit      – das ist die Hauptaufgabe der Revolutio-
kündete der Vertreter des neuen Regi-       vorbereiten.                                   när*innen in aller Welt, der Aufbau einer
mes eine Generalamnestie für alle, die                                                     Fünften Internationale!
für die vorherige Regierung gearbeitet                        Partei
hatten, und versicherte den Frauen, dass
ihre Rechte auf Bildung, Arbeit und Teil-   Zwei Lehren werden von zentraler Bedeu-
nahme am öffentlichen Leben garantiert      tung sein: Erstens, im Kampf für demo-
würden, sofern die islamischen Normen       kratische und soziale Forderungen kann
eingehalten würden. Es wurde betont,        man sich auf keine der imperialistischen
dass die Taliban keine Rache wollen und     Mächte oder ihre regionalen Vertre-
sich bemühen werden, andere in die Ver-     ter*innen verlassen, politische Unabhän-
waltung des geplanten theokratischen        gigkeit wird entscheidend sein. Wirkliche
Emirats einzubeziehen. Es erging eine       Verbündete werden sich nur unter den
Aufforderung, wieder normal an die Ar-      Kräften in der Region und darüber hin-
beit zurückzukehren.                        aus finden, die ihre Unabhängigkeit von
                                            „ihren“ Regierungen bewiesen haben.
Zweifellos ist ein solch pragmatischer      Zweitens müssen die afghanischen Re-
Ansatz für eine Bewegung, die über kei-     volutionär*innen eine neue Parteiorga-
STANDPUNKT ARBEITER*INNEN
International                                                               9

Linkspartei vor der Wahl

Aufbruch sieht
anders aus
  Basti Linowicz & Martin Suchanek          versucht, die an die AfD verlorengegan-       Auch der Populismus dieses Flügels
   (Gruppe ArbeiterInnenmacht, D)           genen Wähler*innen wieder einzufangen,        läuft letztlich darauf hinaus, der Par-
                                            sowie die Selbstbezeichnung als „konser-      tei die verlorengegangenen Stimmen
Aufbruch lautete das Motto der Partei-      vative Linke“ bieten allerlei parteipoliti-   zurückzuholen, um diese fit für die
führung in den letzten Monaten. Mit der     schen Zündstoff.                              Übernahme von Regierungsverant-
Wahl von Janine Wissler und Susanne                                                       wortung zu machen. So sagte Wagen-
Hennig-Wellsow zu den neuen Partei-         So schrieb sie in ihrem Buch wortwört-        knecht selbst in einem Interview im
vorsitzenden im Februar 2021 und der        lich: „Dass die Löhne allerdings in vielen    Mai mit Matthias Kohlmeier: „Auch ich
Einigung auf Wissler und Bartsch als        Branchen um bis zu 20 Prozent sanken          wünsche mir eine Regierung, die die-
Spitzenkandidat*innen soll vor allem Ei-    und selbst ein jahrelang anhaltendes          ses Land endlich wieder sozial zusam-
nigkeit und Geschlossenheit signalisiert    Wirtschaftswachstum daran nichts än-          menführt. Wenn eine solche Regierung
werden. Doch deren Beschwörung will         dern konnte, das war allein wegen der         möglich ist, dann sollten wir uns daran
nicht so recht gelingen.                    hohen Migration nach Deutschland              beteiligen.“
                                            möglich.“
Und das Gerede vom Aufbruch wirkt                                                         Aber im Gegensatz zu ihren Konkur-
nicht erst seit den katastrophalen Land-    Die Zerrissenheit der Linkspartei, der        rent*innen setzt Wagenknecht auf of-
tagswahlen in Sachsen-Anhalt, bei denen     nun entfachte Streit und das von fast allen   fenen Sozialchauvinismus, um so die
die Linkspartei im Vergleich zu 2016 über   Medien aufgegriffene, auf die Veröffent-      „einfachen Leute“ – eine vorzugsweise
fünf Prozentpunkte verloren hat, schal.     lichung des Buches folgende, von Par-         deutschstämmige, klassenübergreifende
                                            teimitgliedern initiierte Ausschlussver-      Allianz von Lohnabhängigen, kleinen
Der Linkspartei geht es wie so manchen      fahren gegen Sahra Wagenknecht wären          Gewerbetreibenden bis hin zum unter-
unglücklichen Fußballvereinen: Zuerst       vielleicht nicht ganz so brisant, stünden     nehmerischen Mittelstand – als Basis für
hatten sie kein Glück und dann kam auch     nicht in weniger als drei Monaten die         eine Reformregierung zu gewinnen.
noch das Pech dazu. So bleibt sie in den    nächsten Bundestagswahlen an.
Umfragen seit Jahren um die 7 % hän-                                                      Damit befindet sich der linkspopulisti-
gen – und das trotz der Dauerkrise der           Wohin treibt die Linkspartei?            sche Flügel jedoch innerparteilich in der
Regierung, des Niedergangs der SPD und                                                    Defensive. Auf ideologischer Ebene ha-
des Rechtsrucks der Grünen. Es fragt sich   Die Veröffentlichung des neuen Buchs          ben aber auch die Regierungssozialist*in-
also, warum DIE LINKE davon nicht pro-      war sicher kein Zufall. Aber es sollte        nen zugunsten der Bewegungslinken an
fitieren kann.                              auch nicht als Ursache für die Probleme       Einfluss verloren. Schließlich ist es auch
                                            der Linkspartei missverstanden werden.        schwer, die Regierungsbeteiligungen in
       Richtungsstreit reloaded             Schließlich stellt es auch eine Reaktion      Thüringen, Bremen und Berlin als Mus-
                                            auf den schwindenden Rückhalt Wagen-          ter für eine „Transformation“ in Richtung
Naive Gemüter machen dafür gern die         knechts innerhalb der Partei dar und auf      einer anderen Gesellschaftsordnung hin-
Querschüsse einer Sahra Wagenknecht         das Fiasko der von ihr initiierten Samm-      zustellen. Und den Bewegungspolitiker,
und eines Oskar Lafontaine verantwort-      lungsbewegung „Aufstehen“ als bewusste        der sich zufällig im Amt des Ministerprä-
lich.                                       Polarisierung innerhalb der Partei.           sidenten oder stellvertretenden Bürger-
                                                                                          meisters verloren hat, nimmt Ramelow
Der Streit in der Partei DIE LINKE um       Auf dem Bundesparteitag im Februar            und Lederer niemand ab.
die Veröffentlichung des neuen Buches       konnten sich vor allem Vertreter*innen
von Sahra Wagenknecht „Die Selbstge-        der „Bewegungslinken“ durchsetzen. So                   Charakter der Partei
rechten“ dürfte schließlich kaum jeman-     stellen diese fast die Hälfte der auf dem
dem entgangen sein. Die Tatsache, dass      Parteitag gewählten Parteivorstands-          Dass es sich bei der Partei DIE LINKE
Wagenknecht von den eigenen Genos-          mitglieder. Der linkspopulistische Flü-       um keine revolutionäre, sozialistische
s*innen als „Lifestyle-Linken“ schreibt,    gel konnte sich damals kaum platzieren,       handelt, sondern um eine weitere links-
welche sich selbst heillos in der Iden-     auch wenn die erneute Nominierung von         sozialdemokratische Organisation, stellt
titätspolitik verloren hätten und sich      Sahra Wagenknecht in Nordrhein-West-          keine besondere Neuigkeit dar. DIE LIN-
nur noch für die Rechte von „skurrilen      falen zur Spitzenkandidatin für die Bun-      KE selbst hat sich schließlich immer als
Minderheiten“ interessieren würden, sie     destagswahl mit über 60 % aufzeigt, dass      eine Partei zur Reform und Bändigung
Migrant*innen für Niedriglöhne verant-      sie weiterhin über Rückhalt in der Partei     des Kapitalismus präsentiert – und wollte
wortlich macht und damit offensichtlich     verfügt.                                      auch nicht mehr sein.
10                                                      International

In dem Sinne hat sich ihr Charakter als       strategie. Damit will sie den Druck von        nicht über massive Veränderungen ihrer
bürgerliche Arbeiter*innenpartei in den       der Straße durch soziale Bewegungen            Zusammensetzung hinwegtäuschen darf.
letzten Jahren nicht groß gewandelt. Pro-     und die Unterstützung dieser durch             Die Linkspartei hat wichtige Schichten
grammatisch schwebt ihr eine Markt-           ihre Abgeordneten in den Parlamenten           und die Bindekraft zu Arbeitslosen, är-
wirtschaft ohne große Monopole und            betonen.                                       meren Schichten der Klasse und auch des
Konzerne vor, ein Sozialismus auf Basis                                                      Kleinbürger*innentums im Osten an die
von Warenproduktion und pluralen Ei-              Strategie der Bewegungslinken              AfD verloren. Dies ist zweifellos Resultat
gentumsverhältnissen, also ungefähr das,                                                     von Regierungspolitik und Anpassung,
was Marx im Kommunistischen Manifest          Das entscheidende Problem dieser Kon-          aber auch eines Rechtsrucks und einer
als kleinbürgerlichen Sozialismus be-         zeption liegt im Verständnis von Klassen-      Demoralisierung von Teilen der Lohnab-
zeichnet.                                     kampf und Staat. Der bürgerliche Staat         hängigen selbst.
                                              wird als Mittel zur Veränderung der ge-
DIE LINKE erkennt zwar die Existenz           sellschaftlichen Verhältnisse begriffen,       Zugleich hat sie im Westen eine stärkere
von Klassen und auch des Klassenkamp-         als Terrain des Klassenkampfes, nicht als      Verankerung in der Arbeiter*innenklasse
fes an – aber nicht dessen Zuspitzung. Der    Staat des Kapitals, nicht als Herrschafts-     und der Jugend (und somit über längere
Kampf für eine andere Gesellschaft ist für    instrument der Bourgeoisie.                    Zeit auch bei jüngeren Lohnabhängigen)
ihre Alltagspraxis weitgehend fiktiv, eine                                                   gewonnen. Das drückt sich auch in ver-
Worthülse. Das drückt sich auch im So-        Der Unterschied zum Marxismus besteht          änderten Größen der Landesverbände,
zialismusbegriff selbst aus. Dieser wird      dabei nicht darin, dass der Kampf um           einem stärkeren Gewicht im Westen aus.
nicht als bestimmte Produktionsweise,         Reformen und für demokratische Rechte          Das Wachstum und diese Verschiebung
sondern vor allem als Wertegemeinschaft       abzulehnen wäre. Auch nicht darin, dass        verweisen auch darauf, dass die Links-
verstanden. Das bürgerlich-demokrati-         Kämpfe auf staatlichem Boden ausgetra-         partei in den Gewerkschaften und Be-
sche System ist ihr als politisches Terrain   gen werden können und müssen, sondern          trieben, also in der organisierten Arbei-
heilig.                                       in der Annahme, dass diese den Klassen-        ter*innenklasse stärker geworden ist und
                                              charakter des Staates aufheben könnten.        zwar deutlich mehr, als dies bei Wahlen
Das bedeutet aber auch, dass sie die          Die Transformationsstrategie begreift          zum Ausdruck kommt. Die betriebli-
Maßnahmen zur Verwirklichung ihrer            einen zu reformierenden bürgerlichen           chen und unteren gewerkschaftlichen
Ziele durch Regierungsbeteiligungen           Staat als ein Instrument gesellschaftlicher    Funktionsträger*innen betreiben auch
herbeiführen muss. Wer die gewaltsame         Veränderung hin zum Sozialismus.               nicht einfach dieselbe Politik wie der
sozialistische Revolution ablehnt, muss                                                      sozialdemokratisch dominierte Appa-
schließlich eine Politik der sozialen Re-     Das findet sich auch im Parteiprogramm         rat, aber sie fordern diesen nicht heraus,
form im Rahmen der bestehenden bür-           wieder: „DIE LINKE kämpft in einem             zumal ihre reformistische Politik natür-
gerlichen Institutionen verfolgen oder        großen transformatorischen Prozess ge-         lich auch im Rahmen tarifvertraglicher
er erklärt Daueropposition zum Selbst-        sellschaftlicher Umgestaltung für den          und sozialpartnerschaftlicher Regulie-
zweck.                                        demokratischen Sozialismus des 21. Jahr-       rung bleibt. Die Linkspartei betreibt
                                              hunderts. Dieser Prozess wird von vielen       z. B. eine aktive Politik, ihre jüngeren
Wo die Linkspartei an der Regierung ist,      kleinen und großen Reformschritten, von        Anhänger*innen aus den Unis in den
gestaltet sie die bestehenden Verhältnis-     Brüchen und Umwälzungen mit revoluti-          Gewerkschaftsapparat zu schicken (z.
se mehr oder minder sozial mit. Dabei         onärer Tiefe gekennzeichnet sein.“             B. über Organising- und Trainee-Pro-
akzeptiert sie die Institutionen des bür-                                                    gramme) und so ihre Verankerung zu
gerlichen Systems als unüberschreitba-        Auch wenn hier nebulös von Brüchen             stärken.
ren Rahmen linker Politik, der allenfalls     und Umwälzungen von revolutionärer
durch einzelne Reformen zu erweitern          Tiefe gesprochen wird, so bleibt folgendes     Sie hat in den letzten Jahren an Veranke-
wäre. Während die Regierungssozia-            Kernproblem: Die Transformationsstra-          rung in sozialen Bewegungen gewonnen,
list*innen möglichst rasch mit SPD und        tegie löst die Dialektik von Reform und        wenn auch nicht ohne Rückschläge und
Grünen auch auf Bundesebene koalieren         Revolution so auf, dass die Revolution als     eher indirekt, also über die Zusammen-
wollen und daher eine Aufweichung der         eine in die Breite gezogene, als bloß tiefer   arbeit, informelle Bündnisse mit Teilen
sogenannten „roten Haltelinien“ gerade        gehende, grundlegendere und langwieri-         der radikalen Linken (IL, Antifa) und
auch in Sachen Außenpolitik anstreben,        ge Kette von Reformen verstanden wird.         Migrant*innenorganisationen        (einige
gehen die Bewegungslinken und wohl            Die Revolution bildet dann im Grunde           kurdische Vereine, Teile von Migrantifa,
auch die Mehrheit der Partei davon aus,       nur eine Fortsetzung ewiger Reform- und        DIDF).
dass eine Regierungsbeteiligung auf Bun-      Transformationsbemühungen.
desebene 2021 faktisch unmöglich ist.                                                        Die Flügelbildung in der Linkspartei
Daher können sich auch Leute wie Wiss-             Soziale Basis der Linkspartei             drückt leztlich diese Veränderungen aus.
ler bei etwaigen Tabus unnachgiebiger                                                        Während der linkspopulistische Teil um
und oppositioneller geben.                    Nichtsdestotrotz entspricht die linkere        Wagenknecht im Grunde eine Rückkehr
                                              reformistische Strategie einer realen Ver-     zur imaginierten heilen Welt der alten
Dem entspricht auch, dass die Bewe-           änderung der sozialen Basis der Links-         PDS ohne Identitätspolitik beschwört,
gungslinke die Politik der Partei „lin-       partei, vor allem ihres Verhältnisses zu       können die „demokratischen“ und Regie-
ker“ gestalten und ideologisch anders         den Gewerkschaften. DIE LINKE hat              rungssozialist*innen letztlich nur mehr
rechtfertigen will. Sie versucht dies mit-    heute rund 60.000 Mitglieder, also stag-       oder weniger imaginäre Erfolge in Koali-
hilfe der sogenannten Transformations-        niert zahlenmäßig seit Jahren, was aber        tionen aufweisen.
11
                                                       International

Die „Bewegungslinke“ verspricht hinge-        den Augen der Masse der Wähler*innen        stellt sie eine Reihe fortschrittlicher For-
gen, die inneren Gegensätze der Partei        darin, dass es nie Regierungshandeln be-    derungen auf wie die Einführung eines
im Rahmen einer „neuen“ linksreformis-        stimmt. Was radikalen Linken als Vorzug     bundesweiten Mietendeckels, die Erhö-
tischen Strategie zu überbrücken. Ihre        erscheinen mag, stellt unzufriedene SPD-    hung des Mindestlohns, eine Rekom-
Leitideologie stellt die sog. „verbinden-     und Grünenwähler*innen vor ein Pro-         munalisierung der Krankenhäuser und
dene Klassenpolitik“ dar. Sie kombiniert      blem. Sie fürchten, dass die Wahl einer     eine bessere Finanzierung der Pflege, ein
eine Transformationsstrategie an den Re-      kleinen, reformistischen Oppositionspar-    Verbot von Waffenexporten, die Ableh-
gierungen, den Kampf um den Staat mit         tei nur eine verlorene Stimme darstellt     nung von Auslandseinsätzen, eine Ver-
Arbeit in sozialen Bewegungen und der         und keinen Einfluss auf die Regierungs-     mögensabgabe für Nettovermögen über
Verankerung in Gewerkschaften (bzw. im        bildung hat.                                zwei Millionen Euro und eine stärkere
Apparat). Es ist damit zu rechnen, dass                                                   Besteuerung der Reichen.
sich dieser Flügel in der Partei insgesamt    Für die Linkspartei wiederum stellt sich
durchsetzen und deren linksreformis-          das Dilemma folgendermaßen dar: Sie         An diesen Forderungen müssen wir an-
tischen Charakter stärker akzentuieren        will einerseits die unzufriedenen Anhän-    knüpfen und von der Linken einfordern,
wird.                                         ger*innen von SPD und Grünen locken.        keiner Koalitionsregierung mit offen bür-
                                              Anderseits will sie jene Wähler*innen,      gerlichen Parteien wie den Grünen bei-
Dies erklärt auch, warum die Linkspar-        denen sie schon zu angepasst ist, nicht     zutreten. Insbesondere auf Bundesebene
tei in den letzten Jahren tatsächlich in      verprellen.                                 muss sie mit der Illusion Schluss machen,
bestimmten Bewegungen und Ausein-                                                         dass eine „Reformregierung“ überhaupt
andersetzungen aktivistischer auftreten       In der aktuellen Situation können wir als   möglich wäre.
konnte – und zwar selbst in Bundeslän-        Kommunist*innen nicht eigenständig zu
dern, wo sie an der Regierung ist, wie        den Wahlen antreten und genug Wäh-          Stattdessen müssen wir, wo es immer
in der Initiative Deutsche Wohnen und         ler*innenstimmen erhalten, um in den        möglich ist, die Kandidat*innen der
Co. enteignen in Berlin. Sie konnte dabei     Bundestag einzuziehen. Wir verfügen         Linkspartei darauf verpflichten, gegen alle
fast vergessen machen, dass dereinst der      nicht über eine revolutionäre Massenor-     reaktionären und arbeiter*innenfeindli-
rot-rote Senat über 150.00 Wohnungen          ganisation, die hierzu imstande wäre, und   chen Gesetze, gegen alle Einschränkun-
privatisierte.                                es existiert im Moment kein massenhaftes    gen demokratischer Rechte, gegen jeden
                                              revolutionäres Klassenbewusstsein. Da-      Cent für die Bundeswehr und gegen jede
Diese Entwicklung beschränkt sich je-         her stellt sich für uns als Marxist*innen   Auslandsintervention zu stimmen. In
doch nicht auf Berlin. In NRW spielt          die Frage, wie wir die anstehenden Bun-     Berlin müssten ihre Abgeordneten z. B.
sie eine wichtige Rolle bei den Mobili-       destagswahlen dennoch nutzen können,        die sofortige Umsetzung der Enteignung
sierungen gegen die Einschränkungen           um ein revolutionäres Programm und          von Vonovia/Deutsche Wohnen und Co.
des Versammlungsrechtes. Natürlich ist        eine sozialistische Perspektive unter den   einfordern.
die Arbeit in Bewegungen nicht frei von       Arbeiter*innen zu verbreiten.
Widersprüchen – gerade dann, wenn die                                                     Der Wahlkampf und Veranstaltungen
Regierungspraxis offen mit deren Zielen                       Wahlen                      dazu von DWE sollten daher genutzt
kollidiert wie z. B. in Brandenburg, wo                                                   werden, um von der Linkspartei die Un-
die Linkspartei an der Landesregierung        Wir können die anstehenden Bundes-          terstützung und den Aufbau einer Bewe-
weiter an der Braunkohleverstromung           tagswahlen nicht einfach ignorieren. Sie    gung gegen die Abwählzung der Lasten
festhielt.                                    stellen nicht nur einen wichtigen Grad-     von Krise, Pandemie und sog. ökologi-
                                              messer für das Kräfteverhältnis zwischen    scher Transformation zu fordern.
       Stagnation auf Wahlebene               den Klassen dar. Trotz ihrer reformis-
                                              tischen, bürgerlichen Arbeiter*innen-
Zugleich vermag es die Linkspartei aus        politik organisiert DIE LINKE wichtige
mehreren Gründen nicht, unter schein-         Teile der sozialen Bewegungen und des
bar günstigen Bedingungen zuzulegen.          linken Flügels der betrieblich und ge-
Zweifellos trägt die innere Widersprüch-      werkschaftlich Aktiven. Sie repräsentiert
lichkeit ihrer Politik, Regierung und Op-     im Gegensatz zur SPD jenen Teil der
position gleichzeitig darstellen zu wollen,   Arbeiter*innenklasse, der gegen offene
dazu bei. Es wäre aber zu platt zu sagen,     Sozialpartnerschaft und imperialistische
dies liege nur an ihrer harmlosen, bür-       Intervention eintritt und soziale und po-
gerlichen Politik (so gesehen dürften die     litische Verbesserungen erkämpfen und
Grünen erst recht nichts gewinnen).           in Parlamenten durchsetzen will.

Anders als SPD (und Grüne) belastet DIE       Wir hegen und fördern keine Illusionen
LINKE das Problem, dass sie für eine          in den Charakter der Partei DIE LIN-
Regierung auf Bundesebene allenfalls          KE, aber das Kräfteverhältnis, also die
nur als Anhängsel in Frage kommt und          Kampfbedingungen, die die Wahlen zum
auch nur als kleinste Partnerin (während      Ausdruck bringen, können uns nicht egal
diese beiden wenigstens hoffen könnten,       sein. Wir rufen daher zu ihrer Wahl auf.
eine solche Koalition zu führen). D. h.       In ihrem Wahlprogramm zur Bundes-
ihr linkeres Reformprogramm krankt in         tagswahl und zu den Landtagswahlen
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