Streitschrift So 100 - Verdi
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Streitschrift 100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge zum kirchlichen Sonderweg im Arbeitsrecht Tarifverträge in kirchlichen Betrieben 2 100 So
Impressum Herausgeberin ver.di-Bundesverwaltung Fachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen Paula-Thiede-Ufer 10, 10179 Berlin V.i.S.d.P. Sylvia Bühler Bearbeitung Mario Gembus Gestaltung werkzwei Detmold Druck Druckerei Tiemann, Bielefeld 3642-05-0919 2., aktualisierte Auflage Februar 2020
Inhalt Vorwort 4 Interessenkonflikt, Spaltung, Tarifverträge und der kirchliche Sonderweg 6 Gegensätzliche Interessen – ausgeschaltet? 8 Chronik eines bröckelnden Sonderwegs 9 Beschäftigte haben ein Recht auf Tarifverträge 14 Beschäftigte – die Entscheider*innen 17 Verteilungsfragen sind Machtfragen 22 Gute Arbeitsbedingungen und angemessene Bezahlung – eine Verteilungsfrage 26 Beispiel Uniklinik Essen: Für mehr Personal und Entlastung 27 Beispiel Diakonie Mitteldeutschland: Ein Versuch von Aufwertung und Entlastung 29 Tarifverträge in kirchlichen Betrieben 33 Für sprachliche Klarheit – Auflösung kirchlich gesetzter Begriffe 37 Es gibt kein »Selbstbestimmungsrecht« der Kirchen 37 Spaltungsversuche mit Hilfe der historisch belasteten »Dienstgemeinschaft« 39 Es gibt keinen »Dritten Weg« 41 Arbeitsbedingungen regeln: »Konsensprinzip« ohne Augenhöhe 44 Schlichtungsverfahren: Ohne »Konsens« bleibt noch Zwang 46 Arbeitsvertragsrichtlinien haben keine Flächenwirkung 48 Systemstützend: Mitarbeit in Arbeitsrechtlichen Kommissionen 50 »Kirchengemäße Tarifverträge«: Einschränkung gewerkschaftlicher Rechte durch Kirchenrecht 53 Quellenverzeichnis 56 Abbildungsverzeichnis 62
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge Liebe Kollegin, lieber Kollege, die eigenen Lohn- und Arbeitsbedingungen mitzugestalten, das ist in Deutschland seit rund 100 Jahren möglich, seit 70 Jahren ist dieses Recht auch im Grundgesetz und im Tarifvertragsgesetz verankert. Arbeitgeber und Gewerkschaften verhandeln Tarifverträge, deren Inhalte wie Gesetze wirken. Die Tarifautonomie ist ein hohes Gut. Ganz egal, ob sie bei einem konfessionellen, einem anderen freigemeinnützigen, einem öffentlichen oder privaten Träger arbeiten: Den Schutz eines Tarifvertrags haben alle Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen verdient. 70 Jahre Tarifvertragsgesetz sind ein guter Anlass, sich in dieser »Streit- schrift« mit einem anderen, dem kirchlichen Weg zur Regelung von Lohn- und Arbeitsbedingungen zu befassen. Seit 1919 haben die Kirchen das verfassungsmäßige Recht, ihre Angelegenheiten innerhalb der für alle geltenden Gesetze selbst zu verwalten und zu ordnen. Und seit 1949 nutzen sie dieses Recht dafür aus, ein eigenes Arbeitsrecht zu schaffen und Gewerkschaften auszuschließen. Bis dahin galten Tarifver- träge auch für kirchliche Einrichtungen. In der »Streitschrift« beschrei- ben wir, wie Tarifverträge unter Beteiligung der Beschäftigten zustande kommen und entzaubern einige Kernbegriffe der vermeintlich kirchlichen Besonderheiten. Noch wollen die Kirchen selbst den Rahmen festlegen, in dem sich ihre Beschäftigten bewegen dürfen. Sie sprechen ihnen Grundrechte ab, wie etwa das Recht auf Streik. Seit dem Einzug des wirtschaftlichen Wett- bewerbs im Gesundheits- und Sozialwesen wird immer offensichtlicher, dass es natürlich auch bei kirchlichen Einrichtungen unterschiedliche Interessen bei Arbeitgebern und Belegschaften gibt. Doch transparente Verhandlungen auf Augenhöhe soll es weiterhin nicht geben. Beschäftigte der Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände Diakonie und Caritas müssen genauso ihre Lohn- und Arbeitsbedingungen mitgestalten 4
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben können, wie Kolleginnen und Kollegen bei welt- Die Hoffotografen, Berlin lichen Trägern. Ihnen dürfen keine Grundrechte vorenthalten werden. Schließlich sind sie Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmer und keine Ordensbrüder und -schwestern. Zuletzt haben auch das Bundesarbeitsgericht und das Bundes- Sylvia Bühler, Mitglied verfassungsgericht bestätigt: es gibt keine Ein- im ver.di-Bundesvorstand schränkungen für Beschäftigte in kirchlichen Betrie- ben in Bezug auf gewerkschaftliche Betätigung. Man kann den Kirchen nur raten, ihre längst überholte Sonderrolle endlich aus freien Stücken aufzugeben. Bevor es die Gerichte scheib- chenweise tun. Als zweitgrößter Arbeitgeber in Deutschland wäre das ein wichtiges Signal. Wir stehen an der Seite der kirchlich Beschäftigten, die ihre Rechte einfordern und ihre Arbeitsbedingungen mitbestimmen wollen. Herzliche Grüße Sylvia Bühler 5
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge Interessenkonflikt, Spaltung, Tarifverträge und der kirchliche Sonderweg Seit nunmehr 100 Jahren werden Löh- Tarifflucht ihrer Arbeitgeber nicht hilflos ne und Arbeitsbedingungen in Deutschland ausgeliefert sind. Als Teil einer starken durch Tarifverträge geregelt. Für Millionen Gewerkschaft können sie solidarisch gute von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Lohn- und Arbeitsbedingungen durch- erfüllen sie eine wichtige Funktion. Sie setzen – wenn nötig, mit Hilfe von Streiks. entstehen durch kollektives Handeln von In kirchlichen Betrieben agieren Arbeit- abhängig Beschäftigten, die sich in ihrer geber mittlerweile wie andere Träger und Gewerkschaft zusammenschließen, um ihre verschlechtern Löhne und Arbeitsbedin- strukturelle Unterlegenheit gegenüber den gungen, um in der politisch gewollten Arbeitgebern auszugleichen. Bundesweit Konkurrenz innerhalb des Gesundheits- und gibt es über alle Branchen hinweg 77.3161 Sozialwesens bestehen zu können. Den- gültige Tarifverträge. Im Zuständigkeits- noch ignorieren und verschleiern sie größ- bereich von ver.di sind es 14.281, von tenteils den Interessenkonflikt zwischen denen 3.061 für das Gesundheits- und Arbeitnehmer*innen und Arbeitgebern. Sozialwesen abgeschlossen wurden2 – da- Sie bemühen Begriffe wie die sogenannte runter auch für kirchliche Einrichtungen. Dienstgemeinschaft, um Beschäftigte in Die hohe Zahl von Tarifverträgen im Ge- einen theologisch hergeleiteten Betriebs- sundheits- und Sozialwesen verdeutlicht frieden zu zwingen. So wird der kirchliche zwei Dinge: Einerseits hat die Öffnung Sonderstatus im Arbeitsrecht zu einem dieses Sektors für kommerzielle Interessen (Wettbewerbs-)Vorteil, der darauf fußt, in den vergangenen 25 Jahren eine Erosion Beschäftigten grundlegende Rechte streitig der Flächentarifverträge zur Folge gehabt. zu machen. Tarifbindung konnte zunehmend nur durch regionale, Konzern- oder Haustarifverträ- Die vorliegende Streitschrift befasst sich ge hergestellt werden. Andererseits zeigt mit Tarifverträgen, die auch für kirchliche die Entwicklung, dass Beschäftigte der Betriebe ein normales Mittel sind, um Lohn- 6
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben und Arbeitsbedingungen zu regeln. Im Eine dritte Streitschrift wagt einen Blick in Fokus steht die Rolle der Beschäftig- die Zukunft und befasst sich mit dem na- ten als Entscheider*innen. Sie können ihre henden Ende des kirchlichen Sonderwegs Arbeitsbedingungen maßgeblich mitbe- im Arbeitsrecht. Die Streitschriften sollen stimmen – wenn sie sich zusammenschlie- auf Widersprüchliches und offene Fragen ßen, sich gewerkschaftlich organisieren. hinweisen, zuspitzen und zur Diskussion Einem kritischen Blick wird die vor nunmehr anregen. Sie sind keine offiziellen Beschlüs- 70 Jahren durch die Kirchen etablierte se von ver.di. arbeitsrechtliche Nebenrechtsordnung un- terzogen. Sie ist nicht in der Lage, kollektiv ¶ ¶ wirksame Regelungen hervorzubringen und ¶ spricht Beschäftigten sogar Grundrechte ab. Anhand ausgewählter Begriffe zeigen wir auf, wie verklärend und irreführend ¶ die diesbezüglichen Kirchengesetze sind. Eine weitere Streitschrift beschäftigt sich anlässlich ihres 100-jährigen Bestehens mit der betrieblichen Mitbestimmung in kirchlichen Einrichtungen. ‰ 7
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge Gegensätzliche Interessen – ausgeschaltet? Tarifverträge sind grundsätzlich auch für Weimarer Reichsverfassung verbrieft, die kirchliche Einrichtungen das Mittel, mit Kirchen sind jedoch (erst) mit der Verab- dem Arbeitsbedingungen wirksam kollektiv schiedung des Tarifvertragsgesetzes und vereinbart werden können. Allerdings ist das des Grundgesetzes 1949 ausgeschert und heute in der öffentlichen Wahrnehmung in haben ein eigenes, durch sie selbst gesetztes den Hintergrund getreten. Teilweise bekannt Arbeitsrecht geschaffen. Tarifverträge galten ist, dass Kirchen einen eigenen Weg haben. zwischen 1919 bis zur Machtergreifung Ganz so, als sei hier alles anders, als sei der durch die Nazis 1933 auch für kirchliche klassische Interessengegensatz zwischen Einrichtungen, inklusive aller damit verbun- Arbeitnehmer*innen und Arbeitgebern in denen Rechte für Beschäftigte. So fanden kirchlichen Betrieben nicht vorhanden. Wo- in den 1920er Jahren zum Beispiel Streiks her kommt das? Die Kirchen pochen auch in Friedhofsbetrieben statt.3 Das Ziel eines im 21. Jahrhundert auf ihr Selbstordnungs- kircheneigenen Weges in heutiger Form und Selbstverwaltungsrecht im Rahmen der liegt auf der Hand: Unabhängige Interessen- für alle geltenden Gesetze, das ihnen in der vertretungen, zum Beispiel Gewerkschaften, Weimarer Reichsverfassung zugestanden werden als »Störfaktoren« angesehen und wurde (siehe Kapitel: Es gibt kein »Selbst- sollen strukturell von den Beschäftigten bestimmungsrecht« der Kirchen). Sie führen ferngehalten werden (siehe Kapitel: Spal- es als die maßgebliche Grundlage an, um tungsversuche mit Hilfe der historisch be- eine kirchliche Nebenrechtsordnung beim lasteten »Dienstgemeinschaft«). Ein Großteil Arbeitsrecht herleiten und rechtfertigen zu der Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände können. Zwar wurde das höchstrichterlich regelt Löhne und Arbeitsbedingungen in mehrfach in verschiedenen Auseinanderset- einem kircheneigenen Weg, unter Ausklam- zungen anerkannt, insofern ist es unter an- merung grundlegender Rechte der eigenen derem verfassungsrechtlich begründet. Doch Beschäftigten. Doch dem notwendigen es gibt gut begründete juristische Gegen- Ausgleich widerstreitender Interessen von positionen. Zudem bleibt ein zentraler Fakt: Beschäftigten und Arbeitgebern mit gewerk- Ihre Rechte sind bereits seit 1919 durch die schaftlichen Mitteln wird das nicht gerecht. 8
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben Chronik eines bröckelnden Sonderwegs Über Jahrzehnte setzten die Kirchen nach handen schien. Doch seit Mitte der 1990er der Einführung des Tarifvertragsgesetzes Jahre politisch der Weg in die »Vermarktli- 1949 Arbeitsbedingungen per Einzelvertrag chung« des Gesundheits- und Sozialwesens fest. Es gab schlicht keine kollektive Art geebnet wurde, geraten die Wohlfahrtsun- der Festschreibung von Arbeitsbedingun- ternehmen zunehmend unter wirtschaft- gen, wie es in nicht-kirchlichen Betrieben lichen Druck renditegetriebener Anbieter. zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaf- In der Folge sahen sich die Arbeitnehmer- ten üblich ist. Erst in den 1970er Jahren vertreter*innen in den Arbeitsrechtlichen schufen die Kirchen sich selbst das System Kommissionen mit Kürzungsplänen der der Arbeitsrechtlichen Kommissionen auf Arbeitgeber konfrontiert. Zudem reagierten kirchenrechtlicher Grundlage, wie es heute die kirchlichen Arbeitgeber mit Methoden, bekannt ist. Inhaltlich übernahmen sie wie sie auch kommerzielle Firmen nutzen: darin im Wesentlichen sowohl für ihre ver- Ausgründungen von Arbeitsbereichen, um fasst-kirchlichen Bereiche als auch in den Tarifflucht zu betreiben, Ausweitung von Wohlfahrtsunternehmen die tarifvertragli- befristeter Arbeit und verstärkter Einsatz chen Regelungen des öffentlichen Dienstes. von Leiharbeit, Unternehmensfusionen, Konzernbildungen und anderes mehr. Es wirkt absurd: Die Kirchen schufen ein eigenes Arbeitsrecht, um dann die Re- Insbesondere im diakonischen Bereich gelungen abzuschreiben, die zwischen hat das zu wachsenden Protesten ge- Gewerkschaften und Arbeitgebern ausge- führt – auch gegen das kircheneigene handelt wurden. Allerdings um den Preis, System zur Festlegung von Löhnen und dass sie ihren Beschäftigten Grundrechte Arbeitsbedingungen (siehe Kapitel: Arbeits- vorenthielten, zum Beispiel das Streikrecht. bedingungen regeln: »Konsensprinzip« Dieses Vorgehen hat insoweit getragen, ohne Augenhöhe). Es kam auch zu Streiks, als dass bis in die 1990er Jahre hinein nur deren Rechtmäßigkeit sowohl vom Bundes- eine geringe Konfliktbereitschaft bei den arbeitsgericht als auch vom Bundesverfas- Beschäftigten kirchlicher Einrichtungen vor- sungsgericht bestätigt wurde.4 9
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge Der Interessengegensatz zwischen Be- sogar Grundrechte ihrer Beschäftigte aus- schäftigten und Arbeitgebern in kirchlichen schließen? Der Widerstand unter den Be- Wohlfahrtsunternehmen ist so präsent wie schäftigten dagegen wächst (siehe Kapitel: nie zuvor, dennoch ignorieren die Kirchen Tarifverträge in kirchlichen Betrieben). diesen Fakt. Wie sonst ist es zu erklären, dass sie nach wie vor an ihrem System zur Die folgende Chronik zeigt die Entwicklung Aushandlung von Arbeitsvertragsrichtlinien kollektiver Vereinbarungen über Löhne und festhalten, die den Charakter allgemeiner Arbeitsbedingungen in den vergangenen Geschäftsbedingungen haben und weder 100 Jahren mit dem Fokus auf kirchliche kollektiv rechtsverbindlich sind noch eine Einrichtungen. nachweisliche Flächenwirkung haben, ja Abb.1 Chronik der Arbeitsrechtssetzung mit kollektivem Bezug5 (staatlicher und kirchlicher Bereich) 1918 Wenige Tage nach Ausbruch der Novemberrevolution schließen Arbeitgeber und Ge- werkschaften das Stinnes-Legien-Abkommen: In 13 Punkten werden erstmals Ge- werkschaften von Arbeitgebern in Deutschland als »berufene Vertretungen der Arbei- terschaft« anerkannt, jegliche Einschränkung der Koalitionsfreiheit wird ausgeschlossen (alle Arbeitnehmer*innen haben das Recht, sich Gewerkschaften anzuschließen und zu streiken) und es wird vereinbart, dass Arbeitsbedingungen für ein Gewerbe in »Kollektivvereinbarungen« (Tarifverträgen) festzulegen sind; es gibt keine Ausnahmen für kirchliche Einrichtungen. 1920er Streiks unter anderem auf kirchlichen Friedhöfen ab 1936 Die in Caritas und Innerer Mission geltenden Tarifverträge werden durch so genannte Tarifordnungen ersetzt; sie gelten nicht unmittelbar, sondern werden durch Beschlüsse der Leitungsorgane der Kirchen in Kraft gesetzt; in den Präam- beln wird der Begriff »Dienstgemeinschaft« aufgenommen, analog dem »Gesetze zur Ordnung nationaler Arbeit« der Nationalsozialisten von 1934; damit wird der Bezug zum nationalsozialistischen Konstrukt der Betriebsgemeinschaft und Füh- rer-/Gefolgschaftsprinzip bzw. der damit verbundenen Ausschaltung unabhängiger Interessenvertretungen, zum Beispiel der Gewerkschaften, nachvollzogen. ab 1945 Kirchen lösen sich nicht vom geschichtlich belasteten Begriff der »Dienstgemein- schaft«, der in Tarifordnungen weiter verwendet und für den lediglich ein neuer Bezugsrahmen eingeführt wird: »Dienen« wird ab sofort in den religiösen Auftrag der Kirchen eingebunden. 10
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben 1949 Verabschiedung des Tarifvertragsgesetzes: Rat der EKD beschließt 1949 eine »Vorläufige Arbeitsvertragsordnung für den kirchlichen Dienst«. Die Kirchen um- gehen so Verhandlungen mit Gewerkschaften und lehnen diese als unabhängige Verhandlungsführer in ihrem Bereich ab; Ablösung der Tarifordnungen durch Ar- beitsvertragsrichtlinien (AVR) in kirchlichen Wohlfahrtsverbänden; Verabschiedung des Grundgesetzes: Kirchen erhalten Selbstordnungs- und Selbstverwaltungs- recht im Rahmen der für alle geltenden Gesetze (gem. Art. 140 i.V.m. 137 WRV); Durchsetzung des kirchlichen Sonderwegs mit dem Hauptargument der deutschen Teilung: Westdeutschland solle Kirchen aufwerten, um so indirekt die Durchgriffe des sozialistischen ostdeutschen Staates ins Unrecht zu setzen; es folgt in den kommenden Jahrzehnten eine Verselbständigung des kirchlichen Sonderstatus’ im Arbeitsrecht. ab 1949 Kirchen bestimmen Arbeitsrecht ausschließlich über den »Ersten Weg«: Arbeitge- ber diktieren die Arbeitsbedingungen in Arbeitsverträgen. 1960er Bildung erster Arbeitsrechtlicher Kommissionen in der verfassten evangelischen Kirche; einzelne Kommissionen sind paritätisch besetzt; sie haben bislang eher koordinierende Funktionen für die Arbeitgeber; Arbeitnehmervertreter*innen in den Kommissionen werden durch Leitungsorgane berufen und sind zudem nicht überall in gleicher Anzahl wie die Arbeitgeber vertreten; die Kommissionen sind eher Beratungsinstanzen, Beschlusskompetenz liegt bei Kirchenleitungen (»Erster Weg«). 1979 Erster Tarifvertrag zwischen der Gewerkschaft ötv und der Nordelbischen Kirche mit befristeter Friedenspflicht (damals: Kirchlicher Angestelltentarifvertrag – KAT) 1990er Veränderung der politischen Rahmenbedingungen: Neoliberale Politik sorgt für die Öffnung des Gesundheits- und Sozialsektors für private Profitinteressen; Abbau von Sozialleistungen, Beseitigung des Selbstkostendeckungsprinzips; Wohlfahrtsverbände geraten unter wirtschaftlichen Druck. ab 1998 Verband der kirchlichen Mitarbeiter (vkm) arbeitet als einzige Vertretung der Ar- beitnehmer*innen in der Arbeitsrechtlichen Kommission des Diakonischen Werks der EKD mit; sie tagt geheim; es folgen die ersten Beschlüsse über Absenkungen gegenüber dem bisher umgesetzten Bundesangestelltentarifvertrag – kirchliche Fassung (BAT-KF); neu: Notlagenregelungen werden ermöglicht, die zum Beispiel die Absenkung des Urlaubs- und Weihnachtsgelds zulassen; Absenkung unterer Lohngruppen um bis zu 30 Prozent. ab 2001 Verband diakonischer Dienstgeber in Deutschland (VdDD) dominiert mit Kür- zungspolitik die Agenda der Arbeitsrechtlichen Kommission; VdDD wird Mitglied in der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), was als ein klares Bekenntnis zum Selbstverständnis als Arbeitgeberverband mit vorrangig marktwirtschaftlicher Orientierung gewertet werden kann; Der Verband korrigiert das Jahre später durch seinen Austritt aus der BDA 2002 ver.di schließt Tarifvertrag mit einigen diakonischen Unternehmen in Hamburg und Schleswig-Holstein (Kirchlicher Tarifvertrag Diakonie – KTD) 11
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge ab 2004 Arbeitnehmerseite stellt Arbeit in Arbeitsrechtlicher Kommission der EKD befristet ein, da es seit Jahren keine Entgelterhöhungen gab; betriebliche Aktionen, De- monstrationen folgen. 2005 Kirchenkonferenz der EKD fordert Senkung der Personalkosten um fünf Prozent gegenüber dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD); Arbeitgeber verstehen sich selbst als Unternehmensdiakonie, legen keinen Wert mehr auf Interessenausgleich. ab 2007 Erstmals seit Gründung der BRD Warnstreiks in kirchlichen Einrichtungen (Diako- nie Württemberg) 2009 Streiks in diakonischen Einrichtungen in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg; Arbeitnehmervertretungen in Arbeitsrechtlicher Kommission der EKD und fast allen regionalen Kommissionen beschließen Göttinger Erklärung »Tarifverträge statt kollektives Betteln«; Sie erklären das Scheitern des sogenann- ten Dritten Weges und fordern die Arbeitgeber auf, mit ver.di Tarifverhandlungen aufzunehmen 2010 Arbeitnehmerseite in Arbeitsrechtlicher Kommission der EKD verhindert bei zwei Wahlterminen die Wahl der neuen Kommission; Es folgt die Änderung der Wahl- ordnung durch die Diakonische Konferenz, wonach Mitglieder aus Verbänden und Gesamtausschüsse bzw. Arbeitsgemeinschaften der Mitarbeitervertretungen nur noch wählbar sind, wenn sie vorher erklären, dass sie im sogenannten Dritten Weg mitarbeiten; Bei der folgenden Wahlversammlung für die Kommission wer- den die Unterzeichner*innen der Göttinger Erklärung unter der Androhung, die Polizei zu rufen, draußen gehalten; In der Folge entsteht die »Kommission der Willigen«, unter anderen mit einzelnen Landesverbänden des Marburger Bundes und drei regionalen Mitarbeiterverbänden; die Mehrheit der Gewählten fällt selbst nicht einmal unter die Geltung der AVR. 2011 1.500 Arbeitnehmer*innen demonstrieren zur EKD-Synode für Tarifverträge und Streikrecht; Synode reagiert mit »Magdeburger Kundgebung«, die allgemein mehr Rechte für die Mitarbeitervertretung verlangt; trotz Protesten beschließt die Synode ein Arbeitsrechtsregelungsgrundsätzegesetz (ARGG), das den kirchenge- setzlichen Rahmen der Arbeitsrechtsetzung in EKD und Diakonie bilden soll; Es beeinhaltet den Ausschluss von Streiks, neue Beschlussmöglichkeiten der Arbeits- rechtlichen Kommissionen und die Zwangsschlichtung bei Fernbleiben einer Seite der Kommission; aus dem Mitwirkungsrecht wird eine Mitwirkungspflicht für die Arbeitnehmerseite. 2012 Ausgehend von den Streiks 2009 urteilt das Bundesarbeitsgericht (BAG): Streiks in kirchlichen Einrichtungen sind zulässig und das gewerkschaftliche Zutrittsrecht ist zu gewährleisten (letzteres wurde bisher wiederholt durch die Kirchen vor Gericht in Frage gestellt); nur wenn Gewerkschaften »angemessen« am kirchen- rechtlichem Weg beteiligt werden, könnte eventuell ein Streikverbot zutreffen; Das BAG stellt jedoch nicht fest, was unter »angemessen« zu verstehen ist und ob eines der beiden Grundrechte, Art. 9 (3) (Koalitionsfreiheit), gegenüber Art. 140 GG (Selbstordnungsrecht von Religionsgemeinschaften) höher zu be- werten ist; ver.di zieht vor das Bundesverfassungsgericht (siehe 2015). 12
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben 2013 EKD-Synode regelt per Kirchenrecht, dass neben dem so genannten Dritten Weg auch Tarifverhandlungen möglich sind, allerdings mit absoluter Friedenspflicht und verbindlicher Schlichtung (Zwangsschlichtung); Anlass sind anhaltende Proteste, die Übergabe von 17.000 Unterschriften und das BAG-Urteil von 2012 zum Streikrecht. 2014 ver.di schließt mit dem Diakonischen Dienstgeberverband Niedersachsen einen Tarifvertrag für rund 38.000 Beschäftigte ab (TV DN). 2015 Bundesverfassungsgericht nimmt die Beschwerde von ver.di gegen die Urteils- begründung des BAG aus 2012 nicht an; In der Erläuterung wird ver.di jedoch Recht gegeben: Das BAG hatte keinerlei Einschränkungen bzgl. des Streikrechts vorgenommen, insofern gibt es keinen zulässigen Grund für die von ver.di erho- bene Verfassungsbeschwerde; Fazit: Kirchliche Beschäftigte haben alle Rechte und keine Einschränkungen. Als Reaktion auf die neue Rechtslage erlassen der Verband der Diözesen Deutschlands und die Deutsche Bischofskonferenz eine »reformierte« Grundordnung für die Arbeitsverhältnisse in der katholischen Kirche und der Caritas. Mit der Anwendung des kirchlichen Arbeitsrechts nach Art. 140 GG. sichern sie ihre Privilegien. 2017 Die Arbeitsrechtliche Kommission der Diakonie Deutschland steht vor der Auflö- sung, einjährige Blockade der Arbeitnehmervertreter*innen wegen dramatischer Absenkungsvorhaben der diakonischen Arbeitgeber; ver.di skandalisiert die Vorha- ben; Die Bundeskonferenz der Arbeitsgemeinschaften und Gesamtausschüsse der Mitarbeitervertretungen und ver.di verabschieden das »Berliner Manifest« mit der Forderung nach Tarifverträgen; es wird der Diakonie Deutschland und dem VdDD überreicht; Im Rahmen der Bewegung für mehr Personal und Entlastung von ver.di streiken erstmals Beschäftigte einer katholischen Klinik im Saarland. 2018 Die Arbeitsrechtliche Kommission der Diakonie Deutschland wird nach Blockade neu gebildet; Die Gewerkschaften werden gemäß der Anforderungen aus dem BAG-Urteil von 2012 aufgefordert, sich zu beteiligen; ver.di lehnt das ab, regiona- le Gliederungen des Marburger Bunds und des vkm wirken hingegen mit. Eigene Darstellung, ohne Anspruch auf Vollständigkeit 13
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge Beschäftigte haben ein Recht auf Tarifverträge Die Grundlage für Tarifverträge in Deutsch- eine strukturierte Praxisanleitung in der land bildet das Tarifvertragsgesetz, das Pflege. Ebenso können Maßnahmen für 2019 seinen 70. Geburtstag feiert. Tarif- den Arbeits- und Gesundheitsschutz oder verträge werden zwischen Gewerkschaften zur beruflichen Qualifizierung tariflich fest- und einzelnen Arbeitgebern oder Arbeit- geschrieben werden. Tarifverträge sind also geberverbänden geschlossen. Sie regeln sowohl ein vielfältig einsetzbares als auch gegenseitige Rechte und Pflichten über den wirksames Instrument, um die Lohn- und Inhalt, den Abschluss und die Beendigung Arbeitsbedingungen zu gestalten. von Arbeitsverhältnissen, ebenso betrieb- liche und betriebsverfassungsrechtliche Die Inhalte von Tarifverträgen wirken als Fragen.6 Sie konkretisieren und verbessern Rechtsnormen. Was sonst dem Gesetz- gesetzliche Regelungen und können auch geber vorbehalten ist, wird in Bezug auf erstmals Regelungen schaffen, wenn es Lohn- und Arbeitsbedingungen in die noch keine gesetzlichen gibt. Ein Beispiel Hände der Gewerkschaften und Arbeitge- dafür ist die Einführung der Lohnfort- ber gelegt (Tarifautonomie). Die in ihrer zahlung im Krankheitsfall, die zunächst Gewerkschaft organisierten Beschäftigten per Tarifvertrag durchgesetzt und später tragen durch diese »Normsetzungsbefug- gesetzlich fixiert wurde. Übliche Inhalte von nis«7 somit eine hohe Verantwortung und Tarifverträgen sind die Höhe der Arbeitsent- üben gleichzeitig ein hohes kollektives, gelte bzw. Ausbildungsvergütungen, deren demokratisches Gut aus. Sie bestimmen Struktur, die Länge des Erholungsurlaubs, maßgeblich mit, wie ihre Arbeitsleistung die wöchentliche Arbeitszeit, Jahressonder- vergütet und ihre Arbeitsbedingungen zahlungen und vieles mehr. In den Tarifver- ausgestaltet werden (siehe Kapitel: Be- trägen des Gesundheits- und Sozialwesens schäftigte – die Entscheider*innen). Die spielen zudem Zulagen für Schicht- und Regelungen im Tarifvertrag gelten wie ein Wechselschichtarbeit sowie Zusatzurlaubs- Gesetz unmittelbar und zwingend.8 Die tage für Nachtarbeit eine wichtige Rolle. Beschäftigten haben demnach gegenüber Diese können auch ein Schutz bei Rationali- ihrem Arbeitgeber rechtliche Ansprüche sierungsmaßnahmen bzw. in Notlagen sein auf das, was im Tarifvertrag festgelegt ist, oder Regelungen zur Ausbildungsqualität sofern sie Mitglied der Gewerkschaft sind. enthalten, zum Beispiel den Anspruch auf Die Inhalte des Tarifvertrags gelten für alle, 14
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben Abb. 2 Vergleich tarifvertragliche 9 und gesetzliche Regelungen (Beispiele) Regelungsinhalt Tarifvertrag Gesetz Wöchentliche Arbeitszeit 38,5 Stunden 48 bis 60 Stunden bei 6 Monaten Ausgleichszeitraum Tägliche Arbeitszeit 7,7 Stunden 8 Stunden. Bis zu 10 Stunden, wenn (5-Tage-Woche) innerhalb eines Zeitraums von 6 Monaten durchschnittlich 8 Stun- den nicht überschritten werden Urlaubstage 30 Tage = 6 Wochen 20 Tage = 4 Wochen (5-Tage-Woche) (5-Tage-Woche) Jahressonderzahlung Je nach Entgeltgruppe bis zu Keine Regelung rund 80 Prozent eines durch- schnittlichen monatlichen Entgelts Zusatzurlaub für bis zu 5 Tage Keine Regelung Wechselschichtarbeit Zuschlag für 20 Prozent des Stundenent- Keine Regelung Nachtarbeit gelts je geleisteter Stunde Quelle: eigene Darstellung somit wirken sie kollektiv. Anders ist es bei keinen »Dritten Weg«). Außerdem können kirchlichen Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR). Beschäftigte nicht auf einzelne Regelungen Diese gelten nur insoweit, wie im einzelnen aus dem Tarifvertrag verzichten, was eine Arbeitsvertrag auf sie Bezug genommen wesentliche Schutzfunktion darstellt. Ande- wird. Der Arbeitgeber kann in den Einzel- renfalls könnten Arbeitgeber Beschäftigte verträgen zu Ungunsten der Beschäftigten zum Beispiel im Bewerbungsgespräch unter von den AVR abweichen. Deshalb sind Druck setzen und so die kollektive Wirkung Arbeitsvertragsrichtlinien nicht mit Tarifver- des Tarifvertrags aushebeln. trägen vergleichbar (siehe Kapitel: Es gibt 15
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge Da die Gewerkschaft als Tarifvertragspartei In der Praxis wenden Arbeitgeber Tarifver- für die organisierten Beschäftigten fungiert, träge allerdings in der Regel von sich aus besteht ein enger Zusammenhang zum nicht ausschließlich auf Gewerkschaftsmit- Grundrecht auf Koalitionsfreiheit (Art. 9 glieder an, sondern auf alle Beschäftigten. Abs. 3 GG). Beschäftigte haben das Recht Ein aus Arbeitgebersicht nachvollziehbares – es besteht kein Zwang – sich freiwillig in Kalkül. Denn würde der Anspruch auf gute einer Gewerkschaft zusammenzuschließen. Bezahlung, viele Urlaubstage, Jahresson- Es handelt sich somit um ein (Grund-) derzahlung, Zulagen, Altersvor- Recht, das vor allem davon lebt, sorge und anderes mehr aktiv ausgeübt zu werden. Tarif- nur für einen Teil der Es handelt verträge können nur entstehen, Arbeitnehmer*innen sich somit um ein wenn es in Gewerkschaften gelten – nämlich (Grund-)Recht, das organisierte Beschäftigte gibt. diejenigen, die in vor allem davon lebt, Deshalb gelten Tarifverträge der Gewerkschaft aktiv ausgeübt zu auch ausschließlich für die organisiert sind, werden. Mitglieder der Gewerkschaft, die den Tarifvertrag die den Vertrag abschließt.10 ausgehandelt hat –, Die Kirchen verklären diese Voraus- bekäme diese Gewerkschaft setzung als »Demokratiedefizit«. Richtig automatisch massiven Zulauf. ist jedoch, dass die Mitglieder und deren Daran hat der Arbeitgeber selbstredend Engagement den Gewerkschaften über- kein Interesse. Auf diese Weise profitie- haupt erst das Mandat geben, Tarifverträge ren »trittbrettfahrende« Beschäftigte, die zu verhandeln und (abhängig vom Ver- andere den Tarifvertrag verhandeln und handlungsergebnis!) abzuschließen. Das ist gegebenenfalls erkämpfen lassen. Für gute kein Defizit, sondern ein deutliches Ja zu Lohn- und Arbeitsbedingungen in Form demokratischer und selbstbestimmter Be- von Tarifverträgen sind starke Gewerk- teiligung. Ganz anders als im kirchenrechtli- schaften notwendig. Demzufolge ist es chen Weg, der bei Nichteinigung ein Ergeb- wichtig, dass möglichst alle Beschäftigten nis erzwingt – unabhängig vom Willen der solidarisch ihr Grundrecht ausüben, sich in Verhandlungspartner und der Beschäftigten ihrer Gewerkschaft zusammenschließen, (siehe Kapitel: Schlichtungsverfahren: Ohne Tarifverträge einfordern und sie gemeinsam »Konsens« bleibt noch Zwang). durchsetzen. 16
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben Beschäftigte – die Entscheider*innen Gewerkschaften sind historisch betrach- mehr Erholungsurlaub wichtig wäre, mehr tet als Berufs- und Selbsthilfeorganisa- Personal vorhanden sein sollte und anderes tionen entstanden. In ihnen schließen mehr. Über all diese Dinge kann mit dem sich Beschäftigte zusammen, um ihre Arbeitgeber verhandelt werden. Zunächst strukturelle Unterlegenheit gegenüber muss dabei entschieden werden, welche den Arbeitgebern auszugleichen11 und konkreten Forderungen an den Arbeitgeber Lohn- und Arbeitsbedingungen mit Hilfe gestellt werden. Als erstes sollte eine Dis- von Tarifverträgen zu regeln. Es ist folge- kussion in der Belegschaft unter Beteiligung richtig und entspricht dem demokratischen vieler stattfinden, um auf dieser Grundlage Anspruch freier Gewerkschaften, dass die konkrete Forderungen aufzustellen. Festge- Beschäftigten selbst die Tarifvertragsinhalte legt werden diese von den ver.di-Mitglie- maßgeblich bestimmen (wenngleich ein dern. Wer sich bis jetzt aktiv eingebracht Tarifvertrag einen Verhandlungskompro- hat, jedoch noch nicht organisiert war, miss mit den Arbeitgebern darstellt). Sie kann das konsequenterweise nachholen. sind die Expert*innen für gute Bedingungen bei ihrer eigenen Arbeit. Deshalb sind sie Tarifverträge können ausschließlich von die Entscheider*innen in Bezug auf ihre Gewerkschaften wie ver.di ausgehandelt Tarifauseinandersetzungen. werden. Gewerkschaften müssen gegen- über Arbeitgebern durchsetzungsfähig und Es sind eine Reihe gemeinsamer Schritte »gegnerunabhängig« sein. Organisationen, notwendig, um zu einem Tarifvertrag zu die diese Kriterien nicht erfüllen – weil sie gelangen. Es beginnt jedoch ganz leicht: beispielsweise von Arbeitgebern finanziert Die bestehenden Verhältnisse werden nicht werden – sind keine Gewerkschaften und mehr hingenommen und Gespräche unter können keine Tarifverträge aushandeln. den Kolleginnen und Kollegen beginnen: Was soll sich konkret verbessern? Sehen Um die Diskussion über mögliche Ver- es andere ebenso und sehen sie eventu- besserungen in Forderungen zu bündeln, ell weitere Probleme, die es anzugehen wird in ver.di eine Tarifkommission aus gilt? Dabei kann es zum Beispiel darum den Beschäftigten gewählt. Ihre Größe gehen, dass die Löhne höher sein sollten, und Zusammensetzung richtet sich nach 17
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge den jeweiligen Betrieben bzw. der (Teil-) berseite freiwillig und in freier Auswahl der Branche, für die verhandelt werden soll. Personen und ihrer Anzahl an den Verhand- Wichtig ist stets, dass die Tarifkommission lungstisch. Und das Wichtigste: Es können die Betroffenen repräsentiert. Das bezieht keinerlei Entscheidungen per mehrheitlicher sich auf Geschlechterverteilung, Berufsgrup- Abstimmung getroffen oder gar erzwungen pen, Teilbranchen, Betriebsarten, regionale werden. In Tarifverhandlungen finden keine Betriebsverteilung, die Beteiligung Auszu- gemeinsamen Abstimmungen von Arbeit- bildender und junger Beschäftigter sowie geber- und Arbeitnehmerseite (wie nach andere Kriterien. Ehrenamtliche Vorstände Kirchenrecht) statt. Vielmehr wird mit dem entscheiden in ver.di über die jeweilige Willen zur Einigung über die eingebrachten konkrete Struktur. Besetzt werden die Plätze Forderungen verhandelt. Eine Einigung in der Tarifkommission über Wahlen, die kommt ausschließlich dann zustande, zum Beispiel auf Mitgliederversammlungen wenn sich beide Seiten auf ein Ergebnis in den Betrieben stattfinden, in denen die verständigen. Zwar haben die Kirchen den potenziellen Kommissionsmitglieder be- Begriff »Konsensprinzip« für ihren kirchen- schäftigt und gewerkschaftlich aktiv sind. rechtlichen Weg geprägt, das ist jedoch Diese Kolleg*innen sind aus ihrem Betrieb irreführend. Findet die Arbeitsrechtliche bzw. ihren Entsendebereichen demokratisch Kommission keine Einigung, entscheidet legitimiert. Sie sind selbst von den Lohn- und die Zwangsschlichtung. Das ist kein Kon- Arbeitsbedingungen betroffen, kennen die sensprinzip. In Tarifverhandlungen hingegen Bedingungen vor Ort und sind in Kontakt mit gelangen Gewerkschaft und Arbeitgeber ihren Kolleg*innen, die der Tarifkommission tatsächlich ausschließlich über einen Kon- nicht selbst angehören. Ergänzt wird die sens zu einer Einigung. Die entscheidende Tarifkommission um ein*e hauptamtliche*n Frage lautet: Mit welchen Mitteln kann die ver.di-Verhandlungsführer*in. Dieses Gremi- Kompromissbereitschaft des Verhandlungs- um vertritt die Interessen der ver.di-Mitglie- partners beeinflusst werden (siehe Kapitel: der, für die der Tarifvertrag verhandelt wird. Arbeitsbedingungen regeln: »Konsensprin- zip« ohne Augenhöhe)? Wenn die Forderungen aufgestellt, dem Arbeitgeber mitgeteilt und er zu Verhand- Gelingt keine Einigung am Verhandlungs- lungen aufgefordert worden ist, können tisch, gibt es zwei Möglichkeiten. Die die Tarifverhandlungen beginnen. Es sind berechtigten Forderungen der Beschäftigten freie Verhandlungen. Anders als in den können fallengelassen werden. Entweder Arbeitsrechtlichen Kommissionen im kir- alle, so dass keine neuen Regelungen in chenrechtlichen Weg kommen also sowohl einem Tarifvertrag zustande kommen. Oder die Arbeitnehmer-, als auch die Arbeitge- ein Teil wird fallengelassen, so dass even- 18
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben Abb. 3 Entstehung eines Tarifvertrags Beschäftigte diskutieren, Ende der Laufzeit eines TV was sich verbessern soll ver.di-Mitglieder wählen (neuer) Tarifvertrag ihre Tarifkommission* ver.di-Tarifkommission beschließt Forderungen ver.di fordert Arbeitgeber zu Verhandlungen auf ver.di verhandelt Einigung mit Arbeitgeber keine Einigung Weitere Verhandlungen Aktionen / Warnstreiks Aktionen / Warnstreiks Weitere Verhandlungen keine Einigung * falls noch keine besteht Quelle: eigene Darstellung 19
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge tuell ein anderer Teil mit dem Arbeitgeber Kolleg*innen besteht. In sensiblen Berei- einigungsfähig ist. In jedem Fall würde das chen bietet ver.di stets Verhandlungen bedeuten, dass die Beschäftigten dem Ar- über eine Notdienstvereinbarung an, damit beitgeber nachgeben. Beides wird kaum den zum Beispiel Patient*innen im Kranken- Mitgliedern zu vermitteln sein, die sich aktiv haus oder Bewohner*innen im Pflegeheim mit ihren Forderungen eingebracht haben nicht gefährdet werden. Warnstreiks und die Arbeitsbedingungen signalisieren der Arbeitgeber- verbessern wollen. Die zweite Derartige seite, dass die Beschäftig- Möglichkeit ist also, den Aktionen bewegen ten bereit sind, für ihre Druck auf die Arbeitgeber sich im Rahmen der gewerk- Forderungen auch zum und damit ihre Bereit- schaftlichen Betätigungsfrei- letzten Mittel zu grei- schaft zu Kompromis- heit, die durch das Grundgesetz in fen und ihre Arbeits- sen zu erhöhen. Dafür Art. 9 Abs. 3 geschützt ist. Das gilt kraft zu entziehen, können zum Beispiel auch für kirchliche Betriebe, falls nötig. Voraus- gewerkschaftliche Aktio- die Arbeitgeber können es setzung dafür ist stets nen im Betrieb stattfinden, nicht verbieten. ein Streikaufruf durch die Öffentlichkeit herstellen. ver.di. Sollte auch das Diese können der Information zum nicht ausreichen, um zu einer Verhandlungsstand dienen, zum Mitmachen Einigung am Verhandlungstisch zu einladen, gegebenenfalls Abläufe im Betrieb gelangen, kann ver.di ihre Mitglieder im verlangsamen, aber in jedem Fall Unruhe für betroffenen Bereich zu einer Urabstimmung den Arbeitgeber erzeugen. Derartige Aktio- über einen unbefristeten Streik aufrufen. nen bewegen sich im Rahmen der gewerk- Wenn diese Abstimmung von mindestens schaftlichen Betätigungsfreiheit, die durch 75 Prozent der Mitglieder bejaht wird, kann das Grundgesetz in Art. 9 Abs. 3 geschützt ver.di zum unbefristeten Arbeitskampf auf- ist. Das gilt auch für kirchliche Betriebe, rufen. Eine hohe Hürde, die jedoch wichtig die Arbeitgeber können es nicht verbieten. ist, denn ein unbefristeter Streik ist eine harte Auseinandersetzung mit dem Arbeit- Wenn solche Aktionen nicht ausreichen, geber. Sie kann nur dann erfolgreich sein, um beim Arbeitgeber die Bereitschaft zu wenn die Beschäftigten mit großer Mehr- Verhandlungskompromissen zu erhöhen, heit solidarisch zusammenstehen. Wenn die kann ver.di zu Warnstreiks aufrufen. Ihre Verhandlungen zu einem Ergebnis führen, Art und Dauer richtet sich nach der Art entscheiden die ver.di-Mitglieder über des Betriebs und wird von der ver.di-Streik- dessen Annahme oder Ablehnung. Erst leitung festgelegt, die aus betroffenen bei Zustimmung zum Ergebnis ist ein Tarif- Beschäftigten und hauptamtlichen ver.di- abschluss erreicht. 20
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben Es gilt: Das Ziel ist zu keinem Zeitpunkt der kann, sondern eine gewerkschaftliche (Warn-)Streik, sondern ein Ergebnis in den Selbsthilfeorganisation ist. Maßgeblich Tarifverhandlungen, das ausgehend von ist, dass sich die betroffenen Kolleg*innen den berechtigten Forderungen der Be- aktiv einbringen und kollektiv mitbestim- schäftigten reale Verbesserungen in einem men. Tarifverträge sind Ergebnis kollektiven Tarifvertrag herbeiführt. Streikmaßnahmen Handelns und solidarischer Durchsetzungs- werden von Gewerkschaften nie fähigkeit. Ihre Inhalte sind Kompromisse leichtfertig durchgeführt, aus Verhandlungen zwischen sondern sind das letzte Arbeitgebern und Gewerk- Mittel in Tarifauseinan- Maßgeblich ist, schaft. Es ist eine Machtfrage. dersetzungen. Würde dass sich die betrof- Was in welcher Qualität in das Streikrecht nicht fenen Kolleg*innen aktiv Tarifverträgen geregelt wird, bestehen, wären einbringen und kollektiv hängt aber auch maßgeblich Tarifverhandlungen – so mitbestimmen. von den Entscheider*innen hat das das Bundesar- ab – von den organisierten beitsgericht einst formu- Beschäftigten im Betrieb. Es sind liert – nichts als »kollektives die Gewerkschaftsmitglieder, die Betteln«.12 gemeinsam streiten und dazu beitragen, Verbesserungen für alle durchzusetzen. Der Weg zum Tarifvertrag zeigt deutlich, Das geht nur mit vielen, das geht nur warum ver.di nicht stellvertretend handeln kreativ und das geht nur solidarisch. Es reicht! Wir streiken! Warnstreik 21
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge Verteilungsfragen sind Machtfragen Die Beschäftigten sind es, die mit ihrer zugunsten der abhängig Beschäftigten Arbeitskraft ein in Geld bewertetes Be- geklärt werden, wenn diese gewerkschaft- triebsergebnis erarbeiten. Das gilt sowohl lich zusammenstehen.13 für Produktions- als auch Dienstleistungs- unternehmen, wie im Gesundheits- und Am Beispiel von Lohnforderungen wird Sozialwesen. Wenn es die Beschäftigten deutlich, um was es bei der Umverteilung sind, die die Werte schaffen, stellt sich die geht. In der Regel ist eine Lohnforderung Frage, wer über deren Verteilung ent- die Summe dreier Komponenten: Der scheidet. Die Arbeitgeber (als Kapitalseite) Inflationsrate, der gesamtgesellschaftli- verfügen über die Macht zu bestimmen, ob chen Produktivitätssteigerung sowie einer es überhaupt eine Beteiligung der Beschäf- Umverteilungskomponente, die sich zum tigten am wirtschaftlichen Erfolg ihres Beispiel mit der Gewinnentwicklung, einer Betriebs gibt und wie sie aussieht. Einzelne guten wirtschaftlichen Situation oder einem Beschäftigte können zwar zum Beispiel Nachholbedarf begründet. versuchen, mit dem Arbeitgeber über einen höheren Lohn zu verhandeln, doch werden Gewerkschaftlichen Lohnforderungen liegt sie vermutlich nur erfolgreich sein, wenn das Ziel zu Grunde, durch den Einkom- sie einen Beruf ausüben, für den gerade ein mensanstieg die Inflation auszugleichen hoher Arbeitskräftebedarf besteht. Selbst und von steigender Produktivität zu profi- wenn das klappt, ist das womöglich nicht tieren. Zusammen ist dies der verteilungs- von Dauer. Denn die Arbeitsmarktlage kann neutrale Spielraum. Wird dieser vollständig sich jederzeit ändern. Auch Qualifikatio- ausgeschöpft, bleibt die Verteilung der (von nen können, zum Beispiel infolge techni- den Beschäftigten geschaffenen) Werte scher Neuerungen, entwertet werden. Die gleich. Darüber hinaus ist ein Zuwachs nachhaltige Alternative dazu: solidarisches, angemessen, denn die Beschäftigten kollektives Handeln, um für viele statt nur können zum Beispiel eine Beteiligung am einige wenige einen Anteil dessen einzu- wirtschaftlichen Erfolg ihres Betriebes fordern, was gemeinsam erarbeitet wurde. erwarten. Immerhin sind sie es mit ihrer Der Arbeitgeber wird dem nur nachkom- Arbeitskraft, die für den Erfolg sorgen. men, wenn er es muss. Diese Verteilungs- Oft gibt es zudem einen Nachholbedarf, frage ist eine Machtfrage und sie kann nur wenn die Tarifabschlüsse vergangener 22
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben Abb. 4 Zusammensetzung einer Lohnforderung 14 Inflationsrate Produktivitätssteigerung Umverteilungskomponente Dieser Teil der Forde- Aufgrund von Fortschritten bei Das ist der Teil einer Forderung, rung soll dem Ausgleich Technik und Arbeitsorganisation der nicht nur den Anstieg des der Preissteigerungsrate können Beschäftigte in derselben Preisniveaus ausgleicht und eine dienen. Wird diese Zeit immer größere Werte schaf- Teilhabe an gestiegener Produk- Komponente vollständig fen. Das gilt auch für den Dienst- tivität bedeutet, sondern eine durchgesetzt, bleiben leistungsbereich. Gelingt es der reale Umverteilung des erar- die Reallöhne stabil. Gewerkschaft, neben dem Inflati- beiteten Ergebnisses beinhaltet. onsausgleich die gesamtgesell- Dieser Teil kann zum Beispiel schaftliche Produktivitätssteige- auf die Gewinnentwicklung, rung im Tarifabschluss abzubilden, eine gute wirtschaftliche Situati- bleibt die Verteilungsrelation on, Sondereffekte oder einen zwischen Arbeitgeber und Arbeit- Nachholbedarf abzielen. nehmer*innen konstant. Liegt der Abschluss darunter, findet eine Umverteilung zugunsten der Ar- beitgeber statt. Verteilungsneutraler Spielraum Quelle: eigene Darstellung Jahre den verteilungsneutralen Spielraum erhalten – für tausende oder zehntausende nicht ausgeschöpft haben oder die Ent- Betroffene. Als würde es sich um einen geltentwicklung hinter der in anderen Verwaltungsakt und nicht, wie oben darge- Branchen zurückbleibt. Das gilt auch für legt, um eine Forderung für eine notwen- Wohlfahrts- bzw. kirchliche Betriebe. Dafür dige Lohnentwicklung handeln. Hier wird gibt es die Umverteilungskomponente deutlich, wie paternalistisch das kirchliche in einer Lohnforderung. So könnte eine System der Arbeitsrechtsetzung ist. Es ist Lohnforderung beispielsweise lauten: 2,0 nicht vorgesehen, dass Beschäftigte selbst- Prozent Inflationsausgleich plus 2,6 Prozent bewusst berechtigte Interessen verfolgen Produktivitätssteigerung plus 1,5 Prozent und Forderungen stellen. Sie »dürfen« Umverteilungskomponente/Nachholbedarf. Anträge stellen. Sprachlich ist die Nähe zu einem vermeintlich neutralen Verfahren, In der kirchlichen Arbeitsrechtslogik wird in fernab eines womöglich harten Interes- den Arbeitsrechtlichen Kommissionen von senkonflikts zwischen Arbeitnehmer*innen »Anträgen« statt von wechselseitigen For- und Arbeitgebern, sicher kein Zufall (siehe derungen gesprochen. Die Vertreter*innen Kapitel: Spaltungsversuche). Dazu passt, der Beschäftigten beantragen demnach, dass Anträge augenscheinlich nichts sind, dass sie und ihre Kolleg*innen mehr Lohn was durchgesetzt werden könnte – anders 23
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge als gewerkschaftliche Forderungen. Eines gen über Notdienstvereinbarungen auf, um eint allerdings gewerkschaftliche Forderun- eine Gefährdung von Menschen auszu- gen und kirchenrechtliche Anträge: Beide schließen. Diese Art Vereinbarungen sollen können am Verhandlungstisch abgelehnt eine Versorgung von Notfällen und grund- werden. Doch die daraus folgenden Hand- legenden Bedürfnissen hilfebedürftiger lungsoptionen sind grundsätzlich verschie- Menschen während des Arbeitskampfes den (siehe Kapitel: Schlichtungsverfahren: sicherstellen, doch alle nicht zwingend not- Ohne »Konsens« bleibt noch Zwang). wendigen Arbeiten werden kein Teil einer solchen Vereinbarung sein. Wenn bei Tarifverhandlungen eine Lö- sung nicht in Sicht ist, stellt sich für die Der Zweck von Arbeitskampfmaßnahmen Arbeitnehmerseite die Frage: Den aktuel- ist unabhängig von der Form: Sie müssen len Verhandlungsstand hinnehmen bzw. spürbar für den Arbeitgeber sein. In der Re- akzeptieren, was der Arbeitgeber bereit ist gel haben sie wirtschaftliche Folgen für den zu geben, oder den eigenen Forderungen Arbeitgeber, sie können aber auch öffent- Nachdruck verleihen? Letzteres verfolgt das lichen Druck erzeugen oder das positive Ziel, die Verhandlungs- bzw. Kompromiss- Image eines Arbeitgebers ankratzen. Ziel bereitschaft des Arbeitgebers zu erhöhen. ist es stets, die Kompromissbereitschaft des Das Mittel dazu ist der Arbeitskampf. Die Arbeitgebers zu erhöhen, um die Verteilung Kirchen versuchen, ihn kirchenrechtlich zugunsten der abhängig Beschäftigten zu strikt auszuschließen (siehe Kapitel: Ar- beeinflussen. Es ist nicht gewerkschaftli- beitsbedingungen regeln: »Konsensprinzip« ches Ziel und kann es auch niemals sein, ohne Augenhöhe). Vorrangig meinen sie mit Arbeitskämpfen den eigenen Betrieb damit Streikmaßnahmen, die zeitweise zu ruinieren. Diese Schimäre bzw. dieses oder längerfristige Niederlegung der Arbeit. Bedrohungsbild wird von Kritiker*innen Das ist allerdings lediglich eine Form des gewerkschaftlicher Arbeit in kirchlichen Be- Arbeitskampfes. Dieser kennt viele Formen trieben wiederholt bemüht. Es geht um die und das klassische Bild von streikenden Durchsetzung berechtigter Forderungen, Beschäftigten, die ganztägig vor dem nicht darum, den eigenen Arbeitsplatz zu Werkstor stehen, ist im Gesundheits- und zerstören. Die ver.di-Mitglieder im Betrieb Sozialwesen längst nicht der Normalfall. sind in ihren Tarifauseinandersetzungen ver.di geht mit dem Mittel des Arbeits- selbst die Entscheider*innen. Sie bestimmen kampfs stets verantwortungsvoll um und über die Forderungen, deren Durchsetzung ruft deshalb regelhaft vor Arbeitskämpfen sowie die Annahme oder Ablehnung eines Arbeitgeber dieser Branche zu Verhandlun- Verhandlungsergebnisses und sind an den 24
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben Verhandlungen beteiligt. Die Existenz des erhalten sie kein Streikgeld. Insbesonde- Betriebs und damit ihren Arbeitsplatz set- re diese Unterstützung ist ausschließlich zen sie sicher nicht aufs Spiel. durch eine starke Gewerkschaft möglich, in der sich viele Beschäftigte solidarisch Streikmaßnahmen sind nicht das Ziel von – und freiwillig – organisieren. Sie sorgen Tarifauseinandersetzungen, sondern ein mit ihren Mitgliedsbeiträgen dafür, dass Mittel, um Forderungen durchzusetzen, ihre Gewerkschaft durchsetzungsfähig ist. wenn am Verhandlungstisch die Gleichzeitig macht die Finanzierung Kompromissbereitschaft des über Mitgliedsbeiträge ver.di als Arbeitgebers endet. Das Die ver.di-Mit- Gewerkschaft unabhängig – Streikrecht ist ein Grund- glieder im Betrieb sind eine der wichtigsten Eigen- recht, das allen Beschäf- in ihren Tarifauseinan- schaften freier Gewerkschaf- tigten zusteht und sich aus dersetzungen selbst die ten, was diese zum Beispiel der Koalitionsfreiheit gemäß Entscheider*innen. von kirchlichen Mitarbeiterver- Art. 9 Abs. 3 GG ergibt. Es bänden unterscheidet. gilt für alle Beschäftigten – auch in kirchlichen Einrichtungen. Die Kirchen Von kirchlicher Seite wird behauptet, haben zwar lange dagegen gekämpft, Streiks seien ebenso verboten wie Aus- doch letztlich verloren: Das Bundesarbeits- sperrungen. Letztere können Arbeitgeber gericht hat 2012 die Auffassung von ver.di theoretisch einsetzen, um Druck auf die bestätigt, dass das Streikrecht auch in Gewerkschaften auszuüben. Bei einer kirchlichen Einrichtungen gilt und auch das Aussperrung verweigert der Arbeitgeber Bundesverfassungsgericht hat 2015 be- Beschäftigten den Zugang zum Arbeitsbe- kräftigt, dass es in dieser Hinsicht keinerlei reich sowie die Lohnzahlung – auch den- Einschränkungen für Gewerkschaften gibt. jenigen, die nicht streiken. Der »Verzicht« Es gelten die gleichen Voraussetzungen auf Aussperrungen rechtfertigt allerdings wie in nicht-kirchlichen Betrieben. Wenn nicht ein kirchliches Streikverbot. Denn Beschäftigte die Arbeit niederlegen, ist der dieses Arbeitskampfmittel spielt in der Arbeitgeber nicht verpflichtet, den Lohn Praxis so gut wie keine Rolle. Insbesondere weiterzuzahlen. In diesem Fall erhalten im Gesundheits- und Sozialwesen würde es Gewerkschaftsmitglieder von ver.di Streik- die Versorgung von Menschen gefährden. geld, um den Lohnausfall abzumildern. Die Arbeitgeber der Branche reagieren auf Beschäftigte, die nicht in der Gewerkschaft Streiks daher v.a. mit Lohnentzug, wes- organisiert sind, dürfen ebenfalls strei- halb eine Gewerkschaftsmitgliedschaft für ken – denn es ist ein Grundrecht. Allerdings Beschäftigte ratsam ist. 25
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge Gute Arbeitsbedingungen und angemessene Bezahlung – eine Verteilungsfrage Die Verteilungsfrage ist nicht ausschließ- Es waren zum Teil harte Auseinanderset- lich auf die Lohnentwicklung beschränkt. zungen, die ohne entschlossene, organi- Der Anspruch auf Lohnfortzahlung im sierte Kolleg*innen nicht zugunsten aller Krankheitsfall oder die heute weitverbrei- Arbeitnehmer*innen hätten entschieden tete wöchentliche Arbeitszeit zwischen werden können. Etwas, das im kirchen- 35 und 40 Stunden sind weitere Beispiele rechtlichen Weg zur Regelung von Ar- für Umverteilungserfolge der abhängig beitsbedingungen de facto nicht möglich Beschäftigten. Sie sind maßgeblich ist. Zwei Beispiele aus dem auf gewerkschaftliche Kämp- nicht-kirchlichen und kirch- fe zurückzuführen. Seit lichen Bereich verdeut- rund 25 Jahren hat im 100 lichen, dass echte Gesundheits- und Entlastung im 2 Sozialwesen – aus- Zwangssystem der drücklich auch in So Kirchen und vor kirchlichen Einrich- allem ohne Selbst- tungen – die politisch ermächtigung gewollte »Vermarkt- der Beschäftigten lichung« zu massiver nicht möglich ist. Arbeitsverdichtung Das erste Beispiel und Überbelastung dreht sich um die geführt. Vor diesem Auseinandersetzung Hintergrund findet ein für mehr Personal neuer Verteilungskampf statt: und Entlastung an der für mehr Personal, Entlastung und die Uniklinik Essen. Das zweite Beispiel bezieht Aufwertung sozialer Berufe. In den ver- sich auf den Versuch von Beschäftigten gangenen Jahren hat ver.di im Bereich der der Diakonie Mitteldeutschland, sich auf Krankenhäuser Tarifauseinandersetzungen kirchenrechtlichem Weg um eine Aufwer- für Entlastung geführt und in 16 Kliniken tung ihrer Arbeit und ebenfalls entlastende Erfolge erzielt, weitere sind auf dem Weg. Arbeitsbedingungen zu bemühen. 26
Sie können auch lesen