Streitschrift So 100 - Verdi

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Streitschrift So 100 - Verdi
Streitschrift             100 Jahre Mitbestimmung
                          und Tarifverträge
zum kirchlichen Sonderweg im Arbeitsrecht

Tarifverträge in kirchlichen Betrieben

          2
                               100
        So
Impressum
Herausgeberin
ver.di-Bundesverwaltung
Fachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen
Paula-Thiede-Ufer 10, 10179 Berlin

V.i.S.d.P.
Sylvia Bühler

Bearbeitung
Mario Gembus

Gestaltung
werkzwei Detmold

Druck
Druckerei Tiemann, Bielefeld

3642-05-0919

2., aktualisierte Auflage Februar 2020
Inhalt

Vorwort                                                                              4

Interessenkonflikt, Spaltung, Tarifverträge und der kirchliche Sonderweg             6

Gegensätzliche Interessen – ausgeschaltet?                                           8

Chronik eines bröckelnden Sonderwegs                                                 9

Beschäftigte haben ein Recht auf Tarifverträge                                      14

Beschäftigte – die Entscheider*innen                                                17

Verteilungsfragen sind Machtfragen                                                  22

Gute Arbeitsbedingungen und angemessene Bezahlung – eine Verteilungsfrage           26

   Beispiel Uniklinik Essen: Für mehr Personal und Entlastung                       27

   Beispiel Diakonie Mitteldeutschland: Ein Versuch von Aufwertung und Entlastung   29

Tarifverträge in kirchlichen Betrieben                                              33

Für sprachliche Klarheit – Auflösung kirchlich gesetzter Begriffe                   37

   Es gibt kein »Selbstbestimmungsrecht« der Kirchen                                37

   Spaltungsversuche mit Hilfe der historisch belasteten »Dienstgemeinschaft«       39

   Es gibt keinen »Dritten Weg«                                                     41

   Arbeitsbedingungen regeln: »Konsensprinzip« ohne Augenhöhe                       44

   Schlichtungsverfahren: Ohne »Konsens« bleibt noch Zwang                          46

   Arbeitsvertragsrichtlinien haben keine Flächenwirkung                            48

   Systemstützend: Mitarbeit in Arbeitsrechtlichen Kommissionen                     50

   »Kirchengemäße Tarifverträge«: Einschränkung gewerkschaftlicher
   Rechte durch Kirchenrecht                                                        53

Quellenverzeichnis                                                                  56

Abbildungsverzeichnis                                                               62
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge

         Liebe Kollegin, lieber Kollege,

        die eigenen Lohn- und Arbeitsbedingungen mitzugestalten, das ist in
        Deutschland seit rund 100 Jahren möglich, seit 70 Jahren ist dieses Recht
        auch im Grundgesetz und im Tarifvertragsgesetz verankert. Arbeitgeber
        und Gewerkschaften verhandeln Tarifverträge, deren Inhalte wie Gesetze
        wirken. Die Tarifautonomie ist ein hohes Gut. Ganz egal, ob sie bei einem
        konfessionellen, einem anderen freigemeinnützigen, einem öffentlichen
        oder privaten Träger arbeiten: Den Schutz eines Tarifvertrags haben alle
        Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen verdient.

        70 Jahre Tarifvertragsgesetz sind ein guter Anlass, sich in dieser »Streit-
        schrift« mit einem anderen, dem kirchlichen Weg zur Regelung von
        Lohn- und Arbeitsbedingungen zu befassen. Seit 1919 haben die Kirchen
        das verfassungsmäßige Recht, ihre Angelegenheiten innerhalb der für
        alle geltenden Gesetze selbst zu verwalten und zu ordnen. Und seit
        1949 nutzen sie dieses Recht dafür aus, ein eigenes Arbeitsrecht zu
        schaffen und Gewerkschaften auszuschließen. Bis dahin galten Tarifver-
        träge auch für kirchliche Einrichtungen. In der »Streitschrift« beschrei-
        ben wir, wie Tarifverträge unter Beteiligung der Beschäftigten zustande
        kommen und entzaubern einige Kernbegriffe der vermeintlich kirchlichen
        Besonderheiten.

        Noch wollen die Kirchen selbst den Rahmen festlegen, in dem sich ihre
        Beschäftigten bewegen dürfen. Sie sprechen ihnen Grundrechte ab, wie
        etwa das Recht auf Streik. Seit dem Einzug des wirtschaftlichen Wett-
        bewerbs im Gesundheits- und Sozialwesen wird immer offensichtlicher,
        dass es natürlich auch bei kirchlichen Einrichtungen unterschiedliche
        Interessen bei Arbeitgebern und Belegschaften gibt. Doch transparente
        Verhandlungen auf Augenhöhe soll es weiterhin nicht geben.

        Beschäftigte der Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände Diakonie und
        Caritas müssen genauso ihre Lohn- und Arbeitsbedingungen mitgestalten

4
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben

können, wie Kolleginnen und Kollegen bei welt-

                                                     Die Hoffotografen, Berlin
lichen Trägern. Ihnen dürfen keine Grundrechte
vorenthalten werden. Schließlich sind sie Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer und keine
Ordensbrüder und -schwestern. Zuletzt haben
auch das Bundesarbeitsgericht und das Bundes-        Sylvia Bühler, Mitglied
verfassungsgericht bestätigt: es gibt keine Ein-     im ver.di-Bundesvorstand
schränkungen für Beschäftigte in kirchlichen Betrie-
ben in Bezug auf gewerkschaftliche Betätigung.

Man kann den Kirchen nur raten, ihre längst überholte Sonderrolle
endlich aus freien Stücken aufzugeben. Bevor es die Gerichte scheib-
chenweise tun. Als zweitgrößter Arbeitgeber in Deutschland wäre das
ein wichtiges Signal. Wir stehen an der Seite der kirchlich Beschäftigten,
die ihre Rechte einfordern und ihre Arbeitsbedingungen mitbestimmen
wollen.

Herzliche Grüße

Sylvia Bühler

                                                                                                                     5
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge

Interessenkonflikt, Spaltung, Tarifverträge
		         und der kirchliche Sonderweg

Seit nunmehr      100 Jahren     werden Löh-   Tarifflucht ihrer Arbeitgeber nicht hilflos
ne und Arbeitsbedingungen in Deutschland       ausgeliefert sind. Als Teil einer starken
durch Tarifverträge geregelt. Für Millionen    Gewerkschaft können sie solidarisch gute
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern        Lohn- und Arbeitsbedingungen durch-
erfüllen sie eine wichtige Funktion. Sie       setzen – wenn nötig, mit Hilfe von Streiks.
entstehen durch kollektives Handeln von        In kirchlichen Betrieben agieren Arbeit-
abhängig Beschäftigten, die sich in ihrer      geber mittlerweile wie andere Träger und
Gewerkschaft zusammenschließen, um ihre        verschlechtern Löhne und Arbeitsbedin-
strukturelle Unterlegenheit gegenüber den      gungen, um in der politisch gewollten
Arbeitgebern auszugleichen. Bundesweit         Konkurrenz innerhalb des Gesundheits- und
gibt es über alle Branchen hinweg 77.3161      Sozialwesens bestehen zu können. Den-
gültige Tarifverträge. Im Zuständigkeits-      noch ignorieren und verschleiern sie größ-
bereich von ver.di sind es 14.281, von         tenteils den Interessenkonflikt zwischen
denen 3.061 für das Gesundheits- und           Arbeitnehmer*innen und Arbeitgebern.
Sozialwesen abgeschlossen wurden2 – da-        Sie bemühen Begriffe wie die sogenannte
runter auch für kirchliche Einrichtungen.      Dienstgemeinschaft, um Beschäftigte in
Die hohe Zahl von Tarifverträgen im Ge-        einen theologisch hergeleiteten Betriebs-
sundheits- und Sozialwesen verdeutlicht        frieden zu zwingen. So wird der kirchliche
zwei Dinge: Einerseits hat die Öffnung         Sonderstatus im Arbeitsrecht zu einem
dieses Sektors für kommerzielle Interessen     (Wettbewerbs-)Vorteil, der darauf fußt,
in den vergangenen 25 Jahren eine Erosion      Beschäftigten grundlegende Rechte streitig
der Flächentarifverträge zur Folge gehabt.     zu machen.
Tarifbindung konnte zunehmend nur durch
regionale, Konzern- oder Haustarifverträ-      Die vorliegende Streitschrift befasst sich
ge hergestellt werden. Andererseits zeigt      mit Tarifverträgen, die auch für kirchliche
die Entwicklung, dass Beschäftigte der         Betriebe ein normales Mittel sind, um Lohn-

6
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben

und Arbeitsbedingungen zu regeln. Im             Eine dritte Streitschrift wagt einen Blick in
Fokus steht die Rolle der Beschäftig-            die Zukunft und befasst sich mit dem na-
ten als Entscheider*innen. Sie können ihre       henden Ende des kirchlichen Sonderwegs
Arbeitsbedingungen maßgeblich mitbe-             im Arbeitsrecht. Die Streitschriften sollen
stimmen – wenn sie sich zusammenschlie-          auf Widersprüchliches und offene Fragen
ßen, sich gewerkschaftlich organisieren.         hinweisen, zuspitzen und zur Diskussion
Einem kritischen Blick wird die vor nunmehr      anregen. Sie sind keine offiziellen Beschlüs-
70 Jahren durch die Kirchen etablierte           se von ver.di.
arbeitsrechtliche Nebenrechtsordnung un-
terzogen. Sie ist nicht in der Lage, kollektiv

                                                                                 ¶
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wirksame Regelungen hervorzubringen und

                                                                   ¶
spricht Beschäftigten sogar Grundrechte
ab. Anhand ausgewählter Begriffe zeigen
wir auf, wie verklärend und irreführend

                                                                  ¶
die diesbezüglichen Kirchengesetze sind.
Eine weitere Streitschrift beschäftigt
sich anlässlich ihres 100-jährigen
Bestehens mit der betrieblichen
Mitbestimmung in kirchlichen
Einrichtungen.

                           ‰
                                                                                                      7
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge

Gegensätzliche Interessen – ausgeschaltet?

Tarifverträge sind grundsätzlich auch für         Weimarer Reichsverfassung verbrieft, die
kirchliche Einrichtungen das Mittel, mit          Kirchen sind jedoch (erst) mit der Verab-
dem Arbeitsbedingungen wirksam kollektiv          schiedung des Tarifvertragsgesetzes und
vereinbart werden können. Allerdings ist das      des Grundgesetzes 1949 ausgeschert und
heute in der öffentlichen Wahrnehmung in          haben ein eigenes, durch sie selbst gesetztes
den Hintergrund getreten. Teilweise bekannt       Arbeitsrecht geschaffen. Tarifverträge galten
ist, dass Kirchen einen eigenen Weg haben.        zwischen 1919 bis zur Machtergreifung
Ganz so, als sei hier alles anders, als sei der   durch die Nazis 1933 auch für kirchliche
klassische Interessengegensatz zwischen           Einrichtungen, inklusive aller damit verbun-
Arbeitnehmer*innen und Arbeitgebern in            denen Rechte für Beschäftigte. So fanden
kirchlichen Betrieben nicht vorhanden. Wo-        in den 1920er Jahren zum Beispiel Streiks
her kommt das? Die Kirchen pochen auch            in Friedhofsbetrieben statt.3 Das Ziel eines
im 21. Jahrhundert auf ihr Selbstordnungs-        kircheneigenen Weges in heutiger Form
und Selbstverwaltungsrecht im Rahmen der          liegt auf der Hand: Unabhängige Interessen-
für alle geltenden Gesetze, das ihnen in der      vertretungen, zum Beispiel Gewerkschaften,
Weimarer Reichsverfassung zugestanden             werden als »Störfaktoren« angesehen und
wurde (siehe Kapitel: Es gibt kein »Selbst-       sollen strukturell von den Beschäftigten
bestimmungsrecht« der Kirchen). Sie führen        ferngehalten werden (siehe Kapitel: Spal-
es als die maßgebliche Grundlage an, um           tungsversuche mit Hilfe der historisch be-
eine kirchliche Nebenrechtsordnung beim           lasteten »Dienstgemeinschaft«). Ein Großteil
Arbeitsrecht herleiten und rechtfertigen zu       der Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände
können. Zwar wurde das höchstrichterlich          regelt Löhne und Arbeitsbedingungen in
mehrfach in verschiedenen Auseinanderset-         einem kircheneigenen Weg, unter Ausklam-
zungen anerkannt, insofern ist es unter an-       merung grundlegender Rechte der eigenen
derem verfassungsrechtlich begründet. Doch        Beschäftigten. Doch dem notwendigen
es gibt gut begründete juristische Gegen-         Ausgleich widerstreitender Interessen von
positionen. Zudem bleibt ein zentraler Fakt:      Beschäftigten und Arbeitgebern mit gewerk-
Ihre Rechte sind bereits seit 1919 durch die      schaftlichen Mitteln wird das nicht gerecht.

8
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben

Chronik eines bröckelnden Sonderwegs

Über Jahrzehnte setzten die Kirchen nach       handen schien. Doch seit Mitte der 1990er
der Einführung des Tarifvertragsgesetzes       Jahre politisch der Weg in die »Vermarktli-
1949 Arbeitsbedingungen per Einzelvertrag      chung« des Gesundheits- und Sozialwesens
fest. Es gab schlicht keine kollektive Art     geebnet wurde, geraten die Wohlfahrtsun-
der Festschreibung von Arbeitsbedingun-        ternehmen zunehmend unter wirtschaft-
gen, wie es in nicht-kirchlichen Betrieben     lichen Druck renditegetriebener Anbieter.
zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaf-         In der Folge sahen sich die Arbeitnehmer-
ten üblich ist. Erst in den 1970er Jahren      vertreter*innen in den Arbeitsrechtlichen
schufen die Kirchen sich selbst das System     Kommissionen mit Kürzungsplänen der
der Arbeitsrechtlichen Kommissionen auf        Arbeitgeber konfrontiert. Zudem reagierten
kirchenrechtlicher Grundlage, wie es heute     die kirchlichen Arbeitgeber mit Methoden,
bekannt ist. Inhaltlich übernahmen sie         wie sie auch kommerzielle Firmen nutzen:
darin im Wesentlichen sowohl für ihre ver-     Ausgründungen von Arbeitsbereichen, um
fasst-kirchlichen Bereiche als auch in den     Tarifflucht zu betreiben, Ausweitung von
Wohlfahrtsunternehmen die tarifvertragli-      befristeter Arbeit und verstärkter Einsatz
chen Regelungen des öffentlichen Dienstes.     von Leiharbeit, Unternehmensfusionen,
                                               Konzernbildungen und anderes mehr.
Es wirkt absurd: Die Kirchen schufen ein
eigenes Arbeitsrecht, um dann die Re-          Insbesondere im diakonischen Bereich
gelungen abzuschreiben, die zwischen           hat das zu wachsenden Protesten ge-
Gewerkschaften und Arbeitgebern ausge-         führt – auch gegen das kircheneigene
handelt wurden. Allerdings um den Preis,       System zur Festlegung von Löhnen und
dass sie ihren Beschäftigten Grundrechte       Arbeitsbedingungen (siehe Kapitel: Arbeits-
vorenthielten, zum Beispiel das Streikrecht.   bedingungen regeln: »Konsensprinzip«
Dieses Vorgehen hat insoweit getragen,         ohne Augenhöhe). Es kam auch zu Streiks,
als dass bis in die 1990er Jahre hinein nur    deren Rechtmäßigkeit sowohl vom Bundes-
eine geringe Konfliktbereitschaft bei den      arbeitsgericht als auch vom Bundesverfas-
Beschäftigten kirchlicher Einrichtungen vor-   sungsgericht bestätigt wurde.4

                                                                                                    9
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge

Der Interessengegensatz zwischen Be-                   sogar Grundrechte ihrer Beschäftigte aus-
schäftigten und Arbeitgebern in kirchlichen            schließen? Der Widerstand unter den Be-
Wohlfahrtsunternehmen ist so präsent wie               schäftigten dagegen wächst (siehe Kapitel:
nie zuvor, dennoch ignorieren die Kirchen              Tarifverträge in kirchlichen Betrieben).
diesen Fakt. Wie sonst ist es zu erklären,
dass sie nach wie vor an ihrem System zur              Die folgende Chronik zeigt die Entwicklung
Aushandlung von Arbeitsvertragsrichtlinien             kollektiver Vereinbarungen über Löhne und
festhalten, die den Charakter allgemeiner              Arbeitsbedingungen in den vergangenen
Geschäftsbedingungen haben und weder                   100 Jahren mit dem Fokus auf kirchliche
kollektiv rechtsverbindlich sind noch eine             Einrichtungen.
nachweisliche Flächenwirkung haben, ja

Abb.1      Chronik der Arbeitsrechtssetzung mit kollektivem Bezug5
           (staatlicher und kirchlicher Bereich)

 1918          Wenige Tage nach Ausbruch der Novemberrevolution schließen Arbeitgeber und Ge-
               werkschaften das Stinnes-Legien-Abkommen: In 13 Punkten werden erstmals Ge-
               werkschaften von Arbeitgebern in Deutschland als »berufene Vertretungen der Arbei-
               terschaft« anerkannt, jegliche Einschränkung der Koalitionsfreiheit wird
               ausgeschlossen (alle Arbeitnehmer*innen haben das Recht, sich Gewerkschaften
               anzuschließen und zu streiken) und es wird vereinbart, dass Arbeitsbedingungen für
               ein Gewerbe in »Kollektivvereinbarungen« (Tarifverträgen) festzulegen sind; es gibt
               keine Ausnahmen für kirchliche Einrichtungen.
 1920er        Streiks unter anderem auf kirchlichen Friedhöfen
 ab 1936       Die in Caritas und Innerer Mission geltenden Tarifverträge werden durch so
               genannte Tarifordnungen ersetzt; sie gelten nicht unmittelbar, sondern werden
               durch Beschlüsse der Leitungsorgane der Kirchen in Kraft gesetzt; in den Präam-
               beln wird der Begriff »Dienstgemeinschaft« aufgenommen, analog dem »Gesetze
               zur Ordnung nationaler Arbeit« der Nationalsozialisten von 1934; damit wird der
               Bezug zum nationalsozialistischen Konstrukt der Betriebsgemeinschaft und Füh-
               rer-/Gefolgschaftsprinzip bzw. der damit verbundenen Ausschaltung unabhängiger
               Interessenvertretungen, zum Beispiel der Gewerkschaften, nachvollzogen.
 ab 1945       Kirchen lösen sich nicht vom geschichtlich belasteten Begriff der »Dienstgemein-
               schaft«, der in Tarifordnungen weiter verwendet und für den lediglich ein neuer
               Bezugsrahmen eingeführt wird: »Dienen« wird ab sofort in den religiösen Auftrag
               der Kirchen eingebunden.

10
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben

1949      Verabschiedung des Tarifvertragsgesetzes: Rat der EKD beschließt 1949 eine
          »Vorläufige Arbeitsvertragsordnung für den kirchlichen Dienst«. Die Kirchen um-
          gehen so Verhandlungen mit Gewerkschaften und lehnen diese als unabhängige
          Verhandlungsführer in ihrem Bereich ab; Ablösung der Tarifordnungen durch Ar-
          beitsvertragsrichtlinien (AVR) in kirchlichen Wohlfahrtsverbänden; Verabschiedung
          des Grundgesetzes: Kirchen erhalten Selbstordnungs- und Selbstverwaltungs-
          recht im Rahmen der für alle geltenden Gesetze (gem. Art. 140 i.V.m. 137 WRV);
          Durchsetzung des kirchlichen Sonderwegs mit dem Hauptargument der deutschen
          Teilung: Westdeutschland solle Kirchen aufwerten, um so indirekt die Durchgriffe
          des sozialistischen ostdeutschen Staates ins Unrecht zu setzen; es folgt in den
          kommenden Jahrzehnten eine Verselbständigung des kirchlichen Sonderstatus’ im
          Arbeitsrecht.
ab 1949   Kirchen bestimmen Arbeitsrecht ausschließlich über den »Ersten Weg«: Arbeitge-
          ber diktieren die Arbeitsbedingungen in Arbeitsverträgen.
1960er    Bildung erster Arbeitsrechtlicher Kommissionen in der verfassten evangelischen
          Kirche; einzelne Kommissionen sind paritätisch besetzt; sie haben bislang eher
          koordinierende Funktionen für die Arbeitgeber; Arbeitnehmervertreter*innen in
          den Kommissionen werden durch Leitungsorgane berufen und sind zudem nicht
          überall in gleicher Anzahl wie die Arbeitgeber vertreten; die Kommissionen sind
          eher Beratungsinstanzen, Beschlusskompetenz liegt bei Kirchenleitungen (»Erster
          Weg«).
1979      Erster Tarifvertrag zwischen der Gewerkschaft ötv und der Nordelbischen Kirche
          mit befristeter Friedenspflicht (damals: Kirchlicher Angestelltentarifvertrag – KAT)
1990er    Veränderung der politischen Rahmenbedingungen: Neoliberale Politik sorgt für
          die Öffnung des Gesundheits- und Sozialsektors für private Profitinteressen;
          Abbau von Sozialleistungen, Beseitigung des Selbstkostendeckungsprinzips;
          Wohlfahrtsverbände geraten unter wirtschaftlichen Druck.
ab 1998   Verband der kirchlichen Mitarbeiter (vkm) arbeitet als einzige Vertretung der Ar-
          beitnehmer*innen in der Arbeitsrechtlichen Kommission des Diakonischen Werks
          der EKD mit; sie tagt geheim; es folgen die ersten Beschlüsse über Absenkungen
          gegenüber dem bisher umgesetzten Bundesangestelltentarifvertrag – kirchliche
          Fassung (BAT-KF); neu: Notlagenregelungen werden ermöglicht, die zum Beispiel
          die Absenkung des Urlaubs- und Weihnachtsgelds zulassen; Absenkung unterer
          Lohngruppen um bis zu 30 Prozent.
ab 2001   Verband diakonischer Dienstgeber in Deutschland (VdDD) dominiert mit Kür-
          zungspolitik die Agenda der Arbeitsrechtlichen Kommission; VdDD wird Mitglied
          in der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), was als ein
          klares Bekenntnis zum Selbstverständnis als Arbeitgeberverband mit vorrangig
          marktwirtschaftlicher Orientierung gewertet werden kann; Der Verband korrigiert
          das Jahre später durch seinen Austritt aus der BDA
2002      ver.di schließt Tarifvertrag mit einigen diakonischen Unternehmen in Hamburg und
          Schleswig-Holstein (Kirchlicher Tarifvertrag Diakonie – KTD)

                                                                                                       11
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge

 ab 2004        Arbeitnehmerseite stellt Arbeit in Arbeitsrechtlicher Kommission der EKD befristet
                ein, da es seit Jahren keine Entgelterhöhungen gab; betriebliche Aktionen, De-
                monstrationen folgen.
 2005           Kirchenkonferenz der EKD fordert Senkung der Personalkosten um fünf Prozent
                gegenüber dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD); Arbeitgeber
                verstehen sich selbst als Unternehmensdiakonie, legen keinen Wert mehr auf
                Interessenausgleich.
 ab 2007        Erstmals seit Gründung der BRD Warnstreiks in kirchlichen Einrichtungen (Diako-
                nie Württemberg)
 2009           Streiks in diakonischen Einrichtungen in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und
                Baden-Württemberg; Arbeitnehmervertretungen in Arbeitsrechtlicher Kommission
                der EKD und fast allen regionalen Kommissionen beschließen Göttinger Erklärung
                »Tarifverträge statt kollektives Betteln«; Sie erklären das Scheitern des sogenann-
                ten Dritten Weges und fordern die Arbeitgeber auf, mit ver.di Tarifverhandlungen
                aufzunehmen
 2010           Arbeitnehmerseite in Arbeitsrechtlicher Kommission der EKD verhindert bei zwei
                Wahlterminen die Wahl der neuen Kommission; Es folgt die Änderung der Wahl-
                ordnung durch die Diakonische Konferenz, wonach Mitglieder aus Verbänden und
                Gesamtausschüsse bzw. Arbeitsgemeinschaften der Mitarbeitervertretungen nur
                noch wählbar sind, wenn sie vorher erklären, dass sie im sogenannten Dritten
                Weg mitarbeiten; Bei der folgenden Wahlversammlung für die Kommission wer-
                den die Unterzeichner*innen der Göttinger Erklärung unter der Androhung, die
                Polizei zu rufen, draußen gehalten; In der Folge entsteht die »Kommission der
                Willigen«, unter anderen mit einzelnen Landesverbänden des Marburger Bundes
                und drei regionalen Mitarbeiterverbänden; die Mehrheit der Gewählten fällt
                selbst nicht einmal unter die Geltung der AVR.
 2011           1.500 Arbeitnehmer*innen demonstrieren zur EKD-Synode für Tarifverträge und
                Streikrecht; Synode reagiert mit »Magdeburger Kundgebung«, die allgemein
                mehr Rechte für die Mitarbeitervertretung verlangt; trotz Protesten beschließt die
                Synode ein Arbeitsrechtsregelungsgrundsätzegesetz (ARGG), das den kirchenge-
                setzlichen Rahmen der Arbeitsrechtsetzung in EKD und Diakonie bilden soll; Es
                beeinhaltet den Ausschluss von Streiks, neue Beschlussmöglichkeiten der Arbeits-
                rechtlichen Kommissionen und die Zwangsschlichtung bei Fernbleiben einer Seite
                der Kommission; aus dem Mitwirkungsrecht wird eine Mitwirkungspflicht für die
                Arbeitnehmerseite.
 2012           Ausgehend von den Streiks 2009 urteilt das Bundesarbeitsgericht (BAG): Streiks
                in kirchlichen Einrichtungen sind zulässig und das gewerkschaftliche Zutrittsrecht
                ist zu gewährleisten (letzteres wurde bisher wiederholt durch die Kirchen vor
                Gericht in Frage gestellt); nur wenn Gewerkschaften »angemessen« am kirchen-
                rechtlichem Weg beteiligt werden, könnte eventuell ein Streikverbot zutreffen;
                Das BAG stellt jedoch nicht fest, was unter »angemessen« zu verstehen ist
                und ob eines der beiden Grundrechte, Art. 9 (3) (Koalitionsfreiheit), gegenüber
                Art. 140 GG (Selbstordnungsrecht von Religionsgemeinschaften) höher zu be-
                werten ist; ver.di zieht vor das Bundesverfassungsgericht (siehe 2015).

12
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben

 2013          EKD-Synode regelt per Kirchenrecht, dass neben dem so genannten Dritten Weg
               auch Tarifverhandlungen möglich sind, allerdings mit absoluter Friedenspflicht
               und verbindlicher Schlichtung (Zwangsschlichtung); Anlass sind anhaltende
               Proteste, die Übergabe von 17.000 Unterschriften und das BAG-Urteil von 2012
               zum Streikrecht.
 2014          ver.di schließt mit dem Diakonischen Dienstgeberverband Niedersachsen einen
               Tarifvertrag für rund 38.000 Beschäftigte ab (TV DN).
 2015          Bundesverfassungsgericht nimmt die Beschwerde von ver.di gegen die Urteils-
               begründung des BAG aus 2012 nicht an; In der Erläuterung wird ver.di jedoch
               Recht gegeben: Das BAG hatte keinerlei Einschränkungen bzgl. des Streikrechts
               vorgenommen, insofern gibt es keinen zulässigen Grund für die von ver.di erho-
               bene Verfassungsbeschwerde; Fazit: Kirchliche Beschäftigte haben alle Rechte
               und keine Einschränkungen. Als Reaktion auf die neue Rechtslage erlassen der
               Verband der Diözesen Deutschlands und die Deutsche Bischofskonferenz eine
               »reformierte« Grundordnung für die Arbeitsverhältnisse in der katholischen Kirche
               und der Caritas. Mit der Anwendung des kirchlichen Arbeitsrechts nach Art. 140
               GG. sichern sie ihre Privilegien.
 2017          Die Arbeitsrechtliche Kommission der Diakonie Deutschland steht vor der Auflö-
               sung, einjährige Blockade der Arbeitnehmervertreter*innen wegen dramatischer
               Absenkungsvorhaben der diakonischen Arbeitgeber; ver.di skandalisiert die Vorha-
               ben; Die Bundeskonferenz der Arbeitsgemeinschaften und Gesamtausschüsse der
               Mitarbeitervertretungen und ver.di verabschieden das »Berliner Manifest« mit der
               Forderung nach Tarifverträgen; es wird der Diakonie Deutschland und dem VdDD
               überreicht; Im Rahmen der Bewegung für mehr Personal und Entlastung von ver.di
               streiken erstmals Beschäftigte einer katholischen Klinik im Saarland.
 2018          Die Arbeitsrechtliche Kommission der Diakonie Deutschland wird nach Blockade
               neu gebildet; Die Gewerkschaften werden gemäß der Anforderungen aus dem
               BAG-Urteil von 2012 aufgefordert, sich zu beteiligen; ver.di lehnt das ab, regiona-
               le Gliederungen des Marburger Bunds und des vkm wirken hingegen mit.

Eigene Darstellung, ohne Anspruch auf Vollständigkeit

                                                                                                           13
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge

Beschäftigte haben ein Recht auf Tarifverträge

Die Grundlage für Tarifverträge in Deutsch-     eine strukturierte Praxisanleitung in der
land bildet das Tarifvertragsgesetz, das        Pflege. Ebenso können Maßnahmen für
2019 seinen 70. Geburtstag feiert. Tarif-       den Arbeits- und Gesundheitsschutz oder
verträge werden zwischen Gewerkschaften         zur beruflichen Qualifizierung tariflich fest-
und einzelnen Arbeitgebern oder Arbeit-         geschrieben werden. Tarifverträge sind also
geberverbänden geschlossen. Sie regeln          sowohl ein vielfältig einsetzbares als auch
gegenseitige Rechte und Pflichten über den      wirksames Instrument, um die Lohn- und
Inhalt, den Abschluss und die Beendigung        Arbeitsbedingungen zu gestalten.
von Arbeitsverhältnissen, ebenso betrieb-
liche und betriebsverfassungsrechtliche         Die Inhalte von Tarifverträgen wirken als
Fragen.6 Sie konkretisieren und verbessern      Rechtsnormen. Was sonst dem Gesetz-
gesetzliche Regelungen und können auch          geber vorbehalten ist, wird in Bezug auf
erstmals Regelungen schaffen, wenn es           Lohn- und Arbeitsbedingungen in die
noch keine gesetzlichen gibt. Ein Beispiel      Hände der Gewerkschaften und Arbeitge-
dafür ist die Einführung der Lohnfort-          ber gelegt (Tarifautonomie). Die in ihrer
zahlung im Krankheitsfall, die zunächst         Gewerkschaft organisierten Beschäftigten
per Tarifvertrag durchgesetzt und später        tragen durch diese »Normsetzungsbefug-
gesetzlich fixiert wurde. Übliche Inhalte von   nis«7 somit eine hohe Verantwortung und
Tarifverträgen sind die Höhe der Arbeitsent-    üben gleichzeitig ein hohes kollektives,
gelte bzw. Ausbildungsvergütungen, deren        demokratisches Gut aus. Sie bestimmen
Struktur, die Länge des Erholungsurlaubs,       maßgeblich mit, wie ihre Arbeitsleistung
die wöchentliche Arbeitszeit, Jahressonder-     vergütet und ihre Arbeitsbedingungen
zahlungen und vieles mehr. In den Tarifver-     ausgestaltet werden (siehe Kapitel: Be-
trägen des Gesundheits- und Sozialwesens        schäftigte – die Entscheider*innen). Die
spielen zudem Zulagen für Schicht- und          Regelungen im Tarifvertrag gelten wie ein
Wechselschichtarbeit sowie Zusatzurlaubs-       Gesetz unmittelbar und zwingend.8 Die
tage für Nachtarbeit eine wichtige Rolle.       Beschäftigten haben demnach gegenüber
Diese können auch ein Schutz bei Rationali-     ihrem Arbeitgeber rechtliche Ansprüche
sierungsmaßnahmen bzw. in Notlagen sein         auf das, was im Tarifvertrag festgelegt ist,
oder Regelungen zur Ausbildungsqualität         sofern sie Mitglied der Gewerkschaft sind.
enthalten, zum Beispiel den Anspruch auf        Die Inhalte des Tarifvertrags gelten für alle,

14
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben

Abb. 2 Vergleich tarifvertragliche 9 und gesetzliche Regelungen (Beispiele)

Regelungsinhalt            Tarifvertrag                   Gesetz
Wöchentliche Arbeitszeit   38,5 Stunden                   48 bis 60 Stunden bei 6 Monaten
                                                          Ausgleichszeitraum
Tägliche Arbeitszeit       7,7 Stunden                    8 Stunden. Bis zu 10 Stunden, wenn
(5-Tage-Woche)                                            innerhalb eines Zeitraums von
                                                          6 Monaten durchschnittlich 8 Stun-
                                                          den nicht überschritten werden
Urlaubstage                30 Tage = 6 Wochen             20 Tage = 4 Wochen
                           (5-Tage-Woche)                 (5-Tage-Woche)
Jahressonderzahlung        Je nach Entgeltgruppe bis zu   Keine Regelung
                           rund 80 Prozent eines durch-
                           schnittlichen monatlichen
                           Entgelts
Zusatzurlaub für           bis zu 5 Tage                  Keine Regelung
Wechselschichtarbeit
Zuschlag für               20 Prozent des Stundenent-     Keine Regelung
Nachtarbeit                gelts je geleisteter Stunde

                                                                           Quelle: eigene Darstellung

somit wirken sie kollektiv. Anders ist es bei    keinen »Dritten Weg«). Außerdem können
kirchlichen Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR).    Beschäftigte nicht auf einzelne Regelungen
Diese gelten nur insoweit, wie im einzelnen      aus dem Tarifvertrag verzichten, was eine
Arbeitsvertrag auf sie Bezug genommen            wesentliche Schutzfunktion darstellt. Ande-
wird. Der Arbeitgeber kann in den Einzel-        renfalls könnten Arbeitgeber Beschäftigte
verträgen zu Ungunsten der Beschäftigten         zum Beispiel im Bewerbungsgespräch unter
von den AVR abweichen. Deshalb sind              Druck setzen und so die kollektive Wirkung
Arbeitsvertragsrichtlinien nicht mit Tarifver-   des Tarifvertrags aushebeln.
trägen vergleichbar (siehe Kapitel: Es gibt

                                                                                                     15
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge

Da die Gewerkschaft als Tarifvertragspartei       In der Praxis wenden Arbeitgeber Tarifver-
für die organisierten Beschäftigten fungiert, träge allerdings in der Regel von sich aus
besteht ein enger Zusammenhang zum                nicht ausschließlich auf Gewerkschaftsmit-
Grundrecht auf Koalitionsfreiheit (Art. 9         glieder an, sondern auf alle Beschäftigten.
Abs. 3 GG). Beschäftigte haben das Recht          Ein aus Arbeitgebersicht nachvollziehbares
– es besteht kein Zwang – sich freiwillig in      Kalkül. Denn würde der Anspruch auf gute
einer Gewerkschaft zusammenzuschließen.           Bezahlung, viele Urlaubstage, Jahresson-
Es handelt sich somit um ein (Grund-)                          derzahlung, Zulagen, Altersvor-
Recht, das vor allem davon lebt,                                    sorge und anderes mehr
aktiv ausgeübt zu werden. Tarif-                                       nur für einen Teil der
                                               Es handelt
verträge können nur entstehen,                                          Arbeitnehmer*innen
                                           sich somit um ein
wenn es in Gewerkschaften                                                gelten – nämlich
                                           (Grund-)Recht, das
organisierte Beschäftigte gibt.                                          diejenigen, die in
                                         vor allem davon lebt,
Deshalb gelten Tarifverträge                                             der Gewerkschaft
                                           aktiv ausgeübt zu
auch ausschließlich für die                                              organisiert sind,
                                                 werden.
Mitglieder der Gewerkschaft,                                            die den Tarifvertrag
die den Vertrag abschließt.10                                         ausgehandelt hat –,
Die Kirchen verklären diese Voraus-                                bekäme diese Gewerkschaft
setzung als »Demokratiedefizit«. Richtig                    automatisch massiven Zulauf.
ist jedoch, dass die Mitglieder und deren         Daran hat der Arbeitgeber selbstredend
Engagement den Gewerkschaften über-               kein Interesse. Auf diese Weise profitie-
haupt erst das Mandat geben, Tarifverträge ren »trittbrettfahrende« Beschäftigte, die
zu verhandeln und (abhängig vom Ver-              andere den Tarifvertrag verhandeln und
handlungsergebnis!) abzuschließen. Das ist        gegebenenfalls erkämpfen lassen. Für gute
kein Defizit, sondern ein deutliches Ja zu        Lohn- und Arbeitsbedingungen in Form
demokratischer und selbstbestimmter Be-           von Tarifverträgen sind starke Gewerk-
teiligung. Ganz anders als im kirchenrechtli- schaften notwendig. Demzufolge ist es
chen Weg, der bei Nichteinigung ein Ergeb- wichtig, dass möglichst alle Beschäftigten
nis erzwingt – unabhängig vom Willen der          solidarisch ihr Grundrecht ausüben, sich in
Verhandlungspartner und der Beschäftigten ihrer Gewerkschaft zusammenschließen,
(siehe Kapitel: Schlichtungsverfahren: Ohne Tarifverträge einfordern und sie gemeinsam
»Konsens« bleibt noch Zwang).                     durchsetzen.

16
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben

Beschäftigte – die Entscheider*innen

Gewerkschaften sind historisch betrach-         mehr Erholungsurlaub wichtig wäre, mehr
tet als Berufs- und Selbsthilfeorganisa-        Personal vorhanden sein sollte und anderes
tionen entstanden. In ihnen schließen           mehr. Über all diese Dinge kann mit dem
sich Beschäftigte zusammen, um ihre             Arbeitgeber verhandelt werden. Zunächst
strukturelle Unterlegenheit gegenüber           muss dabei entschieden werden, welche
den Arbeitgebern auszugleichen11 und            konkreten Forderungen an den Arbeitgeber
Lohn- und Arbeitsbedingungen mit Hilfe          gestellt werden. Als erstes sollte eine Dis-
von Tarifverträgen zu regeln. Es ist folge-     kussion in der Belegschaft unter Beteiligung
richtig und entspricht dem demokratischen       vieler stattfinden, um auf dieser Grundlage
Anspruch freier Gewerkschaften, dass die        konkrete Forderungen aufzustellen. Festge-
Beschäftigten selbst die Tarifvertragsinhalte   legt werden diese von den ver.di-Mitglie-
maßgeblich bestimmen (wenngleich ein            dern. Wer sich bis jetzt aktiv eingebracht
Tarifvertrag einen Verhandlungskompro-          hat, jedoch noch nicht organisiert war,
miss mit den Arbeitgebern darstellt). Sie       kann das konsequenterweise nachholen.
sind die Expert*innen für gute Bedingungen
bei ihrer eigenen Arbeit. Deshalb sind sie      Tarifverträge können ausschließlich von
die Entscheider*innen in Bezug auf ihre         Gewerkschaften wie ver.di ausgehandelt
Tarifauseinandersetzungen.                      werden. Gewerkschaften müssen gegen-
                                                über Arbeitgebern durchsetzungsfähig und
Es sind eine Reihe gemeinsamer Schritte         »gegnerunabhängig« sein. Organisationen,
notwendig, um zu einem Tarifvertrag zu          die diese Kriterien nicht erfüllen – weil sie
gelangen. Es beginnt jedoch ganz leicht:        beispielsweise von Arbeitgebern finanziert
Die bestehenden Verhältnisse werden nicht       werden – sind keine Gewerkschaften und
mehr hingenommen und Gespräche unter            können keine Tarifverträge aushandeln.
den Kolleginnen und Kollegen beginnen:
Was soll sich konkret verbessern? Sehen         Um die Diskussion über mögliche Ver-
es andere ebenso und sehen sie eventu-          besserungen in Forderungen zu bündeln,
ell weitere Probleme, die es anzugehen          wird in ver.di eine Tarifkommission aus
gilt? Dabei kann es zum Beispiel darum          den Beschäftigten gewählt. Ihre Größe
gehen, dass die Löhne höher sein sollten,       und Zusammensetzung richtet sich nach

                                                                                                    17
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge

den jeweiligen Betrieben bzw. der (Teil-)        berseite freiwillig und in freier Auswahl der
Branche, für die verhandelt werden soll.         Personen und ihrer Anzahl an den Verhand-
Wichtig ist stets, dass die Tarifkommission      lungstisch. Und das Wichtigste: Es können
die Betroffenen repräsentiert. Das bezieht       keinerlei Entscheidungen per mehrheitlicher
sich auf Geschlechterverteilung, Berufsgrup-     Abstimmung getroffen oder gar erzwungen
pen, Teilbranchen, Betriebsarten, regionale      werden. In Tarifverhandlungen finden keine
Betriebsverteilung, die Beteiligung Auszu-       gemeinsamen Abstimmungen von Arbeit-
bildender und junger Beschäftigter sowie         geber- und Arbeitnehmerseite (wie nach
andere Kriterien. Ehrenamtliche Vorstände        Kirchenrecht) statt. Vielmehr wird mit dem
entscheiden in ver.di über die jeweilige         Willen zur Einigung über die eingebrachten
konkrete Struktur. Besetzt werden die Plätze     Forderungen verhandelt. Eine Einigung
in der Tarifkommission über Wahlen, die          kommt ausschließlich dann zustande,
zum Beispiel auf Mitgliederversammlungen         wenn sich beide Seiten auf ein Ergebnis
in den Betrieben stattfinden, in denen die       verständigen. Zwar haben die Kirchen den
potenziellen Kommissionsmitglieder be-           Begriff »Konsensprinzip« für ihren kirchen-
schäftigt und gewerkschaftlich aktiv sind.       rechtlichen Weg geprägt, das ist jedoch
Diese Kolleg*innen sind aus ihrem Betrieb        irreführend. Findet die Arbeitsrechtliche
bzw. ihren Entsendebereichen demokratisch        Kommission keine Einigung, entscheidet
legitimiert. Sie sind selbst von den Lohn- und   die Zwangsschlichtung. Das ist kein Kon-
Arbeitsbedingungen betroffen, kennen die         sensprinzip. In Tarifverhandlungen hingegen
Bedingungen vor Ort und sind in Kontakt mit      gelangen Gewerkschaft und Arbeitgeber
ihren Kolleg*innen, die der Tarifkommission      tatsächlich ausschließlich über einen Kon-
nicht selbst angehören. Ergänzt wird die         sens zu einer Einigung. Die entscheidende
Tarifkommission um ein*e hauptamtliche*n         Frage lautet: Mit welchen Mitteln kann die
ver.di-Verhandlungsführer*in. Dieses Gremi-      Kompromissbereitschaft des Verhandlungs-
um vertritt die Interessen der ver.di-Mitglie-   partners beeinflusst werden (siehe Kapitel:
der, für die der Tarifvertrag verhandelt wird.   Arbeitsbedingungen regeln: »Konsensprin-
                                                 zip« ohne Augenhöhe)?
Wenn die Forderungen aufgestellt, dem
Arbeitgeber mitgeteilt und er zu Verhand-        Gelingt keine Einigung am Verhandlungs-
lungen aufgefordert worden ist, können           tisch, gibt es zwei Möglichkeiten. Die
die Tarifverhandlungen beginnen. Es sind         berechtigten Forderungen der Beschäftigten
freie Verhandlungen. Anders als in den           können fallengelassen werden. Entweder
Arbeitsrechtlichen Kommissionen im kir-          alle, so dass keine neuen Regelungen in
chenrechtlichen Weg kommen also sowohl           einem Tarifvertrag zustande kommen. Oder
die Arbeitnehmer-, als auch die Arbeitge-        ein Teil wird fallengelassen, so dass even-

18
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben

Abb. 3 Entstehung eines Tarifvertrags

          Beschäftigte diskutieren,     Ende der Laufzeit eines TV
          was sich verbessern soll

           ver.di-Mitglieder wählen
                                           (neuer) Tarifvertrag
            ihre Tarifkommission*

            ver.di-Tarifkommission
           beschließt Forderungen

          ver.di fordert Arbeitgeber
            zu Verhandlungen auf

              ver.di verhandelt
                                                Einigung
              mit Arbeitgeber

               keine Einigung           Weitere Verhandlungen

            Aktionen / Warnstreiks       Aktionen / Warnstreiks

           Weitere Verhandlungen             keine Einigung

       * falls noch keine besteht 			        Quelle: eigene Darstellung
                                                                                  19
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge

tuell ein anderer Teil mit dem Arbeitgeber          Kolleg*innen besteht. In sensiblen Berei-
einigungsfähig ist. In jedem Fall würde das         chen bietet ver.di stets Verhandlungen
bedeuten, dass die Beschäftigten dem Ar-            über eine Notdienstvereinbarung an, damit
beitgeber nachgeben. Beides wird kaum den zum Beispiel Patient*innen im Kranken-
Mitgliedern zu vermitteln sein, die sich aktiv      haus oder Bewohner*innen im Pflegeheim
mit ihren Forderungen eingebracht haben                    nicht gefährdet werden. Warnstreiks
und die Arbeitsbedingungen                                         signalisieren der Arbeitgeber-
verbessern wollen. Die zweite                  Derartige               seite, dass die Beschäftig-
Möglichkeit ist also, den                 Aktionen bewegen                ten bereit sind, für ihre
Druck auf die Arbeitgeber           sich im Rahmen der gewerk-              Forderungen auch zum
und damit ihre Bereit-             schaftlichen Betätigungsfrei-             letzten Mittel zu grei-
schaft zu Kompromis-             heit, die durch das Grundgesetz in          fen und ihre Arbeits-
sen zu erhöhen. Dafür            Art. 9 Abs. 3 geschützt ist. Das gilt       kraft zu entziehen,
können zum Beispiel                 auch für kirchliche Betriebe,            falls nötig. Voraus-
gewerkschaftliche Aktio-              die Arbeitgeber können es             setzung dafür ist stets
nen im Betrieb stattfinden,                nicht verbieten.              ein Streikaufruf durch
die Öffentlichkeit herstellen.                                        ver.di. Sollte auch das
Diese können der Information zum                                  nicht ausreichen, um zu einer
Verhandlungsstand dienen, zum Mitmachen                   Einigung am Verhandlungstisch zu
einladen, gegebenenfalls Abläufe im Betrieb gelangen, kann ver.di ihre Mitglieder im
verlangsamen, aber in jedem Fall Unruhe für betroffenen Bereich zu einer Urabstimmung
den Arbeitgeber erzeugen. Derartige Aktio-          über einen unbefristeten Streik aufrufen.
nen bewegen sich im Rahmen der gewerk-              Wenn diese Abstimmung von mindestens
schaftlichen Betätigungsfreiheit, die durch         75 Prozent der Mitglieder bejaht wird, kann
das Grundgesetz in Art. 9 Abs. 3 geschützt          ver.di zum unbefristeten Arbeitskampf auf-
ist. Das gilt auch für kirchliche Betriebe,         rufen. Eine hohe Hürde, die jedoch wichtig
die Arbeitgeber können es nicht verbieten.          ist, denn ein unbefristeter Streik ist eine
                                                    harte Auseinandersetzung mit dem Arbeit-
Wenn solche Aktionen nicht ausreichen,              geber. Sie kann nur dann erfolgreich sein,
um beim Arbeitgeber die Bereitschaft zu             wenn die Beschäftigten mit großer Mehr-
Verhandlungskompromissen zu erhöhen,                heit solidarisch zusammenstehen. Wenn die
kann ver.di zu Warnstreiks aufrufen. Ihre           Verhandlungen zu einem Ergebnis führen,
Art und Dauer richtet sich nach der Art             entscheiden die ver.di-Mitglieder über
des Betriebs und wird von der ver.di-Streik-        dessen Annahme oder Ablehnung. Erst
leitung festgelegt, die aus betroffenen             bei Zustimmung zum Ergebnis ist ein Tarif-
Beschäftigten und hauptamtlichen ver.di-            abschluss erreicht.

20
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben

Es gilt: Das Ziel ist zu keinem Zeitpunkt der     kann, sondern eine gewerkschaftliche
(Warn-)Streik, sondern ein Ergebnis in den        Selbsthilfeorganisation ist. Maßgeblich
Tarifverhandlungen, das ausgehend von             ist, dass sich die betroffenen Kolleg*innen
den berechtigten Forderungen der Be-              aktiv einbringen und kollektiv mitbestim-
schäftigten reale Verbesserungen in einem         men. Tarifverträge sind Ergebnis kollektiven
Tarifvertrag herbeiführt. Streikmaßnahmen         Handelns und solidarischer Durchsetzungs-
werden von Gewerkschaften nie                       fähigkeit. Ihre Inhalte sind Kompromisse
leichtfertig durchgeführt,                                 aus Verhandlungen zwischen
sondern sind das letzte                                        Arbeitgebern und Gewerk-
Mittel in Tarifauseinan-              Maßgeblich ist,            schaft. Es ist eine Machtfrage.
dersetzungen. Würde                 dass sich die betrof-         Was in welcher Qualität in
das Streikrecht nicht            fenen Kolleg*innen aktiv         Tarifverträgen geregelt wird,
bestehen, wären                  einbringen und kollektiv         hängt aber auch maßgeblich
Tarifverhandlungen – so                mitbestimmen.              von den Entscheider*innen
hat das das Bundesar-                                           ab – von den organisierten
beitsgericht einst formu-                                     Beschäftigten im Betrieb. Es sind
liert – nichts als »kollektives                          die Gewerkschaftsmitglieder, die
Betteln«.12                                       gemeinsam streiten und dazu beitragen,
                                                  Verbesserungen für alle durchzusetzen.
Der Weg zum Tarifvertrag zeigt deutlich,          Das geht nur mit vielen, das geht nur
warum ver.di nicht stellvertretend handeln        kreativ und das geht nur solidarisch.

                Es reicht!                                 Wir streiken!

          Warnstreik
                                                                                                      21
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge

Verteilungsfragen sind Machtfragen

Die Beschäftigten sind es, die mit ihrer        zugunsten der abhängig Beschäftigten
Arbeitskraft ein in Geld bewertetes Be-         geklärt werden, wenn diese gewerkschaft-
triebsergebnis erarbeiten. Das gilt sowohl      lich zusammenstehen.13
für Produktions- als auch Dienstleistungs-
unternehmen, wie im Gesundheits- und            Am Beispiel von Lohnforderungen wird
Sozialwesen. Wenn es die Beschäftigten          deutlich, um was es bei der Umverteilung
sind, die die Werte schaffen, stellt sich die   geht. In der Regel ist eine Lohnforderung
Frage, wer über deren Verteilung ent-           die Summe dreier Komponenten: Der
scheidet. Die Arbeitgeber (als Kapitalseite)    Inflationsrate, der gesamtgesellschaftli-
verfügen über die Macht zu bestimmen, ob        chen Produktivitätssteigerung sowie einer
es überhaupt eine Beteiligung der Beschäf-      Umverteilungskomponente, die sich zum
tigten am wirtschaftlichen Erfolg ihres         Beispiel mit der Gewinnentwicklung, einer
Betriebs gibt und wie sie aussieht. Einzelne    guten wirtschaftlichen Situation oder einem
Beschäftigte können zwar zum Beispiel           Nachholbedarf begründet.
versuchen, mit dem Arbeitgeber über einen
höheren Lohn zu verhandeln, doch werden         Gewerkschaftlichen Lohnforderungen liegt
sie vermutlich nur erfolgreich sein, wenn       das Ziel zu Grunde, durch den Einkom-
sie einen Beruf ausüben, für den gerade ein     mensanstieg die Inflation auszugleichen
hoher Arbeitskräftebedarf besteht. Selbst       und von steigender Produktivität zu profi-
wenn das klappt, ist das womöglich nicht        tieren. Zusammen ist dies der verteilungs-
von Dauer. Denn die Arbeitsmarktlage kann       neutrale Spielraum. Wird dieser vollständig
sich jederzeit ändern. Auch Qualifikatio-       ausgeschöpft, bleibt die Verteilung der (von
nen können, zum Beispiel infolge techni-        den Beschäftigten geschaffenen) Werte
scher Neuerungen, entwertet werden. Die         gleich. Darüber hinaus ist ein Zuwachs
nachhaltige Alternative dazu: solidarisches,    angemessen, denn die Beschäftigten
kollektives Handeln, um für viele statt nur     können zum Beispiel eine Beteiligung am
einige wenige einen Anteil dessen einzu-        wirtschaftlichen Erfolg ihres Betriebes
fordern, was gemeinsam erarbeitet wurde.        erwarten. Immerhin sind sie es mit ihrer
Der Arbeitgeber wird dem nur nachkom-           Arbeitskraft, die für den Erfolg sorgen.
men, wenn er es muss. Diese Verteilungs-        Oft gibt es zudem einen Nachholbedarf,
frage ist eine Machtfrage und sie kann nur      wenn die Tarifabschlüsse vergangener

22
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben

Abb. 4 Zusammensetzung einer Lohnforderung 14

 Inflationsrate             Produktivitätssteigerung             Umverteilungskomponente
 Dieser Teil der Forde-     Aufgrund von Fortschritten bei       Das ist der Teil einer Forderung,
 rung soll dem Ausgleich    Technik und Arbeitsorganisation      der nicht nur den Anstieg des
 der Preissteigerungsrate   können Beschäftigte in derselben     Preisniveaus ausgleicht und eine
 dienen. Wird diese         Zeit immer größere Werte schaf-      Teilhabe an gestiegener Produk-
 Komponente vollständig     fen. Das gilt auch für den Dienst-   tivität bedeutet, sondern eine
 durchgesetzt, bleiben      leistungsbereich. Gelingt es der     reale Umverteilung des erar-
 die Reallöhne stabil.      Gewerkschaft, neben dem Inflati-     beiteten Ergebnisses beinhaltet.
                            onsausgleich die gesamtgesell-       Dieser Teil kann zum Beispiel
                            schaftliche Produktivitätssteige-    auf die Gewinnentwicklung,
                            rung im Tarifabschluss abzubilden,   eine gute wirtschaftliche Situati-
                            bleibt die Verteilungsrelation       on, Sondereffekte oder einen
                            zwischen Arbeitgeber und Arbeit-     Nachholbedarf abzielen.
                            nehmer*innen konstant. Liegt der
                            Abschluss darunter, findet eine
                            Umverteilung zugunsten der Ar-
                            beitgeber statt.

              Verteilungsneutraler Spielraum                               Quelle: eigene Darstellung

Jahre den verteilungsneutralen Spielraum          erhalten – für tausende oder zehntausende
nicht ausgeschöpft haben oder die Ent-            Betroffene. Als würde es sich um einen
geltentwicklung hinter der in anderen             Verwaltungsakt und nicht, wie oben darge-
Branchen zurückbleibt. Das gilt auch für          legt, um eine Forderung für eine notwen-
Wohlfahrts- bzw. kirchliche Betriebe. Dafür       dige Lohnentwicklung handeln. Hier wird
gibt es die Umverteilungskomponente               deutlich, wie paternalistisch das kirchliche
in einer Lohnforderung. So könnte eine            System der Arbeitsrechtsetzung ist. Es ist
Lohnforderung beispielsweise lauten: 2,0          nicht vorgesehen, dass Beschäftigte selbst-
Prozent Inflationsausgleich plus 2,6 Prozent      bewusst berechtigte Interessen verfolgen
Produktivitätssteigerung plus 1,5 Prozent         und Forderungen stellen. Sie »dürfen«
Umverteilungskomponente/Nachholbedarf.            Anträge stellen. Sprachlich ist die Nähe zu
                                                  einem vermeintlich neutralen Verfahren,
In der kirchlichen Arbeitsrechtslogik wird in     fernab eines womöglich harten Interes-
den Arbeitsrechtlichen Kommissionen von           senkonflikts zwischen Arbeitnehmer*innen
»Anträgen« statt von wechselseitigen For-         und Arbeitgebern, sicher kein Zufall (siehe
derungen gesprochen. Die Vertreter*innen          Kapitel: Spaltungsversuche). Dazu passt,
der Beschäftigten beantragen demnach,             dass Anträge augenscheinlich nichts sind,
dass sie und ihre Kolleg*innen mehr Lohn          was durchgesetzt werden könnte – anders

                                                                                                       23
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge

als gewerkschaftliche Forderungen. Eines       gen über Notdienstvereinbarungen auf, um
eint allerdings gewerkschaftliche Forderun-    eine Gefährdung von Menschen auszu-
gen und kirchenrechtliche Anträge: Beide       schließen. Diese Art Vereinbarungen sollen
können am Verhandlungstisch abgelehnt          eine Versorgung von Notfällen und grund-
werden. Doch die daraus folgenden Hand-        legenden Bedürfnissen hilfebedürftiger
lungsoptionen sind grundsätzlich verschie-     Menschen während des Arbeitskampfes
den (siehe Kapitel: Schlichtungsverfahren:     sicherstellen, doch alle nicht zwingend not-
Ohne »Konsens« bleibt noch Zwang).             wendigen Arbeiten werden kein Teil einer
                                               solchen Vereinbarung sein.
Wenn bei Tarifverhandlungen eine Lö-
sung nicht in Sicht ist, stellt sich für die   Der Zweck von Arbeitskampfmaßnahmen
Arbeitnehmerseite die Frage: Den aktuel-       ist unabhängig von der Form: Sie müssen
len Verhandlungsstand hinnehmen bzw.           spürbar für den Arbeitgeber sein. In der Re-
akzeptieren, was der Arbeitgeber bereit ist    gel haben sie wirtschaftliche Folgen für den
zu geben, oder den eigenen Forderungen         Arbeitgeber, sie können aber auch öffent-
Nachdruck verleihen? Letzteres verfolgt das    lichen Druck erzeugen oder das positive
Ziel, die Verhandlungs- bzw. Kompromiss-       Image eines Arbeitgebers ankratzen. Ziel
bereitschaft des Arbeitgebers zu erhöhen.      ist es stets, die Kompromissbereitschaft des
Das Mittel dazu ist der Arbeitskampf. Die      Arbeitgebers zu erhöhen, um die Verteilung
Kirchen versuchen, ihn kirchenrechtlich        zugunsten der abhängig Beschäftigten zu
strikt auszuschließen (siehe Kapitel: Ar-      beeinflussen. Es ist nicht gewerkschaftli-
beitsbedingungen regeln: »Konsensprinzip«      ches Ziel und kann es auch niemals sein,
ohne Augenhöhe). Vorrangig meinen sie          mit Arbeitskämpfen den eigenen Betrieb
damit Streikmaßnahmen, die zeitweise           zu ruinieren. Diese Schimäre bzw. dieses
oder längerfristige Niederlegung der Arbeit.   Bedrohungsbild wird von Kritiker*innen
Das ist allerdings lediglich eine Form des     gewerkschaftlicher Arbeit in kirchlichen Be-
Arbeitskampfes. Dieser kennt viele Formen      trieben wiederholt bemüht. Es geht um die
und das klassische Bild von streikenden        Durchsetzung berechtigter Forderungen,
Beschäftigten, die ganztägig vor dem           nicht darum, den eigenen Arbeitsplatz zu
Werkstor stehen, ist im Gesundheits- und       zerstören. Die ver.di-Mitglieder im Betrieb
Sozialwesen längst nicht der Normalfall.       sind in ihren Tarifauseinandersetzungen
ver.di geht mit dem Mittel des Arbeits-        selbst die Entscheider*innen. Sie bestimmen
kampfs stets verantwortungsvoll um und         über die Forderungen, deren Durchsetzung
ruft deshalb regelhaft vor Arbeitskämpfen      sowie die Annahme oder Ablehnung eines
Arbeitgeber dieser Branche zu Verhandlun-      Verhandlungsergebnisses und sind an den

24
Tarifverträge in kirchlichen Betrieben

Verhandlungen beteiligt. Die Existenz des         erhalten sie kein Streikgeld. Insbesonde-
Betriebs und damit ihren Arbeitsplatz set-        re diese Unterstützung ist ausschließlich
zen sie sicher nicht aufs Spiel.                  durch eine starke Gewerkschaft möglich,
                                                  in der sich viele Beschäftigte solidarisch
Streikmaßnahmen sind nicht das Ziel von           – und freiwillig – organisieren. Sie sorgen
Tarifauseinandersetzungen, sondern ein            mit ihren Mitgliedsbeiträgen dafür, dass
Mittel, um Forderungen durchzusetzen,             ihre Gewerkschaft durchsetzungsfähig ist.
wenn am Verhandlungstisch die                           Gleichzeitig macht die Finanzierung
Kompromissbereitschaft des                                   über Mitgliedsbeiträge ver.di als
Arbeitgebers endet. Das                Die ver.di-Mit-         Gewerkschaft unabhängig –
Streikrecht ist ein Grund-        glieder im Betrieb sind       eine der wichtigsten Eigen-
recht, das allen Beschäf-         in ihren Tarifauseinan-       schaften freier Gewerkschaf-
tigten zusteht und sich aus       dersetzungen selbst die       ten, was diese zum Beispiel
der Koalitionsfreiheit gemäß         Entscheider*innen.        von kirchlichen Mitarbeiterver-
Art. 9 Abs. 3 GG ergibt. Es                                  bänden unterscheidet.
gilt für alle Beschäftigten – auch
in kirchlichen Einrichtungen. Die Kirchen         Von kirchlicher Seite wird behauptet,
haben zwar lange dagegen gekämpft,                Streiks seien ebenso verboten wie Aus-
doch letztlich verloren: Das Bundesarbeits-       sperrungen. Letztere können Arbeitgeber
gericht hat 2012 die Auffassung von ver.di        theoretisch einsetzen, um Druck auf die
bestätigt, dass das Streikrecht auch in           Gewerkschaften auszuüben. Bei einer
kirchlichen Einrichtungen gilt und auch das       Aussperrung verweigert der Arbeitgeber
Bundesverfassungsgericht hat 2015 be-             Beschäftigten den Zugang zum Arbeitsbe-
kräftigt, dass es in dieser Hinsicht keinerlei    reich sowie die Lohnzahlung – auch den-
Einschränkungen für Gewerkschaften gibt.          jenigen, die nicht streiken. Der »Verzicht«
Es gelten die gleichen Voraussetzungen            auf Aussperrungen rechtfertigt allerdings
wie in nicht-kirchlichen Betrieben. Wenn          nicht ein kirchliches Streikverbot. Denn
Beschäftigte die Arbeit niederlegen, ist der      dieses Arbeitskampfmittel spielt in der
Arbeitgeber nicht verpflichtet, den Lohn          Praxis so gut wie keine Rolle. Insbesondere
weiterzuzahlen. In diesem Fall erhalten           im Gesundheits- und Sozialwesen würde es
Gewerkschaftsmitglieder von ver.di Streik-        die Versorgung von Menschen gefährden.
geld, um den Lohnausfall abzumildern.             Die Arbeitgeber der Branche reagieren auf
Beschäftigte, die nicht in der Gewerkschaft       Streiks daher v.a. mit Lohnentzug, wes-
organisiert sind, dürfen ebenfalls strei-         halb eine Gewerkschaftsmitgliedschaft für
ken – denn es ist ein Grundrecht. Allerdings Beschäftigte ratsam ist.

                                                                                                    25
100 Jahre Mitbestimmung und Tarifverträge

Gute Arbeitsbedingungen und angemessene
Bezahlung – eine Verteilungsfrage

Die Verteilungsfrage ist nicht ausschließ-   Es waren zum Teil harte Auseinanderset-
lich auf die Lohnentwicklung beschränkt.     zungen, die ohne entschlossene, organi-
Der Anspruch auf Lohnfortzahlung im          sierte Kolleg*innen nicht zugunsten aller
Krankheitsfall oder die heute weitverbrei-   Arbeitnehmer*innen hätten entschieden
tete wöchentliche Arbeitszeit zwischen       werden können. Etwas, das im kirchen-
35 und 40 Stunden sind weitere Beispiele     rechtlichen Weg zur Regelung von Ar-
für Umverteilungserfolge der abhängig        beitsbedingungen de facto nicht möglich
Beschäftigten. Sie sind maßgeblich                      ist. Zwei Beispiele aus dem
auf gewerkschaftliche Kämp-                                    nicht-kirchlichen und kirch-
fe zurückzuführen. Seit                                            lichen Bereich verdeut-
rund 25 Jahren hat im
                                                 100                  lichen, dass echte
Gesundheits- und                                                        Entlastung im
                                2
Sozialwesen – aus-                                                      Zwangssystem der
drücklich auch in                    So                                 Kirchen und vor
kirchlichen Einrich-                                                    allem ohne Selbst-
tungen – die politisch                                                  ermächtigung
gewollte »Vermarkt-                                                     der Beschäftigten
lichung« zu massiver                                                    nicht möglich ist.
Arbeitsverdichtung                                                      Das erste Beispiel
und Überbelastung                                                       dreht sich um die
geführt. Vor diesem                                                    Auseinandersetzung
Hintergrund findet ein                                             für mehr Personal
neuer Verteilungskampf statt:                                  und Entlastung an der
für mehr Personal, Entlastung und die        Uniklinik Essen. Das zweite Beispiel bezieht
Aufwertung sozialer Berufe. In den ver-      sich auf den Versuch von Beschäftigten
gangenen Jahren hat ver.di im Bereich der    der Diakonie Mitteldeutschland, sich auf
Krankenhäuser Tarifauseinandersetzungen      kirchenrechtlichem Weg um eine Aufwer-
für Entlastung geführt und in 16 Kliniken    tung ihrer Arbeit und ebenfalls entlastende
Erfolge erzielt, weitere sind auf dem Weg.   Arbeitsbedingungen zu bemühen.

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