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Transformationsnarrativ und Verantwortlichkeit: Die gesellschaftstheoretische Lücke der Transformationsforschung Ingolfur Blühdorn / Felix Butzlaff / Michael Deflorian / Daniel Hausknost IGN Position Paper Jan|2018 Herausgegeben vom Institut für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN) http://www.wu.ac.at/IGN/
2 bitte zitieren als: Blühdorn, I. / Butzlaff, F. / Deflorian, M. / Hausknost, D. (2018) „Transformationsnarrativ und Verantwortlichkeit: Die gesellschaftstheoretische Lücke der Transformationsforschung“, IGN-Position Paper Jan/2018, INSTITUT FÜR GESELLSCHAFTSWANDEL UND NACHHALTIGKEIT (IGN), Wirt- schaftsuniversität Wien, Austria. ISSN Eine englischsprachige Version dieses Textes ist kostenlos online zugänglich unter dem Titel „Transformation-Narratives and Responsibility: The Social-Theoretical Gap in Transforma- tion-Research“ © Alle Rechte liegen bei den Autoren. Die Vervielfältigung und Verbreitung des Textes für ausschließlich wis- senschaftliche Zwecke ist erlaubt. Jede Form von Nachdruck, Übersetzung, oder anderweitige Nutzung in Me- dien jeglicher Art nur nach Rücksprache mit dem INSTITUT FÜR GESELLSCHAFTSWANDEL UND NACHHALTIGKEIT (IGN), Wirtschaftsuniversität Wien, Austria. Dieser Text ist eine teils frühere, teils überarbeitete, insgesamt deutlich verkürzte und in ih- rer inhaltlichen Ausrichtung leicht veränderte Version des Artikels: Blühdorn, Ingolfur / Butzlaff, Felix / Deflorian, Michael / Hausknost, Daniel (2018): Postwachstumsgesellschaft und Transformationsnarrativ. Soziologische Überlegungen zum Nachhaltigkeitswandel. In: Luks, Fred (Hrsg.) Transformationen. Wiesbaden: Springer Gabler. Kontakt: Prof. Dr. Ingolfur Blühdorn, Institut für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN), Wirtschaftsuniversität Wien, Welthandelsplatz 2, 1020 Wien, Österreich, https://www.wu.ac.at/IGN/; Email: IGN@wu.ac.at IGN Position Paper Jan 2018
Transformationsnarrativ und Verantwortlichkeit Die gesellschaftstheoretische Lücke der Transformationsforschung Ingolfur Blühdorn / Felix Butzlaff / Michael Deflorian / Daniel Hausknost Zusammenfassung Teile der Transformationsliteratur scheinen in sonderbarer Weise abgekoppelt von der soziologischen Analyse kapitalistischer Gegenwartsgesellschaften und zeigen insbesondere ein deutliches gesell- schaftstheoretisches Defizit. Mit Blick auf diese Schwachstelle und orientiert an der vom WBGU vor- geschlagenen Unterscheidung dreier Handlungsebenen der Transformation befassen wir uns im vor- liegenden Beitrag zunächst mit einem Nischenakteur, der Degrowth-Bewegung, an die verbreitet hohe Erwartungen hinsichtlich ihres Transformationspotenzials geknüpft werden. Dann erweitern wir die Perspektive auf den gesellschaftlichen Mainstream und erkunden, wie nur noch moderat wachsenden Ökonomien nicht nachhaltigkeitsorientierte Werte, sondern ausgrenzende und illiberale Populismus- bewegungen zur bestimmenden Kraft avanciert sind. Schließlich richten wir den Blick auf die Möglich- keiten des gestaltenden demokratischen Staates, dem bei der Nachhaltigkeitstransformation zumeist eine zentrale Rolle zugedacht wird. Dieser Dreischritt führt uns zu einer eher skeptischen Einschätzung der Transformationsfähig- und -willigkeit moderner Konsumentengesellschaften und zu der Aufforde- rung an das sozialwissenschaftliche Segment der Transformationsdebatte, Problemdiagnosen, Hand- lungsempfehlungen und Transformationsstrategien sehr viel sorgfältiger gesellschaftstheoretisch zu fundieren. Schlüsselwörter: Nachhaltige Nicht-nachhaltigkeit, Sozial-ökologische Transformation, Postwachstumsbewegung, Gesellschaftlicher Wertewandel, Umweltstaat Wir bedanken uns bei Fred Luks sowie einem externen, anonymen Reviewer für die konstruktiven und hilfreichen Kommentare zu der ursprünglichen Version des Textes. Transformationsnarrativ und Verantwortlichkeit
4 die vermeintlich einsichtigen Externalisierungs- gesellschaften, nach innen wie nach außen, 1. Einleitung längst in aggressive Exklusionsgesellschaften weiter entwickelt. Kapital- und investoren- Mit der Wahl von Donald Trump zum 45. Präsi- schützende Regierungen und rechtspopulisti- denten der USA wurde unmissverständlicher sche Bewegungen kämpfen – gegeneinander denn je deutlich, was sich bereits beim UN-Kli- und doch Hand in Hand – mit aller Härte für magipfel in Kopenhagen 2009 abgezeichnet scharfe Grenzen zwischen denen, die wirklich hatte: das Ende der Idee einer international ko- Hilfe benötigen, und solchen, die sich unver- ordinierten und kooperativen Politik für die diente Vorteile erschleichen wollen. Und ge- eine bio-physische Welt, das eine Klima und die rade das Gebaren von Donald Trump hat noch eine Weltgesellschaft. Mit dem Schlachtruf einmal den Ruf nach einem festen Schulter- America first! ist an ihre Stelle das eindeutige schluss im Kampf für unsere Werte, unsere Frei- Bekenntnis zur Wachstumslogik, zum Vorrang heit und unseren Lebensstil bekräftigt, die zwar nationaler Interessen und zur bedingungslosen längst als nicht verallgemeinerbar, imperial Priorität der Ökonomie gegenüber der globalen und sozial, politisch und ökologisch zerstöre- Gerechtigkeit, dem Klimaschutz und der Ökolo- risch erkannt worden sind, die aber doch mit gie getreten. Diese zumindest in den USA nun aller Entschiedenheit verteidigt werden sollen. offenbar auch offiziell zum Prinzip erhobene Es besteht also ein eklatanter Widerspruch zwi- politics of unsustainability (Blühdorn 2011, schen der von der Nachhaltigkeitsforschung 2013a, 2016) ist freilich weder spezifisch ame- und vielen politischen Akteuren dringend ge- rikanisch, noch ist sie in der Sache grundsätz- forderten – und ansatzweise angeblich auch lich neu. In der deutschsprachigen Literatur bereits erkennbaren – gesellschaftlichen Trans- wird das Phänomen derzeit unter anderem als formation und der sich tatsächlich abzeichnen- die imperiale Lebensweise (Brand und Wissen den. Wesentliche Teile der Transformationsli- 2017) der hoch entwickelten Externalisierungs- teratur scheinen in sonderbarer Weise abge- gesellschaften (Lessenich 2016) diskutiert. koppelt von der soziologischen Analyse spätka- Gleichzeitig wird aber auffällig viel in neue pitalistischer Gesellschaften. Hoffnungsnarrative investiert: Während die äl- teren Versprechen der ökologischen Moderni- In dem Bestreben, vor allem das gesellschafts- sierung an Begeisterungskraft zu verlieren theoretische Defizit dieser Literatur in den Fo- scheinen, wird zum Beispiel den 2015 in Kraft kus zu rücken, verfolgen wir im Folgenden be- getretenen Sustainable Development Goals wusst nicht die (zweifellos berechtigte) eliten- der Vereinten Nationen erhebliche Bedeutung kritische Analyse der gesellschaftlichen Macht- zugemessen. Das gleiche gilt, gerade im verhältnisse, die deutschsprachigen Raum, für das vom WBGU einstweilen jede Vorherrschende Transfor- verbreitete Szenario der großen Transforma- Transformation zur mationsnarrative wirken tion (WBGU 2011), demzufolge eine nachhal- Nachhaltigkeit blo- auf den Status Quo der tigkeitsorientierte Verschiebung gesellschaftli- ckieren. Stattdes- nachhaltigen Nicht-Nach- cher Wertepräferenzen in Ansätzen bereits zu sen richten wir den haltigkeit mitunter eher beobachten sei, und Pioniere des Wandels im Blick auf die ge- stabilisierend als transfor- Verein mit dem gestaltenden Staat und einer samtgesellschaftli- transformativen Wissenschaft schon jetzt da- mativ. che Verankerung bei seien, den Übergang zur nachhaltigen Ge- der nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit. Orien- sellschaft vorzubereiten (vgl. auch z.B. Paech tiert an der vom WBGU vorgeschlagenen Un- 2013; Schneidewind 2015; Wagner & Grunwald terscheidung mehrerer Handlungsebenen der 2015). Transformation (WBGU 2011) befassen wir uns zunächst mit einem Nischenakteur, der Das Missverhältnis derartiger Hoffnungsnarra- Degrowth-Bewegung, und untersuchen, inwie- tive zur Realität der politics of unsustainability fern die hohen Erwartungen, die verbreitet an findet noch auffällig wenig sozialwissenschaft- diese Pioniere des Wandels gestellt werden, liche Beachtung. Doch tatsächlich haben sich wirklich begründet sind. Daran anschließend IGN Position Paper Jan 2018
Blühdorn / Butzlaff / Deflorian / Hausknost 5 erkunden wir, wie in trotz erheblicher Anstren- 2. Pioniere der Postwachstumsge- gungen (z.B. Zins- und Geldpolitik) bestenfalls noch moderat wachsenden Ökonomien – ent- sellschaft? gegen der Behauptung eines sich andeutenden In der Debatte um die von vielen Seiten gefor- Wertewandels zur Nachhaltigkeit – im gesell- derte sozial-ökologische Transformation ist schaftlichen Mainstream längst ausgrenzende Degrowth eine der zentralen Leitideen. Als um- und illiberale Populismusbewegungen zur be- weltpolitische Strategie firmiert Degrowth als stimmenden Kraft kritische Gegenposition zu Vorstellungen des avanciert sind. Eine wesentliche gesellschaft- grünen Wachstums und der ökologischen Mo- Abschnitt vier be- liche Verantwortung der Sozi- dernisierung (Jackson 2011; Paech 2012). Die schäftigt sich kri- alwissenschaften liegt darin, Degrowth-Bewegung gilt als wichtiger kollekti- tisch mit den die gängigen Transforma- ver Akteur, der den strukturellen Wandel zur Möglichkeiten tionsnarrative auf ihre sozio- Nachhaltigkeit vorantreibt (Demaria et al. und Grenzen des logische Grundierung hin zu 2013; D’Alisa et al. 2015). Angesichts der un- demokratisch le- übersehbaren Krisensymptome des westlichen prüfen. gitimierten ge- Wirtschaftsmodells insgesamt (Streeck 2014) staltenden Staa- gibt sie sich kritisch gegenüber dem Kapitalis- tes, dem bei der Nachhaltigkeitstransformation mus (Kallis et al. 2015: 11) und greift mit ihrer in der Regel eine zentrale Rolle zugedacht wird. Betonung alternativer, subversiver Alltagsprak- tiken das verbreitete Bedürfnis auf, unmittel- Insgesamt ist unser Plädoyer für eine sorgfälti- bar selbst gestaltend tätig zu werden: etwa in gere sozialtheoretische Grundierung der Trans- Form von Essenskooperativen, Leihläden, al- formationsdebatte getragen vom Bekenntnis ternativen Schuhwerkstätten und einer Viel- zur gesellschaftlichen Verantwortung der zahl anderer experimenteller Praktiken. Nicht Nachhaltigkeitsforschung. Das WBGU-Konzept zuletzt wegen dieser Vielschichtigkeit wird einer transformativen Forschung, die „rele- Degrowth als Bewegungs- und Diskussions- vante und glaubwürdige Lösungen für die iden- raum betrachtet, in dem sich ein Mosaik der Al- tifizierten Probleme“ (WBGU 2011) zu entwi- ternativen für eine sozial-ökologische Transfor- ckeln habe (vgl. auch Schneidewind & Singer- mation entfaltet (Burkhart et al. 2017). Brodowski 2014), lehnen wir ab, denn es kann nicht Aufgabe der Sozialwissenschaft sein, sich Zentrale Motive im Narrativ der Degrowth-Be- in den Dienst von Agenden zu stellen, deren wegung und der sie begleitenden sozialwissen- Genese und Architektur selbst offenbar nicht schaftlichen Literatur sind die Kritik am Kon- mehr zur Diskussion stehen sollen. Im Sinne ei- sum als Alltagspraxis sowie das Ziel von dessen ner Soziologie, die kritisch auf die Maßstäbe Überwindung. Das in modernen Gesellschaften und Praktiken ihrer eigenen Kritik reflektiert zur Normalität gewordene Konsumverhalten (Boltanski 2010), sehen wir jedoch eine we- gilt den Degrowth-VertreterInnen nicht als ge- sentliche gesellschaftliche Verantwortung der nuines Bedürfnis der Menschen, sondern als Sozialwissenschaften darin, die gängigen Ausdruck von Interessen, die ihnen zur „Be- Transformationsnarrative gründlich auf ihre wahrung der geltenden sozialen Verhältnisse soziologische Grundierung hin zu prüfen. Mit- übergestülpt werden“ (Muraca 2015: 109). Als unter wirken solche Narrative auf den Status ewige Zielscheibe der Konsumgüterindustrie Quo der nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit und durch den ständigen Wettbewerb um sozi- nämlich eher stabilisierend als transformativ. ale Distinktion seien die entfremdeten Bürger Aus transformationspolitischer Perspektive in einem „iron cage of consumerism“ einge- sind sie dann womöglich verantwortungslos. schlossen (Jackson 2011: 188; auch Paech 2012: 110f.). Als „Gefangene des Wachstums- regimes“ (Muraca 2015: id.) seien sie niemals in der Lage, das eigentlich ersehnte Glück tat- sächlich zu erreichen. Die kritische Reflexion dieser fremdbestimmten Denk- und Hand- Transformationsnarrativ und Verantwortlichkeit
6 lungsmuster eröffne jedoch den Weg zu alter- Die These, dass die Degrowth-Bewegung als nativen Praktiken, durch die eine Veränderung Avantgarde eines grundsätzlichen gesellschaft- des eigenen Selbst und letztlich der Gesell- lichen Strukturwandels betrachtet werden schaft insgesamt möglich werde (Eversberg & kann, stützt sich zweitens auf ihre alltagsprak- Schmelzer 2016: 13). tische Orientierung und die experimentelle Umsetzung von Alternativmodellen (Konzept- Dieses Narrativ erinnert an die Bewegungslite- werk Neue Ökonomie 2017: 47), etwa in Ge- ratur der 1970er und 1980er Jahre und die Di- meinschaftsgärten, offenen Werkstätten oder agnosen der Kritischen Theorie, wirft aus heu- Hausprojekten. In sogenannten „Reallaboren tiger Perspektive aber sowohl in theoretischer des Wandels“ (Welzer et al. 2014), so das Argu- als auch in empirischer Hinsicht Zweifel auf. ment, erlebten die Beteiligten nicht nur eine Unbestreitbar gibt es in zeitgenössischen Ge- Befreiung aus den Bedürfniszwängen als sellschaften ein Leiden am Konsum, das nicht fremdbestimmte KonsumentInnen, sondern zuletzt durch die sozialen und ökologischen brächten zugleich die tatsächliche, sozial-öko- Konsequenzen der Konsumkultur genährt wird. logische Transformation voran (Konzeptwerk Aus soziologischer Perspektive scheint jedoch Neue Ökonomie 2017: 14). Letztlich seien es der Versuch, den Konsum als vor allem fremd- die radikal neuen Erfahrungen individueller Au- bestimmt, pathologisch oder gar als gezielt ein- tonomie, die die PraktikerInnen dazu motivier- gesetztes Verblendungsprogramm darzustel- ten, die Selbstveränderung auch in anderen Le- len, deutlich verkürzend. Vielmehr ist zu be- bensbereichen zu verfolgen (Muraca 2015: obachten, dass das Konsumverhalten faktisch 107f). Gerade im urbanen Bereich sei dieser im gleichen Maße, wie Außenorientiertheit everyday environmentalism eine aussichtsrei- und Selbstdarstellung gegenüber der traditio- che Strategie, den Widerspruch zwischen den nellen Betonung auf charakterliche Eigenschaf- eigenen Wertorientierungen und der einstwei- ten und sogenannte innere Werte an Bedeu- len noch hegemonialen Logik des industriellen tung gewinnen, zum zentralen Mittel wird, die Konsumkapitalismus zu überwinden (Schlos- eigene Besonderheit zum Ausdruck zu bringen berg & Coles 2015). (Bauman 2007; Blühdorn 2013b; Ritzer und Murphy 2014). Dass das solchermaßen insze- Grundlegende Zweifel scheinen auch hier an- nierte Selbst stets eine kurze Verfallsfrist hat gebracht. Tatsächlich ist gerade in den kritisch- und auf ständige Erneuerung angewiesen ist, kreativen Milieus ein Interesse an nachhaltige- erscheint dabei keineswegs nur als Mangel, ren Alltagspraktiken und sozialen Lebensfor- sondern bietet in der Gesellschaft der Singula- men zu beobachten, die jenseits des kapitalis- ritäten (Reckwitz 2017) vielmehr die Möglich- tischen Massenkonsums liegen. Prominente keit, flexible, vielschichtige und widersprüchli- Beispiele sind die vielen lokalen Gemein- che Identitäten zu artikulieren. Wenig verwun- schaftsgärten und Biogemüsekooperativen. Al- derlich ist daher, dass sich auch die Mitglieder lerdings bleiben der Degrowth-Gemeinschaft keineswegs unbe- solche Abweichun- Abweichungen von den dingt von den zentralen Symbolen des moder- gen von den etab- etablierten Konsummus- nen Lifestyles befreien: Smartphonebesitz oder lierten Konsum- tern und Verhaltensweisen häufige Flugreisen sind auch hier durchaus ver- mustern und Ver- sind in aller Regel hochse- breitet (Eversberg 2016: 93). Das eigene Kon- haltensweisen in al- lektiv und symbolisch. sumverhalten wird mitunter als befremdlich ler Regel hochse- empfunden, seine zentrale Subjektivierungs- lektiv und symbolisch, und selbst auf der indivi- funktion bleibt aber durchaus erhalten. Sozio- duellen Ebene gibt es wenig Anzeichen dafür, logisch gesehen hat daher weder die Behaup- dass die in diesen alternativen Kleinkontexten tung Bestand, der Konsum sei ein „Megapro- gewonnene Selbstwirksamkeitserfahrung etwa gramm der individuellen Verkümmerung“ eine durchgängige Veränderung der Denk- und (Paech 2013: 205), noch ist angesichts faktisch Handlungsmuster initiieren würde. Vielmehr vorherrschender Ideale vom guten und erfüll- zeigen empirische Untersuchungen von politi- ten Leben das Umkehrversprechen sonderlich schem Konsum oder auch urban farming er- plausibel, dass die Befreiung vom Konsum den hebliche und beständige Widersprüchlichkei- Weg zur wahren Erfüllung eröffne. IGN Position Paper Jan 2018
Blühdorn / Butzlaff / Deflorian / Hausknost 7 ten in der Alltagspraxis auf (Connolly & Port- Ebene kleiner lokaler Gruppen die Einigung auf hero 2005; Dobernig & Stagl 2015). Studien, die verbindliche Verhaltensnormen. Erst recht das Umweltverhalten verschiedener gesell- scheitert Degrowth an der Aufgabe, auf ge- schaftlicher Milieus vergleichen, kommen zu samtgesellschaftlicher oder sogar internationa- dem Ergebnis, dass gerade in den kritisch-krea- ler Ebene eine normative Grundlage für ein tiven Milieus Lebensstile gepflegt werden, die transformatives Gesellschaftsprojekt zu schaf- mit einem weit überdurchschnittlichen Res- fen. Einen Ersatz sourcen- und Energieverbrauch verbunden für den Glauben Die Behauptung, gesellschaftli- sind (z.B. Umweltbundesamt 2016; Moser & früherer Um- cher Strukturwandel werde sich Kleinhückelkotten 2017). Und die Behauptung weltbewegun- einstellen, weil neue soziale (Howaldt & Schwarz 2017), gesellschaftlicher gen an unver- Strukturwandel werde sich einstellen, weil handelbare Not- Praktiken sich durch Nachah- neue soziale Praktiken sich durch Nachahmung wendigkeiten mung verbreiteten und „Prob- (Tarde 2009) verbreiteten und „Probleme oder der Ökologie, leme oder Bedürfnisse besser zu Bedürfnisse besser zu lösen bzw. zu befriedi- d.h. ein verbind- lösen bzw. zu befriedigen“ ver- gen“ vermöchten (Howaldt & Schwarz 2010: liches Leitprinzip möchten, erscheint unterkom- 54), erscheint überwältigend unterkomplex. für eine große plex. gesellschaftliche Drittens stützt sich das Vertrauen in die Pio- Transformation, bietet Degrowth jedenfalls nierkraft der Degrowth-Bewegung auf die eindeutig nicht. Ebenso fehlt eine klare Vorstel- These, dass sie eine übergreifende Leitidee prä- lung einer politischen Form, in der eine sentiere, die als Klammer „zwischen verschie- Degrowth-Gesellschaft zur politischen Alterna- denen Gruppen, Widerstandsformen, sozialen tive werden könnte. Stattdessen schafft die Be- Kämpfen und alternativen gesellschaftlichen wegung vielleicht vor allem Räume, um Identi- Entwürfen vermittelt“ (Muraca 2015: 105). fikation mit einem gesellschaftskritisch-eman- Diese Vorstellung ist allerdings selbst innerhalb zipatorischen Projekt zu artikulieren, ohne sich der vielfältigen Initiativgruppen umstritten dabei auf bestimmte Werte, Verhaltensformen (Burkhart et al. 2016). Tatsächlich wurde unter oder persönliche Einschränkungen verpflichten Degrowth-SympathisantInnen eine Vielzahl zu müssen. Am Ende könnten die diskursive Kri- verschiedener ideologischer Strömungen fest- tik an Wachstum und Konsum und das prakti- gestellt (Eversberg 2016). Ein verbindendes sche Erleben von Mikro-Alternativen sogar das Moment liegt etwa in der basisdemokratischen Festhalten an der imperialen Lebensweise Orientierung (Hausknost 2017a) oder der An- leichter machen – und als Kompensationsstra- nahme, dass eine Degrowth-Demokratie die In- tegien die Resilienz des kriselnden Kapitalismus tegrität und Autonomie der Natur und nachfol- stärken (Blühdorn 2017). Das gilt in dem Maße gender Generationen sichern werde. Gegen die umso mehr, wie das Degrowth-Narrativ aus- Hoffnung, dass Degrowth als neue Klammer für blendet, dass sich jenseits seiner eigenen Ni- verschiedene emanzipatorische Bewegungen schen längst eine ganz andere Postwachstums- fungieren könnte, spricht jedoch, dass dieser realität entfaltet. Begriff inhaltlich einstweilen chronisch unbe- stimmt bleibt. Seine Offenheit wird insofern als Stärke gesehen, als er Raum für eine Vielzahl an Ideen und Handlungsweisen bietet (D’Alisa et al. 2015: xxi; Konzeptwerk Neue Ökonomie 3. Die Realität der Exklusionsge- 2017: 49). Allerdings zeichnet sich selbst in den sellschaft eigenen Reihen der Bewegung kaum ein Kon- sens bezüglich kollektiver Regeln für die Während nämlich in der Transformationslitera- Kernidee der geforderten Selbstbegrenzung tur die Postwachstumsgesellschaft vor allem ab. Die Setzung und Umsetzung konkreter Nor- eine normative Leitidee ist, die davon ausgeht, men bleibt vielmehr die Angelegenheit der ein- dass mit der neuen Gesellschaft auch ein neuer zelnen AktivistInnen. Das entspricht zwar der Mensch mit vollständig veränderten Vorstel- Logik fortschreitender Individualisierung und lungen von Selbstbestimmung, einem gelun- Differenzierung, blockiert aber schon auf der gen Leben und Glück entsteht (Soper 2007), hat Transformationsnarrativ und Verantwortlichkeit
8 sich in den Industrienationen die deutlich an- Gesellschaftstransformation Voraussetzung dersartige Realität einer faktischen Postwachs- wären. tumsgesellschaft etabliert: Die auf Wachstum basierenden Versprechen und Hoffnungen der In einem Szenario, wo das selbstverantwortli- traditionellen Modernisierung behalten hier che, immer weniger in identitätsstiftende ihre volle Gültigkeit, doch für wesentliche Teile Großzusammenhänge eingebettete Indivi- der Gesellschaft bleiben sie aufgrund des an- duum für die Konstruktion und Aufrechterhal- haltenden und vermutlich irreversiblen Rück- tung seines Selbstwertes zunehmend auf sich gangs des wirtschaftlichen Wachstums dauer- und seine eigenen Fähigkeiten zurückgeworfen haft unerfüllbar. In diesen Gesellschaften ha- ist, richtet sich zudem eine Emanzipation zwei- ben sich tatsächlich bereits grundlegende Ver- ter Ordnung (Blühdorn 2013b: 143-150) ver- änderungen im Sinne mehrt gegen jene emanzipatorischen Normen Am Ende könnte das prak- eines Werte- und Kul- und Selbstverpflichtungen, die die sozialen Be- tische Erleben von Mikro- turwandels einge- wegungen der 1970er und 1980er Jahre selbst Alternativen sogar das stellt – ob die aber ei- überhaupt erst erstritten hatten. Denn, dass Festhalten an der imperia- nem nachhaltigkeits- etwa die Demokratisierung aller Lebensberei- len Lebensweise leichter orientierten Transfor- che, die Verpflichtung auf das Gemeinwohl, al- mationsprojekt zu- ternative Lebensformen oder das Ideal der in- machen. träglich sind, er- ternationalen Gerechtigkeit von allen Men- scheint durchaus fraglich. Einige Überlegun- schen als erstrebenswerte Ziele geteilt werden, gen, die bei der Diskussion des Nischenakteurs ist keineswegs ausgemacht. So stehen die Glau- Degrowth-Bewegung bereits angeklungen benssätze und Forderungen früherer Befrei- sind, sollen mit Blick auf den gesellschaftlichen ungsbestrebungen heute selbst zunehmend Mainstream daher vertieft werden. auf dem Prüfstand. Dies hat unter anderem zu einer irritierenden Ambivalenz gegenüber de- An vorderster Stelle steht dabei die Frage nach mokratischen Werten und Verfahren geführt der Verfügbarkeit und Akzeptanz von öko-sozi- (Butzlaff et al. 2013; Blühdorn 2013b). Außer- alen Imperativen oder verhaltenssteuernden dem werden auch öko-soziale Imperative mit Regeln, die das Projekt einer großen Transfor- ihren als beschränkend und bevormundend mation leiten könnten. Hier ist bedeutsam, wahrgenommenen Vorstellungen von Glück dass die Bereitschaft heutiger Bürger, sich und Lebenssinn zunehmend abgelehnt. Die stabil und langfristig einem bestimmten gesell- verbreitete Beschreibung der Grünen als Ver- schaftlichen Milieu und politischen Lager zuzu- bots-Partei zeigt dies deutlich. ordnen, deutlich gesunken ist: Die individuelle Bindungswilligkeit, auch über Organisationen Unmittelbar damit verbunden ist die schon an- wie Parteien, Gewerkschaften und Kirchen, ist gesprochene Beobachtung, dass in modernen seit Jahren rückläufig (Wiesendahl 2011). Gesellschaften die Bedeutung konsumorien- Gleichzeitig steigt die Zahl derer, die ihre indi- tierter Formen der Selbstverwirklichung und vidualisierten Anliegen in ad hoc arrangierten sozialen Distinktion nicht etwa sinkt, sondern Konstellationen in die Politik einzuspeisen ver- weiterhin steigt. Ungewollt haben die emanzi- suchen (Butzlaff 2016). Individualisierungs- patorischen Bewegungen diese Entwicklung und Emanzipationsprozesse haben die Men- sogar selbst befördert: Sie haben die individuell schen aus traditionellen Ordnungen herausge- unabhängige Selbstverwirklichung stets als löst und bewirkt, dass sie ihre Selbstbilder und Stärke betrachtet, dabei aber außer Acht gelas- Verwirklichungsoptionen zunehmend individu- sen, dass die von ihnen idealisierte Form der alisiert und flexibel immer wieder neu realisie- befreiten, selbstbestimmten Identitätsbildung ren. Das bedeutet zwar einerseits eine Befrei- ein hohes Maß an sozialem, kognitivem und ung aus alten, bevormundenden Rollenmus- kulturellem Kapital voraussetzt – das für we- tern; gleichzeitig beschränkt diese Emanzipa- sentliche Teile der Gesellschaft jedoch nicht tion aber auch die Möglichkeiten, über Grup- verfügbar ist. Gerade das Zusammenwirken der penzusammenhänge kollektives Handeln und Individualisierung von Selbstverwirklichung ei- neue Subjektivierungsformen zu initiieren, die nerseits, und der ungleichen gesellschaftlichen vermutlich für eine nachhaltigkeitsorientierte Verteilung solcher Kapitalformen andererseits, IGN Position Paper Jan 2018
Blühdorn / Butzlaff / Deflorian / Hausknost 9 hat zu einer transformationspolitisch höchst Überforderungen, die das emanzipatorisch-li- problematischen, schichtenübergreifenden Fo- bertäre Projekt für wesentliche Teile der Ge- kussierung auf die materielle Dimension ge- sellschaft bedeutet (Eribon 2016). Gerade der führt: die Welt des Konsums, die mit Hilfe der Rechtspopulismus ist auf diese Weise längst in Discounter und ständig sinkender Preise auch der Mitte der Gesellschaft angekommen und niedrigeren Einkommensgruppen zugänglich zu einer bestimmenden politischen Kraft ge- ist, ist immer stärker zur Bühne geworden, auf worden (Decker et al. 2016). Seine Agenda der die eigene Identität ausgeprägt und zur steht aber im direkten Widerspruch zu den Schau gestellt wird (Böhme 2016). Hoffnungen der Transformationsnarrative: Er beflügelt die Aufkündigung sowohl der sozia- Unter Bedingungen einer faktischen Post- len, als auch der demokratischen und ökologi- wachstumsgesellschaft gerät die ökonomische schen Selbstverpflichtungen, die emanzipatori- Absicherung dieser Identitätsbildung aber un- sche Bewegungen mühsam durchgesetzt hat- ter Druck (Graefe 2016). Die finanziellen Res- ten. Er definiert Politik und Gesellschaft als sourcen, sich fluide und flexibel über Konsum Konkurrenzkampf um knappe kulturelle, sozi- und materielle Güter zu definieren, stehen mit ale und ökonomische Ressourcen, um die kor- schwindendem Wirtschafts- rupte Eliten und nutznie- wachstum in abnehmendem Der Rechtspopulismus beflügelt die ßende Trittbrettfahrer die Maße zur Verfügung. Wohl- Aufkündigung der sozialen, demo- eigentlich Berechtigten be- fahrtsstaatliche Institutio- kratischen und ökologischen Selbst- trügen wollen. Mit der Be- nen sind nicht mehr in der verpflichtungen, die emanzipatori- gründung, dass die ökolo- Lage, die entstehende Lücke gisch-soziale Transforma- sche Bewegungen mühsam durchge- auszufüllen, sondern wer- tion ein elitäres Projekt sei, setzt hatten. den ihrerseits im Zeichen das letztlich nur den privile- der neoliberalen Austeri- gierten Status derer zemen- tätspolitik um- bzw. abgebaut. So entstehen tiere, die schon bisher vom Gesellschaftswan- neue gesellschaftliche Spaltungslinien zwi- del profitiert haben (Geiges et al. 2015), wen- schen denjenigen, die mit den neuen Freiheits- det der Rechtspopulismus sich dezidiert gegen räumen konstruktiv umzugehen vermögen, die Forderungen einer nachhaltigkeitsorien- weil ihnen die erforderlichen materiellen und tierten Politik. Stattdessen verfolgt er seiner- nicht-materiellen Formen von Kapital reich zur seits eine Agenda der Ausgrenzung und wehrt Verfügung stehen, und den Teilen der Gesell- sich gegen Formen der Demokratie, die Min- schaft, die die Versprechen gesellschaftlicher derheiten begünstigen und das Verständnis Liberalisierungen nur eingeschränkt, oder eben von Gleichheit und Gerechtigkeit über das so auch gar nicht mehr, verwirklichen können. Die genannte wahre Volk hinaus ausdehnen (Blüh- Identitäten und Lebensstile der Einen beruhen dorn & Butzlaff 2018). somit nicht mehr bloß auf der globalen Exter- nalisierung sozialer und ökologischer Neben- Ähnlich wie sich gezeigt hat, dass der Nischen- kosten, sondern, direkter denn je, auf der in- akteur Degrowth-Bewegung als Pionier eines nergesellschaftlichen Exklusion der Anderen. umfassenden gesellschaftlichen Wandels mit- Was bisher als unangenehme, aber therapier- unter erheblich überschätzt wird, kann also bare Nebenfolge erschien, verwandelt sich in auch für den Mainstream westlicher Gesell- eine notwendige Bedingung: Die Einen können schaften konstatiert werden, dass die Voraus- ihre Ideale verwirklichen, weil den Anderen setzungen für eine große öko-soziale Transfor- dies verwehrt bleibt (Lessenich 2016). mation denkbar ungünstig sind. Je weniger aber bei den Nischenakteuren und im Eine direkte und in vielen westlichen Gesell- Mainstream der „bedrohten Mehrheit“ schaften beobachtbare Folge dieser Entwick- (Krastev 2017: 119) transformative Potenziale lungen ist der Aufstieg populistischer Bewe- festgestellt werden können, desto mehr kon- gungen. Ihre politische Kraft ziehen sie aus den zentrieren sich die Hoffnungen auf den führen- Zumutungen, die die neoliberale Modernisie- den und gestaltenden Staat. rung dem Einzelnen auferlegt (Jörke und Selk 2015; Spier 2010), sowie aus den strukturellen Transformationsnarrativ und Verantwortlichkeit
10 4. Demokratischer Konsens und ge- Fortschrittsindikatoren wie Wirtschaftswachs- tum, Wettbewerbsfähigkeit und Investitions- staltender Staat quoten in Frage stellt. Gerade vor dem Hintergrund zunehmender ge- sellschaftlicher Komplexität und der Ausdiffe- renzierung vielfältiger Wertorientierungen Dieses Dilemma ergibt sich allerdings keines- wird heute tatsächlich mehr denn je nach ei- wegs allein aus der Hegemonie des Neolibera- nem „gestaltenden und aktivierenden Staat“ lismus, sondern zunächst vielmehr aus der Ab- (WBGU 2011) gerufen – einem Staat, der einer- hängigkeit des liberalen Staates von demokra- seits „ein effektives rechtliches Instrumenta- tischer Legitimation. Seit dem Aufstieg der Ar- rium und einen passenden Policy-Mix zwischen beiterklasse und der Anerkennung ihres An- privaten, halbstaatlichen und öffentlichen Akt- spruchs auf politische und ökonomische Teil- euren etablieren“ und andererseits „auf ver- habe ist der moderne Staat nämlich auch ein schiedenen Ebenen geeignete Experimentier- demokratischer Staat, und um auch der breiten und Spielräume schaffen“ soll (WBGU 2011: Masse der Bevölkerung ein glaubhaftes Wohl- 217). Der Staat wird also als zentrales Vehikel stands- und Fortschrittsversprechen anbieten der Transformation in die Pflicht genommen. und ideologische Widerstände gegen die Logik Im Zeichen des hegemonialen Neoliberalismus der Kapitalakkumulation befrieden zu können, wird diese Pflicht allerdings vor allem als die muss er dafür sorgen, dass Fortführung bekannter der materielle Kuchen (Be- Paradoxerweise liefern gerade die Strukturen und Strategien schäftigung, Einkommen, des Status Quo verstanden: unbestreitbaren Erfolge der instituti- wohlfahrtsstaatliche Leis- als Förderung von markt- onalisierten Umweltpolitik den Be- tungen) stetig wächst. Der wirtschaftlicher Dynamik in weis für die Unmöglichkeit eines ei- moderne Staat steht somit public-private partnerships genständigen Staatsimperativs der unter einem doppelten Legi- und als Steuerung der Trans- Nachhaltigkeit. timationsimperativ (Dryzek formation durch einen Po- et al. 2003) – Gewährleis- licy-Mix, der Veränderung primär als technolo- tung politischer und wirtschaftlicher Teilhabe – gische und soziale Innovation interpretiert. und wirtschaftliches Wachstum wird letztlich Statt eines radikalen Umsteuerns mittels ord- zum Staatsimperativ (Skocpol 1979). Einige nungspolitischer und steuerrechtlicher Maß- Theoretiker haben zwar argumentiert, dass nahmen, die aktiv in Angebot und Nachfrage sich in modernen Gesellschaften nach dem tra- materieller Güter eingreifen, wird die Last der ditionellen Legitimationsimperativ auch ein ge- Transformation an so genannte change agents nuiner Nachhaltigkeitsimperativ herausbilden und social entrepreneurs übertragen, deren könne, bzw. dies bereits geschehe (Dryzek et kreative Ideen die Welt von morgen aus den al. 2003; Meadowcroft 2012). Denn durch die oben bereits besprochenen Tiefen der Zivilge- Inklusion der Umweltbewegungen und ihrer sellschaft und aus Start-Up Nischen heraus er- Kernanliegen in das Staatsgefüge sei der Um- schaffen sollen. Gerade aus marktliberaler Per- weltschutz als neue Kernaufgabe des Staates spektive soll (oder will) der Staat die nachhal- institutionalisiert worden, und der Staat ent- tige Gesellschaft von morgen also zwar ermög- wickle sich vom traditionellen Wohlfahrtsstaat lichen, aber doch selbst keine Verantwortung zum modernen Umweltstaat. Paradoxerweise für ihre Errichtung übernehmen. Er befindet liefern allerdings gerade die unbestreitbaren sich damit in einer Zwickmühle: einerseits muss Erfolge der institutionalisierten Umweltpolitik er sich aufgrund der erdrückenden wissen- den Beweis für die Unmöglichkeit eines eigen- schaftlichen Beweislage zum Ziel eines tiefgrei- ständigen Staatsimperativs der Nachhaltigkeit, fenden sozial-ökologischen Strukturwandels auf den das Projekt einer staatlich gesteuerten bekennen, andererseits kann er – gerade im Transformation sich stützen könnte. Zeitalter des hegemonialen Neoliberalismus – keine Transformation zulassen, die etablierte Erstens nämlich folgt die bisherige Umweltpo- litik klar dem Legitimationsimperativ des Staa- IGN Position Paper Jan 2018
Blühdorn / Butzlaff / Deflorian / Hausknost 11 tes und nicht einem eigenständigen Nachhal- Fleischkonsum zu begrenzen oder in das indivi- tigkeitsimperativ: Die Rettung der Flüsse und duelle Reise- und Mobilitätsverhalten einzu- Wälder, die Verbesserung der Luftqualität in greifen, wird sofort unter den Verdacht der eli- Ballungsräumen und die Einrichtung von Na- tären Ökodiktatur gestellt. Vom gestaltenden turschutzgebieten fügt sich nahtlos in die wohl- Staat wird eben Umweltpolitik erwartet, d.h. fahrtsstaatliche Logik der Sicherung eines allge- die die Lebensqualität steigernde Bereitstel- meinen Lebensstandards ein (Hausknost lung gesunden Gemüses, effizienter Motoren 2017b). Zweitens ist für diese Verbesserungen und regionaler Lärmschutzmaßnahmen, kei- gerade kennzeichnend, dass sie erreicht wur- neswegs aber Transformationspolitik, d.h. poli- den, ohne dass dafür der Pfad industrieller Ent- tische Eingriffe, die sich anmaßen, individuelle wicklung und ökonomischer Expansion verlas- Lebensstile und den Sinn von Gesellschaft zur sen werden musste. Vielmehr haben sie dessen Diskussion zu stellen und neu zu bestimmen. Logik weiter verfeinert und noch tiefer veran- kert (Fücks 2013; Huber 2009). Genau diese An- Die Transformationsmöglichkeiten des von de- bindung an die Wohlfahrtsstaatlichkeit einer- mokratischer Legitimation abhängigen Staates seits und die Wachstumslogik andererseits be- sind also sehr beschränkt. Zumindest solange raubt jedoch die Umweltpolitik ihres genuin sich keine mehrheitsfähigen alternativen Krite- politischen und transformatorischen Potenti- rien abzeichnen, bliebt der Legitimationsimpe- als. Sie degra- rativ des modernen demokratischen Staates Vom gestaltenden Staat wird Um- diert jeden Be- die gläserne Decke jeder staatlich organisierten weltpolitik erwartet, keineswegs zug zu umfas- Transformation; und jeder Versuch, die Befrie- aber Transformationspolitik. sender, plane- dungslogik von Wachstum und Konsum auszu- tarischer Nach- hebeln, würde unweigerlich in eine Legitimati- haltigkeit zu einem rein ethischen Postulat und onskrise des Staates führen (Hausknost 2017b). macht eine strukturelle Transformation zu ei- Vor dem Hintergrund des Klimawandels, des nem wissenschaftlichen, elitären und abstrak- Ressourcenschwundes, sich zuspitzender sozi- ten Desiderat, das zur Lebensrealität der Men- aler Verteilungskonflikte und der Krise des Ka- schen unverbunden bleibt. pitalismus ist freilich jede aktuelle Politik ge- zwungen, Möglichkeiten einer Re-Stabilisie- Ein gestaltender Staat, der über den demokra- rung jenseits des Wachstumsparadigmas zu su- tischen und wohlfahrtsstaatlichen Legitima- chen. Ob diese Neuorientierung jedoch in Rich- tionsimperativ hinausreichen wollte, müsste tung Nachhaltigkeit führen wird und in wel- demgegenüber aktiv in Produktionsprozesse chem Maße der Staat hier wirklich gestalten und die etablierte Nachfragelogik eingreifen. Er kann, bleibt einstweilen unklar. Unverkennbar müsste die Fragen nach dem Verständnis von ist demgegenüber, dass die einsetzende Auflö- Wohlfahrt, einem geglückten Leben und dem sung der herkömmlichen Stabilisierungsme- Sinn der Gesellschaft neu stellen und politisie- chanismen sich bereits jetzt beobachten lässt. ren. Die gesellschaftlichen Konflikte um diese notorisch problematischen Fragen sind einst- weilen noch durch das Versprechen auf fortlau- fendes Wachstums und stetige Verbesserung halbwegs stillgestellt – entpolitisiert (Haus- 5. Zwischen Aufbruchsrhetorik und knost 2014). Sie brechen aber, wie im vorange- Alternativlosigkeit gangenen Abschnitt ausgeführt, in der fakti- schen Postwachstumsgesellschaft mit aller Ve- Die postindustriellen Konsumentendemokra- hemenz neu auf. Und gerade in der beschriebe- tien der Gegenwart befinden sich also in einem nen Konstellation des verschärften Wettbe- durchaus grundlegenden Wandel. Aber die tat- werbs und der Exklusion löst jede staatliche sächlich beobachtbaren Transformationspro- Maßnahme, die mit dem Ziel einer Nachhaltig- zesse sind von dem, was die Nachhaltigkeits- keitstransformation in private Lebensstile ein- forschung und viele nachhaltigkeitspolitische greift und gesellschaftlichen Sinn zu kollektivie- Akteure mit Nachdruck fordern, weit entfernt. ren sucht, politische Konflikte aus, die kaum zu Dieser Erkenntnis hat die populäre Transforma- kontrollieren sind. Jeder Versuch, etwa den Transformationsnarrativ und Verantwortlichkeit
12 tionsliteratur einstweilen wenig entgegenzu- gesellschaftstheoretische Grundlage fehlt, Ge- setzen. Die verbreitete Beschwörung einer fahr, einen für die etablierte Politik der Nicht- Neubelebung des demokratischen Projekts, ei- Nachhaltigkeit sehr bedeutenden stabilisieren- nes echte Erfüllung bringenden alternativen den Effekt zu entfalten. Bereits in den 1980er Hedonismus, eines neuen Gesellschaftsvertra- Jahren hatten die Verfechter der ökologischen ges oder der Vision des guten Lebens für Alle Modernisierung versichert, das Problem sei sind politisch sympathisch, erwecken soziolo- nunmehr klar erkannt, werde politisch ernst gisch betrachtet aber – nicht zuletzt wegen ih- genommen und nun auf verschiedenen gesell- rer eklatanten Theoriedefizite – bestenfalls den schaftlichen Handlungsebenen konstruktiv be- Eindruck von Hilflosigkeit. Zwar wird die wider- arbeitet. Mit ihrem Narrativ der technologi- sprüchliche Gleichzeitigkeit eines zunehmen- schen Innovation, markwirtschaftlicher Policy- den Problembewusstseins und des entschiede- Instrumente und politisch agierender Konsu- nen Festhaltens an der imperialen Lebensweise menten haben sie einen wirksamen Schutz- und der Logik der Externalisierungsgesellschaft schirm aufgespannt, unter dem die bereits da- mitunter deutlich herausgestellt, aber dem ei- mals sichtbar brüchig gewordene Ordnung gentlichen Problem geht die Literatur konse- dann noch für Jahrzehnte weiter erhalten wer- quent aus dem Weg: den konnte. Ihre Politikansätze haben unbe- streitbar eine Vielzahl von Verbesserungen ge- Die Politik der Nichtnachhaltigkeit ist nicht ein- bracht, aber sie haben doch auch mit dazu ge- fach nur im Zuge des entfremdenden Kapitalis- führt, dass sich die Komplexität der Vielfach- mus entstan- krise, mit der heutige Gesellschaften sich kon- Die Verfechter der ökologischen den, sondern – frontiert sehen, sich ungehindert weiter entfal- Modernisierung haben einen wirk- zumindest auch ten konnte. An dem Punkt, an dem die Grenzen samen Schutzschirm aufgespannt, – im Zuge des der bisherigen Strategien des Weiter-So nun unter dem die sichtbar brüchig ge- emanzipatori- unverkennbar geworden sind und der Polanyi- wordene Ordnung für Jahrzehnte schen Projektes sche Begriff der großen Transformation unver- weiter erhalten werden konnte. selbst. Entspre- mittelt wieder hohe Konjunktur hat, aber auch chend gelingt es die Politik der Nicht-Nachhaltigkeit offener ver- der Nachhaltigkeitsforschung bzw. ihren politi- folgt wird denn je, scheint es daher umso wich- schen Akteuren auch immer weniger, sie als Irr- tiger, neue entstehende Hoffnungsnarrative tum und falsches bzw. entfremdetes Bewusst- gründlicher denn je auf ihr tatsächliches Trans- sein darzustellen, um ihr dann eine wahrhaft formationspotenzial hin abzuklopfen. emanzipatorische Vision gegenüber zu stellen. Die Krux der modernen Nachhaltigkeitspolitik Ob und inwiefern solche metakritischen An- liegt in dem neuen Gleichklang der bis dato als sätze dann ihrerseits politische Energie mobili- konfligierend gedachten Logiken des kapitalis- sieren können, bleibt dabei zunächst offen. tischen und des emanzipatorischen Projekts. Tatsächlich versteht unsere Argumentation ge- Wohl nicht zuletzt aus Angst vor dem politi- sellschaftliche Entwicklungen als sehr viel stär- schen Abgrund, der sich hier auftut, verbieten ker evolutionär, auf jeden Fall aber als sehr viel sich wesentliche Teile der Transformationslite- weniger gesteuert und steuerbar, als es sowohl ratur aber den klaren Blick auf die vorfindlichen für die herrschaftskritischen Ansätze der post- gesellschaftlichen Verhältnisse. Das Prinzip der marxistischen Tradition als auch für die opti- Verantwortlichkeit verlangt jedoch, sich diesen mistischen Transformationsnarrative im Stile Realitäten zu stellen. des WBGU kennzeichnend ist. Sie könnte dafür kritisiert werden, dass sie die gesellschaftlichen Natürlich können eine Nachhaltigkeitsfor- Machtverhältnisse vernachlässigt und nicht un- schung und Transformationsanstrengung, die mittelbar Handlungsempfehlungen gibt. Mo- auf einen grundsätzlichen Strukturwandel mo- delle wie die Theorie der Emanzipation zweiter derner Gesellschaften abzielen, deren etab- Ordnung könnten böswillig sogar noch als die lierte Funktions- und Entwicklungslogik nicht gesellschaftstheoretische Legitimation für ein als Maßstab und Grenze ihrer Vorstellungskraft Weiter-So vereinnahmt werden. Es geht hier übernehmen. Gleichzeitig laufen aber Trans- formationsnarrative, denen eine angemessene IGN Position Paper Jan 2018
Blühdorn / Butzlaff / Deflorian / Hausknost 13 jedoch nicht darum, den herrschaftskritischen von dem Appell an eben jene Normen, von de- Ansätzen ihre Berechtigung abzusprechen, nen Emanzipation zweiter Ordnung sich be- sondern sie zu ergänzen, um ein komplexeres freit. Und wenn hier allzu einfache Transforma- Verständnisses der nachhaltigen Nicht-Nach- tionsnarrative kritisch hinterfragt werden, liegt haltigkeit zu ermöglichen. Eine Transforma- darin weder eine Behauptung von Alternativlo- tionsforschung, die sich selbst soziologisch sigkeit, noch gar eine Rechtfertigung des Status ernst nehmen will, wird Quo: Der Klimawandel, die letztlich auch nicht umhin Das alte Paradigma der Entfrem- Migrationswellen, der können anzuerkennen, dass dung und Emanzipation ist zur Erklä- Rechtspopulismus, der reli- das alte Paradigma der Ent- rung fortgeschritten moderner Ge- giöse Fundamentalismus fremdung und Emanzipation sellschaften und ihrer Krisen schlicht und der unkontrollierbare zur Erklärung fortgeschrit- nicht mehr ausreichend. Terrorismus zeigen unmiss- ten moderner Gesellschaf- verständlich, dass die Politik ten und ihrer Krisen schlicht nicht mehr ausrei- der Nichtnachhaltigkeit bereits jetzt erhebliche chend ist. Zudem rückt unsere Argumentation politische Energien mobilisiert. Die Hoffnung auch keineswegs bedenkenlos von den Nor- und der Glaube, diese Energien erneut im Sinne men des kritischen Projekts ab, sondern das des europäischen Vernunfts- und Demokrati- Bemühen (auch in der reflexiven Kritik neuer sierungsprojektes kanalisieren und kontrollie- Hoffnungsnarrative), die Funktionsweise und ren zu können, scheinen jedoch zunehmend Implikationen der Politik der Nicht-Nachhaltig- fragwürdig. keit sichtbar zu machen, ist letztlich getragen 6. Literaturverweise Blühdorn, I. 2011. The Politics of Unsustainability: COP15, Post-Ecologism and the Ecological Paradox. Organiza- tion & Environment 24/1: 34–53. Blühdorn, I. 2013a. The governance of unsustainability. Ecology and democracy after the post-democratic turn. In: Environmental Politics 22/1: 16–36. Blühdorn, I. 2013b. Simulative Demokratie. Neue Politik nach der Post-demokratischen Wende. Berlin: Suhr- kamp. Blühdorn, I. 2016. Sustainability, Post-Sustainability, Unsustainability. In: The Oxford Handbook of Environmen- tal Political Theory. Herausgegeben von T. Gabrielson, C. Hall, J. M. Meyer und D. Schlosberg. Oxford: OUP: 259–273. Blühdorn, I. 2017. Post-capitalism, Post-growth, Post-Consumerism: Eco-political Hopes beyond Sustainability. In: Global Discourse 7/2: 42–61. Blühdorn, I., F. Butzlaff. 2018. Rethinking Populism. Peak Democracy, Liquid Identity and the Performance of Sovereignty. In: European Journal of Social Theory (im Druck). Böhme, G. 2016. Ästhetischer Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp. Boltanski, L. 2010. Soziologie und Sozialkritik. Berlin: Suhrkamp. Brand, U., M. Wissen. 2017. Die Imperiale Lebensweise. München: oekom. Burkhart, C., M. Schmelzer, N. Treu. 2017. Degrowth als Teil des Mosaiks der Alternativen für eine sozial-ökolo- gische Transformation. In: Degrowth in Bewegung(en). 32 alternative Wege zur sozial-ökologischen Trans- formation. Herausgegeben von Konzeptwerk Neue Ökonomie & DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaf- ten: 402–414. Butzlaff, F. 2016. Die neuen Bürgerproteste in Deutschland. Organisatoren - Erwartungen – Demokratiebilder. Bielefeld: Transcript. Butzlaff, F., C. Hoeft, J. Kopp. 2013. "Wir lassen nicht mehr alles mit uns machen!". Bürgerproteste an und um den öffentlichen Raum, Infrastruktur und Stadtentwicklung. In: Die neue Macht der Bürger. Was motiviert die Protestbewegungen?. Herausgegeben von F.Walter, F. Butzlaff, L. Geiges, S. Marg. Reinbek: 46–91. Connolly J., A. Prothero. 2008. Green Consumption. In: Journal of Consumer Culture 8/1: 117–145. D'Alisa, G., F. Demaria, G. Kallis. 2015. Preface. In: Degrowth. A vocabulary for a new era. Herausgegeben von G. D'Alisa, F. Demaria, G. Kallis. New York: Routledge: xx–xxii. Transformationsnarrativ und Verantwortlichkeit
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