Evangelische Perspektiven - Landeskirche Braunschweig
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www.landeskirche-braunschweig.de Evangelische Perspektiven Das Magazin der Landeskirche Braunschweig 2 | 2015 hinter Gittern Gefängnispfarrer leisten einen schweren Dienst | Sie werden mit den Abgründen des Lebens konfron- tiert | Als Seelsorger kümmern sie sich um Menschen in Ausnahmezuständen | Was ihnen anvertraut wird, bleibt vertraulich | Denn sie unterliegen der Schweigepflicht | Komplizen der Häftlinge dürfen sie aber nicht werden | Ein Blick hinter die Gitter der Gefängnisse in Wolfenbüttel und Braunschweig.
2 | 2015 Evangelische Perspektiven | 2 Editorial | Inhalt Foto: Agentur Hübner Foto: Uwe Epping Liebe Leserinnen und Leser, zunächst möchten wir Ihnen ganz herzlich danken. Viele von Ihnen haben den Fragebogen ausgefüllt, den wir unse- rem Magazin beigelegt hatten. Sehr differenziert haben Sie die „Evangelischen Perspektiven“ bewertet und wertvolle Hinweise für deren Weiterentwicklung gegeben. Alle Rück- meldungen fließen ein in eine Untersuchung, die in den nächsten Monaten durch weitere Maßnahmen ergänzt und im Herbst 2016 vollständig vorliegen wird. Die Landessynode Foto: Agentur Hübner entscheidet dann, wie es mit unserem Magazin weitergeht. Und natürlich werden wir auch Sie, unsere Leserinnen und Leser, über die Ergebnisse der Untersuchung informieren. Mit dieser Ausgabe wollen wir Ihnen wieder ein unverwech- selbares publizistisches Angebot machen. So erfahren Sie einerseits, wie sich die Landeskirche auf die gesellschaft- In dieser Ausgabe lichen Veränderungen im Braunschweiger Land einstellt. Durch ein neues System der Verteilung von Pfarrstellen soll 4 Der Pilgerführer eine schwierige Aufgabe gelöst werden: trotz sinkender Mit- Dieter Prüschenk nimmt Menschen mit auf den Braunschweiger gliederzahlen die Präsenz der Kirche gerade in den ländli- Jakobsweg. chen Bereichen aufrecht zu erhalten. Die Landessynode hat dazu einen wegweisenden Beschluss gefasst. 6 Seelsorge hinter Gittern Gefängnispfarrer leisten einen schweren Dienst. Unser Titelthe- Andererseits können Sie erkennen, dass sich die äußere ma wirft einen Blick in die Gefängnisse in Wolfenbüttel und Gestalt der Kirche zwar ändern mag, ihr Auftrag aber unver- Braunschweig. ändert bestehen bleibt: durch Verkündigung, Seelsorge und Diakonie bei den Menschen zu sein. Deutlich wird das zum 10 Die reformatorische Welle Zusammen mit der Landeskirche bereitet das Landesmuseum Beispiel in dem besonderen Feld der Gefängnisseelsorge. Das Titelthema stellt Ihnen die Arbeit der beiden Pfarrer vor, eine Reformationsausstellung vor. Direktorin Dr. Heike Pöppel- die in den Gefängnissen Wolfenbüttel und Braunschweig tätig mann spricht im Interview über die Vorbereitungen. sind. 70 Jahre nach Kriegsende dürfen wir außerdem nicht 13 Nazi-Richter im Kirchendienst vergessen, dass die Verflechtung der Justiz mit dem Natio- Die Neugestaltung der NS-Gedenkstätte im Gefängnis Wolfen- nalsozialismus auch die Kirche betrifft. büttel konfrontiert auch die Landeskirche mit ihrer Geschichte. 14 Strukturreform beschlossen Ihr Die Landessynode hat sich mit großer Mehrheit für eine neue Verteilung der Gemeindepfarrstellen entschieden. 17 Nachgefragt Michael Strauß Wie können Kirchengemeinden im Braunschweiger Land Flücht- lingen helfen? Impressum Herausgeber Pressestelle der Landeskirche Braunschweig I Redaktion Michael Strauß (mic) I Anschrift Dietrich-Bonhoeffer-Straße 1, 38300 Wolfenbüttel, 18 Streit um die Bibel Tel. 05331-802108, Fax 05331/802700, presse@lk-bs.de, www.landeskirche-braun- Frank Crüsemann erklärt, warum das Neue und das Alte Tes- schweig.de I Druck MHD Druck und Service GmbH, 29320 Hermannsburg | Titel- tament gleichrangig sind. foto Susanne Hübner
2 | 2015 Evangelische Perspektiven | 3 Die gute Nachricht Inspiration zu Pfingsten Der „Church Walk“ hat dem Fest des Heiligen Geistes in Goslar neues Leben eingehaucht. In den Innenstadtkirchen ertönen ungewöhnliche Klänge. Foto: Uwe Epping Für Inspiration zu Pfingsten sorgen in Goslar seit zwölf Jahren ungewohnte Klänge in den Innenstadtkirchen. Pfingsten in Goslar ist seit zwölf Jahren eng mit dem Der Erfolg gibt den Veranstaltern recht. Mittlerweile gehört „Church Walk“ verbunden. Einem Veranstaltungsformat, das das Format zum festen kulturellen Angebot in der Stadt und dem Fest des Heiligen Geistes in der Harzstadt neues Leben erfreut sich großer Beliebtheit. „Wir erreichen damit nicht nur eingehaucht hat. Jedes Jahr pilgern Musikfreunde am Abend diejenigen, die der Kirche enger verbunden sind, sondern viele vor Pfingstsonntag durch die fünf historischen Innenstadt- Menschen außerhalb der Kerngemeinde“, freut sich Beims: kirchen und lassen sich von Konzerten begeistern, die zum „Unsere musikalische Risikobereitschaft zahlt sich aus.“ Bun- großen Teil von kirchenuntypischen Klängen geprägt sind. Da desweit halten sie immer wieder Ausschau nach ungewöhn- gibt es Tango und indische Sufi-Musik, da ertönen Handglo- lichen und interessanten Musikangeboten. cken oder Steinobjekte. „Wir wollen den Besucherinnen und Zehn Euro zahlen die Besucherinnen und Besucher für Besuchern etwas Inspirierendes bieten“, sagt der Goslarer fünf Konzerte und tragen dazu bei, dass die Veranstaltung Tourismus-Pfarrer Ralph Beims. kein Verlustgeschäft wird. Jedes Jahr mündet der „Church Zusammen mit Vertretern der anderen Innenstadt- Walk“ in einen Open-Air-Gottesdienst am Pfingstmontag gemeinden und Propsteikantor Gerald de Vries gehört er auf dem Kaiserpfalz-Parkplatz. In diesem Jahr schloss zum Organisationsteam. Auch die katholische St. Jakobi- sich sogar ein Fest der Kulturen an – unter Beteiligung Gemeinde ist dabei und macht die Veranstaltung zu einem der Moscheegemeinden. Es richtete sich gegen Rassis- ökumenischen Ereignis. Flankiert wird das musikalische mus und Fremdenfeindlichkeit und verbreitete das Motto: Angebot von der Gastfreundschaft der Gemeinden, die mit „Wir alle sind Goslar“. Fortsetzung folgt – Pfingsten 2016 einem Imbiss für das leibliche Wohl sorgen. (www.churchwalk.de). | mic
2 | 2015 Evangelische Perspektiven | 4 Foto: Agentur Hübner Aus Leidenschaft Pilgerführer: Dieter Prüschenk nimmt Menschen mit auf den Braunschweiger Jakobsweg.
2 | 2015 Evangelische Perspektiven | 5 Porträt Der Pilgerführer Dieter Prüschenk nimmt Menschen mit auf den Braunschweiger Jakobsweg. Als Projektleiter der Evangelischen Akademie Abt Jerusalem weiß er: „Pilgern ist Beten mit den Füßen.“ Stock und Hut stehen ihm tatsächlich gut: „Das sind meine Erkennungszeichen“, sagt Dieter Prüschenk mit einem verschmitzten Lächeln. Der 67-Jährige ist Pil- gerführer und in der Evangelischen Akademie Abt Jerusa- lem ehrenamtlicher Projektleiter für den Braunschweiger Jakobsweg. „Pilgern ist mehr als Wandern, Pilgern ist Beten mit den Füßen.“ Wenn Dieter Prüschenk über das Pilgern spricht, kann ihn so schnell nichts mehr bremsen. Da brechen sich Begeisterung und Leidenschaft Bahn: die Eindrücke der Natur, die wunderbaren Sakralbauten am Wegesrand, die spirituellen Eindrücke. Es werde viel gesun- gen. „Was mir sehr leicht fällt“, sagt der Pilgerführer mit einem Lachen. Aber auch miteinander geschwiegen. „Das Foto: Agentur Hübner fällt mir sehr schwer“, kommentiert Prüschenk mit einem Augenzwinkern. Pilgern ist hierzulande „in“. Den Boom ausgelöst hat vor allem Hape Kerkelings Bestseller „Ich bin dann mal weg“, Ausgeglichen, zufrieden, positiv: Dieter Prüschenk. in dem der Autor unterhaltsam kurzweilig, manchmal auch nachdenklich, die Erlebnisse seiner Pilgertour entlang des Jakobswegs nach Santiago de Compostela beschreibt. „Ich bin sehr gern draußen, wandere und organisiere „Inzwischen haben wir eine Warteliste“, freut sich Prüschenk gern und mag es, unter Menschen zu sein.“ Als Pilgerfüh- über die große Resonanz auch in der Region. rer scheint Dieter Prüschenk seine Berufung gefunden zu Acht Pilgertouren, in der Regel Tagestouren, bietet er haben. Der 67-Jährige wirkt ausgeglichen, zufrieden, positiv. dieses Jahr an. Die Distanzen liegen zwischen 12 und 25 Im westlichen Sauerland geboren und aufgewachsen, Kilometern. Die Etappen führen entlang des alten Braun- studierte er später Betriebswirtschaft in Freiburg im Breis- schweiger Jakobsweges von Helmstedt über Königslutter gau. Als Bankkaufmann arbeitete er bei verschiedenen Spar- und Braunschweig bis nach Hildesheim. kassen. Dennoch, auch die Schattenseiten des Lebens sind ihm nicht unbekannt; das Scheitern seiner Ehe war sein Der alte Braunschweiger Jakobsweg „persönlicher psychischer Tiefpunkt“. Inzwischen lebt Dieter Prüschenk seit 20 Jahren in der führt von Helmstedt über Königslutter und Südheide, wo er zuletzt die Presse- und Öffentlichkeitsar- Braunschweig bis nach Hildesheim. beit für ein Geldinstitut leitete. Seit 2003 im Vorruhestand, arbeitete er später als freier Mitarbeiter für die Lokalpresse weiter. „2008 nahm ich am Pilotprojekt der Pilgerbegleiter- „Die Teilnehmer sind in der Regel 50 plus, manchmal sind ausbildung der Landeskirche Hannovers in Loccum-Volken- aber auch Jüngere dabei“, hat der Pilgerführer beobachtet. roda teil“, erzählt er. Fortan galt Prüschenk auch bei seiner Manch einer komme aus Freude an der Natur, einige aber Tageszeitung als Pilger- und Wanderexperte. „auch mit einem Päckchen wie Krankheit oder Beziehungs- Gemeinsam mit einem Zeitungsredakteur erkundete und problemen“. Viele erwarteten durch das Pilgern Lösungen organisierte er eine Lesertour über den mittelalterlichen von Problemen der verschiedensten Art. Jakobsweg von Magdeburg nach Hildesheim. Und anlässlich Prüschenk: „Das kann funktionieren, muss aber nicht. des Jahrestages des Mauerfalls organisierte und begleitete Auf jeden Fall macht das Pilgern etwas mit den Menschen.“ Prüschenk 2009 eine Wanderung mit Zeitungslesern ent- Im Gespräch untereinander öffneten sich die zufällig zusam- lang der innerdeutschen Grenze. An Schöningen vorbei nach mengewürfelten Teilnehmer. Vielleicht auch, weil sie wüss- Walkenried. Beim Wandern ist er eben ganz in seinem Ele- ten, dass man sich so schnell nicht wieder sieht. ment. | Michael Siano
2 | 2015 Evangelische Perspektiven | 6 Seelsorge hinter Gittern Gefängnispfarrer leisten einen „Denn der HERR ist der Geist; wo aber der Geist des HERRN ist, da schweren Dienst. Sie werden mit den ist Freiheit“, lässt sich in 2. Korinther 3, Vers 17, nachlesen. Ob die zirka Abgründen des Lebens konfrontiert. 35 Gottesdienstbesucher an diesem Sonntag von dieser Bibelstelle wis- sen? Wohl eher nicht. Überhaupt ist die Kirche sehr speziell: Die Woche Als Seelsorger kümmern sie sich um über wird hier Badminton oder Softball gespielt. Auf dem Boden geklebte Menschen in Ausnahmezuständen. Was Linien markieren die Spielfelder. Weit und breit existiert kaum ein Fenster ihnen anvertraut wird, bleibt vertraulich. ohne Gitter davor. Wir befinden uns in der Kirche der Justizvollzugsan- Denn sie unterliegen der stalt (JVA) Wolfenbüttel, die eigentlich eine Mehrzweckhalle ist. Schweigepflicht. Komplizen der Die Besucher des Gottesdienstes werden gruppenweise gebracht – von Justizvollzugsbeamten. Akkurat sind die Stuhlreihen ausgerichtet. Häftlinge dürfen sie aber nicht werden. Musik kommt vom Band: Titel von Johnny Cash und Bruce Springsteen Ein Blick hinter die Gitter der sind darunter. Gesungen wird nicht, denn: „Harte Jungs singen nicht!“ Gefängnisse in Wolfenbüttel und Das weiß hier jeder. Die Predigt ist kurz und einfach gehalten. Etwa zehn Braunschweig. Minuten predigt Pfarrer Konstantin Dedekind, zumeist über Themen, die um Freiheit, Gerechtigkeit und Vertrauen kreisen. Nach 30 Minuten ist der Gottesdienst auch schon vorüber. Es folgt eine weitere halbe Stunde mit gemeinsamem Kaffeetrinken. Freiheit mag mancherorts grenzenlos sein, an einem Ort ist sie es definitiv nicht: im Knast. Die Bewegungsfreiheit in der Zelle beschränkt sich auf neun Quadratmeter, inklusive Bett und WC. Der Blick nach draußen wird durch Gitter, Mauern und Stacheldraht getrübt. Auch die alltägliche Entscheidungsfreiheit bleibt sehr begrenzt: Der Tagesablauf mit Wecken, Arbeit, Mahlzeiten und Freizeit ist fremdbestimmt. Die freie Entscheidung, am Gottesdienst teilzunehmen, kann sich unter diesen Umständen für die etwa 200 Häftlinge bereits wie Luxus anfühlen. „Die geistliche Dimension ist in unseren Gottesdiensten schon sehr präsent“, sagt Dedekind, der den sonntäglichen Gottesdienst im Wech- Foto: Agentur Hübner sel mit dem katholischen JVA-Seelsorger und mit Ehrenamtlichen der freikirchlichen Braunschweiger Friedenskirche gestaltet, später in sei- nem Büro. Der 56-Jährige war zuvor Gemeindepfarrer in Waggum und Bevenrode. Er übernahm den seelsorgerlichen Dienst in der JVA Wol- fenbüttel 2013 von seinem Vorgänger Christoph Kern. Von diesem hängt Leben hinter Gittern: Blick in eine Zelle im ebenso ein Porträt in Dedekinds Büro wie von dessen 17 Vorgängern, Gefängnis Wolfenbüttel. die hier seit 1831 wirkten. Bereits seit 21 Jahren ist Martin Burgdorf Gefängnisseelsorger in der Untersuchungshaftanstalt Rennelberg in Braunschweig. „Hier ist der Platz, wo mich der liebe Gott haben wollte“, sagt der 63-Jährige
2 | 2015 Evangelische Perspektiven | 7 Sonnengebräunt,Titelthema grauer Vollbart, langes Haar. Dazu ein durch Bodybuilding gestählter Körper. Pfarrer Martin Burgdorf öffnet die Tür der Kirche für Häftlinge in Braunschweig. Foto: Agentur Hübner
2 | 2015 Evangelische Perspektiven | 8 Titelthema Foto: Agentur Hübner Hier ein Telefonat mit Familienangehörigen, dort eine Nachfrage bei der Gefängnisleitung: Pfarrer Konstantin Dedekind. lächelnd. Sonnengebräunt, grauer Vollbart und langes ab und an ein Imam ins Gefängnis. „Meistens sprechen die Haupthaar, dazu ein durch Bodybuilding gestählter Körper: Muslime auch gern mit mir und meinem katholischen Kol- Der Pfarrer mit der Wolfskopf-Kette um den Hals reprä- legen, denn in ihren Augen sind wir - unabhängig von der sentiert eher den Rockertypen. „Tatsächlich fahre ich gern Religion - ebenfalls Männer Gottes‘“, sagt Martin Burgdorf. Motorrad“, bestätigt Burgdorf augenzwinkernd. Anfangs sei es ihm noch unangenehm gewesen, als ihm ein Kein Wunder, dass der Gefängnispfarrer bei den etwa Muslim nach dem Gottesdienst die Hand küssen wollte. „Bis 120 Häftlingen der JVA Rennelberg gut anzukommen scheint. ich irgendwann gemerkt habe, dass es ein Zeichen der Wert- „Am stillsten und ruhigsten ist es im Gottesdienst immer schätzung ist.“ dann, wenn ich über Situationen aus meinem Leben berichte, wie zum Beispiel eine Motorradtour durch Norwegen.“ Haft bedeutet Lebenskrise: anfangs der Schock Leicht ist der kirchliche Dienst hinter Gefängnismauern über die eigene Tat, später die Ohnmachtser- nicht. In diesem Mikrokosmos herrschen eigene, strenge Regeln. Gängige Währungen sind hier die „Bombe“ Kaf- fahrung, dass die Zeit nicht vergeht. fee (500 Gramm) und der „Koffer“ Tabak (40 Gramm). Die ausschließlich männlichen Häftlinge leben in Einzel- oder Immer wieder hat Burgdorf beobachten können: „Straftä- Doppelzellen, in letzteren auch die Suizidgefährdeten. Ganz ter sind oft einfach gestrickt und haben ein religiöses Urver- unten in der Häftlingshierarchie stehen die sogenannten trauen. Sie glauben an eine höhere Macht – und nennen sie „Sittiche“, also Sittlichkeitstäter. „Die ärmsten Schweine Gott.“ Intellektuell werde der Glaube kaum in Frage gestellt: im Gefängnis sind jedoch die, die kein Deutsch verstehen“, „Oft heißt es: Der Pfarrer hat das gesagt, das wird schon meint Pfarrer Burgdorf. Das sei im Rennelberg immerhin stimmen.“ Sich selbst sieht Burgdorf in der Rolle des „guten jeder Dritte, vor allem Osteuropäer und Afrikaner. Onkels“, der in fast allen Lebenslagen etwas geben könne: In ihrer Heimat seien sie zumeist religiös erzogen und Aufmerksamkeit und Zuwendung bei Kummer und Sorgen. sozialisiert worden. Zu den Muslimen unter ihnen komme Manchmal auch ein fehlendes Kabel oder ein spezielles
2 | 2015 Evangelische Perspektiven | 9 Titelthema Haarpflegemittel, das der Pfarrer für einen afrikanischen Untersuchungshäftling eigens aus dem Afro-Shop besorgt. Haft bedeutet immer auch Lebenskrise: anfangs noch der Schock über die eigene Tat, später die Ohnmachtserfahrung hinter Gittern mit zu viel Zeit, die nicht zu vergehen scheint. „In dieser Situation ist der Pfarrer nicht nur Seelsorger, son- dern auch Sozialarbeiter“, berichtet Konstantin Dedekind. Hier ein Telefonat mit Familienangehörigen, dort eine Nach- frage bei der Gefängnisleitung. „Entscheidend ist, dass wir „Die Mitarbeiter sind dankbar, wenn wir eine brenzlige Situation entschärfen können.“ Pfarrer uns nicht zu Komplizen der Häftlinge machen lassen.“ Foto: Agentur Hübner Ein Spagat, der heikel sein kann: Wie die Justizvollzugs- beamten haben die Gefängnisseelsorger in der JVA Schlüs- selgewalt und Bewegungsfreiheit. Aber im Gegensatz zum Gefängnispersonal, das zwingend Meldung über alle Vor- Die Kanzel von Pfarrer Dedekind im Gefängnis Wolfenbüttel kommnisse und Erkenntnisse machen muss, unterliegen steht in einer Mehrzweckhalle. die Pfarrer der Schweigepflicht. „Deswegen muss beim Voll- zugspersonal mitunter erst einmal Vertrauen aufgebaut wer- den“, bemerkt Dedekind, der als Seelsorger auch für die Beamtinnen und Beamten ansprechbar ist. Genauso wie Pfarrer Burgdorf im Rennelberg: „Die Mit- arbeiter sind dankbar, wenn wir eine brenzlige Situation ent- schärfen können“, sagt er. Die Hürde für ein eigenes seelsor- gerliches Gespräch sei aber höher als bei den Gefangenen: „Die Kollegen könnten tuscheln, wenn jemand zu uns kommt.“ Umso wichtiger ist für Burgdorf die harmonische Zusam- menarbeit mit dem katholischen Seelsorger, Franz-Joseph Christoph, gerade auch als Supervisionsmöglichkeit. Martin Berger, seit 34 Jahren im Justizvollzugsdienst, ist froh, dass es die Gefängnisseelsorge gibt. „Seelsorge hat Foto: Agentur Hübner wohl nirgendwo in der Gesellschaft einen so hohen Stellen- wert wie hier“, sagt Berger, der in der JVA Wolfenbüttel die Gedenkstätte betreut. In zwei Dauerausstellungen wird an die dunkelsten Kapitel der Stadt erinnert: Im Strafgefängnis Die Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel: Blick auf die begrenzte Wolfenbüttel wurden von 1937 bis 1945 hunderte Menschen Freiheit im Innenhof. als Opfer der nationalsozialistischen Justiz mit der Guillo- tine oder dem Strang hingerichtet. Berger: „Heute lässt sich kaum noch ermessen, was es damals für die Gefängnispfar- Häftlinge, die Haftlockerungen genießen, begleitet er rer bedeutete, die zum Tode Verurteilten auf ihrem letzten auf kurze Ausflüge. Oft werden Kirchen oder Ausstellungen Gang zu begleiten.“ besucht, oder auch mal gemeinsam etwas gegessen. Dabei Zurück in der Gegenwart. Für Pfarrer Dedekind ist ganz erleben die Häftlinge, dass Freiheit nicht nur toll, sondern klar: „Zu einem besseren Menschen werden wenige im auch anstrengend sein kann. Dedekind: „Einige sind danach Gefängnis.“ Eher befürchtet er einen „Drehtüreffekt“, wenn heilfroh, wieder eingeschlossen zu werden.“ Häftlinge nach der Haft als „leichte Beute an die falschen Um ihre eigene Sicherheit sorgen sich die Gefängnis- Leute“ gerieten. Die Gesellschaft mache es sich leicht: Straf- seelsorger nicht. Die „Ganoven-Ehre“ besage: „Frauen und täter würden weggesperrt. Aber was komme danach? Wer Pfarrer schlägt man nicht!“ Pfarrer Burgdorf versichert: „Wer bereite die Häftlinge auf die Freiheit vor? „Da passiert zu uns etwas antun würde, bekäme es sofort mit seinen Mit- wenig“, so Dedekind. häftlingen zu tun.“ | Michael Siano
2 | 2015 Evangelische Perspektiven | 10 Interview Die reformatorische Welle Zusammen mit der Landeskirche Braunschweig und der hannoverschen Landeskirche bereitet das Braunschweigische Landesmuseum für 2017 eine große Reformationsausstellung vor. Im Interview spricht die Direktorin, Dr. Heike Pöppelmann, über den Stand der Vorbereitungen und das braunschweigische Geschichtsbewusstsein. Evangelische Perspektiven: Braun- schweig und das Braunschweiger Land haben eine traditionsreiche Geschichte. Inwieweit prägt diese Geschichte das öffentliche Bewusst- sein? Dr. Heike Pöppelmann: Bevor ich nach Braunschweig gekommen bin, habe ich in Oldenburg und Magdeburg gearbeitet. In allen Regionen gibt es ein Bewusstsein für die eigene Geschichte. Überall finden wir wichtige historische Daten und Persönlichkeiten. Und doch gibt es in Braunschweig eine Beschäfti- gung mit der Geschichte, die besonders ist und die ich weder in Oldenburg noch in Magdeburg so erlebt habe. Inwiefern? Ich beobachte eine starke Ten- denz, sich mit der eigenen Identität zu beschäftigen. Zumindest bei bestimm- ten Personengruppen. Vielleicht des- wegen, weil die Frage nach der Zukunft der Region neu entschieden werden muss. Alte Koordinaten haben sich ja aufgelöst. Der Freistaat Braunschweig hat 1946 aufgehört zu existieren, und selbst den Regierungsbezirk Braun- schweig gibt es seit 2007 nicht mehr. Zeigt sich hier eine Art von Verlust- schmerz? Das ist zu viel gesagt. Im Moment Was gehört denn zur braunschwei- die Landkarte in Europa aussehen sollte. scheinen viele einfach am Schwim- gischen Identität? Deswegen ist Herzog Friedrich Wilhelm men zu sein, weil sie noch nicht wis- Prägend ist das Herzogtum von 1235 auch früher vom Wiener Kongress nach sen, wohin der Weg geht. Deswegen ist bis 1918, das danach als Freistaat weiter- Hause gefahren und hat die Verhandlun- die Diskussion um die braunschwei- geführt wurde. Dabei war Braunschweig gen einem Beauftragten übergeben. Er gische Identität im Moment so wich- stets ein relativ kleines politisches sah, wie begrenzt seine Möglichkeiten tig. Als Direktorin des Braunschweigi- Gebilde und stand immer wieder in der waren. Dass das Land nicht von der Karte schen Landesmuseums sehe ich mich Gefahr, von der Karte gewischt zu wer- verschwand, hing unter anderem damit mit dem Team als Beobachter, denn den. Beim Wiener Kongress 1815 zum zusammen, dass Friedrich Wilhelms die Identitätsfrage schwingt in unse- Beispiel gehörte es zu den mindermäch- Vater, Karl Wilhelm Ferdinand, 1806 bei ren Ausstellungen stets mit. tigen Staaten. Andere bestimmten, wie der Schlacht von Jena und Auerstedt
2 | 2015 Evangelische Perspektiven | 11 Interview gegen Napoleon gekämpft hatte und Region so etwas wie ein Schmelztigel, des 19. Jahrhunderts und wurde in seinen dort zugezogenen Verletzungen ein Vorbild für Integration, wenn man einem Atemzug mit Ferdinand Schill erlegen war. Braunschweig musste sich so will. Das sind Traditionslinien, die wir und Andreas Hofer genannt. Er hat von Anfang an immer wieder durchset- keinesfalls vergessen sollten. Tugenden vereint, die große gesell- zen und um sein Bestehen kämpfen. schaftliche Beachtung gefunden haben. Wir leben in einer Phase, die von Militärische Tugenden, die Gott sei Beharrungs- und Durchsetzungs- wichtigen historischen Gedenktagen Dank keine Rolle mehr für uns heute vermögen – gehören diese Tugenden geprägt ist. Welche Kraft liegt darin? spielen. Ein Held wird immer durch sein zur braunschweigischen Identität? Als Landesmuseum war uns beson- Publikum bestimmt, und ein Publikum ders das Gedenken an 1914, den sind wir heute auch. Welche Tugenden Beginn des Ersten Weltkrieges wich- halten wir für heute wichtig? Wenn wir tig, weil dessen Bedeutung gerade in das unter diesem Aspekt betrachten, Deutschland wiederentdeckt werden wird der Schwarze Herzog plötzlich musste. Lange Zeit war unser histo- lebendig. Wir versuchen, seine Biogra- risches Erinnern vor allem durch den fie darzustellen, ohne seinem Mythos Zweiten Weltkrieg und das Dritte Reich auf den Leim zu gehen. geprägt. Aber wir brauchen das Geden- ken an den Ersten Weltkrieg, um das 20. In jüngster Zeit wird darüber dis- Jahrhundert zu verstehen. Am Beginn kutiert, ob der Welfenschatz zumin- dieses „kurzen“ Jahrhunderts wurde dest zeitweise wieder an seinen ange- der erste industriell geprägte Krieg stammten Ort im Braunschweiger geführt. Alles, was vorher im „langen“ Dom zurückkehren sollte. Wie sehen 19. Jahrhundert war, existierte hinter- Sie das? her nicht mehr. Der Welfenschatz hat seine Geschichte. Es ist natürlich schade, Ist das Museum auch so etwas wie dass er nicht mehr am authentischen eine Schule der Demokratie? Ort ist. Andererseits muss man respek- Das Museum ist ein Denk- und tieren, was im Laufe der Jahrhunderte Kommunikationsort. Wir laden die passiert ist. Er ist nun mal verkauft Menschen ein, an Themen mitzuar- und auseinandergerissen worden, und beiten. Wir bieten eine Plattform, auf man kann nicht immer alles rückgän- der man mitdenken, mitgestalten und gig machen. Trotzdem wäre es höchst mitdiskutieren kann. attraktiv, wenn man den Welfenschatz Wie gelingt das mit Blick auf „Luther schwebt über allem, die monarchischen Zeiten Braun- als Mythos. Wir planen eine Foto: Agentur Hübner schweigs? Wir fragen immer nach dem Gegen- Ausstellung, die möglichst frei wartsbezug: Was hat das mit unserem Leben heute zu tun? Muss ich zum Bei- ist von Mythen.“ spiel wissen, was der Schwarze Herzog vor 200 Jahren gemacht hat? Vielleicht noch einmal zusammentragen und in Ich glaube, das kann man so sagen. nicht. Aber wieso hat er sich so lange Braunschweig präsentieren könnte. Wobei es hier auch Traditionslinien im Gedächtnis gehalten? Warum war er Dafür müsste man aber eine wissen- gibt, die so alt sind, dass wir sie gar der Held des 19. Jahrhunderts? Es gibt schaftliche Fragestellung entwickeln. nicht mehr spüren. Diese Region war keine Epoche, in der so viele Denkmä- immer ein Raum, in dem viele Ein- ler an eine Person erinnern. Auch das Sehen Sie realistische Möglichkei- flüsse zusammengekommen sind und einzige Denkmal im Ausland für eine ten dafür? wo stets eine große Mobilität herrschte. Braunschweiger Persönlichkeit gilt Es könnte gelingen, wenn sich Viele Menschengruppen sind zu Zeiten dem Schwarzen Herzog. jemand mit Leidenschaft der Sache der Völkerwanderung hier durchgezo- annimmt und auch den finanziellen gen, einige blieben und manche zogen Welche Erklärung haben Sie dafür? Rahmen schafft. Der Wunsch alleine, irgendwann weiter. Damals war die Er gehörte zu den Freiheitshelden den Schatz noch einmal in Braun-
2 | 2015 Evangelische Perspektiven | 12 Interview Wo wird die Ausstellung stattfin- den? Im Braunschweigischen Landes- museum, aber auch Hintern Brüdern und Hinter Ägidien als authentische Orte der Reformation. Wir erinnern damit auch an die Reformatoren Gott- schalk Kruse (1499-1540) und Johannes Bugenhagen (1485-1558), der 1528 die Braunschweiger Kirchenordnung ver- fasste. Wir werden viele Objekte haben, archäologische Objekte genauso wie Kunstwerke. Welche Rolle wird Martin Luther für die Ausstellung spielen? Luther schwebt über allem, als Mythos. Die Folgen seines „Thesen- anschlags“ zu entblättern, gehört zu unserer Zielsetzung. Wir planen eine Ausstellung, die möglichst frei ist von den Mythen, die sich seit 500 Jahren um Luther und die Reformation gewickelt haben. Wir wollen die Reformation als Foto: Agentur Hübner komplexen Prozess darstellen, dem die Menschen ausgesetzt waren und den sie mitgestaltet haben. Ich glaube, das Gedenken daran wird eine ähnliche Das Miteinander der Verantwortlichen ist klasse: Dr. Heike Pöppelmann. Welle auslösen wie das an den Ersten Weltkrieg. Die Reformation hat unser schweig zu zeigen, reicht aber nicht dabei, und wir haben ein großartiges Leben auf den Kopf gestellt, ganz unab- aus. Es müsste ein gesellschaftlicher Team, auch bei uns im Landesmuseum. hängig von der Frage, welcher Konfes- und wissenschaftlicher Mehrwert dabei sion wir angehören. | mic sein, der über das spektakuläre Ereig- Können Sie schon etwas zur Kon- nis hinausgeht. zeption sagen? Wir planen eine historische Ausstel- Das nächste große Gedenken steht lung, aber uns ist auch hier der Gegen- Stichwort bevor: 2017 jährt sich zum 500. Mal die wartsbezug wichtig. Ich will noch nicht Dr. Heike Pöppelmann (50) ist Reformation. Aus diesem Anlass soll zu viel verraten, aber es wird um die Archäologin und hat an den Universi- es in Braunschweig eine große Aus- Ausbreitung der reformatorischen Idee täten Köln und Bonn Vor- und Frühge- stellung geben. Welche Pläne gibt es im 16. Jahrhundert in den welfischen schichte, Mittelalterliche Geschichte dafür? Landen gehen, also auch in den Gebie- sowie Geologie studiert. 1997 wurde Das ist ein großartiges Projekt. Es ten um Hannover. Wir enden nicht mit sie Volontärin am Landesmuseum in entsteht in Kooperation mit der Lan- dem Augsburger Religionsfrieden 1555 Oldenburg, 2000 Wissenschaftliche deskirche Braunschweig und der han- sondern gehen bis 1617, bis zum Vor- Angestellte am Kulturhistorischen noverschen Landeskirche. Ich schätze abend des Dreißigjährigen Krieges. Die Museum Magdeburg. Seit 2010 ist sie die Power, die dahintersteht. Das Mit- 95 Thesen Martin Luthers haben ja eine Direktorin des Braunschweigischen einander der Verantwortlichen ist unglaubliche Welle ausgelöst, die das Landesmuseums. Bis zum 18. Okto- klasse. Ich habe wenige Projekte bis- ganze 16. Jahrhundert bestimmt hat ber läuft dort die Ausstellung „Wann her erlebt, die so breit und engagiert und unser Leben bis heute beeinflusst. ist ein Held ein Held? Der Schwarze angelegt waren. Wissenschaftler unter Deswegen fragen wir: Wie entsteht eine Herzog 1815/2015“. Mehr unter: anderem von der Universität Göttingen, solche Welle und wie verändert sie sich www.3landesmuseen.de aus Braunschweig und Hannover sind im Laufe der Zeit?
2 | 2015 Evangelische Perspektiven | 13 Hintergrund Nazi-Richter im Kirchendienst Die Neugestaltung der NS-Gedenkstätte im Gefängnis Wolfenbüttel konfrontiert auch die Landeskirche mit ihrer Geschichte. Teil in der Höhe der Strafe von einer ganz außerordentlichen Härte“ gewesen. Eine weitere Beschäftigung im Staatsdienst wurde deswegen nicht empfohlen. Foto: Markus Weber/Stiftung niedersächsische Gedenkstätten Unterstützt wurde Lerche allerdings von der Landeskir- che. Landesbischof Martin Erdmann attestierte ihm eine „bejahende kirchliche Einstellung“, die er auch in der Zeit des Nationalsozialismus beibehalten und bezeugt habe: „Wir halten ihn deshalb für geeignet, im kirchlichen Bereich sich zu betätigen und beabsichtigen, ihn ggf. im kirchlichen Dienst in geeigneter Form zu beschäftigen.“ Erst nachdem 1949 die Entnazifizierungsbestimmungen geändert worden waren, eröffneten sich für Lerche neue berufliche Möglichkeiten. Erneut mit Hilfe der Landeskirche. Zum 30. September 1951 wurde er auf seinen Antrag aus dem Gedenkstätte im Gefängnis Wolfenbüttel. niedersächsischen Landesdienst entlassen und am 1. Okto- ber 1951 von der Landeskirche als Beamter übernommen. Die ehemalige Hinrichtungsstätte in der Justizvollzugsan- Nachdem er zunächst als Jurist in der Grundstücksabteilung stalt Wolfenbüttel (JVA) soll als zentraler Gedenkort zur Justiz tätig war, wurde er 1951 Oberlandeskirchenrat und 1953 und zum Strafvollzug im Nationalsozialismus ausgebaut wer- Finanzreferent, ab 1957 sogar stimmberechtigtes Mitglied im den. Justiz und Strafvollzug seien zentrale Mittel zur Durchset- Kollegium des Landeskirchenamtes. Er starb überraschend zung der NS-Gewaltherrschaft gewesen, sagte Kultusminis- im Dezember 1962 im Alter von 61 Jahren an Herzversagen. terin Frauke Heiligenstadt im Mai vor der niedersächsischen Wer heute die Frage stellt, wie es sein konnte, dass ein Landespressekonferenz. Zwischen 1937 und 1945 waren in der Nazi-Richter, der für zahlreiche Justizmorde verantwort- JVA mehr als 500 Männer und Frauen getötet worden. lich war, nach 1945 in der Landeskirche Braunschweig eine Karriere bis in höchste Leitungsämter machen konnte, fin- Es waren Todesurteile, die als Justizmorde det bei Klaus Erich Pollmann den Versuch einer Erklärung: „Die Kirche hatte das Bedürfnis, sich schützend vor ein bezeichnet werden müssen. geächtetes Glied der Gemeinde zu stellen, dem Berufsver- bot erteilt worden war, das diskriminiert wurde, und zwar Die Hinrichtungsstätte ist auch mit der Geschichte der in letzter Instanz durch die früheren Feindmächte. Ein offe- Landeskirche Braunschweig verbunden. Denn eine ganze nes Wort der Kritik an den schrecklichen Urteilen Lerches, Reihe von Richtern am Braunschweiger Sondergericht, das eine Distanzierung von dieser eklatanten Rechtsbeugung die Todesurteile fällte, war der Landeskirche verbunden: hat es nicht gegeben, nicht einmal ein Wort des Bedauerns. „ ..., und zwar vor, während und nach der Zeit des National- Die Opfer, Zwangsarbeiter, durch den Kriegsverlauf aus der sozialismus“, wie der Historiker Klaus Erich Pollmann 1994 Bahn geworfene Straftäter, vernachlässigte Jugendliche, in seinem Buch „Der schwierige Weg in die Nachkriegszeit“ rückten erst gar nicht ins Blickfeld.“ | mic feststellte. Ein besonders eindrücklicher Fall war der des Juristen Dr. Walter Lerche. Auf Lerche gehen mehr als 50 Todesurteile als Richter am Braunschweiger Sondergericht Stichwort zurück, dessen Vorsitz er seit 1943 inne hatte. Weitere Informationen zur Gedenkstätte: Es waren Todesurteile, „die größtenteils nach rechts- http://wolfenbuettel.stiftung-ng.de staatlichen Maßstäben als Justizmorde bezeichnet werden Weitere Informationen zum Fall Lerche: Klaus Erich müssen“, so Klaus Erich Pollmann. Der Braunschweiger Pollmann (Hg.): Der schwierige Weg in die Nachkriegs- Entnazifizierungsausschuss kam 1946 zu der Überzeugung, zeit. Die Evangelisch-lutherische Landeskirche in Braun- dass Lerche „nicht mit genügend Rückgrat sich der Lenkung schweig 1945-1950. Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, der Rechtspflege widersetzt“ habe. Seine Urteile seien „zum Göttingen 1994, 335 Seiten, ISBN 3-525-55239-4.
2 | 2015 Evangelische Perspektiven | 14 Chronik Strukturreform beschlossen Die Landessynode hat sich mit großer Mehrheit für eine neue Verteilung der Gemeindepfarrstellen entschieden. Die Propsteien erhalten mehr Mitwirkungsrechte. Grundsätzlich können die Gemeinden zwischen drei Modellen der Zusammenarbeit wählen: der Fusion zu einer Gemeinde, dem Pfarrverband (bzw. Quartier) mit bis zu acht Kirchengemeinden und dem neuen Kirchengemeindever- band, dem auch mehr als acht selbstständige Gemeinden angehören können. Die Reform sieht vor allem vor, dass die Pfarrstellen in den Gestaltungsräumen von den Propsteien selbst zugeordnet werden. Das Kontingent der zu verteilenden Stellen wird anhand eines Verteilschlüssels errechnet, der zwei Parameter berücksichtigt: die Mitgliederzahl der Propsteien zu 65 Pro- Foto: Agentur Hübner zent und den Flächenanteil der Propsteien an der Gesamt- fläche der Landeskirche zu 35 Prozent. Auch die Errechnung des Verteilschlüssels wurde in der Beratung der Gesetz- vorlage noch einmal kontrovers diskutiert, ohne aber dass Oberlandeskirchenrat Hans-Peter Vollbach. Änderungsanträge die notwendige Mehrheit fanden. Wie Oberlandeskirchenrat Hans-Peter Vollbach, Leiter Nach einer langen, intensiven und kontroversen der Rechtsabteilung, betonte, komme die Neuregelung vor Debatte hat die braunschweigische Landessynode am Frei- allem der pfarramtlichen Versorgung in den ländlichen Berei- tag, 29. Mai, in Goslar mit großer Mehrheit eine grundle- chen der Landeskirche zugute. Außerdem schaffe sie eine gende Strukturreform der Landeskirche beschlossen. 38 Planungssicherheit für Gemeinden für die nächsten Jahre. von 46 Synodalen stimmten für ein Gesetz, das die stär- kere Zusammenarbeit der Kirchengemeinden in sogenann- ten Gestaltungsräumen vorsieht. Diese werden von den 13 Die neuen Gestaltungsräume sollen Propsteien innerhalb ihrer Grenzen eingerichtet und bilden mindestens drei und maximal sechs volle eine neue Grundlage für die Verteilung der Pfarrstellen in Pfarrstellen umfassen. der Landeskirche. Sechs Synodale stimmten gegen das Gesetz, zwei enthiel- ten sich. Ziel der Reform ist es, die Gemeindepfarrstellen in Die neuen Gestaltungsräume sollen mindestens drei der Breite der Landeskirche möglichst so zu verteilen, dass und maximal sechs volle Pfarrstellen umfassen. Vollbach alle 389 Gemeinden auch in Zukunft versorgt sind. Dafür dankte allen Kirchengemeinden und Propsteien, die sich in sollen die Pfarrerinnen und Pfarrer künftig stärker im Team den vergangenen Monaten kritisch und mit Anregungen zu zusammenarbeiten. dem Reformprojekt geäußert haben. Viele Aspekte seien Die Gesetzesvorlage wurde insbesondere von Synodalen noch in das neue Gesetz eingeflossen, das zum 15. Juli 2015 aus den Propsteien Salzgitter-Lebenstedt, Bad Gandersheim in Kraft tritt. und Königslutter in Frage gestellt. Die Pilotprojekte seien Hintergrund der Reform sind die sinkenden Mitglieder- noch nicht ausreichend ausgewertet, kritisierten sie. Außer- zahlen in der Landeskirche. Vor allem aufgrund demografi- dem gaben sie ihrer Sorge Ausdruck, dass die Eigenstän- scher Faktoren, aber auch durch Austritte verliert sie jedes digkeit und Arbeitsfähigkeit der Gemeinden durch die neuen Jahr rund 5000 Personen. Hatte die Landeskirche 1970 rund Regelungen eingeschränkt werden. 650.000 Mitglieder, waren es 2014 nur noch etwa 360.000. In der Folge hat die Synode zum Beispiel einen Kompro- Bis zum Jahr 2030 wird mit einem weiteren Rückgang auf miss bei der Trägerschaft von Kindertagesstätten beschlos- etwa 250.000 Mitglieder gerechnet. Deswegen hatte die sen. In besonders begründeten Ausnahmefällen kann diese Landessynode im November 2010 beschlossen, die Zahl der auch künftig bei einer Gemeinde sein. In der Regel aber wird Gemeindepfarrstellen bis zum Jahr 2020 möglichst nach- ein neuer Kirchengemeindeverband diese Aufgabe überneh- vollziehbar und transparent von derzeit noch 190 auf 170 men – wenn er denn gegründet wird. zurückzuführen.
2 | 2015 Evangelische Perspektiven | 15 Chronik Viel gelingende Arbeit Erster Lagebericht von Landesbischof Dr. Christoph Meyns vor der Landessynode Landesbischof Dr. Christoph dessen gehe es für die Kirche darum, Meyns hat die Flüchtlingshilfe als eine „intelligent zu schrumpfen“. zentrale Aufgabe von Kirche und Dia- Nötig seien Verfahren, „die es erlau- konie unterstrichen. Ihn bedrücke die ben, Personalstellen transparent zu Verfolgung von Christen um ihres Glau- verteilen“ und Strukturen zu schaffen, bens willen, gleichzeitig müsse die Kir- die es Mitarbeitenden erlauben, sinn- che aber allen Verfolgten und Vertriebe- voll zu arbeiten, so Meyns. Darüber nen ohne Ansehen der Person gerecht hinaus stünden eine Überprüfung der werden, sagte er in seinem ersten Verwaltungsabläufe und die Einführung Bericht zur Lage der Landeskirche vor der erweiterten Kameralistik an. „Und der braunschweigischen Landessynode irgendwann werden wir um eine Neu- am Donnerstagabend, 28. Mai, in Goslar. ordnung der Aufgaben und Strukturen Foto: Agentur Hübner Er wünsche sich, dass Deutschland bei von Propsteien nicht herumkommen.“ seiner „restriktiven Waffenexportpoli- Auch müssten Strategien für die Per- tik“ bleibe und seinen „Schwerpunkt sonalplanung entwickelt werden, um bei der humanitären Hilfe für Flücht- einem Pfarrermangel ab dem Jahr 2022 Landesbischof Dr. Christoph Meyns. linge“ setze. Gleichzeitig dankte Meyns zu begegnen. allen, die sich für die Hilfe von Flücht- kein Qualitätsproblem der kirchlichen Gleichzeitig würdigte der Landes- lingen einsetzen. Arbeit an, „sondern eine fundamentale bischof die Reformen der vergange- Außerdem betonte der Landesbi- gesellschaftliche Strukturverände- nen Jahre. Vieles sei bereits geschafft. schof in seiner Rede, dass die Lan- rung“. Unter den Bedingungen allge- „Durchgehende Qualitätsprobleme“ deskirche weitere strukturelle Ver- meinen Wohlstands, guter sozialer und sehe er in der Landeskirche nicht: änderungen planen und umsetzen medizinischer Versorgung, eines hohen „Im Gegenteil, ich könnte stundenlang müsse. Es gehe darum, angemessen Bildungsstands und großer Freiräume schwärmen von den vielen Beispielen auf die sinkenden Mitgliederzahlen wollten sich viele Menschen nicht mehr gelungener Praxis, die ich selber erlebt zu reagieren. Diese zeigten allerdings so fest binden wie früher. Angesichts habe oder von denen ich weiß.“ Finanzchef wiedergewählt Synode verlängert die Amtszeit von Dr. Jörg Mayer um zwölf Jahre Dr. Jörg Mayer (48) bleibt für dale enthielten sich der Stimme. Mayer weitere zwölf Jahre Oberlandeskir- war 2009 in sein Amt bei der Landes- chenrat und Leiter der Finanzabtei- kirche gewählt worden, die erste Amts- lung der Landeskirche Braunschweig. zeit betrug sechs Jahre. Als Heraus- Die Landessynode wählte den Verwal- forderungen für die nächsten Jahre tungswissenschaftler am 28. Mai in bezeichnete er die Personalplanung, Foto: Agentur Hübner Goslar mit großer Mehrheit für eine das Gebäudemanagement und die Ein- zweite Amtszeit. Von den anwesenden führung der erweiterten Kameralistik 47 Synodenmitgliedern stimmten 37 als ein neues und modernes Finanz- mit ja und acht mit nein. Zwei Syno- system.
2 | 2015 Evangelische Perspektiven | 16 Chronik / Buchtipp Programm steht fest Webseite, Video und Broschüre werben für den Kongress „Gemeinde.Wir“ Das Programm Axel Noack, Altbischof der Evangeli- i.R. Heinz Behrends aus Northeim, oder für den Kongress schen Kirche der Kirchenprovinz Sach- auch Dr. Matthias Rost von der Arbeits- „Gemeinde. Wir“ sen. Nach einem Mittagsimbiss ist die stelle Gottesdienst der Evangelischen der Landeskirche thematische Arbeit in verschiedenen Kirche in Mitteldeutschland. Braunschweig steht Braunschweiger Innenstadtgemeinden Nähere Informationen finden sich in fest. Haupt- und geplant. Um 17:30 Uhr endet der Tag einem besonderen Programmheft, das Ehrenamtliche sind mit einer Präsentation der Ergebnisse an die Haupt- und Ehrenamtlichen in der eingeladen, sich in und kulturellen Beiträgen. Landeskirche sowie an alle Kirchenge- sechs Foren und Für die Foren und Workshops wur- meinden versandt wurde. Weitere Exem- 3 3 Wo r k s h o p s am 10. Oktober in Der verklärte Krieg den auch auswärtige Referenten gewon- nen: unter anderem Friedrich Wagner plare sind in der Pressestelle erhältlich (Tel. 05331-802108, E-Mail: ips@lk-bs. Braunschweig über vom Gemeindedienst der Nordkirche de). Außerdem ist eine eigens für den die Arbeit in den Gemeinden und die in Hamburg, Superintendent Matthias Kongress entwickelte Internetpräsenz Zukunft der Kirche im Braunschweiger Porzelle aus Egeln, der Psychologe online: www.gemeindepunktwir.de. Land auszutauschen. Marcus Eckert aus Bremen, Thomas Anmeldungen sind bis zum 30. Sep- Beginn ist um 10 Uhr mit einem Got- Hirsch-Hüffell vom Gottesdienstinstitut tember sowohl per Fax und Brief als auch tesdienst im Braunschweiger Dom, wo der Nordkirche in Hamburg, Christhard online über die Webseite möglich. Dort Landesbischof Meyns eine Bibelarbeit Ebert vom Zentrum für Mission in der gibt es auch ein Youtube-Video, das für hält. Mitwirken wird auch Professor Region aus Dortmund, Superintendent die Teilnahme an dem Kongress wirbt. Der verklärte Krieg Ein neues Buch von Dietrich Kuessner kommentiert die Feldpostbriefe des ehemaligen Braunschweiger Pfarrers Johann Heinrich Wicke. Feldpost- Obwohl Mitglied des Braunschweiger in Braunschweig wurde. Als Pfarrer der briefe aus dem Pfarrernotbundes, fühlte sich Wicke als Magnigemeinde war er ein Kritiker der Zweiten Weltkrieg Soldat von Gott in den Dienst an „Volk restaurativen Adenauer-Ära und trat des ehemaligen und Vaterland“ gerufen. In seinen Brie- 1957 der SPD bei. Zweimal wurde er in Braunschweiger fen, die er während des Russlandfeld- den Braunschweiger Stadtrat gewählt Pfarr ers Johann zuges an seine Ehefrau schrieb, finden und galt als „roter“ Pastor, dessen Kri- H e i n r i c h W i c ke sich immer wiederkehrende Versuche, tik auch vor der eigenen Kirchenleitung ( 1 9 0 8 - 1 9 9 6 ) h a t den Krieg als Gottes Willen zu verklä- nicht halt machte. Dietrich Kuessner in ren und diesem so einen Sinn zu geben. Das Buch „Die Feldpostbriefe (1939- einem neuen Buch Damit stand er nicht alleine: Mehr als 1942) von Johann Heinrich Wicke und herausgegeben und 100 Pfarrer und Vikare der Landeskir- anderen Braunschweiger Pfarrern“ kommentiert. Sie zeigen, wie ein Pastor che Braunschweig zogen damals in den wurde im Selbstverlag herausgegeben sich im Ausnahmezustand des Krieges Krieg. Viele von ihnen starben auf dem von Peter Wicke und Dietrich Kuessner. verhält, wie er die Konflikte zwischen Schlachtfeld. Es umfasst 163 Seiten und ist für 15 Euro seinem Pastorendasein und seinem Bedeutsam sind die Feldpostbriefe in der Kirchengemeinde St. Magni in Soldatenberuf erträgt und wie er die nicht zuletzt deswegen, weil Johann Braunschweig (Tel. 0531-46804, E-Mail: vom Krieg ausgehende Gewalt aus- Heinrich Wicke in der Nachkriegszeit magni.bs.pfa@lk-bs.de) oder bei den hält und sogar theologisch legitimiert. zu einer stadtbekannten Persönlichkeit Herausgebern erhältlich. | mic
2 | 2015 Evangelische Perspektiven | 17 Nachgefragt Wie können Kirchengemeinden im Braunschweiger Land Flüchtlingen helfen? Nachgefragt bei: Siglinde Haußecker und Pfarrer Heiner Reinhard, Walkenried Unter dem Thema „Gastfreundschaft“ haben wir uns kennengelernt, im Mai1989 auf einem Taizé-Treffen in Pecs (Ungarn). Mit dem „Pilgerweg des Ver- trauens“ haben die Brüder von Taizé uns erleben lassen, was Gastfreundschaft konkret bedeutet: Gastfamilien haben uns in ihren Betten schlafen lassen und selbst auf dem Fußboden genächtigt. Wir haben erfahren, was Frère Roger mit der großen Menschheitsfamilie meint, zu der wir alle gehören. Und so wurde für uns Gastfreundschaft zum sichtbaren Bild dessen, worum es in unserem christlichen Glauben geht: Wir werden emp- fangen und gesehen. So begegnet uns unser Gott - und so wollen wir einander auch begegnen. Heute leben wir – nach Kräften – diese Gastfreundschaft im Pfarrhaus in Wal- kenried. Leben teilen mit den Menschen, einander Bruder und Schwester sein. Die Grenzen zwischen privat und Gemeinde, zwischen Arbeit und Freizeit sind fließend geworden. Unser Bibelkreis trifft sich bei uns im Wohnzimmer, Gäste der Kirchengemeinde sitzen mit uns an unserem Küchentisch, und unsere Kin- der fragten schon bald: „Und wer kommt heute zum Essen?“ Selbstverständlich haben wir auch die Tür geöffnet, als eine eritreische Flücht- lingsfrau anklopfte und um Kirchenasyl bat. Ihr Schicksal hat uns sehr berührt – und wir waren uns mit unserem Kirchenvorstand schnell einig: Die drohende Abschiebung können wir mit unserem Gewissen nicht vereinbaren. In intensiven Wochen haben wir ihr in unseren kirchlichen Räumen mit vielen Unterstützern Schutz geboten. Heute ahnen wir, dass in dieser Frau Christus an unsere Tür geklopft hat. Er ist gegenwärtig in den Flüchtlingen, die mittlerweile fest zu unserer Kirchenge- meinde gehören. Sie haben uns die Augen geöffnet für ihre Not. Sie haben unsere Gemeinde dazu gebracht, viel öfter gemeinsam zu essen. Es ist ein Sprachkurs für Flüchtlinge entstanden, in unserem Kirchenladen können sie kostenlos vie- les bekommen, was sie für ihren Alltag brauchen. Wir teilen Geld und Zeit und empfangen Christus in jedem Gast, der an unsere Tür klopft.
2 | 2015 Evangelische Perspektiven | 18 Rezension Streit um die Bibel Frank Crüsemann erklärt, warum das Neue und das Alte Testament gleichrangig sind – und eine Relativierung des Alten zum Antijudaismus führt. Welche Geltung hat Trotzdem wird er sich an seiner Auffassung messen lassen das Alte Testament für Chris- müssen, das Alte Testament sei das Dokument einer Religi- ten? Die Frage mag irritie- onsgemeinschaft, „die mit der Kirche nicht identisch ist“. Damit ren angesichts der Selbst- spielt er fast unvermeidlich das Neue gegen das Alte aus und verständlichkeit, mit der uns dem Antijudaismus in die Hände. Denn in dieser Perspektive das Alte Testament begegnet. wäre Israel für den christlichen Glauben inhaltlich überholt. Doch sie ist zu einer Streit- Gefordert ist deshalb nicht nur die wissenschaftliche frage geworden, die derzeit Debatte, sondern auch die theologische Auseinanderset- viele bewegt. zung in den Gemeinden und der Breite der Kirche. Dabei Grund dafür ist ein Auf- sind alle willkommen, die der Kraft des eigenen Gedankens satz des Berliner Theologie- aufhelfen können. professors Notger Slenczka. Frank Crüsemann dürfte dazugehören. Er hat ein wun- Er vertritt die These, das Alte derbar nachdenkliches Buch über die Verhältnisbestimmung Testament sei das Zeugnis zwischen dem Alten und dem Neuen Testament geschrie- eines vorchristlichen Selbst-, ben. Darin betont der emeritierte Professor für Altes Tes- Welt- und Gottesverständ- tament an der Kirchlichen Hochschule in Bielefeld-Bethel, nisses und könne nicht die- dass das Neue Testament „durchgängig durch dichte Bezüge Frank Crüsemann: selbe kanonische Bedeutung auf das Alte Testament geprägt“ sei und dessen Kenntnis Das Alte Testament als Wahr- haben wie das Neue Testa- und Geltung voraussetze: „Es gibt im Neuen Testament kein heitsraum des Neuen. Die ment. Denn in der Begeg- Substrat, keinen Kern, keine christliche Wahrheit, die nicht neue Sicht der christlichen nung mit Jesus Christus - alttestamentlich gewonnen wäre.“ Bibel. Gütersloher Verlags- werde das Gottesverhältnis haus, Gütersloh/München radikal neubestimmt. Christus verkündet die alte Lehre der Tora mit 2011, 384 Seiten, 34,99 Euro. Damit steht Slenczka in einer Linie mit namhaften neuer Kraft und Wirksamkeit. Theologen wie Friedrich Schleiermacher (1768-1834), Adolf von Harnack (1851-1930), oder Rudolf Bultmann (1884-1976). Erhellend ist zum Beispiel seine Interpretation des Allen gemeinsam war eine negative Sicht des Alten Testa- Begriffs „neu“. Hierbei sei keine inhaltlich neue Lehre ments und in der Folge auch des Judentums. Eine Sicht, die gemeint, die eine alte ablöst, sondern eine neue Kraft und von den Deutschen Christen in der Zeit des Nationalsozia- Wirksamkeit, mit der die alte Lehre der Tora durch Christus lismus zugespitzt wurde. So forderte zum Beispiel Reinhold verkündet werde. Wie im Alten sei im Neuen Testament das Krause während einer Kundgebung im Berliner Sportpalast Neue vor allem ein Begriff „für das erwartete eschatologisch am 13. November 1933: Neue, das Gott herbeiführen wird“. Sein Reich, in dem voll- „Befreiung vom Alten Testament mit seiner jüdischen Lohn- ends Frieden und Gerechtigkeit herrschen. moral, von diesen Viehhändler- und Zuhältergeschichten. Und natürlich geht Crüsemann der Frage nach, inwieweit Tod Mit Recht hat man dieses Buch als eines der fragwürdigsten und Auferstehung Jesu als Dreh- und Angelpunkt des christli- Bücher der Weltgeschichte bezeichnet ... Die Juden aber sind chen Glaubens eine Distanzierung vom Alten Testament recht- nicht Gottes Volk.“ Krauses Ziel war es, den Gleichklang von fertigen. Er zeigt, dass beides kein Bruch mit der Schrift ist, son- Nationalsozialismus und Evangelium zu konstruieren. dern in ihr gründe. Außerdem hätten Tod und Auferstehung nicht Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass das letzte Wort, sondern die Erhöhung Jesu an die Seite Gottes. Slenczka harsche Kritik erntet. Seine Abhandlung sei eine In diesem Modus, als Abwesender, sei er gegenwärtig: „Neuauflage des protestantischen Antijudaismus“, wirft ihm „Christus ist durch diese Entrückung an die Seite Gottes in Friedhelm Pieper (Bad Nauheim) vom Deutschen Koordinie- der Welt und bei seiner Gemeinde auf keine andere Weise rungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusam- gegenwärtig und wirksam, als es Gott ist und schon immer menarbeit vor. Was Slenczka allerdings vehement zurück- war – bis alle Feinde endgültig besiegt sind.“ In diesem Ver- weist: Dadurch, dass er das Alte Testament nicht christlich ständnis sind Juden und Christen im Glauben an denselben vereinnahme, erweise er dem Judentum vielmehr Respekt. Gott verwandt. | mic
2 | 2015 Evangelische Perspektiven | 19 Kleine Kirchenkunde Nachhaltig begeistert Vom 3. bis 7. Juni hat in Stuttgart der 35. Deutsche Evangelische Kirchentag stattgefunden. Auch in der Landeskirche Braunschweig gibt es einen Ausschuss, der das Christentreffen unterstützt. Geschäftsstelle, die Geschäftsführung und der Vorsitz. Der Landesausschuss der braun- schweigischen Landeskirche hat bei den Kirchentagen eine Reihe von Pro- jekten gefördert und begleitet. Von der Landeskirche und dem Landesaus- schuss erhalten Jugendliche bis 27 Jahren einen Zuschuss, wenn sie als Dauerteilnehmer oder Mitwirkende am Kirchentag beteiligt sind. Die Aktion „Kirchentag für alle“ wurde vom Landesausschuss Braun- schweig ins Leben gerufen, um auch Menschen ohne Geld die Teilnahme zu ermöglichen. Durch die Arbeitslosen- Foto: epd-bild/Stefan Arend initiativen in der Landeskirche werden Empfänger von Sozialleistungen ange- sprochen, für die eine Kirchentags-Teil- nahme sonst unmöglich wäre. Schon als „Konfi“ zum Kirchentag Jugendkantorei der Braunschweiger Domsingschule beim Kirchentag in Stuttgart. und ein spezielles Konfirmandenpro- gramm mit 3000 Jugendlichen erleben – das ist möglich, wenn der Kirchentag Die Mitarbeit beim Kirchentag Evangelischen Kirchentags in den (fast) vor der Tür ist. Der braunschwei- erfüllt viele mit einer Begeisterung, zentralen Gremien übernehmen die gische Landesausschuss hatte dazu die sie nicht so schnell wieder los wer- DEKT-Landesausschüsse in den Lan- für die Kirchentage in Bremen (2009) den. Mehr als ein Jahr vor dem Ereig- deskirchen Mitverantwortung für die und Hamburg (2013) einen Konfi-Zug nis starten in allen Landeskirchen die Vorbereitung und Durchführung. Auch mit Oldtimer-Waggons bei den Eisen- Vorbereitungen für die Ehrenamtlichen: in der braunschweigischen Landeskir- bahnfreunden in Vienenburg geordert, Posaunenchöre und Theatergruppen che ist der Landesausschuss für die so dass 500 Konfirmanden für einen beginnen mit den Proben, Kirchenge- Verbindung zwischen Kirchen, Werken, Tag am Kirchentag teilnehmen konnten. meinden und Aktionsgruppen bereiten Verbänden, sozialen und kulturellen Der DEKT in Berlin 2017 liegt ja wieder ihren Stand für den Markt der Möglich- Einrichtungen in der Region zuständig. fast vor der Tür. Es könnte wieder los- keiten vor, Gruppen aus der Kategorie Aus Braunschweig sind jeweils rund gehen. | Beate Stecher „Musik, Theater, Kleinkunst“ erstellen 1000 Personen bei Kirchentagen dabei. ihre Präsentation für die Bewerbung. Der Landesausschuss arbeitet öku- Wer einmal dabei war, macht gerne menisch und trifft sich mit seinen Mit- wieder mit. Mitwirkende berichten gliedern und Gästen aus den verschie- Stichwort begeistert von den Vorbereitungen und denen Gemeinden, Propsteien, Kirchen Kontakt: Pastorin Beate Ste- der Teilnahme, weil sie mit ihrem Enga- und weiteren Arbeitsgruppen zweimal cher, Geschäftsführerin des gement ein wichtiger Teil des großen jährlich zu Rückblick und Planung. Der DEKT-Landesausschusses Braun- Ganzen sind. Von den vielen Initiativen fünfköpfige Vorstand hält in der Zwi- schweig, Amtsstraße 31, 38448 und aktiven Menschen lebt der Kirchen- schenzeit die Kontakte, auch zu den Wolfsburg, Tel.: 05363-72053, Mail: tag. Fast die Hälfte der Teilnehmenden Organen des DEKT. Die Mitarbeit im beate.stecher@lk-bs.de, www.kir- gestaltet das Programm mit. Landesausschuss wird ehrenamtlich chentag-braunschweig.de Neben der Leitung des Deutschen wahrgenommen, auch die Leitung der
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