Trotzdemjetzt - DAS GEHEIMNIS DER URBANITÄT - Ingolstädter Magazin für Stadtkultur

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Trotzdemjetzt - DAS GEHEIMNIS DER URBANITÄT - Ingolstädter Magazin für Stadtkultur
trotzdemjetzt
                         Ingolstädter Magazin für Stadtkultur
                                       MAI 2021

                              DAS
                           GEHEIMNIS
                              DER
                           URBANITÄT
Screenshots: Google

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Trotzdemjetzt - DAS GEHEIMNIS DER URBANITÄT - Ingolstädter Magazin für Stadtkultur
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                           R E PA R I E R E N ?

          H A NDW E R KS KU N S T.
          gebr-peters.de
Trotzdemjetzt - DAS GEHEIMNIS DER URBANITÄT - Ingolstädter Magazin für Stadtkultur
Urbanität Editorial        03

                                                                                             INHALT
                                                                                     04
                                                                                     „Ich habe nie etwas
                                                                                     von Fußgängerzonen gehalten“
                                                                                     Interview mit Vittorio Lampugnani.

                                                                                     07
                                                                                     Die Moderne liegt hinter uns
                                                                                     Von Falk Jaeger
                                                                                     Die Rezepte des 20. Jahrhunderts
                                                                                     sind gescheitert.
Ingolstadt leuchtet: Die Altstadt ist klein – aber reizvoll.          Foto: Hauser

                                                                                     08
                     EDITORIAL                                                       Es werde Stadt
                                                                                     Von Christian Silvester
                                                                                     Wie konnte sich die spezifische
                                                                                     Innenstadt-Situation in Ingolstadt
         Liebe Leserinnen                    reicht werden kann, die die Bürger      ausbilden?
         und Leser,                          in die Innenstadt ziehen könnte.

          Was Sie jetzt in Händen            Das Problem ist drängend, deshalb       10
halten, ist ein Experiment: ein Ma-          auch haben wir uns diesmal für das      Wo geht es hier zur Subkultur?
gazin, das der Donaukurier heraus-           Heftthema Urbanität entschieden –       Von Katrin Fehr
gibt und das gleichzeitig von der            als städtebauliche Idee und als er-     Ingolstadts Szene ist vielfältig,
Kulturszene der Stadt mitgetragen            strebenswertes Lebensmodell. Die        doch die braucht (noch) mehr Orte.
wird. Von Anfang an haben viele Ver-         urbane Lebensform ist keineswegs
treter der wichtigsten Ingolstädter          selbstverständlich, in großen Län-
Kulturinstitutionen bei der Themen-          dern wie den USA oder China ist sie     11
findung mitgewirkt. Die Aufgabe              heute weitgehend unbekannt. Die         Ingolstadt baut
dieses Hefts, das mehrmals jährlich          europäische Innenstadt ist nur ein      Von Claudia Borgmann
erscheinen soll, ist es nicht, ein um-       mögliches Modell des Zusammen-          Ein sehr persönlicher Rundgang.
fassendes Bild der regionalen                       lebens in Ballungsräumen.
und überregionalen Kultur-                          Aber ein in Deutschland von
szene zu bieten – mit Rezen-                        den Bürgern hoch geschätz-       14
sionen und kritischen Berich-                       tes – ein Grund, warum in        Die Ideen der Stadtplaner
ten. Denn damit beschäftigt                         Stadtteilen wie Schwabing        Von Claudia Borgmann
sich bereits der Kulturteil des                     oder Haidhausen die Immobi-      Vier Ingolstädter Architekten
Donaukuriers. Es soll nicht                         lienpreise in schwindelerre-     über ihr Ingolstadt-Bild.
das Kulturgeschehen reflek-                         gende Höhen geschossen
tieren, sondern jeweils ein                         sind. Erstrebenswert ist Urba-
Thema gründlich erörtern,                           nität auch in neuen Quartie-     19 Tipps und Termine
durchaus mit dem Anspruch,                          ren, aber diese Lebensweise
auch widersprüchliche Standpunk-             ist oft keineswegs einfach zu ver-
te zu Wort kommen zu lassen. Wir             wirklichen. Deshalb reden wir auch      20
wollen neue Einsichten, Ideen                vom Geheimnis der Urbanität.            Vergleich der Innenstädte.
transportieren, Gedankenanstöße,                                                     Regensburg, Würzburg und Offenbach.
über die diskutiert werden sollte. Im        Das Thema soll in diesem Heft von
Idealfall ist dieses Kultur-Magazin          verschiedenen Perspektiven er-
ein Thinktank in Schriftform. Gleich-        örtert werden. Es geht um die Frage,    26 Trends.
zeitig wollen wir möglichst an Initia-       warum urbanes Leben seit einigen
tiven und Projekte anknüpfen, die            Jahren wieder so aktuell ist. Warum
gerade in der Stadt verfolgt werden.         die städtische Lebensweise so be-       28
So weisen wir etwa gerne auf die             gehrt ist. Wie die Situation in ande-   Wo die Leute am liebsten wohnen.
trotzdemjetzt-Expo in der Innen-             ren, ähnlich großen Städten ist und     Wie lebt es sich im Münchner
stadt hin.                                   warum sie manchmal kaum eine In-        Werksviertel und wie in Haidhausen?
                                             nenstadt-Krise spüren. Liegt der
In der Kulturszene der Stadt gärt es.        Grund darin, dass diese Städte auf
Neue Initiativen gründen sich, Ideen         Kultur gesetzt haben, dass die          30 Ingolstadt in Zahlen.
und Visionen kursieren, Projekte             Würzburger Bürgerschaft etwa im-
werden vorangetrieben. Künstler              mer wieder vehement Einkaufszent-
und Kreative finden zu neuem                 ren in der Vorstadt verhindert hat?
Selbstbewusstsein, auch weil sie             Diskutiert wird, mit welchen Bau-
von der Stadtführung ernst genom-            maßnahmen die Stadt verbessert          IMPRESSUM
men werden. Gleichzeitig herrscht            werden kann. Bekannte Architekten       Die Beilage „#trotzdemjetzt – 1“ liegt dem
Krisenstimmung: Die Corona-Pan-              präsentieren, was sie in Ingolstadt     DONAUKURIER bei, Ausgabe vom 7. Mai, 2021.
demie hat die deprimierende Situa-           verändern würden. Und wir zeigen,       Donaukurier GmbH, Stauffenbergstraße 2a,
tion der Innenstadt noch verschärft          wie Ingolstadt in seiner spannenden     85051 Ingolstadt
– in vielen Städten, besonders aber          Geschichte das werden konnte,           Redaktion: Jesko Schulze-Reimpell;
in Ingolstadt. Gefährdet ist die Alt-        was es heute ist.                       Grafik: Stefan Reibel; Anzeigen: Thomas Bauer,
stadt in Ingolstadt wohl auch, weil                                                  PNP Sales GmbH; Druck: Donaukurier Druck GmbH
sie so klein ist, weil nur schwer eine       Viel Freude beim Entdecken
ausreichende Fülle des kulturellen           Ihr
und kommerziellen Angebots er-               Jesko Schulze-Reimpell
Trotzdemjetzt - DAS GEHEIMNIS DER URBANITÄT - Ingolstädter Magazin für Stadtkultur
04     Urbanität Interview

„ERKLÄREN SIE DEN BÜRGERN DIE
  VORZÜGE DER INNENSTÄDTE“
     Vittorio Lampugnani hat in Ingolstadt das Audi-Forum gestaltet. Der berühmte Architekturtheoretiker
                       ist ein leidenschaftlicher Verfechter urbaner Lebenskonzepte.

            Herr Lampugnani, inzwischen leidet
            Ingolstadt wie so viele andere Städte auch
            am Sterben der Innenstadt. Immer
            mehr Geschäfte schließen oder haben
            Schließungen angekündigt. Zuletzt
            Galeria Kaufhof und C&A. Was macht
            die Innenstädte in Europa derzeit so
            anfällig, so wenig resilient?
            Vittorio Magnago Lampugnani: Die Altstädte
            sind resilient, sogar extrem resilient, sonst wür-
            de es sie nach Jahrhunderten nicht mehr ge-
            ben. Sie haben viel durchgemacht, besonders
            in den vergangenen Jahrzehnten – mit der Ver-
            breitung des Automobils, mit der Flucht der
            Bürger in die Peripherie, mit den neuen Ein-
            kaufszentren am Stadtrand. Doch wenn Sie
            bedenken, wie jetzt alle von der 15-Minuten-
                                            Stadt     schwär-
                                            men (s. Seite 26),
                                            wie      teilweise
     „Die Altstädte                         unter Verrenkun-
                                            gen      versucht
      sind extrem                           wird, sie in unse-
                                            ren Städten ein-
       resilient.“                          zurichten, muss
                                            man sich schon
                                            wundern. Denn
                                            die traditionelle
            Altstadt ist ja bereits die 15-Minuten-Stadt. Wir
            müssen sie nur wieder zu einem lebendigen
            und erschwinglichen Ort machen.

            Wie konnte sich dieses spezifische
            Konzept der urbanen Innenstadt
            überhaupt in Europa ausbilden?
            Lampugnani: Die kompakten Städte sind ent-
            standen, weil die Menschen zusammenkom-
            men wollten: um Handel zu treiben und um sich
            vor Raubangriffen zu verteidigen. Es ging ihnen
            auch darum, eine Gemeinschaft zu bilden und
            innerhalb dieser Gemeinschaft die Interaktio-
            nen zu optimieren. Das sind natürlich sehr ver-
            einfachende Erklärungen. Es gibt weitere Fak-
            toren, etwa die Landschaft zu schonen, weil sie
            die wirtschaftliche Grundlage für die Menschen
            war. Wenn wir einige dieser Faktoren auf unsere
            heutige Situation übertragen, sind sie im Grun-
            de unverändert aktuell.
                                                                 Vittorio Lampugnani: „Ich wohne in der Stadt, recht zentral, und
            In anderen Weltgegenden, etwa in den                 in einem funktionierenden Quartier.“            Foto: Morgenstern
            USA und in China, ist dieses Konzept
            der europäischen Innenstädte aber oft
            unbekannt.                                           Wenn man von der europäischen
            Lampugnani: Die Städte, die Sie meinen, funk-        Innenstadt redet, werden immer
            tionieren anders, weil sie sich oft spät entwi-      wieder zwei zentrale Begriffe genannt:
            ckelt haben. Die historischen Städte in China        Durchmischung und Verdichtung.
            oder in Indien, auch jene in den USA waren           Lampugnani: An der Verdichtung ist wichtig,
            überwiegend kompakte und übrigens ausge-             dass sie die Menschen auf vergleichsweise
            sprochen schöne Städte. Der Wunsch, mög-             engem Raum zusammenbringt. Man läuft sich
            lichst weit weg vom Nachbarn zu sein – der           über den Weg, auch zufällig. Das ist sozial,
            beste Nachbar ist der, der nicht vorhanden ist       politisch und ökonomisch ein Vorteil. Außer-
            –, ist eine Erfindung des späten 19. Jahrhun-        dem spart man Ressourcen, allen voran die
            derts. Mit der Verbreitung des Automobils im         Landschaft. Durchmischung geschieht auf ver-
            20. Jahrhundert wurde der Traum Wirklichkeit         schiedenen Ebenen. Es gibt zunächst die Nut-
            – leider, wie wir rückblickend sagen müssen.         zungsmischung, es kommen also verschiede-
Trotzdemjetzt - DAS GEHEIMNIS DER URBANITÄT - Ingolstädter Magazin für Stadtkultur
Urbanität Interview         05

ne Funktionen zusammen, Wohnen, Ein-                                                          wohnung die beste Lösung ist. Vor allem
kaufen, Arbeit, Bildung, Freizeit. Da er-                                                     bin ich überzeugt, dass es für unser öko-
geben sich Synergien. Und es gibt die
soziale Durchmischung. Das ist das,
                                                      „Wie viele                              logisches Gleichgewicht die einzige ver-
                                                                                              tretbare und zukunftsfähige Lösung ist.
was letztlich Bewohner zu Städtern
macht. Es ermöglicht die Kommunika-
                                                     Träume ist                               Ein anderer Traum der
tion quer durch die gesellschaftlichen
Gruppen; und es ermöglicht auch, Kon-
                                                   der Traum nach                             Mitteleuropäer ist es, in einem
                                                                                              städtischen Umfeld zu leben wie
flikte auf kurzem Wege zu überwinden.
                                                     einem Haus                               etwa in München-Haidhausen
                                                                                              oder Schwabing.
Seit der Blüte der Innenstädte hat
sich vieles verändert, es gibt etwa
                                                      künstlich                               Lampugnani: Dieser Traum ist mir schon
                                                                                              viel sympathischer. Er ist zukunftsfähig.
moderne Fortbewegungsmittel wie
das Auto. Haben da moderne urbane
                                                      erzeugt.“                               Und er ist realisierbar. Es muss ja nicht
                                                                                              unbedingt das schicke Schwabing sein.
Zentren noch eine Chance?                                                                     Eine Bebauungs- und Belegungsdichte
Lampugnani: Mehr denn je. Die Strate-                                                         hat neben ihrer ökologischen Verantwor-
gie des Zusammenrückens und des er-                                                           tung viele unmittelbare Vorzüge: Die Ge-
höhten zwischenmenschlichen Austau-             text zu sehen. Das Automobil spielt           schäfte, die Restaurants, die Cafés, die
sches ist nach wie vor höchst aktuell.          emotional keine große Rolle mehr, es          Museen, die Kinos und Theater in der
Darüber hinaus besitzt das historische          gibt inzwischen eine Generation, die in       Nähe, die Kindergärten und die Schulen
Zentrum neue Alleinstellungsmerkmale            den Vororten groß geworden und mit            – all das gibt es ja nicht in der Peripherie
– etwa weil es eine Historizität besitzt,       ihren Nachteilen bestens vertraut ist. Die    zwischen       Einfamilienhäusern       und
die Teil unserer Identität ist. Sie ist durch   Projektion des Hauses als miniaturisier-      Schrebergärten.
nichts zu ersetzen. Das Lebensmodell            tes Schloss, die im Einfamilienhaus
des historischen Zentrums kann vollum-          steckt, ist längst zusammengebröselt.         Viel diskutiert wird zuletzt auch
fänglich übernommen werden – unter              Ich bin kein Soziologe, aber ich stelle       das Konzept der Fußgängerzone, so
bestimmten Voraussetzungen. Ich sage            fest, dass die jüngere Generation so          wie es in den 70er Jahren fast überall
das nicht aus Nostalgie. Die historischen       nicht mehr leben will, schon weil sie nicht   eingerichtet wurde. Hat sich das
Zentren haben sich in ganz Europa über          auf das Auto angewiesen sein möchte.          Konzept überlebt?
lange Zeit sehr erfolgreich entwickelt. In      Sie setzt neue Prioritäten – glücklicher-     Lampugnani: Ich habe nie etwas von
ihnen steckt der Erfahrungsschatz von           weise. Unsere Aufgabe ist jetzt, für die      Fußgängerzonen gehalten. Wenn wir mit
Jahrhunderten, sie sind optimierte Dis-         Innenstädte städtebauliche und archi-         dem Automobil leben, dann sollten wir
positive des menschlichen Zusammen-             tektonische Konzepte zu entwickeln, die       dem Automobil auch Platz einräumen.
lebens. Es gibt sie noch, weil sie so op-       die Menschen überzeugen. Und die sich         Für mich ist nur wichtig: Die Stadt erlebt
timiert und vorteilhaft sind. Daraus kön-       die Menschen leisten können. Es ist im-       man hauptsächlich als Fußgänger; und
nen und müssen wir lernen.                      mer noch billiger, ein Grundstück weit        weil der Fußgänger schwächer ist als
                                                draußen zu kaufen und ein Fertighaus          das Auto, muss er vor dem Auto ge-
Zuletzt wurde in Deutschland                    draufzustellen, als in der Innenstadt eine    schützt werden. Ich bin für eine Koexis-
ein Statement des Grünen-Politikers             Wohnung zu erwerben.                          tenz der verschiedenen Möglichkeiten
Anton Hofreiter heftig diskutiert.                                                            der Fortbewegung. Mir ist es lieber, der
Er sagte, die Zeit der                          Dennoch, ich möchte Ihnen ein                 Verkehr wird gemäßigt, kontrolliert und
Einfamilienhäuser sei vorbei,                   wenig widersprechen. Ich habe
weil sie ökologischen Standards                 schon das Gefühl, dass es für viele
nicht mehr entsprechen würden.                  Deutsche immer noch der größte
Lampugnani: Grundsätzlich hat Hofrei-
ter recht. Seine Kritik ist nicht neu: Be-
                                                Traum ist, ein Haus im Grünen
                                                zu besitzen. Woher kommt dieser
                                                                                                 „Ich habe nie
reits 1963 nahm die Ausstellung „Hei-
mat, deine Häuser“, die hauptsächlich
                                                Traum?
                                                Lampugnani: Wie viele andere Träume
                                                                                                   etwas von
von Max Bächer initiiert wurde, unter
anderem die hemmungslose deutsche
                                                ist auch dieser weitestgehend künstlich
                                                erzeugt: durch Werbung und Sugges-
                                                                                                Fußgängerzonen
Einfamilienhauskultur aufs Korn. Übri-
gens auch die damit einhergehenden
                                                tion. Klar: Wer möchte nicht in einem
                                                Schloss mit großem Park rundherum
                                                                                                  gehalten.“
Subventionen. Die Ablehnung des Ein-            wohnen. Das zeigt den sozialen Aufstieg
familienhauses ist heute allerdings in          und ist auch ganz angenehm. Aber das
einem anderen, stark veränderten Kon-           Schloss kann man sich in der Regel nicht      verteilt, als dass er an bestimmten Stel-
                                                leisten, also wird daraus ein Häuschen,       len konzentriert wird. Denn die Kehrseite
                                                Gärtner sind auch teuer, also bleibt es bei   der Fußgängerzonen sind die Stadtauto-
                                                einem Gärtchen. Man muss die Woh-             bahnen.
                                                nungssuchenden darüber aufklären:
     ZUR PERSON                                 Wenn die Dimensionen zu klein werden,         Vielen Leute beklagen, dass die
                                                kippen die Vorteile in ihr Gegenteil um.      Innenstädte sich selbst zu Shopping-
     Vittorio Magnago Lampug-                   Da bringt am Ende eine Loggia oder ein        centern abgewertet haben.
     nanini kam 1951 in Rom zur                 ausreichend großer Balkon mehr als ein        Wie wichtig ist es, dass die
     Welt und besuchte dort die                 mickriger, unzureichend gepflegter Gar-       Stadtzentren mehr zu bieten haben
     Schweizer Schule. Als Profes-              ten. Ich glaube aber auch, dass wir lang-     als Gastronomie und Geschäfte?
     sor lehrte er in Salzburg, an der          sam einsehen müssen, spätestens seit          Lampugnani: Das ist lebenswichtig. Die
     Harvard University, in Zürich              dem Ausbruch der Pandemie, dass wir           Attraktivität und auch die Resilienz der
     und in Frankfurt. Er leitete von           mit unserer Landschaft anders umgehen         Innenstädte liegt ja nicht bloß in ihrer
     1990 bis 1995 das Deutsche                 müssen. Die Landschaft ist nicht ein Gut,     Architektur, sondern auch und vor allem
     Architekturmuseum in Frank-                das man kaufen kann, wenn man genü-           in ihrer Nutzung. Der Niedergang der In-
     furt, gestaltete das Donau-Ufer            gend Geld hat, sondern etwas, das für         nenstädte beginnt dann, wenn die Men-
     in Regensburg und zusammen                 unser Wohlbefinden, unsere Gesund-            schen vertrieben werden, wenn sie nicht
     mit Wolfgang Weinzierl das Au-             heit, unser Überleben essenziell ist. Also    mehr dort wohnen. Das ist die Gentrifi-
     di-Forum Ingolstadt. Er veröf-             müssen wir sie schonen. Natürlich glau-       zierung. Die Gentrifizierung ist nicht nur
     fentlichte wegweisende Bü-                 be ich nicht, dass Einfamilienhäuser in       eine soziale Ungerechtigkeit: Sie ist et-
     cher, etwa „Die Stadt im 20.               Zukunft abgeschafft werden. Ich sehe          was, was die Stadt zerstört, ihr soziales
     Jahrhundert“. Heute lebt Lam-              hier auch keine Notwendigkeit für einen       Leben, die Mechanismen, die mit sozia-
     pugnani in Mailand.           DK           derart radikalen Standpunkt. Ich bin          ler Interaktion, Kooperation und Kontrol-
                                                aber überzeugt, dass für Menschen mit         le zu tun haben, also auch mit Sicherheit
                                                einem normalen Einkommen eine Stadt-          im öffentlichen Raum. Auch die Infra-
Trotzdemjetzt - DAS GEHEIMNIS DER URBANITÄT - Ingolstädter Magazin für Stadtkultur
06         Urbanität Interview

                                                                       Lampugnani: Ich traue mir nicht zu, Ihnen und
                                                                       Ihrer Stadt zu erklären, was sie zu tun hat. Wie
                                                                       gesagt: Jede Stadt hat ihre Spezifizität, und
                                                                       auch wenn die Herausforderungen, mit denen
                                                                       sich die Innenstädte konfrontiert sehen, ähn-
                                                                       lich sind, so sind sie im Detail doch immer
                                                                       wieder anders. Gleichwohl gibt es, glaube ich,
                                                                       ein paar Grundregeln. Erstens: Stellen Sie si-
                                                                       cher, dass in der Innenstadt ausreichend Woh-
                                                                       nungen unterschiedlichen Zuschnitts und
                                                                       unterschiedlicher Preisklassen zur Verfügung
                                                                       stehen, und dass sie nicht tageweise an Tou-
                                                                       risten vermietet werden, sondern an Men-
                                                                       schen, die für längere Zeit dort leben wollen:
                                                                       Nur dann übernehmen sie Verantwortung für
                                                                       die Stadt. Zweitens: Versorgen Sie diese Woh-
                                                                       nungen mit ausreichend Kindergärten, Schu-
                                                                       len, Lebensmittelgeschäften. Drittens: Schaf-
                                                                       fen Sie Arbeitsorte in der Innenstadt selbst,
                                                                       damit die Menschen, die dort leben, die Chan-
                                                                       ce haben, ihrem Beruf in der Nähe nachzuge-
                                                                       hen. Viertens: Pflegen Sie Ihren bereits wunder-
Beim Bürgerfest drängt es die Ingolstädter auf die Straßen und         schönen öffentlichen Raum, Ihre Straßen, Gas-
Plätze der Stadt.                                   Foto: Hauser       sen, Plätze und Parkanlagen, damit sie die
                                                                       Wohnungen zusätzlich aufwerten, machen Sie
                                                                       daraus angenehme und sichere Orte für Fuß-
                 strukturen gehen ein, die Cafés, die Restau-          gänger und Fahrradfahrer, aber lassen Sie mo-
                 rants, die Geschäfte können nicht existierten,        torisierten Verkehr für die Anwohner und die
                 wenn sie zu wenig Kundschaft haben. Also              Anlieferung des Gewerbes zu. Und fünftens:
                 selbst dann, wenn man Stadt rein wirtschaftlich       Erklären Sie den Bürgerinnen und Bürgern Ihrer
                 betrachtet, was milde ausgedrückt reduktiv ist,       Stadt die Vorzüge, ja auch die Modernität des
                 erweist sich die Gentrifizierung als ein schlech-     Lebens in der Innenstadt.
                 tes Konzept. Es hält nicht lang. Die Preise wer-
                 den kurzfristig, vielleicht auch mittelfristig        Aber der Markt, sowohl der Wohnungs-
                 hochgetrieben, aber bald bricht das System in         markt als auch der Gewerbeimmobilien-
                 sich zusammen: sozial und ökonomisch.                 markt, geht in eine andere Richtung.
                                                                       Lampugnani: Das heißt noch lange nicht, dass
                 Wie wichtig sind identitätsstiftende                  die Richtung richtig und zukunftsfähig ist. Der
                 Kulturbauten in der Innenstadt?                       Markt ist ja nicht frei, er bewegt sich in einem
                 Lampugnani: Wir brauchen sie: Ihre Schönheit          Dschungel von Gesetzen, Vorschriften und An-
                 ist Teil unserer Identität, aber auch unseres         reizen. Es gilt,
                 Lebens. Kultureinrichtungen sind nicht für die        diese so zu
                 Touristen da, sondern für uns alle. Wir alle ge-      steuern, dass
                 hen gerne ins Kino oder Theater, wir gehen in
                 Museen, leider zu selten in der eigenen Stadt.
                                                                       die Innenstäd-
                                                                       te auch als In-
                                                                                                „Das Geheimnis
                 Das Geheimnis der Urbanität der Innenstadt
                 liegt darin, dass sie eine komplette Stadt ist, mit
                                                                       vestitionspro-
                                                                       jekte attraktiv
                                                                                                  der Urbanität
                 allem, was dazu gehört: Wohnen natürlich, für
                 unterschiedliche soziale Gruppen, Arbeitsort,
                                                                       werden. Zum
                                                                       Beispiel,    in-
                                                                                                 der Innenstadt
                 Infrastruktur. Dazu gehört selbstverständlich
                 die Kultur.
                                                                       dem man ge-
                                                                       nossenschaft-
                                                                                                liegt darin, dass
                 Darf ich Sie fragen, wie Sie
                                                                       lichen Woh-
                                                                       nungsbau för-
                                                                                               sie eine komplette
                 persönlich in Mailand wohnen?
                 Lampugnani: Ich wohne in einem Haus aus den
                                                                       dert.    Indem
                                                                       man die An-
                                                                                                    Stadt ist.“
                 20er Jahren, einem Haus, das für eher niedrige        siedlung der
                 Einkommensschichten gebaut wurde, also                Geschäfte
                 nicht so richtig modern und durchaus beschei-         steuert. Und
                 den. Gleichwohl bin ich immer wieder erstaunt         natürlich vor allem: Indem man das Bauen in
                 über die Raffinesse der Ausstattung, die alles        der Peripherie nicht mehr unterstützt, sondern
                 andere als protzig ist, aber doch mit schönen         im Gegenteil erschwert.
                 Türen, elegant gerahmt wie die Fenster, die
                 sogar über innere Klappläden verfügen, mit            Es überrascht mich, dass Ihre Vorschläge
                 Böden aus farbigen Zementplatten oder einfa-          keine architektonischen, sondern eher
                 chem Parkett, mit Stuck an den hohen Decken.          nutzungstechnische und wirtschaftliche
                 Wenn ich das mit einer zeitgenössischen Woh-          Vorschläge sind.
                 nung für mittleres bis tiefes Marktsegment ver-       Lampugnani: Wenn die Nutzungen nicht stim-
                 gleiche, bin ich erschüttert. Was mir besonders       men, die ihrerseits wiederum von ökonomi-
                 wichtig ist: Ich wohne in der Stadt, recht zentral,   schen Bedingungen abhängig sind, kann die
                 und in einem funktionierenden Quartier, sozial        schönste Architektur nichts ausrichten. Archi-
                 durchmischt und mit zahlreichen Geschäften.           tektur kann menschliches Zusammenleben
                 Und, genauso wichtig: Ich kann mit dem Fahr-          nicht hervorzaubern, sie kann nur die Möglich-
                 rad zur Arbeit fahren. Es gibt einen kleinen          keiten dafür schaffen. Sie kann dieses Zusam-
                 Balkon in den Hof hinaus, wo man immerhin             menleben, wenn es sich einstellt, unterstützen
                 einen Tisch aufstellen kann. In der Lockdown-         und angenehm gestalten. Und, wenn sie wirk-
                 Phase haben wir das sehr geschätzt.                   lich gut ist, es durch ihre Präsenz bereichern.

                 Wie andere Städte auch sucht Ingolstadt               Interview: Jesko Schulze-Reimpell.
                 nach Ideen, wie die Innenstadt beleben
                 werden kann. Haben Sie Vorschläge?                    Ausführliche Version auf trotzdemjetzt.de
Trotzdemjetzt - DAS GEHEIMNIS DER URBANITÄT - Ingolstädter Magazin für Stadtkultur
Urbanität Die Moderne Stadt.         07

      EINE REVISION DER MODERNE
     Leerstände in den Innenstädten, knapper Wohnraum und zunehmender Individualverkehr zwingen dazu,
                   über die Prinzipien des modernen Städtebaus noch einmal nachzudenken.

    Zukunft braucht Herkunft. Wenn wir      Baustilkarnevals überdrüssig und entwi-       Satellitenstädten mit reiner Wohnfunk-
    über die Fortentwicklung unserer        ckelte die „stilfreie“ Moderne. Der Städ-     tion.
    Städte nachdenken, erhebt sich auch     tebau besann sich seiner sozialen Verant-     Die volle Wirkung erzeugte die Charta erst
    die Frage, wie es zu dem heutigen       wortung und seiner Aufgabe, lebenswer-        nach dem Krieg, als es darum ging, die
    Zustand gekommen ist, der in eine       te Wohnverhältnisse auch für die unteren      Städte wieder aufzubauen. Der Landver-
Umbruchsituation zu münden scheint.         Bevölkerungsschichten bereitzustellen.        brauch wuchs ungehemmt. Die Funktio-
Leerstände in den Innenstädten und Ver-     Licht und Luft war die Devise, nach der       nentrennung erzeugte Verkehr, auf den
knappung bezahlbaren Wohnraums,             Großsiedlungen und Gartenstädte mit ge-       man mit der Idee der „autogerechten
wachsende Einfamilienhausteppiche am        sunden Wohnverhältnissen entstanden.          Stadt“ antwortete.
Stadtrand und zunehmender Individual-       Die Tendenzen mündeten 1933 in die be-        Heute sehen wir das als einen fatalen Irr-
verkehr sind Missstände, die zum Han-       rühmte Charta von Athen des IV. Interna-      weg, leiden unter den Folgen und versu-
deln zwingen.                               tionalen Architektenkongresses (CIAM).        chen uns an der Revision der Charta von
Dicht und eng waren Städte noch Mitte       Formuliert hatte sie im Wesentlichen Le       Athen. Die Ausweitung der Siedlungsflä-
des 19. Jahrhunderts, bis sie mit Vehe-     Corbusier. Wichtigste Forderungen wa-         chen muss gestoppt werden. Die Funk-
menz über den historischen Befesti-         ren als architektonischer Paradigmen-         tionentrennung muss aufgehoben wer-
gungsgürtel hinauswuchsen. Landflucht       wechsel die Betrachtung des Gebäudes          den, um Verkehr zu vermeiden. Längst
und Industrialisierung trieben das Wachs-   als Solitär mit freiem Umfeld. Daraus er-     sind zahlreiche Sparten der Industrie
tum voran. Die Arbeiterklasse entwickelte   gab sich als städtebaulicher Paradigmen-      sauber und leise, was eine wohnungsna-
sich und mit ihr deren unmenschliche        wechsel die Abkehr von der geschlosse-        he Situierung nahelegt. Urbane Dichte
Wohnsituation in extrem überbelegten        nen (Blockrand-)Bebauung und die Kon-         kann durch qualitätvolle Architektur er-
Mietskasernen mit prekären hygieni-         zeption von Gebäude mit umgebendem            möglicht werden. Verödete Innen- und
schen Verhältnissen, die Cholera und Tu-    Abstandsgrün. Die Umweltprobleme der          Kernstädte müssen wieder durch Wohn-
berkulose Vorschub leisteten.               damals lärmenden und rußgeschwänger-          nutzung belebt werden.
Die Umbrüche zu Beginn des 20. Jahr-        ten Industrie führte zu einer weiteren For-   Wenn es dann noch gelänge, die Laden-
hunderts zeigten sich auch im Bauwesen.     derung, der städtischen Funktionentren-       mieten auf ein moderates Maß zu senken,
In der Architektur war man des Pomps der    nung in Quartiere zum Wohnen, Arbeiten        könnte man von einem Idealzustand spre-
Kaiserreiche und des eklektizistischen      und Erholen und ausdrücklich die nach         chen.                         Falk Jaeger

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Trotzdemjetzt - DAS GEHEIMNIS DER URBANITÄT - Ingolstädter Magazin für Stadtkultur
08         Urbanität Historischer Weg zur urbanen Situation in Ingolstadt

Szenen aus dem alten und dem ganz alten Ingolstadt: Helmut Fertsch als Gegenreformator Johannes Eck und Maria Luisa Görge als Autorin
Marieluise Fleißer beim Weltgästeführertag 2018. Rechts: Weizenernte 2016 bei Etting, im Hintergrund das Audi-Werk. Fotos: Eberl (Archiv)

                                ES WERDE STADT!
        Die Ingolstädter Geschichte erzählt von Aufstieg, Niedergang und neuer Blüte. Festungen, Bildung
        und Industrie beflügelten die Entwicklung von Urbanität – was immer man auch darunter versteht.

       Was wäre wenn? Historische Konstruktionen auf der                licht den Erfolg wie den Misserfolg einer Stadt deutlicher
       Basis von Konjunktiven entbehren jeder Wissenschaft-             als die Preisentwicklung auf dem Immobilienmarkt.
       lichkeit, bergen aber süffigen Unterhaltungswert. Was
       wäre zum Beispiel gewesen, wenn sich 1945 die in der            Doch wann ist Ingolstadt zur Großstadt geworden? Ver-
       Ostzone enteignete Auto Union (heute Audi) nicht in In-         waltungsrechtlich lässt sich das präzise sagen: Am 20.
       golstadt angesiedelt hätte, sondern, sagen wir, in Kel-         Juni 1989 mit der Geburt des 100 000. Einwohners. Spürt
       heim? Oder: Was wäre passiert, wenn sich Kaiser Ludwig          man jedoch der Frage nach, wie sich das städtische
       der Bayer anno 1312 geweigert hätte, die Ingolstädter           Bewusstsein der Bürgerschaft entwickelt hat, landet man
       Stadtrechte zu bestätigen? Genau 700 Jahre später ging          im Spekulativ-Vagen – und stößt auf den im Architekten-
       diese Frage an Beatrix Schönewald, die Leiterin des             jargon mithin phrasenhaft verwendeten Begriff der Urba-
       Ingolstädter Stadtmuseums. Wie sähe unsere Stadt heu-           nität. Unter urbanitas verstanden die Römer das gesell-
       te aus, wenn das damals mit der hoheitlichen Beurkun-           schaftliche Leben gebildeter Bürger in imposanten Groß-
       dung schiefgelaufen wäre? Da musste die Historikerin            städten. Als Widerpart galt der rusticus, der mit Grob-
       keine zwei Sekunden überlegen: „Wie Vohburg!“                   schlächtigkeit assoziierte Dorfbewohner in der Provinz.
                                                                       In Gaudi-Latein: rusticus quinque – der Bauernfünfer.
       In dem reizvollen Nachbarstädtchen donauabwärts wird
       man Schönewalds Maßstabsbildung mit mäßiger Be-                  Das neuzeitliche Ingolstadt musste (und muss) mit der
       geisterung gelesen haben. Vohburg, einst mit einer be-           dünkelhaften Zuweisung zurechtkommen, tiefe Provinz
       deutenden Burganlage für Höheres bestimmt, blieb im              in der Mitte Bayerns zu sein – wohl auch deswegen, weil
       Lauf der Geschichte zurück. Ingolstadt hatte Glück: Die          sich der Bauernstand trotz des industriellen Take-offs gut
       Wittelsbacher Regenten werteten ihre Residenzstadt im            behauptet hat: 1967 bewirtschafteten in Ingolstadt 264
       14. und 15. Jahrhundert enorm auf. Später mussten die            landwirtschaftliche Betriebe 2399 Hektar Land (das war
       Ingolstädter aber dramatische Rückschläge verkraften.            fünf Jahre vor der Eingemeindung Gerolfings, Zucherings
       Die Entwicklung der Stadt erzählt von glorreichen Auf-           und weiterer Dörfer). Heute sind es 166 Betriebe (davon
       stiegen, gefolgt von rasanten Niedergängen. Zwischen
       Blüte und Bedeutungsverlust lagen oft nur wenige Deka-
       den. Die prachtvolle Herzogsmetropole mit Herrscher-
       banden ins französische Königshaus und einer Burg zum
       Angeben sank im 19. Jahrhundert zu einer struktur-
       schwachen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenstadt herab,
       in deren Zentrum bis ins 20. Jahrhundert hinein zwischen
       morschen Monumenten wie der Hohen Schule oder der
       Alten Anatomie Hühner herumliefen. Bonjour Tristesse.
       Kramerläden statt Hoflieferanten. Kleinhäusler statt
       Geldadel. Villen gab es nicht als Viertel, sondern nur als
       spärliche Streubesiedelung. Ringsum sumpfige Wiesen.
       Die Stadt musste sich mit dem Image arrangieren, dass
       eine Versetzung nach Ingolstadt einer arbeitsbiografi-
       schen Höchststrafe gleichkomme.

         Unvermutete Wohlstandsexpansion
       Bisher ist es immer wieder nach oben gegangen. Mal lag
       es an Glück, mal am Geschick der Ingolstädterinnen und
       Ingolstädter. In der unvermuteten Erfolgsgeschichte von
       Audi verband sich beides. Mit der Wohlstandsexpansion
       seit den 1980er Jahren schoss die Bevölkerungszahl in
       die Höhe, und die sumpfigen Wiesen in der Peripherie             Ein Sommernachtstraum: Konzert des Georgischen Kammer-
       wurden als Bauland Millionen wert; wenig veranschau-             orchesters Ingolstadt 2017 auf der Donaubühne. Foto: Brandl
Trotzdemjetzt - DAS GEHEIMNIS DER URBANITÄT - Ingolstädter Magazin für Stadtkultur
Urbanität Historischer Weg zur urbanen Situation in Ingolstadt        09

66 im Haupterwerb) mit einer Gesamt-
fläche von 7348 Hektar (die teils außer-
halb des Stadtgebiets liegen). Wie viel
Großstadt steckt inmitten dieser Fluren?
Und wie städtisch – was auch immer das
genau sein mag – geht es dort zu? Vorab
noch ein Wort an sich weltläufig wähnen-
de Metropolregionbewohner: Provinz ist
niemals ein Ort, sondern immer die Art,
wie man sich benimmt! Urbanität be-
schreibt somit das ökonomische und
soziokulturelle Niveau einer Stadt eben-
so wie den Lebensstil und das Selbst-
verständnis der Bürgerschaft in ihren Mi-
lieus.

Ingolstadt wurde in seiner Geschichte
von drei Prozessen fundamental ge-
prägt: Festungsbau, Hochschulwesen
und Industrialisierung. Alles hing mitei-
nander zusammen. Die Bastionen des
16. und 17. Jahrhunderts formten die
Struktur der Stadt, viele Soldaten füllten
sie mit Leben. Die Frontstadt grüßte mit
Geschützen in alle Richtungen und de-
fensivem Selbstbewusstsein: Bis zur
Schanz – und keinen Schritt weiter! Die
Gründung der Hohen Schule 1472, der
ersten bayerischen Landesuniversität,
bescherte Ingolstadt drei Jahrhunderte
Bedeutung als Wiege der Wissenschaft.
Geistiges, Geld und Bier flossen in Strö-
men. Die Blütezeit endete brachial. 1800
ließ Napoleon die Landesfestung zerstö-
ren. Im selben Jahr musste man in der
Hohen Schule einpacken. Kurfürst Max
IV. Joseph verlegte sie nach Landshut.
Zwei Unglücke in einem Jahr erschütter-      Jahrzehntelang eine Problemimmobilie, jetzt ein Baudenkmal mit Zukunft: Nach der
ten die Stadt. Finis urbanitatis.            Sanierung soll im Kavalier Dalwigk das digitale Gründerzentrum einziehen. Foto: Hauser

 Ingolstadt an der Schutter
                                             Voluminöse Leerstände in 1a-Innen-              Das Stadttheater, dessen Optik noch im-
Als König Ludwig I. 1826 beschloss, eine     stadtlage führten 1945 zu einer glückli-        mer polarisiert, war der bisher letzte
neue Ingolstädter Landesfestung im Stil      chen Fügung: Angesichts der nutzlosen           Großbau in Ingolstadt, der das Prädikat
des Klassizismus zu errichten, wollte er     und unbeschädigten Festungsgebäude              innovativ verdient. Mit kühner Formen-
damit nicht nur die Franzosen abschre-       beschloss die Auto Union, dort ihr Zent-        sprache fremdelt man hier. Konventio-
cken, sondern auch dem darniederlie-         raldepot für Ersatzteile anzusiedeln – der      nelle Kantenführung und hausbackene
genden Städtchen Strukturhilfe gewäh-        Grundstein für das Audi-Werk, heute die         Fassadengestaltung sehen viele lieber.
ren. Vor allem erschreckte er seine Käm-     zweitgrößte Autofabrik Europas. Doch            König Ludwigs Bollwerke sind verspiel-
merer: Rund 5000 Arbeiter verbauten          bis in die 1970er-Jahre manövrierte das         ter als die Funktionsklötze der Gegen-
mehr als 15 Millionen Gulden (eine hor-      Unternehmen mehrmals am Rande des               wart. Für ein Kunstmuseum im „Wolken-
rende Summe). Die Schanz 2.0 avancier-       Konkurses. 1962 sagte das Prognos-              bügel“-Format (das horizontale Pendant
te zu einer bildungsfernen Trutzstadt. Als   Institut Ingolstadt ein sattes Wirtschafts-     zum Wolkenkratzer) war Ingolstadt vor
Bayerns Militärstrategen im Laufe des        wachstum voraus – und erwähnte den              zehn Jahren nicht urban genug. Stephan
19. Jahrhunderts einsahen, dass Artille-     Automobilbau dort mit keinem Wort.              Braunfels’ Entwurf blieb ein Entwurf.
rie auf der Höhe der Zeit ihre schönen
Kaponnieren und Kavaliere in wenigen         Industrie in Ingolstadt – damit meinte          Bei allem Glück und Geschick, das In-
Tagen zu Schutt schießen würden, ga-         man damals das Raffineriezentrum. Zwi-          golstadt zu wirtschaftlicher und kulturel-
ben sie deren Verteidigungsfunktion auf      schen 1962 und 1964 wurden am Stadt-            ler Blüte gelangen ließ – ein Defizit ist
und ließen das Schussfeld rings um die       rand drei Anlagen hochgezogen. Das Öl           epochal: So ziemlich jede größere bay-
Stadt aufforsten. So entstand eine städ-     spülte so viel Geld herein, dass sich die       erische Stadt bekam nach 1945 eine
tebauliche Kostbarkeit: ein geschlosse-      Ingolstädter einen Renommierbau leis-           Universität. Ingolstadt nicht. Wer sehen
ner Grüngürtel, das Glacis.                  teten wie seit dem Georgianum (1496)            will, welche gewaltigen Unterschiede
                                             nicht mehr: das Stadttheater. 25 Millio-        das bewirkt, blicke ins blühend-bersten-
Die von alten Schanzerinnen und Schan-       nen Mark teuer, 1966 eingeweiht – und           de Regensburg mit seinen 32 000 Stu-
zern bis heute ebenso hartnäckig wie         für eine 68000-Einwohner-Stadt nahezu           dierenden. Doch die Technische Hoch-
anekdotenreich gepflegte Rivalität zwi-      unbescheiden. „Im Theater konkretisiert         schule Ingolstadt holt Versäumtes auf,
schen der Altstadt und dem Ingolstädter      sich das gesellschaftliche Bewußtsein           expandiert mit viel Enthusiasmus und
Süden (mit der Donau als Grenzfluss)         der Stadt. Das Theater macht die Stadt          Fördergeld. Die verlorene Hochschultra-
lässt sich unter anderem mit der Fes-        zum Teilhaber an der Welt“, schrieb DO-         dition erlebt eine Renaissance. Auf dem
tungszeit erklären: Das Nordufer war bis     NAUKURIER-Verleger Wilhelm Reiss-               einstigen Gießereigelände entsteht ein
ins 20. Jahrhundert zugemauert. Ingol-       müller zur Eröffnung des Bauwerks von           zukunftsrelevantes Gebäude nach dem
stadt lag nach früherem Verständnis na-      Hardt-Waltherr Hämers Reißbrett. Sicht-         anderen. Viel Raum für Forschung, Leh-
türlich an der Schutter, nicht etwa an der   beton gewordener Stolz. Ja, sollten sie         re, Digital-Start-ups und Kongresse. Nur
Donau. Die lokale Identität entsprang al-    ruhig neidisch schauen in Landshut oder         ästhetisch sensible Gemüter nörgeln he-
so einem Bach, keinem Fluss; bezeich-        Straubing! Und vielleicht sogar in Mün-         rum: Ingolstadts neue Urbanität, heißt es
nend. Bis heute haben Norden und Sü-         chen; die bayerische Landeshauptstadt           sinngemäß, könne man dort wegen der
den nicht wirklich zusammengefunden.         gilt vielen Ingolstädtern bis heute als         vielen hohen Klotzbauten gar nicht mehr
Die Donau trennt die Stadt weiter.           Maßstab für wahre Urbanität.                    richtig erkennen.      Christian Silvester
Trotzdemjetzt - DAS GEHEIMNIS DER URBANITÄT - Ingolstädter Magazin für Stadtkultur
10        Urbanität Subkultur Ingolstadt

Legale Wände für Sprayer: Graffiti-Künstler gestalten eine Bahnunterführung in Ingolstadt-Unsernherrn.                     Foto: Hammer

      „SOLCHE KÜNSTLERISCHEN
     BIOTOPE BELEBEN DIE STADT“
 Räume für die Szene sind in Städten Mangelware. Diese Orte sind jedoch Garant für eine lebendige Subkultur.
  In Ingolstadt bespielen Kreative in Eigeninitiative Hallen und Gebäude. Die Stadt setzt auch auf Jugendkultur.

      Im Mai 2010 ist in Ingolstadt der Traum geplatzt, das sich     – oder die Kulturhalle P3. Treffpunkt für viele unterschied-
      im Privatbesitz befindende Körnermagazin an der Espla-         lichen Initiativen ist auch „Vronis Ratschhaus“ an der
      nade als Künstlerkolonie zu erhalten. Mit Räumen für           Donaustraße.
      Bands, für Veranstaltungen, für Ateliers. Agnes Krumwie-
      de, damals Grünen-Bundestagsabgeordnete, heute                           Heterogene Jugendszene
      Stadträtin, meldete sich aus Berlin und startete einen
      Appell, das ehemalige Industriegebäude „als Entste-            Auch die „Kunst- und Kultur-Bastei“ ist aus privatem
      hungsort von Kultur zu erhalten“. Sie sagte: „Kultur           Engagement heraus entstanden. 2006 von Beate Diao als
      braucht Produktionsorte und autonome Strukturen. Hier          Kinder- und Jugendkunstschule gegründet, bietet sie in-
      entwickelt sich das Neue, hier kann junge Kultur eigene        zwischen im Verein eine große Zahl an Angeboten. Wie
      Ausdrucksformen gestalten.“ Und Kulturreferent Gabriel         zukunftsweisend städtische Förderung von Jugendkultur
      Engert sagte damals: „Solche künstlerischen Biotope            ist, deren Grenzen zur Subkultur fließend sein kann,
      beleben die Stadt.“                                            macht ein bemerkenswer-
                                                                     tes Projekt des Jugend-
                    Urbanität in Nischen                             trendsportzentrums neun
                                                                     und des Stadtjugendrings
      Die meisten Großstädte, aber auch viele kleinere Städte,       deutlich. Da das „Tumult-
      haben Kulturhäuser, etwa in München Die Halle 6 oder die       Festival“ 2020 ausfallen
      Alte Mälzerei in Regensburg. In Nürnberg gab es die Halle      musste, hat Meryem Sener
      14 Auf AEG, die jedoch Wohnbebauung weichen musste.            stattdessen Akteure der
      Auch in Ingolstadt gibt es solche Spielwiesen, Platz für       heterogenen Szene auf
      alternative Kulturzentren kaum (noch). Gründe sind die         dem „Tumult-Sofa“ inter-
      rege und verdichtete Bautätigkeit, die Investorenbaupoli-      viewt (zu sehen auf You-
      tik und die hohen Mieten.                                      tube): Musiker, Sprayer,
      Dennoch, die Szene in Ingolstadt lebt. Hoffentlich auch        Skater, Multimediakünstler,
      nach Corona weiter. Es sind meistens Privatleute, Idea-        Designer, Fotografen, Fil-
      listen, Optimisten und kreative Macher, die sich ihre Ni-      memacher, Modemacher,           Verwunschener          Kreativort:
      schen einrichten, einige noch verfügbaren Räume und            Tänzer, Schauspieler. Viele     Platz für vielfältige Genres von
      Gebäude erobern, gestalten, bespielen. Die Urbanität           berichten von der Bedeu-        Kultur bietet das Kap94 in Ingol-
      schaffen, die der Szene, der Subkultur, eine Plattform         tung der Fronte, der Halle      stadt.                Foto: Hammer
      bieten.                                                        neun, der Skater-Parks
      Die größte erfolgreiche Initiative in jüngster Vergangenheit   oder der legalen Wände für
      ist der Kulturverein Kap94, der die Kaponniere im Künet-       Sprayer. Leni Brem-Keil, die seit vier Jahren mit Falco
      tegraben zu einen offenen und lebendigen Kulturort ver-        Blome das Altstadttheater leitet, sagt auf die Frage, was
      wandelt hat – vom hintersten Winkel bis zum malerischen        Jugendkultur für sie bedeute, dass „es durchaus noch
      Dachgarten, vom stets ausverkauften Kap der Kinder bis         mehr sein dürfte, dass es nie genug sein kann“. Und:
      zu inspirierenden Outdoor-Veranstaltungen in Corona-           „Dass es der Grundstein ist, der gelegt werden muss,
      Zeiten. Ebenfalls selbst organisiert ist das Tagtraum-Café     damit man auch später Interesse daran findet.“ Dafür
      als Szene-Treff, die Rosengasse, das Nest am Auwaldsee         braucht es Räume. Orte.                        Katrin Fehr
Urbanität Stadtspaziergang Ingolstadt          11

                  MUT ZU NEUEN MUSTERN
                       Auf Entdeckungstour am Rande unserer Stadt – Träume inklusive!
      Wie lebendig geht es in unseren Außenbezirken zu, welche Wege haben wir dort schon eingeschlagen
           und welche sollten wir unbedingt weitergehen? Ein fantasievoller Spaziergang durch unsere
              „Subzentren“, bei dem wir lernen, wie wir eine lebenswerte Stadt entwickeln können.

     Mit welchen Adjektiven würden Sie
     Ihren Anspruch an eine Stadt be-
     schreiben? Der dänische Stadtpla-
     ner Jan Gehl nutzt folgende Wörter:
     lebendig, sicher, nachhaltig und ge-
                                                        B                                                       C
sund. Damit beschreibt er die von ihm
postulierte „menschengerechte Stadt“.
Aber was soll Stadt auch sein, wenn
nicht menschengerecht? Es mag ein-
fach klingen, doch beim genaueren Hin-
sehen entpuppt sich diese Selbstver-
ständlichkeit als ziemlich komplexe He-
rausforderung für die Verantwortlichen.
Zumal in einer Stadt, die es schwer hat,
sich von der Ideologie der autogerech-
ten Stadt zu trennen.
Doch worum geht es? Um den Zusam-
menhang zwischen gebauter Umwelt
und dem menschlichen Verhalten. Nur,
wie verhalten und entwickeln wir uns
eigentlich heute, morgen oder gar über-
morgen? Oft wird geplant, was mögli-
cherweise 30 Jahre später erst vollendet                                                                   A
werden kann.
Ein Beispiel dafür liefert Ingolstadt. Im
Stadtleitbild von 1996 wurde die Idee
dreier Subzentren außerhalb der Kern-
stadt verankert: im Süden der Stadt am      Ingolstädter Subzentren: Das Bahnhofsviertel (A), der Westpark mit der Landesgarten-
Bahnhofsgelände, im Westen der Stadt        schau (B) und das IN-Quartier an der Friedrich-Ebert-Straße (C). Auch in diesen Zentren
rund um den Westpark, sowie im Osten        soll urbanes Leben einziehen.                 Datenquelle: Bayerische Vermessungsverwaltung
der Stadt, wo nun das sogenannte Rie-
tergelände Raum bietet für das IN-Quar-
tier.                                       lage oder die Donau. Dies alles zuguns-          verbindung zum gegenüberliegenden
                                            ten unserer Lebensqualität zu nutzen,            Stadtpark Ochsenanger. Rechts führt
Die Subzentren: Ingolstadts Stadtbau-       sollte das Ziel der Stadtentwicklung             der Weg in die Stadt.
rätin Renate Preßlein-Lehle erklärt, dass   sein. Starten wir einen Rundgang.                Wohin? Rechts! Ja, erst mal rechts.
Subzentren gekennzeichnet seien durch                                                        Denn die Kulturhallen sowie die grüne
Mischnutzungen, Nahversorgung, Gas-              Das Bahnhofsviertel                         Achse, auf der wir auf den Ursprüngen
tronomie, soziale Einrichtungen und                                                          der Donaulandschaft wandeln können,
Treffpunkte an öffentlichen Plätzen. „Wir   Erst einmal ankommen. Mit dem ICE?               gibt es ja bisher nur in den Köpfen einiger
dürfen nicht länger reine Wohnsiedlun-      Na gut, dann aber auch bitte gleich aus          Kreativer… Also in die Stadt. Beginnt sie
gen weiterentwickeln, sondern müssen        Berlin. Aus der Hauptstadt – summ –              hier? Zumindest soll das Bahnhofsvier-
Stadtviertel mit Lebensqualität füllen“,    direkt nach Ingolstadt. Provinz? Nicht           tel ihr Vorbote sein. Denn anders als in
erläutert sie. Aufgabe der Subzentren ist   mehr lang. Zwar landen wir hier derzeit          anderen Städten liegt der Bahnhof wei-
auch das Wachstum der expandieren-          noch in einem eher verstaubten Bahn-             ter außerhalb als in den meisten anderer
den Stadt zu regeln. Und eines ist unum-    hofshäuschen, doch demnächst kün-                Cities. Zwei Kilometer sind nicht viel,
stritten: Ingolstadt wächst! Unsere Ein-    digt der Hochhausturm von Kammerl-               aber mit Koffer in der Hand eben auch
wohnerzahl steigt.                          und Nagler-Architekten Ingolstadt be-            kein Katzensprung.
Aber was erwarten nun alte und neue         reits von weitem an: Du bist in Ingolstadt!      Schauen wir uns das mal an. Erst mal
Bewohner von ihrer Heimat, welchen          Tauchen wir weiter in die Architektur der        raus aus dem Untergeschoss, die Trep-
Bedürfnissen muss sie gerecht werden        Zukunft ein. Dazu begeben wir uns vom            pen hinauf. Es empfängt uns eine groß-
und wie wollen wir unsere Zukunft ge-       Zug aus in die Katakomben unter den              zügige Bahnhofshalle, die alles bietet,
stalten? Vieles verändert sich über die     Gleisen. Dort angekommen, müssen wir             was von diesem Ort zu erwarten ist:
Jahre. Zum Beispiel die Bedeutung des       uns „großstädtisch“ entscheiden. Links           Snacks, Zeitschriften, kleine Restau-
Autos. Oder unser Einkaufsverhalten,                          geht es hinter dem             rants und Verweise auf die kulturelle Viel-
mittlerweile geprägt vom Online-Handel.                       Bahnhof zum neuen              falt Ingolstadts. Eine eigene kleine bunte
Sogar unsere Art zu Leben ist betroffen                       Kreativquartier       mit      Welt, ein Mikrokosmos, diese Welt der
– immer mehr Menschen sind Singles.                           klassischem Konzert-           Reisenden.
Der Bedarf an kleinen Wohnungen                               saal, Galerien, Band-
wächst. Viele von uns pendeln und ver-                        Probenräumen und               Das gegebene urbane Moment: Was in
bringen das Wochenende bei ihrer Fami-                        Künstlerateliers in den        den Etagen im Turm über uns geschieht,
lie an einem anderen Ort. Das soziale                         ehemaligen Industrie-          interessiert momentan nicht (viele Bü-
Gefüge verändert sich.                                        hallen (ursprünglich           ros, auch das fünfte Rathaus, geplant
Beständiger ist hingegen das, was uns                         Eisenbahnausbesse-             sind auch wissenschaftliche Einrichtun-
die Vergangenheit an Bauten und an To-                        rungswerk)        durch-       gen und andere wünschen sich im Sinne
pographie hinterlassen hat: historische     Ein Hochhaus      drungen von einer at-          der Funktionsmischung Wohnungen mit
Schätze wie die ehemalige Festungsan-       als Eingangstor traktiven Freiraum-              Blick auf die Stadt). Was interessiert: Das
12          Urbanität Stadtspaziergang Ingolstadt

Gebäude soll nachhaltig und energie-

                                                    A
schonend sein. Damit kehren wir zurück
zum Stadtplaner Gehl . Auch von Sicher-
heit ist bei ihm die Rede. Auf dem Bahn-
hofsplatz, der noch kein „Shared-
Space“ ist, aber werden soll, gewinnt die
an Bedeutung. Erst recht, wenn wir –
natürlich umweltbewusst – auf eines der
neuen Leihräder umsteigen. Denn der
brave Zweiradfahrer ist hier einer von
vielen Straßenteilnehmern in einem Ver-
kehrsraum, der derzeit noch nicht die
gewünschte Aufenthaltsqualität für
sämtliche Nutzer aufweisen kann.

                                               Ein neues Zentrum: das geplante Bahnhofshochhaus.                  Foto: Kammler & Nagel

Die Straße als attraktiver und sicherer
Aufenthaltsraum für alle Nutzer                     B
Aber glauben wir den städtebaulichen
Strukturüberlegungen, wird sich das än-
dern. Unter anderem ist von der Stär-
kung der Geh- und Radwegverbindun-
gen zu lesen (und wenn damit auch der
Anschluss ans „Pulverl“ gemeint ist,
wird auch die Naherholung in den Do-
naulohen gesichert!). Außerdem sollen
Lücken in der gründerzeitlichen Stadt-
randbebauung des 19. Jahrhunderts ge-
schlossen werden. Kennzeichnend sind
drei- bis viergeschossige Gebäude, die
den Straßenraum säumen. Ihre Gestal-           Blick auf das Gelände der Landesgartenschau.                               Foto: Schalles
tung variiert zwar von Parzelle zu Parzel-
le, doch die typische „horizontale Glie-
derung“ lässt ein Planerherz höher-           kaufszentrum durchsetzen konnte: Es         rausforderung, hier „ein neues Stück
schlagen. Auch das der Stadtbaurätin.         ist nun seit über 20 Jahren da. Und wir     Kulturlandschaft“ zu schaffen.
                        Hier findet sich im   nutzen es. Rein ins Auto, rauf auf den
                        gestalterisch ab-     Parkplatz, rein zum Einkaufen und wie-      Mission Grün als Glücksfaktor: Ja und,
                        gesetzten Erdge-      der – wusch – ab und fort mit dem Auto.     was macht dann hier eine Landesgar-
                        schoss in der Re-     Von Flair keine Spur.                       tenschau? Sie übernimmt genau die
                        gel gewerbliche,      Das Gelände ist geprägt vom Nebenei-        Funktion, nach der wir uns gerade seh-
                        kleinteilige Nut-     nander der Funktionen, einer „vertikalen    nen: Grün und Erholung. Kaum ein Ort in
                        zung,      darüber    Gliederung“. Hier Einkaufen, da Woh-        Ingolstadt bedarf wie dieser einer sol-
                        Wohnungen. Die        nen, dort Gewerbe. Von der gewünsch-        chen Entlastung der Seele. Ganz anders
                        Innenhöfe      sind   ten, weil Lebendigkeit versprechenden,      als die Schau 1992 am südlichen Donau-
                        geschlossen und       „horizontalen Gliederung“ ist nichts zu     ufer in Zentrumsnähe, umrahmt von his-
                        bestechen durch       sehen. Mancher träumt von einer Über-       torischen Festungsbauten und altem
                        ihre oft hohe Auf-    bauung des Westparks mit Wohnungen          Baumbestand, muss sich das neue Grün
                        enthaltsqualität.     in leichter Holzbau-Architektur. Ob das     langsam in seiner Umgebung entfalten,
                        Heißt: Hier mi-       möglich wäre?                               gar mit seinem lebendigen Bunt gegen
                        schen sich Woh-       Doch langsam. Zuerst einmal müssen          das monotone Grau aufbäumen. Die
                        nen, Gastrono-        wir vom Bahnhof zum Westpark gelan-         Mission ist klar: eine Aufwertung des
                        mie, Nahversor-       gen. Oder noch besser: zur Landesgar-       Randbezirks im Ingolstädter Nordwes-
                        gung, Einzelhan-      tenschau (LGS). Das ist tatsächlich kein    ten. „Wir wollten hier eine Struktur mit
                        del und Dienst-       Problem. Wir geben das Rad nach einem       Lebensqualität schaffen“, berichtet der
Verdichtung der         leistungen.      Im   kurzen Ausflug in die Innenstadt – der      Architekt. Von dieser „grünen Lunge“
gründerzeitlichen       Fachjargon            über die Münchner Straße als gestalteter    profitieren – neben den Besuchern der
Struktur (oben).        „Funktionsmi-         Stadtstraße sicher ein wahres Vergnü-       Landesgartenschau – insbesondere die
Horizontale             schung“ genannt.      gen ist! – im Bahnhofsviertel wieder ab
Gliederung der          Letztere Funktio-     und begeben uns auf direktem Wege mit
Funktionen.             nen       bespielen   der Bahn zum neuen Bahnhalt „Ingol-
                        den öffentlichen      stadt Audi“. Hier erwartet uns eine ande-
Raum, „in dem sich unter diesen Voraus-       re Welt. Wir landen mitten im Gewerbe-
setzungen viele Nutzergruppen begeg-          gebiet, laufen neben langen Wänden
nen“, freut sich Preßlein-Lehle. „So ent-     entlang (darunter die des Güterver-
steht Urbanität“, ist sie sich sicher und     kehrszentrums), die nicht gedacht sind
liefert damit viele Gründe, die vorhande-     als Kulisse für einen Fußmarsch. Der
nen Lücken im Gefüge – das größte ist         führt uns weiter über breite vielbefahre-
das Post-Areal – nach dem vorhandenen         ne Straßen. Tristesse soweit das Auge
Vorbild zu schließen.                         reicht.
                                              Eben dieser Anblick bot sich auch dem
       Westpark und                           Landschaftsarchitekten Matthias Därr
     Landesgartenschau                        vor der Planung der Landesgarten-
                                              schau: „Keine Bäume, keine charman-             Vertikale Gliederung der Funktionen
Anders verhält es sich mit dem West-          ten historischen Gebäude, die eine              (oben) und die Landesgartenschau
park. Warum auch immer sich das Ein-          Struktur vorgegeben hätten“. Eine He-           als Brücke zwischen den Welten
Urbanität Stadtspaziergang Ingolstadt         13
Familien und Anwohner aus den nahe-           landen etwas unromantisch auf dem
gelegenen Siedlungen, darunter das Pi-        Parkplatz eines Supermarktes, direkt
usviertel, „aber genauso die Städter, die     vor den Toren des künftigen IN-Quar-
am Wochenende raus wollen und selbst-         tiers.
verständlich die Senioren und andere          Unser Blick fällt umgehend auf die riesi-
Menschen mit geringem Bewegungsra-            ge Fabrikhalle mit Sheddächern aus
dius aus der Nachbarschaft“.                  dem Jahr 1881. Hier findet sich das, was
Und auch wir haben etwas davon, denn          dem Gebiet um den Westpark fehlt: his-
wir können – erneut aufs Rad gestiegen        torische Substanz. Sogar von ferne
– nun beinahe sechs Kilometer lang die        sichtbar steht ein Wasserturm (1915). Es
sogar nachts beleuchteten Radwege in-         lässt sich erahnen, wie künftige Wegbe-
nerhalb des Parks genießen. Sie verbin-       schreibungen klingen können: „Am
den das Piusviertel, Hollerstauden, Gai-      Wasserturm rechts“, oder „wir treffen
mersheim und Friedrichshofen mitei-           uns am Wasserturm“. Der Ort hat eine
nander.                                       „Adresse“ mit der sich die künftigen Nut-           Städtischer Charakter durch
Neben der modernen Parkanlage haben           zer identifizieren können.                          gemischte Nutzung (oben) und
wir hiermit gleich auch ein Charakteris-      Hier treffen wir (zugegeben virtuell) auf           aktiver Landschaftsraum
tikum Ingolstadts im wahrsten Sinne des       den Architekten Johannes Kister, jüngst
                         Wortes erfahren:     Sieger des städtebaulichen Wettbe-                 achse“, eine Erweiterung des vorhande-
                         einen der kon-       werbs des ursprünglichen bayerischen               nen, angrenzenden Nordparks, der be-
                         zentrischen          Hauptlaboratoriums (dann Gelände der               reits dem Nord-Osten der Stadt als Frei-
                         Grünringe,     die   Unternehmen Rieter sowie Bäumler und               raum dient, „durchfließt“ das gesamte
                         den     Festungs-    seit 2018 in Besitz der GerchGroup). Er            Quartier. Und damit ist der Rheinländer
                         gürteln des 19.      ordnet das IN-Quartier in den Kontext              bei seinem Lieblingsthema, angelangt:
                         Jahrhunderts fol-    heutiger Stadtentwicklung ein: „Sie ist            die „aktiven Landschaftsräume“. Sie
                         gen. Er war zwi-     geprägt von der Nutzung ehemaliger In-             übernehmen in Subzentren die Aufgabe
Landesgartenschau schen den Ge-               dustrieareale in Stadtnähe.“ Das Poten-            von Plätzen. „Die wenigsten von uns ge-
als Pflaster des        meinden ins Ab-       zial sei groß, und anders als in den 60er          hen noch im Anzug ein Stück Sahnetorte
zweiten Grünrings        seits geraten. Die   und 70er Jahren, in denen auf freier Flä-          essen. Die heutige Gesellschaft ist
                        Landesgarten-         che außerhalb der Stadt Neues erfunden             draußen aktiv.“ Der Grünraum werde zur
schau sichert nun „ein Stück Natur für        worden sei, lautet                                 zentralen Aufgabe des Stadtplaners.
alle“, sagt Därr und lobt die Entschei-       das Gebot der                                      Damit wird wieder deutlich: Unser ge-
dung der Ingolstädter Stadtplanung und        Stunde „Transfor-                                  bautes Umfeld ist ein Abbild unserer sich
des Gartenbauamtes, an diesem Ort ak-         mation“. Das Ziel                                  verändernden Gesellschaft.
tiv zu werden. Aktiv werden müssten           ist: Neue Zentren                                  Was aber tun wir alle draußen? Das sei
jetzt wiederum die Bürger, indem sie die      durch Nachver-                                     sehr unterschiedlich und entsprechend
unterschiedlichen Raumangebote als            dichtung entwi-                                    differenziert müsse dann auch der Frei-
„Glücksfaktor“ für sich nutzten. Das An-      ckeln.                                             raum entworfen sein, erläutert Kister. Es
gebot ist differenziert. Für Naturfreunde     Verdichtung       –                                müsse Raum für Ruhe, aber auch für
gibt es kleine, ruhige, gar informelle        klingt nicht nach                                  Bewegung geben. Die einen gehen spa-
Rückzugsräume, für Sportler eine große        Einfamilienhaus- Wasserturm als                    zieren, die anderen spielen Boules, die
Wiese für Bewegung. „Oft entsteht Un-         siedlung. Und so Identitätsmerkmal                 dritten Fußball. „Alle Aufgaben unterzu-
vorhersehbares“, berichtet Därr und er-       ist es denn auch:                                  bringen, ist schwierig“, gesteht er. Hinzu
zählt von Ballonfahrern, die einst eine       Entstehen soll ein Quartier mit gemisch-           kommt: „Urban ist nicht nur, wenn viele
andere von ihm entworfene Fläche für          ter Nutzung und städtischem Charakter.             Leute unterwegs sind, sondern auch,
sich entdeckt hatten. Diese Idee ist so       Geplant sind ein Bürgerhaus, Cafés,                wenn die Atmosphäre stimmt.“
reizvoll, dass wir nicht hadern und so-       räumlich flexible Orte für Start-ups und           Allein die sorgfältige Planung bei genau-
gleich einsteigen: In einem Ballon gehen      Manufakturen sowie ein Marktplatz vor              er Betrachtung der Nutzer führt zum Ziel.
wir weiter auf Reise durch Ingolstadt. Er     dem Wasserturm und natürlich viele                 Zuerst: Zonierung. Zonen definieren die
soll uns ins letzte und neueste der drei      Wohnungen. Unterschiedlich sollen sie              notwendigen unterschiedliche Räume
Subzentren bringen: ins IN-Quartier.          sein, mit eigenen Typologien.                      und geben ihnen eine individuelle Quali-
                                                                                                 tät. Blockinnenhöfe beispielsweise wer-
        Das IN-Quartier                       Aktive Landschaftsräume: „Das Ge-                  den im IN-Quartier angehoben und so
                                              heimnis der neuen Zentren liegt in der             von privaten Gärten optisch und räum-
Wir fliegen also über unsere Stadt, fol-      Balance aus Bauten und öffentlichem                lich getrennt. Es entsteht Privatsphäre,
gen besagtem zweiten Grünring – der           Raum“, ist sich der Architekt aus Köln             obwohl es sich um einen Gemein-
nicht ganz so gut ersichtlich ist wie der     sicher. Er freut sich, dass in Ingolstadt –        schaftsraum handelt. Auch Bäume kön-
erste –, drehen etwas nach Süden, ge-         anders als an vielen anderen Orten –               nen Signale senden und den Charakter
nießen die Aussicht, können die Fried-        diese Überzeugung geteilt wird. Ent-               des jeweiligen Ortes stärken: hochge-
rich-Ebert-Straße anhand ihrer Ausdeh-        sprechend ist im IN-Quartier auch Raum             wachsene markieren wichtige Verbin-
nung als „Stadtstraße“ erkennen, und          für einen Park vorgesehen. Die „Grün-              dungsstraßen, Obstbäume beispiels-
                                                                                                 weise eher Wohn- und Nebenstraßen.
                                                                                                 Ein Muss sei es heute, die gestalteri-

   C
                                                                                                 schen Aspekte mit ökologischen An-
                                                                                                 sprüchen zu verknüpfen, betont der Köl-
                                                                                                 ner noch. Ob, wie hier vorgesehen, Was-
                                                                                                 serrückhaltemöglichkeiten, Wiederge-
                                                                                                 winnung alten Terrains oder Starkregen-
                                                                                                 bassins, „wir müssen Lebensraum
                                                                                                 ganzheitlich denken“. Kister schließt
                                                                                                 den Rundgang mit einer Vision: „Meine
                                                                                                 Idee von Stadt ist es, dass sie ein Ort ist,
                                                                                                 der dem sozialen Leben Raum schenkt
                                                                                                 – entgegen einer Architektur der Ab-
                                                                                                 standsflächen.“
                                                                                                 Und damit wären wir wieder bei Gehls
                                                                                                 Idealen von der Stadt, die vom Men-
                                                                                                 schen aus gedacht wird. Das kann auch
                                                                                                 Ingolstadt werden! Eine Stadt für uns.
                                                                                                 Jetzt ist die Zeit für neue Muster.
Im IN-Quartier ist auch Raum für einen Park vorgesehen.     Foto: © kister scheithauer gross                             Claudia Borgmann
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