Trotzdemjetzt - DAS GEHEIMNIS DER URBANITÄT - Ingolstädter Magazin für Stadtkultur
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trotzdemjetzt Ingolstädter Magazin für Stadtkultur MAI 2021 DAS GEHEIMNIS DER URBANITÄT Screenshots: Google 1
ANZEIGE sc hne ller vor lauf.de KU N S T M I R D I E H E IZU N G R E PA R I E R E N ? H A NDW E R KS KU N S T. gebr-peters.de
Urbanität Editorial 03 INHALT 04 „Ich habe nie etwas von Fußgängerzonen gehalten“ Interview mit Vittorio Lampugnani. 07 Die Moderne liegt hinter uns Von Falk Jaeger Die Rezepte des 20. Jahrhunderts sind gescheitert. Ingolstadt leuchtet: Die Altstadt ist klein – aber reizvoll. Foto: Hauser 08 EDITORIAL Es werde Stadt Von Christian Silvester Wie konnte sich die spezifische Innenstadt-Situation in Ingolstadt Liebe Leserinnen reicht werden kann, die die Bürger ausbilden? und Leser, in die Innenstadt ziehen könnte. Was Sie jetzt in Händen Das Problem ist drängend, deshalb 10 halten, ist ein Experiment: ein Ma- auch haben wir uns diesmal für das Wo geht es hier zur Subkultur? gazin, das der Donaukurier heraus- Heftthema Urbanität entschieden – Von Katrin Fehr gibt und das gleichzeitig von der als städtebauliche Idee und als er- Ingolstadts Szene ist vielfältig, Kulturszene der Stadt mitgetragen strebenswertes Lebensmodell. Die doch die braucht (noch) mehr Orte. wird. Von Anfang an haben viele Ver- urbane Lebensform ist keineswegs treter der wichtigsten Ingolstädter selbstverständlich, in großen Län- Kulturinstitutionen bei der Themen- dern wie den USA oder China ist sie 11 findung mitgewirkt. Die Aufgabe heute weitgehend unbekannt. Die Ingolstadt baut dieses Hefts, das mehrmals jährlich europäische Innenstadt ist nur ein Von Claudia Borgmann erscheinen soll, ist es nicht, ein um- mögliches Modell des Zusammen- Ein sehr persönlicher Rundgang. fassendes Bild der regionalen lebens in Ballungsräumen. und überregionalen Kultur- Aber ein in Deutschland von szene zu bieten – mit Rezen- den Bürgern hoch geschätz- 14 sionen und kritischen Berich- tes – ein Grund, warum in Die Ideen der Stadtplaner ten. Denn damit beschäftigt Stadtteilen wie Schwabing Von Claudia Borgmann sich bereits der Kulturteil des oder Haidhausen die Immobi- Vier Ingolstädter Architekten Donaukuriers. Es soll nicht lienpreise in schwindelerre- über ihr Ingolstadt-Bild. das Kulturgeschehen reflek- gende Höhen geschossen tieren, sondern jeweils ein sind. Erstrebenswert ist Urba- Thema gründlich erörtern, nität auch in neuen Quartie- 19 Tipps und Termine durchaus mit dem Anspruch, ren, aber diese Lebensweise auch widersprüchliche Standpunk- ist oft keineswegs einfach zu ver- te zu Wort kommen zu lassen. Wir wirklichen. Deshalb reden wir auch 20 wollen neue Einsichten, Ideen vom Geheimnis der Urbanität. Vergleich der Innenstädte. transportieren, Gedankenanstöße, Regensburg, Würzburg und Offenbach. über die diskutiert werden sollte. Im Das Thema soll in diesem Heft von Idealfall ist dieses Kultur-Magazin verschiedenen Perspektiven er- ein Thinktank in Schriftform. Gleich- örtert werden. Es geht um die Frage, 26 Trends. zeitig wollen wir möglichst an Initia- warum urbanes Leben seit einigen tiven und Projekte anknüpfen, die Jahren wieder so aktuell ist. Warum gerade in der Stadt verfolgt werden. die städtische Lebensweise so be- 28 So weisen wir etwa gerne auf die gehrt ist. Wie die Situation in ande- Wo die Leute am liebsten wohnen. trotzdemjetzt-Expo in der Innen- ren, ähnlich großen Städten ist und Wie lebt es sich im Münchner stadt hin. warum sie manchmal kaum eine In- Werksviertel und wie in Haidhausen? nenstadt-Krise spüren. Liegt der In der Kulturszene der Stadt gärt es. Grund darin, dass diese Städte auf Neue Initiativen gründen sich, Ideen Kultur gesetzt haben, dass die 30 Ingolstadt in Zahlen. und Visionen kursieren, Projekte Würzburger Bürgerschaft etwa im- werden vorangetrieben. Künstler mer wieder vehement Einkaufszent- und Kreative finden zu neuem ren in der Vorstadt verhindert hat? Selbstbewusstsein, auch weil sie Diskutiert wird, mit welchen Bau- von der Stadtführung ernst genom- maßnahmen die Stadt verbessert IMPRESSUM men werden. Gleichzeitig herrscht werden kann. Bekannte Architekten Die Beilage „#trotzdemjetzt – 1“ liegt dem Krisenstimmung: Die Corona-Pan- präsentieren, was sie in Ingolstadt DONAUKURIER bei, Ausgabe vom 7. Mai, 2021. demie hat die deprimierende Situa- verändern würden. Und wir zeigen, Donaukurier GmbH, Stauffenbergstraße 2a, tion der Innenstadt noch verschärft wie Ingolstadt in seiner spannenden 85051 Ingolstadt – in vielen Städten, besonders aber Geschichte das werden konnte, Redaktion: Jesko Schulze-Reimpell; in Ingolstadt. Gefährdet ist die Alt- was es heute ist. Grafik: Stefan Reibel; Anzeigen: Thomas Bauer, stadt in Ingolstadt wohl auch, weil PNP Sales GmbH; Druck: Donaukurier Druck GmbH sie so klein ist, weil nur schwer eine Viel Freude beim Entdecken ausreichende Fülle des kulturellen Ihr und kommerziellen Angebots er- Jesko Schulze-Reimpell
04 Urbanität Interview „ERKLÄREN SIE DEN BÜRGERN DIE VORZÜGE DER INNENSTÄDTE“ Vittorio Lampugnani hat in Ingolstadt das Audi-Forum gestaltet. Der berühmte Architekturtheoretiker ist ein leidenschaftlicher Verfechter urbaner Lebenskonzepte. Herr Lampugnani, inzwischen leidet Ingolstadt wie so viele andere Städte auch am Sterben der Innenstadt. Immer mehr Geschäfte schließen oder haben Schließungen angekündigt. Zuletzt Galeria Kaufhof und C&A. Was macht die Innenstädte in Europa derzeit so anfällig, so wenig resilient? Vittorio Magnago Lampugnani: Die Altstädte sind resilient, sogar extrem resilient, sonst wür- de es sie nach Jahrhunderten nicht mehr ge- ben. Sie haben viel durchgemacht, besonders in den vergangenen Jahrzehnten – mit der Ver- breitung des Automobils, mit der Flucht der Bürger in die Peripherie, mit den neuen Ein- kaufszentren am Stadtrand. Doch wenn Sie bedenken, wie jetzt alle von der 15-Minuten- Stadt schwär- men (s. Seite 26), wie teilweise „Die Altstädte unter Verrenkun- gen versucht sind extrem wird, sie in unse- ren Städten ein- resilient.“ zurichten, muss man sich schon wundern. Denn die traditionelle Altstadt ist ja bereits die 15-Minuten-Stadt. Wir müssen sie nur wieder zu einem lebendigen und erschwinglichen Ort machen. Wie konnte sich dieses spezifische Konzept der urbanen Innenstadt überhaupt in Europa ausbilden? Lampugnani: Die kompakten Städte sind ent- standen, weil die Menschen zusammenkom- men wollten: um Handel zu treiben und um sich vor Raubangriffen zu verteidigen. Es ging ihnen auch darum, eine Gemeinschaft zu bilden und innerhalb dieser Gemeinschaft die Interaktio- nen zu optimieren. Das sind natürlich sehr ver- einfachende Erklärungen. Es gibt weitere Fak- toren, etwa die Landschaft zu schonen, weil sie die wirtschaftliche Grundlage für die Menschen war. Wenn wir einige dieser Faktoren auf unsere heutige Situation übertragen, sind sie im Grun- de unverändert aktuell. Vittorio Lampugnani: „Ich wohne in der Stadt, recht zentral, und In anderen Weltgegenden, etwa in den in einem funktionierenden Quartier.“ Foto: Morgenstern USA und in China, ist dieses Konzept der europäischen Innenstädte aber oft unbekannt. Wenn man von der europäischen Lampugnani: Die Städte, die Sie meinen, funk- Innenstadt redet, werden immer tionieren anders, weil sie sich oft spät entwi- wieder zwei zentrale Begriffe genannt: ckelt haben. Die historischen Städte in China Durchmischung und Verdichtung. oder in Indien, auch jene in den USA waren Lampugnani: An der Verdichtung ist wichtig, überwiegend kompakte und übrigens ausge- dass sie die Menschen auf vergleichsweise sprochen schöne Städte. Der Wunsch, mög- engem Raum zusammenbringt. Man läuft sich lichst weit weg vom Nachbarn zu sein – der über den Weg, auch zufällig. Das ist sozial, beste Nachbar ist der, der nicht vorhanden ist politisch und ökonomisch ein Vorteil. Außer- –, ist eine Erfindung des späten 19. Jahrhun- dem spart man Ressourcen, allen voran die derts. Mit der Verbreitung des Automobils im Landschaft. Durchmischung geschieht auf ver- 20. Jahrhundert wurde der Traum Wirklichkeit schiedenen Ebenen. Es gibt zunächst die Nut- – leider, wie wir rückblickend sagen müssen. zungsmischung, es kommen also verschiede-
Urbanität Interview 05 ne Funktionen zusammen, Wohnen, Ein- wohnung die beste Lösung ist. Vor allem kaufen, Arbeit, Bildung, Freizeit. Da er- bin ich überzeugt, dass es für unser öko- geben sich Synergien. Und es gibt die soziale Durchmischung. Das ist das, „Wie viele logisches Gleichgewicht die einzige ver- tretbare und zukunftsfähige Lösung ist. was letztlich Bewohner zu Städtern macht. Es ermöglicht die Kommunika- Träume ist Ein anderer Traum der tion quer durch die gesellschaftlichen Gruppen; und es ermöglicht auch, Kon- der Traum nach Mitteleuropäer ist es, in einem städtischen Umfeld zu leben wie flikte auf kurzem Wege zu überwinden. einem Haus etwa in München-Haidhausen oder Schwabing. Seit der Blüte der Innenstädte hat sich vieles verändert, es gibt etwa künstlich Lampugnani: Dieser Traum ist mir schon viel sympathischer. Er ist zukunftsfähig. moderne Fortbewegungsmittel wie das Auto. Haben da moderne urbane erzeugt.“ Und er ist realisierbar. Es muss ja nicht unbedingt das schicke Schwabing sein. Zentren noch eine Chance? Eine Bebauungs- und Belegungsdichte Lampugnani: Mehr denn je. Die Strate- hat neben ihrer ökologischen Verantwor- gie des Zusammenrückens und des er- tung viele unmittelbare Vorzüge: Die Ge- höhten zwischenmenschlichen Austau- text zu sehen. Das Automobil spielt schäfte, die Restaurants, die Cafés, die sches ist nach wie vor höchst aktuell. emotional keine große Rolle mehr, es Museen, die Kinos und Theater in der Darüber hinaus besitzt das historische gibt inzwischen eine Generation, die in Nähe, die Kindergärten und die Schulen Zentrum neue Alleinstellungsmerkmale den Vororten groß geworden und mit – all das gibt es ja nicht in der Peripherie – etwa weil es eine Historizität besitzt, ihren Nachteilen bestens vertraut ist. Die zwischen Einfamilienhäusern und die Teil unserer Identität ist. Sie ist durch Projektion des Hauses als miniaturisier- Schrebergärten. nichts zu ersetzen. Das Lebensmodell tes Schloss, die im Einfamilienhaus des historischen Zentrums kann vollum- steckt, ist längst zusammengebröselt. Viel diskutiert wird zuletzt auch fänglich übernommen werden – unter Ich bin kein Soziologe, aber ich stelle das Konzept der Fußgängerzone, so bestimmten Voraussetzungen. Ich sage fest, dass die jüngere Generation so wie es in den 70er Jahren fast überall das nicht aus Nostalgie. Die historischen nicht mehr leben will, schon weil sie nicht eingerichtet wurde. Hat sich das Zentren haben sich in ganz Europa über auf das Auto angewiesen sein möchte. Konzept überlebt? lange Zeit sehr erfolgreich entwickelt. In Sie setzt neue Prioritäten – glücklicher- Lampugnani: Ich habe nie etwas von ihnen steckt der Erfahrungsschatz von weise. Unsere Aufgabe ist jetzt, für die Fußgängerzonen gehalten. Wenn wir mit Jahrhunderten, sie sind optimierte Dis- Innenstädte städtebauliche und archi- dem Automobil leben, dann sollten wir positive des menschlichen Zusammen- tektonische Konzepte zu entwickeln, die dem Automobil auch Platz einräumen. lebens. Es gibt sie noch, weil sie so op- die Menschen überzeugen. Und die sich Für mich ist nur wichtig: Die Stadt erlebt timiert und vorteilhaft sind. Daraus kön- die Menschen leisten können. Es ist im- man hauptsächlich als Fußgänger; und nen und müssen wir lernen. mer noch billiger, ein Grundstück weit weil der Fußgänger schwächer ist als draußen zu kaufen und ein Fertighaus das Auto, muss er vor dem Auto ge- Zuletzt wurde in Deutschland draufzustellen, als in der Innenstadt eine schützt werden. Ich bin für eine Koexis- ein Statement des Grünen-Politikers Wohnung zu erwerben. tenz der verschiedenen Möglichkeiten Anton Hofreiter heftig diskutiert. der Fortbewegung. Mir ist es lieber, der Er sagte, die Zeit der Dennoch, ich möchte Ihnen ein Verkehr wird gemäßigt, kontrolliert und Einfamilienhäuser sei vorbei, wenig widersprechen. Ich habe weil sie ökologischen Standards schon das Gefühl, dass es für viele nicht mehr entsprechen würden. Deutsche immer noch der größte Lampugnani: Grundsätzlich hat Hofrei- ter recht. Seine Kritik ist nicht neu: Be- Traum ist, ein Haus im Grünen zu besitzen. Woher kommt dieser „Ich habe nie reits 1963 nahm die Ausstellung „Hei- mat, deine Häuser“, die hauptsächlich Traum? Lampugnani: Wie viele andere Träume etwas von von Max Bächer initiiert wurde, unter anderem die hemmungslose deutsche ist auch dieser weitestgehend künstlich erzeugt: durch Werbung und Sugges- Fußgängerzonen Einfamilienhauskultur aufs Korn. Übri- gens auch die damit einhergehenden tion. Klar: Wer möchte nicht in einem Schloss mit großem Park rundherum gehalten.“ Subventionen. Die Ablehnung des Ein- wohnen. Das zeigt den sozialen Aufstieg familienhauses ist heute allerdings in und ist auch ganz angenehm. Aber das einem anderen, stark veränderten Kon- Schloss kann man sich in der Regel nicht verteilt, als dass er an bestimmten Stel- leisten, also wird daraus ein Häuschen, len konzentriert wird. Denn die Kehrseite Gärtner sind auch teuer, also bleibt es bei der Fußgängerzonen sind die Stadtauto- einem Gärtchen. Man muss die Woh- bahnen. nungssuchenden darüber aufklären: ZUR PERSON Wenn die Dimensionen zu klein werden, Vielen Leute beklagen, dass die kippen die Vorteile in ihr Gegenteil um. Innenstädte sich selbst zu Shopping- Vittorio Magnago Lampug- Da bringt am Ende eine Loggia oder ein centern abgewertet haben. nanini kam 1951 in Rom zur ausreichend großer Balkon mehr als ein Wie wichtig ist es, dass die Welt und besuchte dort die mickriger, unzureichend gepflegter Gar- Stadtzentren mehr zu bieten haben Schweizer Schule. Als Profes- ten. Ich glaube aber auch, dass wir lang- als Gastronomie und Geschäfte? sor lehrte er in Salzburg, an der sam einsehen müssen, spätestens seit Lampugnani: Das ist lebenswichtig. Die Harvard University, in Zürich dem Ausbruch der Pandemie, dass wir Attraktivität und auch die Resilienz der und in Frankfurt. Er leitete von mit unserer Landschaft anders umgehen Innenstädte liegt ja nicht bloß in ihrer 1990 bis 1995 das Deutsche müssen. Die Landschaft ist nicht ein Gut, Architektur, sondern auch und vor allem Architekturmuseum in Frank- das man kaufen kann, wenn man genü- in ihrer Nutzung. Der Niedergang der In- furt, gestaltete das Donau-Ufer gend Geld hat, sondern etwas, das für nenstädte beginnt dann, wenn die Men- in Regensburg und zusammen unser Wohlbefinden, unsere Gesund- schen vertrieben werden, wenn sie nicht mit Wolfgang Weinzierl das Au- heit, unser Überleben essenziell ist. Also mehr dort wohnen. Das ist die Gentrifi- di-Forum Ingolstadt. Er veröf- müssen wir sie schonen. Natürlich glau- zierung. Die Gentrifizierung ist nicht nur fentlichte wegweisende Bü- be ich nicht, dass Einfamilienhäuser in eine soziale Ungerechtigkeit: Sie ist et- cher, etwa „Die Stadt im 20. Zukunft abgeschafft werden. Ich sehe was, was die Stadt zerstört, ihr soziales Jahrhundert“. Heute lebt Lam- hier auch keine Notwendigkeit für einen Leben, die Mechanismen, die mit sozia- pugnani in Mailand. DK derart radikalen Standpunkt. Ich bin ler Interaktion, Kooperation und Kontrol- aber überzeugt, dass für Menschen mit le zu tun haben, also auch mit Sicherheit einem normalen Einkommen eine Stadt- im öffentlichen Raum. Auch die Infra-
06 Urbanität Interview Lampugnani: Ich traue mir nicht zu, Ihnen und Ihrer Stadt zu erklären, was sie zu tun hat. Wie gesagt: Jede Stadt hat ihre Spezifizität, und auch wenn die Herausforderungen, mit denen sich die Innenstädte konfrontiert sehen, ähn- lich sind, so sind sie im Detail doch immer wieder anders. Gleichwohl gibt es, glaube ich, ein paar Grundregeln. Erstens: Stellen Sie si- cher, dass in der Innenstadt ausreichend Woh- nungen unterschiedlichen Zuschnitts und unterschiedlicher Preisklassen zur Verfügung stehen, und dass sie nicht tageweise an Tou- risten vermietet werden, sondern an Men- schen, die für längere Zeit dort leben wollen: Nur dann übernehmen sie Verantwortung für die Stadt. Zweitens: Versorgen Sie diese Woh- nungen mit ausreichend Kindergärten, Schu- len, Lebensmittelgeschäften. Drittens: Schaf- fen Sie Arbeitsorte in der Innenstadt selbst, damit die Menschen, die dort leben, die Chan- ce haben, ihrem Beruf in der Nähe nachzuge- hen. Viertens: Pflegen Sie Ihren bereits wunder- Beim Bürgerfest drängt es die Ingolstädter auf die Straßen und schönen öffentlichen Raum, Ihre Straßen, Gas- Plätze der Stadt. Foto: Hauser sen, Plätze und Parkanlagen, damit sie die Wohnungen zusätzlich aufwerten, machen Sie daraus angenehme und sichere Orte für Fuß- strukturen gehen ein, die Cafés, die Restau- gänger und Fahrradfahrer, aber lassen Sie mo- rants, die Geschäfte können nicht existierten, torisierten Verkehr für die Anwohner und die wenn sie zu wenig Kundschaft haben. Also Anlieferung des Gewerbes zu. Und fünftens: selbst dann, wenn man Stadt rein wirtschaftlich Erklären Sie den Bürgerinnen und Bürgern Ihrer betrachtet, was milde ausgedrückt reduktiv ist, Stadt die Vorzüge, ja auch die Modernität des erweist sich die Gentrifizierung als ein schlech- Lebens in der Innenstadt. tes Konzept. Es hält nicht lang. Die Preise wer- den kurzfristig, vielleicht auch mittelfristig Aber der Markt, sowohl der Wohnungs- hochgetrieben, aber bald bricht das System in markt als auch der Gewerbeimmobilien- sich zusammen: sozial und ökonomisch. markt, geht in eine andere Richtung. Lampugnani: Das heißt noch lange nicht, dass Wie wichtig sind identitätsstiftende die Richtung richtig und zukunftsfähig ist. Der Kulturbauten in der Innenstadt? Markt ist ja nicht frei, er bewegt sich in einem Lampugnani: Wir brauchen sie: Ihre Schönheit Dschungel von Gesetzen, Vorschriften und An- ist Teil unserer Identität, aber auch unseres reizen. Es gilt, Lebens. Kultureinrichtungen sind nicht für die diese so zu Touristen da, sondern für uns alle. Wir alle ge- steuern, dass hen gerne ins Kino oder Theater, wir gehen in Museen, leider zu selten in der eigenen Stadt. die Innenstäd- te auch als In- „Das Geheimnis Das Geheimnis der Urbanität der Innenstadt liegt darin, dass sie eine komplette Stadt ist, mit vestitionspro- jekte attraktiv der Urbanität allem, was dazu gehört: Wohnen natürlich, für unterschiedliche soziale Gruppen, Arbeitsort, werden. Zum Beispiel, in- der Innenstadt Infrastruktur. Dazu gehört selbstverständlich die Kultur. dem man ge- nossenschaft- liegt darin, dass Darf ich Sie fragen, wie Sie lichen Woh- nungsbau för- sie eine komplette persönlich in Mailand wohnen? Lampugnani: Ich wohne in einem Haus aus den dert. Indem man die An- Stadt ist.“ 20er Jahren, einem Haus, das für eher niedrige siedlung der Einkommensschichten gebaut wurde, also Geschäfte nicht so richtig modern und durchaus beschei- steuert. Und den. Gleichwohl bin ich immer wieder erstaunt natürlich vor allem: Indem man das Bauen in über die Raffinesse der Ausstattung, die alles der Peripherie nicht mehr unterstützt, sondern andere als protzig ist, aber doch mit schönen im Gegenteil erschwert. Türen, elegant gerahmt wie die Fenster, die sogar über innere Klappläden verfügen, mit Es überrascht mich, dass Ihre Vorschläge Böden aus farbigen Zementplatten oder einfa- keine architektonischen, sondern eher chem Parkett, mit Stuck an den hohen Decken. nutzungstechnische und wirtschaftliche Wenn ich das mit einer zeitgenössischen Woh- Vorschläge sind. nung für mittleres bis tiefes Marktsegment ver- Lampugnani: Wenn die Nutzungen nicht stim- gleiche, bin ich erschüttert. Was mir besonders men, die ihrerseits wiederum von ökonomi- wichtig ist: Ich wohne in der Stadt, recht zentral, schen Bedingungen abhängig sind, kann die und in einem funktionierenden Quartier, sozial schönste Architektur nichts ausrichten. Archi- durchmischt und mit zahlreichen Geschäften. tektur kann menschliches Zusammenleben Und, genauso wichtig: Ich kann mit dem Fahr- nicht hervorzaubern, sie kann nur die Möglich- rad zur Arbeit fahren. Es gibt einen kleinen keiten dafür schaffen. Sie kann dieses Zusam- Balkon in den Hof hinaus, wo man immerhin menleben, wenn es sich einstellt, unterstützen einen Tisch aufstellen kann. In der Lockdown- und angenehm gestalten. Und, wenn sie wirk- Phase haben wir das sehr geschätzt. lich gut ist, es durch ihre Präsenz bereichern. Wie andere Städte auch sucht Ingolstadt Interview: Jesko Schulze-Reimpell. nach Ideen, wie die Innenstadt beleben werden kann. Haben Sie Vorschläge? Ausführliche Version auf trotzdemjetzt.de
Urbanität Die Moderne Stadt. 07 EINE REVISION DER MODERNE Leerstände in den Innenstädten, knapper Wohnraum und zunehmender Individualverkehr zwingen dazu, über die Prinzipien des modernen Städtebaus noch einmal nachzudenken. Zukunft braucht Herkunft. Wenn wir Baustilkarnevals überdrüssig und entwi- Satellitenstädten mit reiner Wohnfunk- über die Fortentwicklung unserer ckelte die „stilfreie“ Moderne. Der Städ- tion. Städte nachdenken, erhebt sich auch tebau besann sich seiner sozialen Verant- Die volle Wirkung erzeugte die Charta erst die Frage, wie es zu dem heutigen wortung und seiner Aufgabe, lebenswer- nach dem Krieg, als es darum ging, die Zustand gekommen ist, der in eine te Wohnverhältnisse auch für die unteren Städte wieder aufzubauen. Der Landver- Umbruchsituation zu münden scheint. Bevölkerungsschichten bereitzustellen. brauch wuchs ungehemmt. Die Funktio- Leerstände in den Innenstädten und Ver- Licht und Luft war die Devise, nach der nentrennung erzeugte Verkehr, auf den knappung bezahlbaren Wohnraums, Großsiedlungen und Gartenstädte mit ge- man mit der Idee der „autogerechten wachsende Einfamilienhausteppiche am sunden Wohnverhältnissen entstanden. Stadt“ antwortete. Stadtrand und zunehmender Individual- Die Tendenzen mündeten 1933 in die be- Heute sehen wir das als einen fatalen Irr- verkehr sind Missstände, die zum Han- rühmte Charta von Athen des IV. Interna- weg, leiden unter den Folgen und versu- deln zwingen. tionalen Architektenkongresses (CIAM). chen uns an der Revision der Charta von Dicht und eng waren Städte noch Mitte Formuliert hatte sie im Wesentlichen Le Athen. Die Ausweitung der Siedlungsflä- des 19. Jahrhunderts, bis sie mit Vehe- Corbusier. Wichtigste Forderungen wa- chen muss gestoppt werden. Die Funk- menz über den historischen Befesti- ren als architektonischer Paradigmen- tionentrennung muss aufgehoben wer- gungsgürtel hinauswuchsen. Landflucht wechsel die Betrachtung des Gebäudes den, um Verkehr zu vermeiden. Längst und Industrialisierung trieben das Wachs- als Solitär mit freiem Umfeld. Daraus er- sind zahlreiche Sparten der Industrie tum voran. Die Arbeiterklasse entwickelte gab sich als städtebaulicher Paradigmen- sauber und leise, was eine wohnungsna- sich und mit ihr deren unmenschliche wechsel die Abkehr von der geschlosse- he Situierung nahelegt. Urbane Dichte Wohnsituation in extrem überbelegten nen (Blockrand-)Bebauung und die Kon- kann durch qualitätvolle Architektur er- Mietskasernen mit prekären hygieni- zeption von Gebäude mit umgebendem möglicht werden. Verödete Innen- und schen Verhältnissen, die Cholera und Tu- Abstandsgrün. Die Umweltprobleme der Kernstädte müssen wieder durch Wohn- berkulose Vorschub leisteten. damals lärmenden und rußgeschwänger- nutzung belebt werden. Die Umbrüche zu Beginn des 20. Jahr- ten Industrie führte zu einer weiteren For- Wenn es dann noch gelänge, die Laden- hunderts zeigten sich auch im Bauwesen. derung, der städtischen Funktionentren- mieten auf ein moderates Maß zu senken, In der Architektur war man des Pomps der nung in Quartiere zum Wohnen, Arbeiten könnte man von einem Idealzustand spre- Kaiserreiche und des eklektizistischen und Erholen und ausdrücklich die nach chen. Falk Jaeger ANZEIGE
08 Urbanität Historischer Weg zur urbanen Situation in Ingolstadt Szenen aus dem alten und dem ganz alten Ingolstadt: Helmut Fertsch als Gegenreformator Johannes Eck und Maria Luisa Görge als Autorin Marieluise Fleißer beim Weltgästeführertag 2018. Rechts: Weizenernte 2016 bei Etting, im Hintergrund das Audi-Werk. Fotos: Eberl (Archiv) ES WERDE STADT! Die Ingolstädter Geschichte erzählt von Aufstieg, Niedergang und neuer Blüte. Festungen, Bildung und Industrie beflügelten die Entwicklung von Urbanität – was immer man auch darunter versteht. Was wäre wenn? Historische Konstruktionen auf der licht den Erfolg wie den Misserfolg einer Stadt deutlicher Basis von Konjunktiven entbehren jeder Wissenschaft- als die Preisentwicklung auf dem Immobilienmarkt. lichkeit, bergen aber süffigen Unterhaltungswert. Was wäre zum Beispiel gewesen, wenn sich 1945 die in der Doch wann ist Ingolstadt zur Großstadt geworden? Ver- Ostzone enteignete Auto Union (heute Audi) nicht in In- waltungsrechtlich lässt sich das präzise sagen: Am 20. golstadt angesiedelt hätte, sondern, sagen wir, in Kel- Juni 1989 mit der Geburt des 100 000. Einwohners. Spürt heim? Oder: Was wäre passiert, wenn sich Kaiser Ludwig man jedoch der Frage nach, wie sich das städtische der Bayer anno 1312 geweigert hätte, die Ingolstädter Bewusstsein der Bürgerschaft entwickelt hat, landet man Stadtrechte zu bestätigen? Genau 700 Jahre später ging im Spekulativ-Vagen – und stößt auf den im Architekten- diese Frage an Beatrix Schönewald, die Leiterin des jargon mithin phrasenhaft verwendeten Begriff der Urba- Ingolstädter Stadtmuseums. Wie sähe unsere Stadt heu- nität. Unter urbanitas verstanden die Römer das gesell- te aus, wenn das damals mit der hoheitlichen Beurkun- schaftliche Leben gebildeter Bürger in imposanten Groß- dung schiefgelaufen wäre? Da musste die Historikerin städten. Als Widerpart galt der rusticus, der mit Grob- keine zwei Sekunden überlegen: „Wie Vohburg!“ schlächtigkeit assoziierte Dorfbewohner in der Provinz. In Gaudi-Latein: rusticus quinque – der Bauernfünfer. In dem reizvollen Nachbarstädtchen donauabwärts wird man Schönewalds Maßstabsbildung mit mäßiger Be- Das neuzeitliche Ingolstadt musste (und muss) mit der geisterung gelesen haben. Vohburg, einst mit einer be- dünkelhaften Zuweisung zurechtkommen, tiefe Provinz deutenden Burganlage für Höheres bestimmt, blieb im in der Mitte Bayerns zu sein – wohl auch deswegen, weil Lauf der Geschichte zurück. Ingolstadt hatte Glück: Die sich der Bauernstand trotz des industriellen Take-offs gut Wittelsbacher Regenten werteten ihre Residenzstadt im behauptet hat: 1967 bewirtschafteten in Ingolstadt 264 14. und 15. Jahrhundert enorm auf. Später mussten die landwirtschaftliche Betriebe 2399 Hektar Land (das war Ingolstädter aber dramatische Rückschläge verkraften. fünf Jahre vor der Eingemeindung Gerolfings, Zucherings Die Entwicklung der Stadt erzählt von glorreichen Auf- und weiterer Dörfer). Heute sind es 166 Betriebe (davon stiegen, gefolgt von rasanten Niedergängen. Zwischen Blüte und Bedeutungsverlust lagen oft nur wenige Deka- den. Die prachtvolle Herzogsmetropole mit Herrscher- banden ins französische Königshaus und einer Burg zum Angeben sank im 19. Jahrhundert zu einer struktur- schwachen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenstadt herab, in deren Zentrum bis ins 20. Jahrhundert hinein zwischen morschen Monumenten wie der Hohen Schule oder der Alten Anatomie Hühner herumliefen. Bonjour Tristesse. Kramerläden statt Hoflieferanten. Kleinhäusler statt Geldadel. Villen gab es nicht als Viertel, sondern nur als spärliche Streubesiedelung. Ringsum sumpfige Wiesen. Die Stadt musste sich mit dem Image arrangieren, dass eine Versetzung nach Ingolstadt einer arbeitsbiografi- schen Höchststrafe gleichkomme. Unvermutete Wohlstandsexpansion Bisher ist es immer wieder nach oben gegangen. Mal lag es an Glück, mal am Geschick der Ingolstädterinnen und Ingolstädter. In der unvermuteten Erfolgsgeschichte von Audi verband sich beides. Mit der Wohlstandsexpansion seit den 1980er Jahren schoss die Bevölkerungszahl in die Höhe, und die sumpfigen Wiesen in der Peripherie Ein Sommernachtstraum: Konzert des Georgischen Kammer- wurden als Bauland Millionen wert; wenig veranschau- orchesters Ingolstadt 2017 auf der Donaubühne. Foto: Brandl
Urbanität Historischer Weg zur urbanen Situation in Ingolstadt 09 66 im Haupterwerb) mit einer Gesamt- fläche von 7348 Hektar (die teils außer- halb des Stadtgebiets liegen). Wie viel Großstadt steckt inmitten dieser Fluren? Und wie städtisch – was auch immer das genau sein mag – geht es dort zu? Vorab noch ein Wort an sich weltläufig wähnen- de Metropolregionbewohner: Provinz ist niemals ein Ort, sondern immer die Art, wie man sich benimmt! Urbanität be- schreibt somit das ökonomische und soziokulturelle Niveau einer Stadt eben- so wie den Lebensstil und das Selbst- verständnis der Bürgerschaft in ihren Mi- lieus. Ingolstadt wurde in seiner Geschichte von drei Prozessen fundamental ge- prägt: Festungsbau, Hochschulwesen und Industrialisierung. Alles hing mitei- nander zusammen. Die Bastionen des 16. und 17. Jahrhunderts formten die Struktur der Stadt, viele Soldaten füllten sie mit Leben. Die Frontstadt grüßte mit Geschützen in alle Richtungen und de- fensivem Selbstbewusstsein: Bis zur Schanz – und keinen Schritt weiter! Die Gründung der Hohen Schule 1472, der ersten bayerischen Landesuniversität, bescherte Ingolstadt drei Jahrhunderte Bedeutung als Wiege der Wissenschaft. Geistiges, Geld und Bier flossen in Strö- men. Die Blütezeit endete brachial. 1800 ließ Napoleon die Landesfestung zerstö- ren. Im selben Jahr musste man in der Hohen Schule einpacken. Kurfürst Max IV. Joseph verlegte sie nach Landshut. Zwei Unglücke in einem Jahr erschütter- Jahrzehntelang eine Problemimmobilie, jetzt ein Baudenkmal mit Zukunft: Nach der ten die Stadt. Finis urbanitatis. Sanierung soll im Kavalier Dalwigk das digitale Gründerzentrum einziehen. Foto: Hauser Ingolstadt an der Schutter Voluminöse Leerstände in 1a-Innen- Das Stadttheater, dessen Optik noch im- Als König Ludwig I. 1826 beschloss, eine stadtlage führten 1945 zu einer glückli- mer polarisiert, war der bisher letzte neue Ingolstädter Landesfestung im Stil chen Fügung: Angesichts der nutzlosen Großbau in Ingolstadt, der das Prädikat des Klassizismus zu errichten, wollte er und unbeschädigten Festungsgebäude innovativ verdient. Mit kühner Formen- damit nicht nur die Franzosen abschre- beschloss die Auto Union, dort ihr Zent- sprache fremdelt man hier. Konventio- cken, sondern auch dem darniederlie- raldepot für Ersatzteile anzusiedeln – der nelle Kantenführung und hausbackene genden Städtchen Strukturhilfe gewäh- Grundstein für das Audi-Werk, heute die Fassadengestaltung sehen viele lieber. ren. Vor allem erschreckte er seine Käm- zweitgrößte Autofabrik Europas. Doch König Ludwigs Bollwerke sind verspiel- merer: Rund 5000 Arbeiter verbauten bis in die 1970er-Jahre manövrierte das ter als die Funktionsklötze der Gegen- mehr als 15 Millionen Gulden (eine hor- Unternehmen mehrmals am Rande des wart. Für ein Kunstmuseum im „Wolken- rende Summe). Die Schanz 2.0 avancier- Konkurses. 1962 sagte das Prognos- bügel“-Format (das horizontale Pendant te zu einer bildungsfernen Trutzstadt. Als Institut Ingolstadt ein sattes Wirtschafts- zum Wolkenkratzer) war Ingolstadt vor Bayerns Militärstrategen im Laufe des wachstum voraus – und erwähnte den zehn Jahren nicht urban genug. Stephan 19. Jahrhunderts einsahen, dass Artille- Automobilbau dort mit keinem Wort. Braunfels’ Entwurf blieb ein Entwurf. rie auf der Höhe der Zeit ihre schönen Kaponnieren und Kavaliere in wenigen Industrie in Ingolstadt – damit meinte Bei allem Glück und Geschick, das In- Tagen zu Schutt schießen würden, ga- man damals das Raffineriezentrum. Zwi- golstadt zu wirtschaftlicher und kulturel- ben sie deren Verteidigungsfunktion auf schen 1962 und 1964 wurden am Stadt- ler Blüte gelangen ließ – ein Defizit ist und ließen das Schussfeld rings um die rand drei Anlagen hochgezogen. Das Öl epochal: So ziemlich jede größere bay- Stadt aufforsten. So entstand eine städ- spülte so viel Geld herein, dass sich die erische Stadt bekam nach 1945 eine tebauliche Kostbarkeit: ein geschlosse- Ingolstädter einen Renommierbau leis- Universität. Ingolstadt nicht. Wer sehen ner Grüngürtel, das Glacis. teten wie seit dem Georgianum (1496) will, welche gewaltigen Unterschiede nicht mehr: das Stadttheater. 25 Millio- das bewirkt, blicke ins blühend-bersten- Die von alten Schanzerinnen und Schan- nen Mark teuer, 1966 eingeweiht – und de Regensburg mit seinen 32 000 Stu- zern bis heute ebenso hartnäckig wie für eine 68000-Einwohner-Stadt nahezu dierenden. Doch die Technische Hoch- anekdotenreich gepflegte Rivalität zwi- unbescheiden. „Im Theater konkretisiert schule Ingolstadt holt Versäumtes auf, schen der Altstadt und dem Ingolstädter sich das gesellschaftliche Bewußtsein expandiert mit viel Enthusiasmus und Süden (mit der Donau als Grenzfluss) der Stadt. Das Theater macht die Stadt Fördergeld. Die verlorene Hochschultra- lässt sich unter anderem mit der Fes- zum Teilhaber an der Welt“, schrieb DO- dition erlebt eine Renaissance. Auf dem tungszeit erklären: Das Nordufer war bis NAUKURIER-Verleger Wilhelm Reiss- einstigen Gießereigelände entsteht ein ins 20. Jahrhundert zugemauert. Ingol- müller zur Eröffnung des Bauwerks von zukunftsrelevantes Gebäude nach dem stadt lag nach früherem Verständnis na- Hardt-Waltherr Hämers Reißbrett. Sicht- anderen. Viel Raum für Forschung, Leh- türlich an der Schutter, nicht etwa an der beton gewordener Stolz. Ja, sollten sie re, Digital-Start-ups und Kongresse. Nur Donau. Die lokale Identität entsprang al- ruhig neidisch schauen in Landshut oder ästhetisch sensible Gemüter nörgeln he- so einem Bach, keinem Fluss; bezeich- Straubing! Und vielleicht sogar in Mün- rum: Ingolstadts neue Urbanität, heißt es nend. Bis heute haben Norden und Sü- chen; die bayerische Landeshauptstadt sinngemäß, könne man dort wegen der den nicht wirklich zusammengefunden. gilt vielen Ingolstädtern bis heute als vielen hohen Klotzbauten gar nicht mehr Die Donau trennt die Stadt weiter. Maßstab für wahre Urbanität. richtig erkennen. Christian Silvester
10 Urbanität Subkultur Ingolstadt Legale Wände für Sprayer: Graffiti-Künstler gestalten eine Bahnunterführung in Ingolstadt-Unsernherrn. Foto: Hammer „SOLCHE KÜNSTLERISCHEN BIOTOPE BELEBEN DIE STADT“ Räume für die Szene sind in Städten Mangelware. Diese Orte sind jedoch Garant für eine lebendige Subkultur. In Ingolstadt bespielen Kreative in Eigeninitiative Hallen und Gebäude. Die Stadt setzt auch auf Jugendkultur. Im Mai 2010 ist in Ingolstadt der Traum geplatzt, das sich – oder die Kulturhalle P3. Treffpunkt für viele unterschied- im Privatbesitz befindende Körnermagazin an der Espla- lichen Initiativen ist auch „Vronis Ratschhaus“ an der nade als Künstlerkolonie zu erhalten. Mit Räumen für Donaustraße. Bands, für Veranstaltungen, für Ateliers. Agnes Krumwie- de, damals Grünen-Bundestagsabgeordnete, heute Heterogene Jugendszene Stadträtin, meldete sich aus Berlin und startete einen Appell, das ehemalige Industriegebäude „als Entste- Auch die „Kunst- und Kultur-Bastei“ ist aus privatem hungsort von Kultur zu erhalten“. Sie sagte: „Kultur Engagement heraus entstanden. 2006 von Beate Diao als braucht Produktionsorte und autonome Strukturen. Hier Kinder- und Jugendkunstschule gegründet, bietet sie in- entwickelt sich das Neue, hier kann junge Kultur eigene zwischen im Verein eine große Zahl an Angeboten. Wie Ausdrucksformen gestalten.“ Und Kulturreferent Gabriel zukunftsweisend städtische Förderung von Jugendkultur Engert sagte damals: „Solche künstlerischen Biotope ist, deren Grenzen zur Subkultur fließend sein kann, beleben die Stadt.“ macht ein bemerkenswer- tes Projekt des Jugend- Urbanität in Nischen trendsportzentrums neun und des Stadtjugendrings Die meisten Großstädte, aber auch viele kleinere Städte, deutlich. Da das „Tumult- haben Kulturhäuser, etwa in München Die Halle 6 oder die Festival“ 2020 ausfallen Alte Mälzerei in Regensburg. In Nürnberg gab es die Halle musste, hat Meryem Sener 14 Auf AEG, die jedoch Wohnbebauung weichen musste. stattdessen Akteure der Auch in Ingolstadt gibt es solche Spielwiesen, Platz für heterogenen Szene auf alternative Kulturzentren kaum (noch). Gründe sind die dem „Tumult-Sofa“ inter- rege und verdichtete Bautätigkeit, die Investorenbaupoli- viewt (zu sehen auf You- tik und die hohen Mieten. tube): Musiker, Sprayer, Dennoch, die Szene in Ingolstadt lebt. Hoffentlich auch Skater, Multimediakünstler, nach Corona weiter. Es sind meistens Privatleute, Idea- Designer, Fotografen, Fil- listen, Optimisten und kreative Macher, die sich ihre Ni- memacher, Modemacher, Verwunschener Kreativort: schen einrichten, einige noch verfügbaren Räume und Tänzer, Schauspieler. Viele Platz für vielfältige Genres von Gebäude erobern, gestalten, bespielen. Die Urbanität berichten von der Bedeu- Kultur bietet das Kap94 in Ingol- schaffen, die der Szene, der Subkultur, eine Plattform tung der Fronte, der Halle stadt. Foto: Hammer bieten. neun, der Skater-Parks Die größte erfolgreiche Initiative in jüngster Vergangenheit oder der legalen Wände für ist der Kulturverein Kap94, der die Kaponniere im Künet- Sprayer. Leni Brem-Keil, die seit vier Jahren mit Falco tegraben zu einen offenen und lebendigen Kulturort ver- Blome das Altstadttheater leitet, sagt auf die Frage, was wandelt hat – vom hintersten Winkel bis zum malerischen Jugendkultur für sie bedeute, dass „es durchaus noch Dachgarten, vom stets ausverkauften Kap der Kinder bis mehr sein dürfte, dass es nie genug sein kann“. Und: zu inspirierenden Outdoor-Veranstaltungen in Corona- „Dass es der Grundstein ist, der gelegt werden muss, Zeiten. Ebenfalls selbst organisiert ist das Tagtraum-Café damit man auch später Interesse daran findet.“ Dafür als Szene-Treff, die Rosengasse, das Nest am Auwaldsee braucht es Räume. Orte. Katrin Fehr
Urbanität Stadtspaziergang Ingolstadt 11 MUT ZU NEUEN MUSTERN Auf Entdeckungstour am Rande unserer Stadt – Träume inklusive! Wie lebendig geht es in unseren Außenbezirken zu, welche Wege haben wir dort schon eingeschlagen und welche sollten wir unbedingt weitergehen? Ein fantasievoller Spaziergang durch unsere „Subzentren“, bei dem wir lernen, wie wir eine lebenswerte Stadt entwickeln können. Mit welchen Adjektiven würden Sie Ihren Anspruch an eine Stadt be- schreiben? Der dänische Stadtpla- ner Jan Gehl nutzt folgende Wörter: lebendig, sicher, nachhaltig und ge- B C sund. Damit beschreibt er die von ihm postulierte „menschengerechte Stadt“. Aber was soll Stadt auch sein, wenn nicht menschengerecht? Es mag ein- fach klingen, doch beim genaueren Hin- sehen entpuppt sich diese Selbstver- ständlichkeit als ziemlich komplexe He- rausforderung für die Verantwortlichen. Zumal in einer Stadt, die es schwer hat, sich von der Ideologie der autogerech- ten Stadt zu trennen. Doch worum geht es? Um den Zusam- menhang zwischen gebauter Umwelt und dem menschlichen Verhalten. Nur, wie verhalten und entwickeln wir uns eigentlich heute, morgen oder gar über- morgen? Oft wird geplant, was mögli- cherweise 30 Jahre später erst vollendet A werden kann. Ein Beispiel dafür liefert Ingolstadt. Im Stadtleitbild von 1996 wurde die Idee dreier Subzentren außerhalb der Kern- stadt verankert: im Süden der Stadt am Ingolstädter Subzentren: Das Bahnhofsviertel (A), der Westpark mit der Landesgarten- Bahnhofsgelände, im Westen der Stadt schau (B) und das IN-Quartier an der Friedrich-Ebert-Straße (C). Auch in diesen Zentren rund um den Westpark, sowie im Osten soll urbanes Leben einziehen. Datenquelle: Bayerische Vermessungsverwaltung der Stadt, wo nun das sogenannte Rie- tergelände Raum bietet für das IN-Quar- tier. lage oder die Donau. Dies alles zuguns- verbindung zum gegenüberliegenden ten unserer Lebensqualität zu nutzen, Stadtpark Ochsenanger. Rechts führt Die Subzentren: Ingolstadts Stadtbau- sollte das Ziel der Stadtentwicklung der Weg in die Stadt. rätin Renate Preßlein-Lehle erklärt, dass sein. Starten wir einen Rundgang. Wohin? Rechts! Ja, erst mal rechts. Subzentren gekennzeichnet seien durch Denn die Kulturhallen sowie die grüne Mischnutzungen, Nahversorgung, Gas- Das Bahnhofsviertel Achse, auf der wir auf den Ursprüngen tronomie, soziale Einrichtungen und der Donaulandschaft wandeln können, Treffpunkte an öffentlichen Plätzen. „Wir Erst einmal ankommen. Mit dem ICE? gibt es ja bisher nur in den Köpfen einiger dürfen nicht länger reine Wohnsiedlun- Na gut, dann aber auch bitte gleich aus Kreativer… Also in die Stadt. Beginnt sie gen weiterentwickeln, sondern müssen Berlin. Aus der Hauptstadt – summ – hier? Zumindest soll das Bahnhofsvier- Stadtviertel mit Lebensqualität füllen“, direkt nach Ingolstadt. Provinz? Nicht tel ihr Vorbote sein. Denn anders als in erläutert sie. Aufgabe der Subzentren ist mehr lang. Zwar landen wir hier derzeit anderen Städten liegt der Bahnhof wei- auch das Wachstum der expandieren- noch in einem eher verstaubten Bahn- ter außerhalb als in den meisten anderer den Stadt zu regeln. Und eines ist unum- hofshäuschen, doch demnächst kün- Cities. Zwei Kilometer sind nicht viel, stritten: Ingolstadt wächst! Unsere Ein- digt der Hochhausturm von Kammerl- aber mit Koffer in der Hand eben auch wohnerzahl steigt. und Nagler-Architekten Ingolstadt be- kein Katzensprung. Aber was erwarten nun alte und neue reits von weitem an: Du bist in Ingolstadt! Schauen wir uns das mal an. Erst mal Bewohner von ihrer Heimat, welchen Tauchen wir weiter in die Architektur der raus aus dem Untergeschoss, die Trep- Bedürfnissen muss sie gerecht werden Zukunft ein. Dazu begeben wir uns vom pen hinauf. Es empfängt uns eine groß- und wie wollen wir unsere Zukunft ge- Zug aus in die Katakomben unter den zügige Bahnhofshalle, die alles bietet, stalten? Vieles verändert sich über die Gleisen. Dort angekommen, müssen wir was von diesem Ort zu erwarten ist: Jahre. Zum Beispiel die Bedeutung des uns „großstädtisch“ entscheiden. Links Snacks, Zeitschriften, kleine Restau- Autos. Oder unser Einkaufsverhalten, geht es hinter dem rants und Verweise auf die kulturelle Viel- mittlerweile geprägt vom Online-Handel. Bahnhof zum neuen falt Ingolstadts. Eine eigene kleine bunte Sogar unsere Art zu Leben ist betroffen Kreativquartier mit Welt, ein Mikrokosmos, diese Welt der – immer mehr Menschen sind Singles. klassischem Konzert- Reisenden. Der Bedarf an kleinen Wohnungen saal, Galerien, Band- wächst. Viele von uns pendeln und ver- Probenräumen und Das gegebene urbane Moment: Was in bringen das Wochenende bei ihrer Fami- Künstlerateliers in den den Etagen im Turm über uns geschieht, lie an einem anderen Ort. Das soziale ehemaligen Industrie- interessiert momentan nicht (viele Bü- Gefüge verändert sich. hallen (ursprünglich ros, auch das fünfte Rathaus, geplant Beständiger ist hingegen das, was uns Eisenbahnausbesse- sind auch wissenschaftliche Einrichtun- die Vergangenheit an Bauten und an To- rungswerk) durch- gen und andere wünschen sich im Sinne pographie hinterlassen hat: historische Ein Hochhaus drungen von einer at- der Funktionsmischung Wohnungen mit Schätze wie die ehemalige Festungsan- als Eingangstor traktiven Freiraum- Blick auf die Stadt). Was interessiert: Das
12 Urbanität Stadtspaziergang Ingolstadt Gebäude soll nachhaltig und energie- A schonend sein. Damit kehren wir zurück zum Stadtplaner Gehl . Auch von Sicher- heit ist bei ihm die Rede. Auf dem Bahn- hofsplatz, der noch kein „Shared- Space“ ist, aber werden soll, gewinnt die an Bedeutung. Erst recht, wenn wir – natürlich umweltbewusst – auf eines der neuen Leihräder umsteigen. Denn der brave Zweiradfahrer ist hier einer von vielen Straßenteilnehmern in einem Ver- kehrsraum, der derzeit noch nicht die gewünschte Aufenthaltsqualität für sämtliche Nutzer aufweisen kann. Ein neues Zentrum: das geplante Bahnhofshochhaus. Foto: Kammler & Nagel Die Straße als attraktiver und sicherer Aufenthaltsraum für alle Nutzer B Aber glauben wir den städtebaulichen Strukturüberlegungen, wird sich das än- dern. Unter anderem ist von der Stär- kung der Geh- und Radwegverbindun- gen zu lesen (und wenn damit auch der Anschluss ans „Pulverl“ gemeint ist, wird auch die Naherholung in den Do- naulohen gesichert!). Außerdem sollen Lücken in der gründerzeitlichen Stadt- randbebauung des 19. Jahrhunderts ge- schlossen werden. Kennzeichnend sind drei- bis viergeschossige Gebäude, die den Straßenraum säumen. Ihre Gestal- Blick auf das Gelände der Landesgartenschau. Foto: Schalles tung variiert zwar von Parzelle zu Parzel- le, doch die typische „horizontale Glie- derung“ lässt ein Planerherz höher- kaufszentrum durchsetzen konnte: Es rausforderung, hier „ein neues Stück schlagen. Auch das der Stadtbaurätin. ist nun seit über 20 Jahren da. Und wir Kulturlandschaft“ zu schaffen. Hier findet sich im nutzen es. Rein ins Auto, rauf auf den gestalterisch ab- Parkplatz, rein zum Einkaufen und wie- Mission Grün als Glücksfaktor: Ja und, gesetzten Erdge- der – wusch – ab und fort mit dem Auto. was macht dann hier eine Landesgar- schoss in der Re- Von Flair keine Spur. tenschau? Sie übernimmt genau die gel gewerbliche, Das Gelände ist geprägt vom Nebenei- Funktion, nach der wir uns gerade seh- kleinteilige Nut- nander der Funktionen, einer „vertikalen nen: Grün und Erholung. Kaum ein Ort in zung, darüber Gliederung“. Hier Einkaufen, da Woh- Ingolstadt bedarf wie dieser einer sol- Wohnungen. Die nen, dort Gewerbe. Von der gewünsch- chen Entlastung der Seele. Ganz anders Innenhöfe sind ten, weil Lebendigkeit versprechenden, als die Schau 1992 am südlichen Donau- geschlossen und „horizontalen Gliederung“ ist nichts zu ufer in Zentrumsnähe, umrahmt von his- bestechen durch sehen. Mancher träumt von einer Über- torischen Festungsbauten und altem ihre oft hohe Auf- bauung des Westparks mit Wohnungen Baumbestand, muss sich das neue Grün enthaltsqualität. in leichter Holzbau-Architektur. Ob das langsam in seiner Umgebung entfalten, Heißt: Hier mi- möglich wäre? gar mit seinem lebendigen Bunt gegen schen sich Woh- Doch langsam. Zuerst einmal müssen das monotone Grau aufbäumen. Die nen, Gastrono- wir vom Bahnhof zum Westpark gelan- Mission ist klar: eine Aufwertung des mie, Nahversor- gen. Oder noch besser: zur Landesgar- Randbezirks im Ingolstädter Nordwes- gung, Einzelhan- tenschau (LGS). Das ist tatsächlich kein ten. „Wir wollten hier eine Struktur mit del und Dienst- Problem. Wir geben das Rad nach einem Lebensqualität schaffen“, berichtet der Verdichtung der leistungen. Im kurzen Ausflug in die Innenstadt – der Architekt. Von dieser „grünen Lunge“ gründerzeitlichen Fachjargon über die Münchner Straße als gestalteter profitieren – neben den Besuchern der Struktur (oben). „Funktionsmi- Stadtstraße sicher ein wahres Vergnü- Landesgartenschau – insbesondere die Horizontale schung“ genannt. gen ist! – im Bahnhofsviertel wieder ab Gliederung der Letztere Funktio- und begeben uns auf direktem Wege mit Funktionen. nen bespielen der Bahn zum neuen Bahnhalt „Ingol- den öffentlichen stadt Audi“. Hier erwartet uns eine ande- Raum, „in dem sich unter diesen Voraus- re Welt. Wir landen mitten im Gewerbe- setzungen viele Nutzergruppen begeg- gebiet, laufen neben langen Wänden nen“, freut sich Preßlein-Lehle. „So ent- entlang (darunter die des Güterver- steht Urbanität“, ist sie sich sicher und kehrszentrums), die nicht gedacht sind liefert damit viele Gründe, die vorhande- als Kulisse für einen Fußmarsch. Der nen Lücken im Gefüge – das größte ist führt uns weiter über breite vielbefahre- das Post-Areal – nach dem vorhandenen ne Straßen. Tristesse soweit das Auge Vorbild zu schließen. reicht. Eben dieser Anblick bot sich auch dem Westpark und Landschaftsarchitekten Matthias Därr Landesgartenschau vor der Planung der Landesgarten- schau: „Keine Bäume, keine charman- Vertikale Gliederung der Funktionen Anders verhält es sich mit dem West- ten historischen Gebäude, die eine (oben) und die Landesgartenschau park. Warum auch immer sich das Ein- Struktur vorgegeben hätten“. Eine He- als Brücke zwischen den Welten
Urbanität Stadtspaziergang Ingolstadt 13 Familien und Anwohner aus den nahe- landen etwas unromantisch auf dem gelegenen Siedlungen, darunter das Pi- Parkplatz eines Supermarktes, direkt usviertel, „aber genauso die Städter, die vor den Toren des künftigen IN-Quar- am Wochenende raus wollen und selbst- tiers. verständlich die Senioren und andere Unser Blick fällt umgehend auf die riesi- Menschen mit geringem Bewegungsra- ge Fabrikhalle mit Sheddächern aus dius aus der Nachbarschaft“. dem Jahr 1881. Hier findet sich das, was Und auch wir haben etwas davon, denn dem Gebiet um den Westpark fehlt: his- wir können – erneut aufs Rad gestiegen torische Substanz. Sogar von ferne – nun beinahe sechs Kilometer lang die sichtbar steht ein Wasserturm (1915). Es sogar nachts beleuchteten Radwege in- lässt sich erahnen, wie künftige Wegbe- nerhalb des Parks genießen. Sie verbin- schreibungen klingen können: „Am den das Piusviertel, Hollerstauden, Gai- Wasserturm rechts“, oder „wir treffen mersheim und Friedrichshofen mitei- uns am Wasserturm“. Der Ort hat eine nander. „Adresse“ mit der sich die künftigen Nut- Städtischer Charakter durch Neben der modernen Parkanlage haben zer identifizieren können. gemischte Nutzung (oben) und wir hiermit gleich auch ein Charakteris- Hier treffen wir (zugegeben virtuell) auf aktiver Landschaftsraum tikum Ingolstadts im wahrsten Sinne des den Architekten Johannes Kister, jüngst Wortes erfahren: Sieger des städtebaulichen Wettbe- achse“, eine Erweiterung des vorhande- einen der kon- werbs des ursprünglichen bayerischen nen, angrenzenden Nordparks, der be- zentrischen Hauptlaboratoriums (dann Gelände der reits dem Nord-Osten der Stadt als Frei- Grünringe, die Unternehmen Rieter sowie Bäumler und raum dient, „durchfließt“ das gesamte den Festungs- seit 2018 in Besitz der GerchGroup). Er Quartier. Und damit ist der Rheinländer gürteln des 19. ordnet das IN-Quartier in den Kontext bei seinem Lieblingsthema, angelangt: Jahrhunderts fol- heutiger Stadtentwicklung ein: „Sie ist die „aktiven Landschaftsräume“. Sie gen. Er war zwi- geprägt von der Nutzung ehemaliger In- übernehmen in Subzentren die Aufgabe Landesgartenschau schen den Ge- dustrieareale in Stadtnähe.“ Das Poten- von Plätzen. „Die wenigsten von uns ge- als Pflaster des meinden ins Ab- zial sei groß, und anders als in den 60er hen noch im Anzug ein Stück Sahnetorte zweiten Grünrings seits geraten. Die und 70er Jahren, in denen auf freier Flä- essen. Die heutige Gesellschaft ist Landesgarten- che außerhalb der Stadt Neues erfunden draußen aktiv.“ Der Grünraum werde zur schau sichert nun „ein Stück Natur für worden sei, lautet zentralen Aufgabe des Stadtplaners. alle“, sagt Därr und lobt die Entschei- das Gebot der Damit wird wieder deutlich: Unser ge- dung der Ingolstädter Stadtplanung und Stunde „Transfor- bautes Umfeld ist ein Abbild unserer sich des Gartenbauamtes, an diesem Ort ak- mation“. Das Ziel verändernden Gesellschaft. tiv zu werden. Aktiv werden müssten ist: Neue Zentren Was aber tun wir alle draußen? Das sei jetzt wiederum die Bürger, indem sie die durch Nachver- sehr unterschiedlich und entsprechend unterschiedlichen Raumangebote als dichtung entwi- differenziert müsse dann auch der Frei- „Glücksfaktor“ für sich nutzten. Das An- ckeln. raum entworfen sein, erläutert Kister. Es gebot ist differenziert. Für Naturfreunde Verdichtung – müsse Raum für Ruhe, aber auch für gibt es kleine, ruhige, gar informelle klingt nicht nach Bewegung geben. Die einen gehen spa- Rückzugsräume, für Sportler eine große Einfamilienhaus- Wasserturm als zieren, die anderen spielen Boules, die Wiese für Bewegung. „Oft entsteht Un- siedlung. Und so Identitätsmerkmal dritten Fußball. „Alle Aufgaben unterzu- vorhersehbares“, berichtet Därr und er- ist es denn auch: bringen, ist schwierig“, gesteht er. Hinzu zählt von Ballonfahrern, die einst eine Entstehen soll ein Quartier mit gemisch- kommt: „Urban ist nicht nur, wenn viele andere von ihm entworfene Fläche für ter Nutzung und städtischem Charakter. Leute unterwegs sind, sondern auch, sich entdeckt hatten. Diese Idee ist so Geplant sind ein Bürgerhaus, Cafés, wenn die Atmosphäre stimmt.“ reizvoll, dass wir nicht hadern und so- räumlich flexible Orte für Start-ups und Allein die sorgfältige Planung bei genau- gleich einsteigen: In einem Ballon gehen Manufakturen sowie ein Marktplatz vor er Betrachtung der Nutzer führt zum Ziel. wir weiter auf Reise durch Ingolstadt. Er dem Wasserturm und natürlich viele Zuerst: Zonierung. Zonen definieren die soll uns ins letzte und neueste der drei Wohnungen. Unterschiedlich sollen sie notwendigen unterschiedliche Räume Subzentren bringen: ins IN-Quartier. sein, mit eigenen Typologien. und geben ihnen eine individuelle Quali- tät. Blockinnenhöfe beispielsweise wer- Das IN-Quartier Aktive Landschaftsräume: „Das Ge- den im IN-Quartier angehoben und so heimnis der neuen Zentren liegt in der von privaten Gärten optisch und räum- Wir fliegen also über unsere Stadt, fol- Balance aus Bauten und öffentlichem lich getrennt. Es entsteht Privatsphäre, gen besagtem zweiten Grünring – der Raum“, ist sich der Architekt aus Köln obwohl es sich um einen Gemein- nicht ganz so gut ersichtlich ist wie der sicher. Er freut sich, dass in Ingolstadt – schaftsraum handelt. Auch Bäume kön- erste –, drehen etwas nach Süden, ge- anders als an vielen anderen Orten – nen Signale senden und den Charakter nießen die Aussicht, können die Fried- diese Überzeugung geteilt wird. Ent- des jeweiligen Ortes stärken: hochge- rich-Ebert-Straße anhand ihrer Ausdeh- sprechend ist im IN-Quartier auch Raum wachsene markieren wichtige Verbin- nung als „Stadtstraße“ erkennen, und für einen Park vorgesehen. Die „Grün- dungsstraßen, Obstbäume beispiels- weise eher Wohn- und Nebenstraßen. Ein Muss sei es heute, die gestalteri- C schen Aspekte mit ökologischen An- sprüchen zu verknüpfen, betont der Köl- ner noch. Ob, wie hier vorgesehen, Was- serrückhaltemöglichkeiten, Wiederge- winnung alten Terrains oder Starkregen- bassins, „wir müssen Lebensraum ganzheitlich denken“. Kister schließt den Rundgang mit einer Vision: „Meine Idee von Stadt ist es, dass sie ein Ort ist, der dem sozialen Leben Raum schenkt – entgegen einer Architektur der Ab- standsflächen.“ Und damit wären wir wieder bei Gehls Idealen von der Stadt, die vom Men- schen aus gedacht wird. Das kann auch Ingolstadt werden! Eine Stadt für uns. Jetzt ist die Zeit für neue Muster. Im IN-Quartier ist auch Raum für einen Park vorgesehen. Foto: © kister scheithauer gross Claudia Borgmann
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